Buick Rivera - Miljenko Jergović - E-Book

Buick Rivera E-Book

Miljenko Jergović

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Beschreibung

Eigentlich kann Hasan Hujdur mit seiner Existenz zufrieden sein. Vor etlichen Jahren den politischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien entflohen, hat er sich in Toledo, Oregon niedergelassen und vertreibt sich seine Zeit mit Pool-Billard. Während alle Träume von einer Hollywood-Karriere längst zerstoben sind und seine Ehe bereits Abnutzungserscheinungen zeigt, bleibt Buick Rivera, Baujahr 1963, Hasans große Liebe: entschieden und ungeteilt. Als Hasan mit seinem Wagen in einer Winternacht im verschneiten Straßengraben landet, kommt ihm ausgerechnet ein Landsmann, der Serbe Vuko Salipur, zu Hilfe, der soeben seine reiche Frau mit 15.000 Dollar in der Tasche verlassen hat. Mit höchstem Tempo und reich an Situationskomik erzählt Miljenko Jergović davon, wie die beiden ungewollt von ihrer Geschichte eingeholt werden.

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Seitenzahl: 325

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Inhalt

[Cover]

Titel

Spätfrühling in Toledo …

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

Buick Rivera

Spätfrühling in Toledo, Oregon. Hasan Hujdur befreit sein Auto schon seit zwei Stunden von Schnee und Eis. Zunächst hat er mit bloßen Händen weggefegt, was im Lauf der Nacht gefallen war; ohne vor der eisigen Berührung zurückzuschrecken, umarmte er den Schnee und schob ihn von der Motorhaube, von der Windschutzscheibe und vom Dach, dann ging er um den Wagen herum, noch zwei, drei Arm voll und es sah so aus, als wäre er fast fertig. Ein zufälliger Beobachter – den es nicht gab, denn wer würde bei minus zwanzig Grad herumspazieren und schauen, was die Leute so treiben – hätte geschworen, dass dieser Mann seinen silbernen Buick Rivera aus der ersten Modellreihe von 1963 mehr liebte, als Männer ihr Auto gewöhnlich lieben, wahrscheinlich keine Kinder hatte und ganz bestimmt nicht in Oregon geboren war. Nur ein Fremder konnte so gleichgültig gegenüber der Kälte sein, und zwar ein Fremder, der aus einem weit entfernten, unmenschlichen Land kam, in dem der Körper nicht leicht friert und die Menschen nichts von Krankheit wissen. Den Arzt brauchen sie nur, damit er den Tod feststellt, denn es ist ihre größte, genau genommen einzige Sorge, lebendig begraben zu werden. In allem – oder doch mit dem meisten – hätte jener zufällige Beobachter Recht gehabt, wenn es ihn gegeben hätte und wenn er gesehen hätte, wie es nach den Umarmungen weiterging. Nachdem Hasan Hujdur den frischen Schnee vom Auto gewischt hatte, begann er mit dem, womit er in diesem Augenblick beschäftigt war und was ihn noch mindestens eine Stunde beschäftigen sollte. Vor dem Auto breitete er ein Schaffell aus, wie man es in Osteuropa für das islamische Gebet verwendet, und legte darauf sein Werkzeug zurecht: zwei Kehrbleche mit Gummirand, ein kleineres und ein größeres, einen kleinen Kanister mit Auftaumitteln für die Glasscheiben, Enteiserspray für die Schlösser, Handfeger, Gummischaber und -spachtel, mehrere Ahlen aus Plastik, deren Funktion nicht ganz klar war, drei von Hand gesäumte Lappen aus grobem Zwillich und noch einen Lappen aus weichem Hirschleder. Zum Schluss legte er die Zigarettenschachtel dazu und das Wegwerffeuerzeug obendrauf, trat einen Schritt zurück, kontrollierte, dass alles da war und in der richtigen Reihenfolge lag, rieb sich die Hände, mehr aus Vorfreude als wegen der Kälte, und dann fing er an. Zentimeter für Zentimeter entfernte er das Eis, so vorsichtig wie ein Archäologe mit der Mumie eines Königs umgeht, damit er das Auto nicht zerkratzte. Er arbeitete außerordentlich geschickt, nutzte jedes von dem guten Dutzend Werkzeuge, die er auf dem Schaffell zurechtgelegt hatte, und legte jedes nach Gebrauch an seinen Platz zurück, sorgsam noch vom letzten Krümel und Eispartikel gesäubert. Wenn er das nicht schon immer so halten würde, wäre das Fell des Schafs längst schwarz vor Schmutz und nicht schneeweiß, als wäre es soeben aus einer Reklame für sardischen Käse entstiegen. Man sah, dass der Mann Erfahrung hatte, die Winter in Oregon sind lang, und dies ist bereits sein zweiundzwanzigster, man sah auch, dass Hasan Hujdur nur an wenigen Dingen mehr Freude gehabt hätte. Er ist keiner dieser krankhaft pedantischen und ordentlichen Menschen, die jede Arbeit mit demselben Eifer erledigen, denn wäre er es, er käme nie zum Ende, fände keine Zeit mehr zu schlafen und würde an einer Ordentlichkeit irrewerden, die seinem sozialen Status vollkommen unangemessen wäre. Er ist kein König und kein Adeliger, er wird nicht bedient und es gibt keine Hofleute, die hinter ihm herputzen und aufräumen. Aber selbst wenn er es sich leisten könnte, würde er wohl kaum jemanden diese Arbeit in Kälte, Eis und Schnee überlassen, gleichgültig, wie viel Zeit sie beansprucht und wie oft sie sich wiederholt. Jeder Mensch hat ein oder zwei Dinge, zu denen er ein solches Verhältnis hat, auf jeden wartet irgendwo sein Buick Rivera, es mag ein Auto, ein Fahrrad, ein Füllfederhalter oder sogar ein Computer sein, es kann ein Hund oder ein Pferd sein, etwas, das einen kümmert und beschäftigt, das einen besser und geduldiger macht, nur ist es nicht allen vergönnt, dieser Sache im Lauf ihres Lebens zu begegnen. Hasan Hujdur musste über einen Ozean fahren und, nachdem sein Stipendium ausgelaufen war, in einsamen Zimmern und Stundenhotels wohnen, Hunderte verschiedener Arbeiten annehmen, bevor ihm jemand glaubte, dass er ein Filmregisseur war; er musste von einer Stadt in die andere und von einem Staat in den anderen ziehen, um endlich in Toledo, Oregon, anzukommen und dort, auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, ihn zu sehen (oder vielleicht auch – sie), Buick Rivera, wie er in der Augustsonne glänzte, dass einem die Augen davon wehtaten. Da steht er, wie ein neuer Stern im Hollywood-Boulevard, dachte er, ging in den Supermarkt, verlangte den Geschäftsführer, der bot ihm eine Probefahrt an, »den muss ich nicht Probe fahren«, sagte er und zählte 800 Dollar ab. Nur Ausländer haben so viel Bargeld in der Tasche, und nur sie tragen ihr ganzes Geld bei sich. Der Geschäftsführer holte seine Sachen aus dem Kofferraum, händigte Hasan Schlüssel und Papiere aus, erinnerte ihn daran, auf den Ölstand und das Wasser zu achten, verabschiedete sich von seinem Auto, und das Geschäft war erledigt.

Von diesem Tag an war Hasan Hujdur gegen die meisten Enttäuschungen gefeit, auf böse Worte reagierte er wie ein Mystiker, erfüllt vom tiefsten Frieden, die Nervosität von anderen nahm er in sich auf wie eine Brücke den Fluss: Der Fluss kann noch so sehr tosen, die Brücke steht ruhig darüber. Buick Rivera wurde zum Ort seiner inneren Sammlung; einer dem anderen ergeben, der Mann und sein Auto, gaben sie sich, was Menschen, wenn sie nicht Geistliche oder Psychiater sind, einander nie zu geben vermögen. Hunde, die vor dem Supermarkt auf ihr Herrchen warten müssen, würden das verstehen. Die Besorgnis der Hunde, dass sie nicht mehr abgeholt werden, dass das Herrchen für immer im Supermarkt bleibt oder drinnen einen besseren Freund findet, legt sich nie. Selbst wenn sie ihr ganzes Leben lang jeden Tag vor dem Supermarkt warten müssten, Hunde gewöhnen sich nicht daran und winseln jedes Mal, bellen und schauen so traurig, als müssten sie zum ersten Mal warten. Sie sind nicht zu dumm, um es zu verstehen, aber sie ziehen die Angst dem Verstehen vor, denn ihre Freude ist unermesslich, wenn der Freund zurückkehrt. Gewöhnung würde die Freude töten, und das lohnt sich weder in der Welt der Menschen noch in der der Hunde. Der Mensch steht vor seinem Gebrauchtwagen wie ein Hund vor dem Supermarkt. Das werden Menschen nie begreifen, die neue Autos fahren, und auch jene nicht, die von einem neuen träumen, während der Gebrauchte ihnen nur ihre vorübergehende Armut bestätigt. Alles Wilde, was sich in Hasan anstauen konnte, alles, was er von anderen mitnahm und das unter seiner Haut keinen Platz hatte, sondern unverdaulich wie Sondermüll – Plastiksäcke auf dem Meeresgrund – durch seine Adern rollte, schluckte Buick Rivera.

Er wischte mit dem Hirschleder über die Scheinwerfer, als Angela zum ersten Mal aufwachte. Sie sah auf die Uhr, Viertel nach elf, drehte sich auf die andere Seite, sah, dass er nicht da war, zwei kleine Säbel der Unzufriedenheit erschienen in ihren Mundwinkeln, verharrten dort für einige Sekunden und verschwanden, kaum dass sie wieder in den Schlaf sank. Angela Raubal hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Vom Theater hatte sie Al Rahimi, Nachtportier und Statist im Schwanensee, erst gegen fünf Uhr nach Hause gebracht. Danach hatte sie in der Küche gesessen und ein bisschen geweint, weil Neumond war, wegen einer Erkältung, den Idiotien des Regisseurs oder weil es sie kränkte, dass Hasan nicht mehr aufstand, wenn sie heimkam. Das war früher anders gewesen, dachte sie, da kam er angelaufen wie ein junger Hund, ohne Rücksicht auf die Uhrzeit, und jetzt atmet er tief, mitten in einem Schlaf, aus dem ihn nicht einmal ein Presslufthammer reißen könnte; er atmet wie ein Kind, das im Kino eingeschlafen ist.

Dieses Atmen hatte Hasan Hujdur lange geübt, seit er zum ersten Mal gedacht hatte, dass sich die Liebe in einen Krieg verkehrte und er mehr tat, um sie auszutricksen, als um ihr etwas Gutes zu tun. Er schielte in die Dunkelheit, sah sie in der Schlafzimmertür stehen und warten, manchmal zehn Minuten lang, ihn stumm rufen, anflehen, er möge aufwachen, wütend werden, schmollen und gähnen, als würde sie brüllen, die Hand nach ihm ausstreckte, aber dann ging sie weg wie eine Tennisspielerin nach einem verlorenen Match und tröstete sich mit dem Gedanken, es wären die Jahre: Manche Männer fangen an zu schnarchen, was ihnen am Anfang der Ehe nicht passiert wäre, andere entführt eben der Schlaf. Es grämte ihn; was er tat, war böse, aber ihm blieb praktisch keine Wahl, denn hätte er sie im wachen Zustand erwartet, wer weiß, mit welchen Wutanfällen sie nach Hause gekommen wäre. Nächte und Morgen, an denen Angela gut gelaunt heimgekommen war, hatte sich Hasan nicht gemerkt oder aus seiner Statistik gestrichen. Irgendwann einmal, wann, wusste er nicht mehr, hatte er begonnen, alles Gute zu vergessen, so wie er bis zu diesem Zeitpunkt alles Schlechte vergessen hatte. In einer Abhandlung über die Ehe hätte gestanden, das sei der Moment, in dem die Verliebtheit aufhört. Trotzdem wünschte er sich, während er unter der Bettdecke tief atmete und zur wartenden Angela hinüberschielte, dass sie laut schreien oder wenigstens husten möge, um ihn zu wecken. Aber nein, sie ging auf Zehenspitzen davon und weckte ihn nicht. Wenn sie ins Bett kam, nachdem sie sich fertig gemacht, den Kühlschrank geöffnet und geschlossen und den Fernseher ein- und ausgeschaltet hatte, schlief er bereits. Zwei Stunden später wachte er auf, löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung, legte ihre Hand auf sein Kopfkissen, sah nach, ob die Zeitung da war, setzte sich in die Küche, rauchte, las und trank die erste Coca-Cola des Morgens.

Sie schlief wieder tief, als er mit dem weichsten Tuch über die Glasscheiben fuhr, jedes Schloss am Buick Rivera enteiste und sein Ritual beendete. Er packte das ganze Werkzeug in einen schwarzen Leinenrucksack, verstaute das Schaffell im Kofferraum, setzte sich ans Steuer, atmete tief durch und drehte den Zündschlüssel um. Das Herz des Motors sprang sofort an, der Alte brummte erst laut, dann immer leiser, bis er in seinem Rhythmus lief, der sich seit dem Tag nicht geändert hatte, an dem JFK in Dallas ermordet worden war. In diesem Rhythmus waren Leben verstrichen, die weder voneinander wussten noch sich aller Wahrscheinlichkeit nach je getroffen hätten. Hasan Hujdur kannte nicht die Namen aller Vorbesitzer, und es waren sieben, bevor er den letzten im Supermarkt getroffen hatte, aber er fühlte eine mystische Verbundenheit zu ihnen, eine tiefere Beziehung, als sie zwischen Menschen üblich ist. Seine Finger sanken in Vertiefungen am Lenkrad, die ein anderer während der langen Jahre des Fahrens durch seine Art zu lenken verursacht hatte, eine Art, die von der physischen Konstitution und vom Temperament abhängt, vom Geisteszustand und was auch immer, jedenfalls ist diese Art nicht wiederholbar. Wer ein Auto fährt, das zuvor anderen Menschen gehört hat, erfährt mit der Zeit alles über sie. Ob sie nervös oder phlegmatisch waren, ob sie mit einer Hand gefahren sind, während die andere auf der Lehne des Beifahrersitzes ruhte oder reglos im Schoß lag, oder ob sie das Steuer mit beiden Händen umklammerten, weil sie ein Unglück befürchteten und sich unaufhörlich vorstellten, dass ihnen ein Kind vors Auto laufen konnte und an bremsen nicht mehr zu denken wäre. Ein Auto hat vielleicht weder Seele noch Verstand, aber es merkt sich, wie es gefahren wurde. Von seinem Standpunkt aus unterscheiden sich die Menschen nicht in jene, die schnell fahren, und jene, die langsam fahren, sondern in jene, die gern fahren, und jene, die extrem ungern fahren. Autos, die von ängstlichen, unzufriedenen Menschen gefahren werden, haben kein langes Leben.

So wie die Vertiefungen im Stein, die der Wasserstrahl über die Jahrhunderte in den Brunnen neben dem Friedhof der größten Moschee von Stolac gegraben hat, so erschienen Hasan Hujdur die Spuren der Vergangenheit am Buick Rivera. Er erlebte diesen Wagen nicht als etwas, das man mit einer Alarmanlage ausstatten und nachts abschließen musste, um ihn gegen Diebe zu schützen. Er war das Leben, das sich durch ein Wunder in dem Glanzprodukt der Automobilindustrie Detroits abzeichnete.

Toledo, Oregon, ist um die Mittagszeit wie ausgestorben. Wer Arbeit hat, ist in Salem oder noch weiter weg in Portland, die Kinder sind in der Schule, die Alten wärmen sich zu Hause. Durch die Hauptstraße fährt ein Polizeiauto, der Schneepflug oder der Kombi, der das Essen ins Irrenhaus und ins Gefängnis liefert. Noch hat niemand seine Fußstapfen auf dem Trottoir hinterlassen, und niemand freut sich über Schnee, der seit sechs Monaten nicht weggetaut ist. Hasan parkte vor dem Alhambra, einem Lokal mit Billardsalon, das der Madrider Maler José García Cerritos vor einigen Jahren eröffnet hatte. Cerritos war ein streitsüchtiger Außenseiter, reich geworden durch den konzeptuellen Zyklus Gespräche mit Goya, der nach dem Urteil der Kritiker in aufregender Weise das Verhältnis der Gegenwart zur Tradition verändert habe und das Ereignis auf der Documenta in Kassel war, woraufhin er mit einem Haufen Geld nach Amerika flog, denn in Spanien wollte er mit keinem der 30 Millionen Einwohner mehr reden. Auf dem Flughafen schlug er die Landkarte der Vereinigten Staaten auf, fand einen Ort, der Toledo hieß, und beschloss, sich dort niederzulassen. Nur wegen des Namens. Nachdem ihn das erste Toledo enttäuscht hatte, glaubte er, das zweite müsse besser sein. Er hörte auf zu malen – in Amerika hat er nie einen Pinsel oder Bleistift angerührt – und eröffnete ein Lokal, das, wegen Josés unerträglichem Charakter und seiner merkwürdigen Gewohnheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit Gäste hinauszuwerfen und die Kneipe zu schließen, wenn ihm ihre Visagen nicht passten, kaum jemand besuchte. Er lebte ohnehin nicht vom Alhambra.

»Ich habe Dollars für drei Leben, und deshalb will ich in diesem einen um mich herum Menschen sehen und keine Murmeltiere«, sagte er zu Hasan, der ihm bedingungslos sympathisch war, weil er nichts von einem Murmeltier an sich hatte. »Du guckst wie eine Ratte, die aus ihrem Loch mitten in eine amerikanische Familie gekrochen kommt, die sie mit einem Besen erschlagen will, genau so guckst du.«

Hasan zuckte mit den Schultern und lächelte liebenswürdig.

Im Unterschied zu den meisten Menschen hatte José nichts gegen Ratten. »Und du bist ein elender Schuft, mit dem man nur schwer befreundet sein kann. Wenn ich dich losschicken würde, um Zigaretten zu holen, du kämst nicht eher wieder, bevor du sie nicht aufgeraucht hättest«, sagte er zu Piero Manigno, gebürtiger Neapolitaner und Hasans bester, eigentlich einziger echter Freund. Piero war also auch kein Murmeltier. Für sie beide war Josés Lokal immer geöffnet, und wenn es geschlossen war, klingelte Piero einfach am Nachbareingang und aus dem Fenster im zweiten Stock kam ein Nylonsäckchen mit dem Schlüssel darin angeflogen. José steckte noch nicht einmal den Kopf aus dem Fenster.

Piero saß am Tresen und trank ein Bier, José las die Zeitung, Hasan sagte: »Da bin ich!«

José fragte, ohne die Zeitung zu senken: »Wie viele Jetons?«

»Mindestens zehn«, antwortete der Italiener. »Willst du erst was trinken?«, fragte er Hasan der Ordnung halber.

»Nix da«, antwortete der übertrieben fröhlich.

»Dein Stern war wohl wieder ein wenig nervös«, drang die Stimme aus der Toledo News.

»Nein, warum?«

»Man sieht es dir an.«

»Man sieht immer dasselbe«, antwortete Hasan, während Piero die Kugeln auf dem Tisch ordnete und ein Queue wählte. Er wählte lange, wie immer schmerzlich von betrügerischen Machenschaften überzeugt und davon, dass einige Queues, ähnlich wie bei Pokerkarten, gezinkt und für die Verlierer bestimmt waren. Hasan ärgerte das nicht, aber er konnte nur schwer den Impuls unterdrücken, dem Freund die Sinnlosigkeit solcher Manipulation zu erklären; Betrug wäre abwegig und der bloße Verdacht ein Affront gegenüber einem Menschen, der sie spielen ließ, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Warum hätte José, der selbst kein Billard spielte, etwas daran gelegen sein sollen, dass der eine und nicht der andere gewann? Piero hatte keine Antworten auf solche Fragen, und sie interessierten ihn letztlich auch nicht. Er glaubte, dass im Zweifeln die ganze Weisheit des Lebens liege, und deswegen zweifelte er ständig an irgendjemand. Nicht glauben, was man erzählt bekommt, und alles bezweifeln, was andere tun, das unterscheidet einen Erwachsenen vom Kind und den Mann von der Frau. Piero war sehr daran gelegen, allen kundzutun, dass er ein erwachsener Mann war. Alle versuchten ihn zu täuschen, und das musste er ihnen sagen. Am besten, bevor sie es auch nur versuchten. Er war kein Paranoiker, aber es gab für Piero keine größere Schande, als hintergangen zu werden, ohne dass er es, Gott behüte, merkte. Seine Welt war schwarz oder weiß, auf eine Art, die Hasan fremd war, aber er nahm Piero, wie er war, nur ein wenig erschrocken – oder richtiger gesagt, besorgt – allein deshalb, weil er sah, was diese Haltung aus einem Menschen machen konnte. Wenn sich José mit einem ganzen Land zerstritten hatte und in ein anderes, größeres gezogen war, in dem er nicht so schnell jeden kennen lernen und hassen konnte, dann war Piero derjenige, der sich nur mit ihnen beiden nicht überworfen hatte. José imponierte er nur, aber Hasan liebte ihn. So blind und bedingungslos, wie sich Freunde in sehr alten Büchern lieben.

Beim Billard waren sie gleich gut oder schlecht. Das Ergebnis hing genau genommen nur von Hasans Laune ab. War er übertrieben fröhlich und euphorisch, so wie heute, hatte Piero keine Chance, war er ruhig und mit sich im Reinen, verlor Hasan jede Partie. Am Ende gab es immer nur einen Spielstand: zehn zu null, mal für den einen, mal für den anderen, so dass sich ein Zuschauer, hätte es diesen je gegeben, unendlich gelangweilt hätte. Die Leichtigkeit von Hasans Hand und die Präzision seines Auges hingen zum größten Teil von Angela ab. Hatte sie – eine Seltenheit und in den letzten Jahren eine endemische Ausnahme – eine gute Phase oder war sie mit der Truppe auf Tournee, wurde Hasans Hand schwer, das Auge ungenau, die Bewegungen schwerfällig, und Piero gewann mühelos jede Partie. Aber wenn sie morgens, zurück vom Theater, geweint oder mit Hasan lange Gespräche über ihre Wünsche und Probleme und über das geführt hatte, was sie »gemeinsame Pläne« oder seine »charakterlichen Mängel« oder »die Unterschiede im Vergleich zu normalen Männern« nannte, war er im Billard unbesiegbar. Wenn es sich dann auch noch zutrug, dass sie während dieser Gespräche die Nerven verlor und die Teller zerschlug, die er am Vorabend nicht mehr gespült hatte – um ihr das Leben schwer zu machen –, oder das Telefon an die Wand warf, weil sich der Computerdrucker verabschiedet hatte – Hasan bediente aber auch jedes Gerät falsch –, dann hätte er gegen den Weltmeister antreten können und diesen locker in die Tasche gesteckt.

»Verzweifelte treffen nie daneben. Das ist eine Tatsache. Was beweist, dass Billard ein Spiel für Verzweifelte ist. Gegen sie hat keiner eine Chance, da hilft kein Training. Die Cracks üben sechzehn Stunden täglich, ihre Arme werden zum Queue, mehr geht nicht. Und dann kommt einer, der am Morgen noch überlegt hat, ob er von einer Brücke springt, sich erschießt oder Gift schluckt, die Entscheidung auf den nächsten Morgen verschiebt und Billard spielen geht. Er spielt es zum ersten Mal im Leben und schlägt alle, selbst die Besten. Keiner kann ihm was, weil er verzweifelt ist. Solche treffen nie daneben. Mancher wäre gern so verzweifelt, aber davon gibt es nicht viele. Du bist die Ausnahme. Authentisch verzweifelt. Du könntest mit Billard viel Geld verdienen. Mehr, als selbst José je gesehen hat. Warum probierst du es nicht mal mit Golf? Da ist richtig Asche im Spiel, und das Prinzip ist das Gleiche«, versuchte Piero Hasan in seiner Konzentration zu stören, während der eine Kugel nach der anderen versenkte. Die Lochbande war wie ein Trichter, durch den sich ein weiterer großer, sinnloser Sieg ergoss.

»Das reicht für heute«, sagte der Italiener.

»Aber wir haben noch drei Jetons …«

»Nein, es reicht …«

»Du ärgerst dich doch nicht?«

»Nein, ich weiß ja, wie es läuft. Bei jedem anderen würde ich mich ärgern, aber nicht bei dir …«

»Warum willst du dann aufhören?«

»Weil es mir reicht. Billard mit dir macht keinen Spaß. Klingt dumm, aber mir reicht’s wirklich.«

»Was habe ich dir getan?«

»Nichts.« Piero stockte, er steckte seine Nase nicht gern in fremde Angelegenheiten, er verlor aber auch nicht gern beim Billard: »Was hat sie gesagt?«

»Nichts hat sie gesagt. Ich habe geschlafen, als sie kam.«

»Aha. Tief geschlafen?«

»Das tut nichts zur Sache. Ich habe geschlafen.«

»Gut, was hat sie gesagt, als du sie zum letzten Mal gesehen hast? Irgendwas hat sie gesagt.«

Hasan warf ihm einen seiner ausgesucht Furcht erregenden Blicke zu, schüttelte sich und sprang ihn an. Etwas in dieser Bewegung ähnelte unglaublich stark den Bewegungen der kleinen schwarzen Rapper in den Straßen New Yorks, gehörte auf jeden Fall nicht zu einem, der bald die fünfzig vollendete. Er packte Piero bei den Schultern, so fest wie ein Baby den ersten ausgestreckten Finger packt, schüttelte ihn und sagte in seiner eigenen Sprache: »Genosse!« Früher hatten solche Reaktionen den Italiener erbost, weil er die unverständlichen Worte der fremden Sprache als Schimpfworte verstand, aber längst schon hatte er sich mit dieser Marotte abgefunden. Wenn er für irgendetwas empfänglich war und wenn ihn das sogar aus der Rolle eines Kleinkriminellen von Oregon fallen ließ, dann war es die Liebe, die närrische, freundschaftliche Männerliebe ohne jeden Hintergedanken, die noch die stärksten Jungs zu Tränen rührte.

»Gut, spuck’s aus«, er klang wie ein besorgter neapolitanischer Vater, nachdem zwei seiner Mafia-Söhnchen im Gefängnis gelandet sind, weil sie den dritten Sohn, einen Amtsrichter, entführt hatten.

»Es ist zu dumm. Es ist wirklich dumm, es hat gar keinen Sinn, darüber zu sprechen.« Hasans Blick traf sich mit Josés, was selten – zwei-, dreimal im Jahr – vorkam.

Der Spanier faltete die Toledo News zusammen, legte die Zeitung auf den Tresen und mischte sich ein. »Ich sage, es hat Sinn, und wenn ich das sage, dann hat es Sinn.«

»So ist es. Wenn der Wirt das sagt, hast du nichts mehr zu melden.«

»Also gut«, Hasans Hand peitschte durch die Luft, »gestern habe ich einen Ölwechsel gemacht, und sie kam für einen Moment raus, noch im Schlafanzug, ich fragte sie, was machst du in der Kälte, Schatz, es friert doch, du holst dir noch den Tod, nein, sagte sie, aber ich mache mir Sorgen um dich, deine Nieren, meine Nieren sind völlig in Ordnung, sagte ich ihr, Schatz, warum machst du das jetzt, fragte sie, weil ich es gern mache, sagte ich ihr, warum bringst ihn nicht in die Werkstatt und lässt das machen, fragte sie, weil ich es gern mache, sagte ich, und mich hast du nicht gern, fragte sie, Schatz, natürlich hab ich dich gern, und warum bist du dann nicht bei mir, weil ich gerade den Ölwechsel mache, das ist nicht normal, sagte sie, das ist wirklich nicht normal, und lief barfuß in den Schnee, Schatz, du holst dir den Tod, sagte ich, dann hole ich mir eben den Tod, sagte sie, aber diese Karre wird mir den Rest geben, sagte sie, zweiundzwanzig Liter auf hundert Kilometer, weißt du, wie viel das ist, fragte sie, weißt du, was normale Autos verbrauchen, hast du schon mal was von der Ölkrise gehört und hast du mal ausgerechnet, was uns dein Benzin monatlich kostet, für das Geld könnte die halbe Welt durch die Gegend kutschieren, sagte sie, für das Geld könnte ich mich ein bisschen ausruhen und ich könnte auch etwas finden, womit ich mich beschäftigen kann, so wie du mit deinem Auto, sagte sie, dann find’s doch, Geli, das wäre sehr schön, sagte ich ihr, wie soll ich das finden, sie stapfte durch den Schnee und schrie, wie soll ich das finden, wenn dein verdammtes Auto zweiundzwanzig Liter auf hundert Kilometer verbraucht, und ich, Hasan, ich arbeite achtzehn Stunden täglich, während du mit deiner Karre Zwiesprache hältst und über Kunst philosophierst und nichts tust, sagte sie, aber nein, du arbeitest nicht für jeden, du willst deinen Namen nicht im Vorspann von dem Mist aus Hollywood sehen, du willst dich nicht verkaufen, du bist ein Genie, aber Angela kann ja arbeiten, kann ja krepieren, kann hier vor deinem Buick erfrieren, ich sag dir jetzt eins: Entscheide dich, was dir wichtiger ist, dieses Auto oder ich, und wenn die Karre dir wichtiger ist, geh ich ins Irrenhaus, auf der Stelle, ich kann und will nicht mehr, und wenn ich dir wichtiger bin, dann verscheuern wir diesen Dreck, diesen Schrotthaufen, und kaufen ein japanisches Auto, das mit fünf Litern hundert Kilometer weit fährt und nicht jeden zweiten Tag einen Ölwechsel braucht, wir kaufen einen Honda oder einen Suzuki und werden ganz normale Leute, warum können wir nicht wie andere Leute sein, Hasan, fragte sie, warum können wir keine normalen Leute sein, warum muss ich einen Nervenzusammenbruch kriegen, damit du etwas änderst, damit du die Glühbirne im Badezimmer auswechselst oder aufhörst, schmutzige Socken unters Bett zu werfen, warum streiten wir uns über solche Kleinigkeiten, kannst du mir das sagen? Aber nein, du sagst gar nichts, du schweigst, Hasan, du schweigst dich aus, du siehst mir zu, wie ich völlig aus der Fassung gerate, du schweigst, das ist dein Stil, aber ich bin aus Fleisch und Blut, Hasan, ich bin keine verdammte Maschine, ich atme, hörst du mich, wie ich atme, berührt dich das irgendwie? Jeder normale Mensch fährt ein Auto, das wenig verbraucht und die Umwelt nicht verschmutzt, sagte sie, und jeder normale Mensch bringt sein Auto in die Werkstatt, wenn es kaputtgeht, sagte sie, nur unangepasste Idioten, genau mit diesen Worten – unangepasste Idioten, nur die glotzen den ganzen Tag in den Motor und sind bis zu den Ellbogen verschmiert. Hasan, deine Hände stinken nach Motoröl, sagte sie, das lässt sich nicht mehr abwaschen, sagte sie, so eine Seife gibt es gar nicht, die das abwaschen würde. Der Dreck unter den Fingernägeln geht nie mehr weg, sagte sie, und dann fasst du mit diesen Händen das Brot an, sagte sie, du wirst uns noch vergiften, Hasan, sagte sie. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Wenn ich einen Mechaniker hätte heiraten wollen, hätte ich das getan, aber das habe ich nicht, Hasan! Außerdem reparieren Mechaniker fremde Autos und schrauben nicht an ihrem eigenen herum, sagte sie, und währenddessen sah ich, wie ihre nackten Füße erst rot und dann blau wurden und schließlich violett, und es war klar, dass sich am nächsten Tag ihre Eierstöcke entzünden und drei Tage später ihre Nieren versagen und sie in unserem Bett sterben wird, und ich bin schuld. Das habe ich nur für uns getan, wird sie sagen, und ich verstehe wieder nicht, was sie eigentlich getan hat und warum sie es für uns getan hat, genauso wenig wie ich verstehe, warum sie jetzt der Buick Rivera stört, wo er sie doch die ganzen Jahre nicht gestört hat. Und nachdem sie mir das alles gesagt hatte, drehte sie sich um und lief durch diesen Schnee ins Haus. Ich habe mir die Zylinder angeschaut, dann ihre Spuren, dann wieder die Zylinder, dann ihre Spuren. Und wisst ihr, was ich gedacht habe? Ich habe gedacht, am besten nehm ich das Benzin, um mich und Buick Rivera zu verbrennen. Dafür hätte ich keine zweiundzwanzig Liter gebraucht.«

Sie hörten zu, wie Männer Klagen und intimen Geständnissen zuhören, mit einem gleichmütigen Ernst, als wollten sie auf seine Kosten ihren Spaß haben und wären doch bereit, für ihn in den Krieg zu ziehen und zu sterben. Ganz entfernt spielte Schadenfreude hinein, die man vielleicht auch nicht so nennen sollte, ein Reflex, den jedes männliche Wesen kennt, sei es ein Wolf, ein Bär oder ein Mensch, weil es bewusst oder unbewusst das Leittier im Rudel sein will. Das ist der Grund, warum intime Geständnisse in Männerfreundschaften so selten sind, gleichgültig, wie nah sie einander stehen, sie erzählen sich in fünfzig Jahren Freundschaft nicht so viel wie zwei Freundinnen während einer gemeinsamen Busfahrt durch die Stadt. Aber je länger Hasan redete und zuließ, dass das Alhambra von seinem Wortschwall widerhallte und alles aufnahm, was ihm auf der Seele lag, auch das, was er besser vor sich selbst wie vor den anderen verschwiegen hätte, desto ernsthafter und erschrockener – und zwanzig Jahre jünger – wirkte José, bevor sein Gesicht wieder in seine ewig ironische Grimasse zurückglitt.

In der Zeit, die zwischen den letzten Worten Hasans und den ersten Pieros verstrich, waren sich die drei so nah wie während eines Erdbebens. Als würden sich die Führungskräfte eines Ölkonzerns im Dachgeschoss eines Wolkenkratzers befinden und alles schwankt und sie sind füreinander die letzten Menschen auf der Erde, weil es in den Augen der anderen steht, nicht weil sie es in sich spüren.

»Autos bedeuten mir nichts, aber für Buick Rivera könnte ich sie umbringen, obwohl sie Recht hat, es ist ein Schrotthaufen«, sagte der Italiener.

»Versteht ihr, worum es geht«, wollte Hasan fortfahren.

»Natürlich«, unterbrach ihn José, »du nennst dein Auto immer mit Vor- und Nachnamen. Buick Rivera. Das macht man nur mit den wirklich wichtigen Dingen im Leben. Wisst ihr, warum Pelé der größte Fußballer auf der Welt ist? Weil jedes spanische Kind weiß, dass er Edson Arantes do Nascimento heißt, und wenn man zum Ausdruck bringen will, wie groß er ist und wie sehr man ihn verehrt, sagt man einfach Edson Arantes do Nascimento. So wie Buick Rivera. Mich widern die Murmeltiere an, die ihre Cadillacs und Chevrolets aufmotzen und dafür über Leichen gehen. Oder diese Hundeliebhaber, die ihren Hund einschläfern lassen, wenn er alt wird. Flockys Vergaser ist kaputt, Herr Doktor, bitte bringen Sie ihn um …«

»Mir ist das Auto gar nicht so wichtig …«

»Warum sagst du jetzt nicht Buick Rivera, wie du es sonst immer nennst?«, fragte der Italiener.

»Ich liebe sie …«

»Wirst du Buick Rivera verkaufen?«

»Den kann ich nicht verkaufen. Den kann man nicht verkaufen. Das wird sich schon einrenken lassen.«

»Wie soll sich das einrenken? Sie weiß jetzt, was dir wichtig ist, und sie wird so lange darauf herumreiten, bis sie es dir weggenommen hat.«

»Nein, das wird sie nicht. Ich werde Kohle verdienen, und sie wird begreifen, dass es Wichtigeres gibt als zweiundzwanzig Liter auf hundert Kilometer.«

Hier schaltete sich José wieder in Pieros und Hasans Unterhaltung ein: »Willst du damit sagen, sie denkt, ihr habt nicht genug Geld für Benzin? Wenn du das glaubst, bist du ein Volltrottel. Ich betank euch Buick Rivera für den Rest eures Lebens. Sagen wir, es sei der Hauptgewinn im Preisausschreiben.« Es war sein Ernst.

»Du spinnst ja, weißt du, was Angela sagen würde, wenn sie dich hören könnte …«

»Weiß ich nicht, und wenn du es mir sagst, werf ich euch aus dem Alhambra.«

»So ist das. Sag’s ihm bloß nicht«, Piero lachte. Er hatte es kaum erwarten können, dass sich das Gespräch endlich abbrechen ließ.

Es war nach sechs, als Hasan nach Hause kam. Angela saß am Küchentisch und rauchte. Sie lächelte ihn an wie einen alten Liebhaber, den man auf irgendjemands Beerdigung trifft. Oder so ähnlich.

»Wann bist du aufgewacht?«

»Vor zwei Stunden. Ich fand es schade, dass du nicht da warst.«

Ich auch, wollte er sagen. »Soll ich dir etwas kochen?«, fragte er.

»Ich muss gleich zur Probe, die Zeit reicht nicht mehr.«

»Das tut mir wirklich leid. Wenn ich das gewusst hätte …«

»Was hätte das geändert, wenn du es gewusst hättest? Nichts. Es ist schon in Ordnung. Ich habe keinen Hunger. Im Theater werde ich etwas essen.«

»Soll ich dich hinfahren?«

»Al Rahimi holt mich ab, es liegt auf seinem Weg.«

Jetzt sagt sie bestimmt, schoss ihm durch den Kopf, mit Buick Rivera kommt es viel zu teuer, aber sie sagte es nicht, und nichts in ihrem Gesicht deutete darauf hin, dass sie es dachte. Sie hockte da, klein und traurig, wie ein Spatz, und er hatte ein schlechtes Gewissen.

»Soll ich dich nach der Probe abholen?«

»Wir sind bestimmt nicht vor drei Uhr morgens fertig.«

»Macht nichts, ich komme. Wir können Pljeskavica essen gehen. Die Tankstelle am Ortsrand von Salem hat die ganze Nacht offen.«

»Das könnten wir machen. Wird es dir nicht schwer fallen? Wirst du nicht hundemüde sein?«

»Aber nein, das ist ausgezeichnet. Wir gehen Pljeskavica essen. Arbeiter beobachten, die trinken und die ganze Zeit schweigen, und denken, wir wären siebzehn Jahre alt und zum ersten Mal da.«

»Schatz …«

»Sag mal, Geli …«

»Hast du mich lieb?«

»Sehr lieb, Geli.«

»Das ist schön, wenn du mich so nennst.«

»Ich weiß, Geli.«

»Und was machen wir noch?«, schmeichelte sie.

»Wann?«, fragte er.

»Na ja, nachdem wir Pljeskavica gegessen und Arbeiter betrachtet haben.«

»Wir machen noch was, wir machen noch was, alles Mögliche machen wir noch«, er konnte sich schlecht verstellen.

»Wir malen uns aus, wie schwer sie es haben«, sagte sie.

»Ja, wir malen uns aus, wie schwer sie es haben«, bestätigte Hasan.

»Und wir malen uns aus, dass es uns nie so gehen wird wie ihnen …«

»Niemals …«

»Und deswegen sind wir glücklich …«

Eine halbe Stunde später stand Al Rahimi vorm Haus. »Sei gegrüßt, Bruder«, sagte der Araber zu Hasan. Wäre ich Piero, hätte ich ihn längst einmal gefragt, wieso ich sein Bruder bin, dachte Hasan, wegen der Religion oder weil wir beide Männer sind. Angela hüpfte in Aschenbrödelschuhen und lila Öko-Pelzmantel herum und küsste Al Rahimi gewehrsalvenmäßig das ganze Gesicht ab, er riss mit einer damenhaften Bewegung inklusive Knicks die Tür seines Grand Voyager auf, »um drei, halb vier!«, rief Angela, und dann waren sie weg.

Er sah der Schneewolke nach, die sich entlang der gewundenen Straße zum Ortsausgang von Toledo wieder abgesenkte und in deren Mittelpunkt die Frau saß, die er liebte. Er war so schuldig, wie nur Männer schuldig sein können, die ihre Frauen nie betrogen und schon beim Anblick der nackten Brüste von Pamela Anderson leichte Gewissensbisse haben. Er wollte Piero anrufen, ihm sagen, dass er die ganze Geschichte mit den Benzinkosten vergessen sollte, die ganze Geschichte von heute Nachmittag, das sei alles Quatsch gewesen, er sei nervös und nicht ganz zurechnungsfähig gewesen, Männermenstruation oder so etwas in der Art. Er betrachtete Buick Rivera, dessen Scheiben bereits zufroren. Das gute alte Auto hockte im Schnee und wirkte irgendwie vernachlässigt. Obwohl auf dem Blech nicht der klitzekleinste Kratzer und nicht der mindeste Anflug von Rost zu sehen war, war es ein Gebrauchtwagen, auf den die Greifer der Schrottpressen lauerten, um ihn in einen Zauberwürfel aus Blech und Glas zu verwandeln. Das ist einer der abschreckendsten Anblicke, die die Zivilisation zu bieten hat: Schrottreife Buicks, Chevrolets, Cadillacs, die darauf warten, verschlungen zu werden. Gestern noch hätte so mancher für jede dieser Karossen sein Leben gegeben, den Nachbarn verprügelt, falls der mit dem Schlüssel die Autotür verkratzt hätte, und jetzt ist plötzlich alles anders. Es müsste eigentlich normal sein, dass die ganze Familie mit Blumen in der Hand und Tränen in den Augen das alte Auto zur ewigen Ruhe geleitet.

Er fuhr mit der Hand über das vereiste Blech, und schon packte ihn neuer Kummer, ein Gedanke, den ein erwachsener Mensch nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen sollte: Es wäre eigentlich gut, wenn du bekloppt wärst. Dann könntest du alles rauslassen, was du schon immer loswerden wolltest, aber du bist ja nicht verrückt. So gesehen haben nur Irre ein erfülltes Leben. Sie reden sich alles von der Seele. Auch, dass sie ihre Autos wie einen Freund und weit mehr als die Heimat liebten. Die Erinnerung an einen Gebrauchten, der längst entsorgt wurde, der in der Herzegowina in einer Grube oder einer Klamm oder auf dem Grund der Adria oder mitten in einem bosnischen Wald liegt, ist blanke Nostalgie für Menschen, die mit der technologischen Revolution groß geworden sind. Einem gebürtigen Amerikaner bedeutet ein altes Auto wahrscheinlich nicht mehr, als wenn er eine Flasche Bier leert oder eine Zigarettenschachtel mit der Telefonnummer eines Freundes, den er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat, wegwirft; aber Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation zu Autos dieselbe Beziehung aufgebaut haben wie zu Freunden, weil sie sich den einen wie den anderen verpflichtet fühlen, dürfen erst im Irrenhaus die Wahrheit sagen. Man begreift, dass einen mit Menschen und mit Dingen dieselben Fäden verbinden und der Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem darin besteht, dass das Belebte spricht und fühlt, während das Unbelebte schweigt. Aber wenn sie anfangen zu vergehen, sich aufzulösen, zu sterben und in darunter angezündeten Feuern zu verbrennen, schwindet der Unterschied. Was könnte das sein, durch das ein zerstörtes Haus weniger wichtig wird als ein toter Freund? Beide sind unwiederbringlich, wenn sie auf dieselbe Art getötet wurden. Solche Gedanken gingen ihm über sich und Buick Rivera durch den Kopf, bis ihm kalt wurde.

Das Haus wirkte verlassen, als würde schon lange niemand darin leben. Er setzte sich vor den Fernseher, zündete eine Zigarette an und starrte auf den leeren Bildschirm. Das Einzige, wofür er ihn eingeschaltet hätte und was er wirklich gern gesehen hätte, wären alte Basketballspiele, etwa ein Olympiafinale, dessen Ergebnis man kennt, aber so etwas wird auf keinem Kanal gesendet. München 1972 beispielsweise, als die Russen in letzter Sekunde die Amerikaner besiegten und unsere Leute nicht wussten, ob sie jubeln oder fluchen sollten. Die Schwächeren hatten gewonnen, was das Herz der Menschen seit jeher zum Tanzen bringt, weswegen man auch mit den Bankräubern fiebert, hinter denen die Polizei her ist, aber es hatten eben die Russen gewonnen, und wer hätte sich in jenen Jahren bei uns über einen Sieg der Russen gefreut? Nein, das hatte nichts mit Politik zu tun. Wer könnte Fan von Typen sein, die nie lächelten, sich nie über den Schiedsrichter aufregten und die hässlichsten Trikots der ganzen Olympiade trugen? Aber jetzt hätte er genau dieses Spiel gern gesehen. Spüren, wie er und das Spiel sich in den letzten dreißig Jahren verändert hatten. Es konnte nicht mehr dasselbe sein, keine Sache bleibt dieselbe, alles verändert sich und wird älter oder jünger, denn auch das ist möglich. Die Zeit lässt nur das Materielle zu Staub zerfallen, dachte er, und das meiste, über das sich nachdenken lässt, ist nicht aus Stoff, deswegen altert und verjüngt es sich aus den unterschiedlichsten Gründen, aber bestimmt nicht, weil die Zeit verrinnt. Manchmal werden Sachen schneller jünger, als sie je altern könnten.

Er rauchte und ihm schien, als sei nichts mehr wie gestern. Das Spielfeld war neu geordnet, das System aus den Fugen, und er wusste nicht mehr, wann er im Recht und wann im Unrecht war. Die Situation ist nicht neu, seit langem schon aus Filmen bekannt, aber Hasan Hujdur mochte diese Filme nicht. Er war mit Western aufgewachsen, die um drei Uhr nachmittags für sieben Studenten und den Zigeuner Mišo gezeigt wurden, und in denen von Anfang an feststand, welche Seite gut und welche böse war; er wollte nicht einsehen, dass es Filme gab, bei denen man bis zum Schluss nichts begreift, und selbst wenn, hätte es nicht viel geholfen. »Vom Kino wird der Mensch nicht schlauer, er merkt nur, dass die anderen auch nicht schlauer sind, und das macht es ihm leichter«, pflegte Hasans Opa zu sagen, der alte Muzafer-Efendi, der für einen österreichischen Film als erster bosnischer Stuntman einen mexikanischen Prinz Habsburger Abstammung mimte und in dieser Rolle auf einem Rappen über das Duvanjsko Polje geritten war.