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Deutschland hat viele Probleme – und die meisten haben eine gemeinsame Ursache: die Bürokratie. Ein Dickicht aus gut gemeinten Gesetzen, überflüssigen Detailregeln und antiquierten Verwaltungspraktiken bremst die Entwicklung des Landes und gefährdet sogar die Demokratie. Patrick Bernau legt anhand einer Vielzahl von Beispielen aus dem Alltag der Menschen und Unternehmen den Finger in die Wunde – ein Buch mit Aufreger-Potenzial, das gelegentlich aber auch zum Schmunzeln einlädt.
Die Bahn wird immer unpünktlicher, es werden nicht genug Wohnungen gebaut, und deutsche Unternehmen ächzen angesichts überbordender Meldepflichten. Ärzte verbringen täglich drei Stunden mit Papierkram statt mit der intensiven Betreuung und Versorgung ihrer Patienten. Landfrauen dürfen nach 48 Jahren keinen Kuchen mehr verkaufen. Und selbst Bundesminister scheitern an den komplizierten Regeln des Staates. Ein System, das einst Ineffizienz und Korruption verhindern sollte, lähmt nun das ganze Land. Dieses Buch dokumentiert die absurden Auswüchse der deutschen Regelungswut, analysiert ihre tieferen Gründe – und zeigt Wege, wie wir aus der Bürokratiefalle entkommen können, bevor es zu spät ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Patrick Bernau
Bürokratische Republik Deutschland
Report aus einem überregulierten Staat
C.H.BECK
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Ein Problem namens «Bürokratie» – Warum Sie keinen Arzt finden und die Landfrauen keinen Kuchen backen dürfen
Wie Deutschland leidet
Das Problem wächst
Wie Sinnvolles verhindert wird
Blockade der Politik
Das Misstrauen wächst
Das Gute an der Bürokratie
Warum es zu viel wird
Wie Überregulierung sich selbst abschafft
Die Verwaltung kapituliert
Ist jeder Versuch vergeblich?
Der falsche Bürokratieabbau
Wo die Hoffnung herkommt
So geht es jetzt weiter
In Deutschland sind alle zuständig – Warum Bahnstrecken nicht fertig werden und sich Mehrarbeit nicht lohnt
Wie Bund, Länder und Kommunen einander blockieren
Der Föderalismus sollte schon immer blockieren
Das Kartell der Bundesländer
Falscher Föderalismus
Verworrene Verwaltung
Inzwischen ist jeder zuständig
Selbst die Beschleunigung verlängert Projekte
Sogar die Politik verheddert sich
Die linke und die rechte Hand
Der Staat misstraut uns – und auch sich selbst
Viele Behörden verderben das Projekt
Das Problem mit der Europäischen Union
Paternalismus und andere Bevormundungen – Warum die Bank Ihnen so viel Papier schickt und Sie nicht arbeiten dürfen, wann Sie wollen
Die Grenzen von Europas Macht
Neue Technik, alte Fehler
Viel Aufwand, wenig Schutz
So viel Schutz wollen die Leute gar nicht
Der Papierkrieg mit der Bank
Wie der Staat uns vor dem Guten schützt
Wir bevormunden die anderen gerne
Paternalismus war mal etwas Gutes
Wie der Schutz uns schadet
Die Gründe für die Bevormundung
Die große Wein-Freiheit
Grenzen des Paternalismus
Der Schutz wird zur Belastung
Der Staat entscheidet, wann wir arbeiten dürfen
Verbraucherschutz als Opfer des Lobbyismus
Ein Pizza-Rezept wird zum Gesetz
Wann Verbraucher wirklich Schutz brauchen
Wann Verbraucher auf sich selbst aufpassen können
Die beste Moral bringt die schlechtesten Gesetze – Warum Wohnungen knapp sind und der Kohleausstieg unnütz
Man kann kaum leben, ohne anderen zu schaden
Niemand will ein Egoist sein
Warum in Städten immer noch Wohnungen fehlen
Gute Moral – schlechtes Gesetz
Gut gemeint oder gut gemacht?
Moralische Gesetze machen besonders viel Ärger
Beliebte Symbolpolitik
Schlechte Gesetze und ihre Nebenwirkungen
Gesetze kann man auch besser machen
Europa wird übergriffig
Die Untiefen der Verwaltung – Warum wir Anträge vierfach abgeben müssen und trotzdem keine brauchbare Antwort bekommen
Die Verantwortung der Ämter
Wie überlastet ist der öffentliche Dienst?
Die Digitalisierung geht nur im Modem-Tempo voran
Wie die Verwaltung ihre und unsere Zeit verschwendet
Deutschlandtempo und deutsches Ämtertempo
Die Verwaltung tickt anders – nicht immer besser
Warum die Verwaltung anders tickt
Die Verwaltung schmort im eigenen Saft
Es sind nicht nur die Ämter
Es beginnt mit den Chefs
Eine Fehlerkultur fehlt
Wie frei soll die Verwaltung sein?
Wie es trotzdem funktionieren kann – Ein paar Ideen zur Verbesserung – und zwar für jeden
In der Politik
Reformieren Sie den Föderalismus.
Beschließen Sie Gesetze mit Verfallsdatum.
Machen Sie’s einheitlich.
Weg mit den Scheuklappen!
Verzichten Sie auf Ihre Ausnahme.
Entscheiden Sie sich.
Schreiben Sie das Ziel vor, nicht die Mittel.
Haben Sie Vertrauen.
Absolvieren Sie ein Seminar in Personalführung.
In der Verwaltung
Holen Sie Quereinsteiger.
Ernennen Sie Projektverantwortliche.
Überdenken Sie Ihr Personalmanagement.
Arbeiten Sie auf Vorrat.
Digitalisieren Sie.
In der Wissenschaft
Überprüfen Sie neue Gesetze.
Bleiben Sie bescheiden.
Denken Sie auch mal in andere Richtungen.
Bei uns allen
Nehmen Sie etwas hin.
Nutzen Sie die digitalen Angebote.
Unternehmen Sie selbst etwas.
Es kann funktionieren
Danke.
Weiterführende Literatur
Register
Zum Buch
Vita
Impressum
Warum Sie keinen Arzt finden und die Landfrauen keinen Kuchen backen dürfen
Stellen Sie sich einmal vor, Deutschland hätte in seinem überlasteten Gesundheitssystem von heute auf morgen zehntausende zusätzliche Ärzte und Pfleger. Die Patienten würden besser und freundlicher behandelt und versorgt, sie bekämen viel schneller einen Untersuchungstermin. Wahrscheinlich würden einige ihre Krankheiten überleben, die heute noch daran sterben. Das klingt zu gut, um wahr zu sein? Dann kommen Sie mal mit auf einen kleinen Ausflug in Deutschlands Kliniken.
Dort werden die einzelnen Abteilungen alle fünf Jahre auf Herz und Nieren geprüft. Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen kommen zum Beispiel in die Chirurgie und kontrollieren, ob das Krankenhaus den Vorschriften entsprechend ausgestattet ist – denn nur dann bekommt das Krankenhaus Geld von der Krankenkasse. Stimmt der Dienstplan mit der Realität überein? Haben die Ärzte wirklich genug Berufserfahrung, oder haben sie zwischendurch ein paar Jahre nur in Teilzeit gearbeitet?
Dann kommen die Sonderfälle: Wenn das Krankenhaus spezielle Kinderchirurgie anbietet, sind jederzeit mindestens fünf Fachärzte rufbereit? Wenn «teilstationäre interdisziplinäre Schmerztherapien» geleistet werden, arbeitet dann ein Psychotherapeut im Team mit und auch ein Physiotherapeut? Das Krankenhaus muss Facharzt-Urkunden vorlegen, Arbeitsverträge und die Vertretungsregelung. Wenn ein Arzt bei der Hochzeit einen neuen Namen angenommen hat, muss das Krankenhaus auch seine Eheurkunde vorzeigen. Allein die Vorschriften für diese Prüfung umfassen rund 600 Seiten.
Insgesamt muss ein Krankenhaus rund 100 Stunden Arbeitszeit von Ärzten dafür einplanen, so hört es Peter Bobbert immer wieder, der Präsident der Ärztekammer Berlin und selbst Oberarzt in einem Krankenhaus. 100 Stunden: Das sind mehr als zehn Arbeitstage, in denen ein Arzt sich nicht um Patienten kümmern kann. Die ganze Prozedur ist aufwendig, aber nötig. «Niemand will sie abschaffen», sagt Bobbert.
Einen Monat später allerdings kommt der Medizinische Dienst wieder. Dann prüft er die Notfallmedizin. Dafür ist die Chirurgie auch wichtig. Also werden die Chirurgen noch mal kontrolliert. «Ich schätze: Zwei Drittel der Daten werden einfach noch einmal erhoben», sagt Bobbert. Warum der ganze Aufwand?
Der Medizinische Dienst kommt mit einem neuen Team. Die Prüfer wissen nicht, was ihre Kollegen einen Monat vorher festgestellt haben, und fordern alle Daten noch einmal an. Also gehen noch einmal mehrere Arbeitstage von Ärzten verloren. Und der Medizinische Dienst sagt: Es geht gar nicht anders, das Gesetz schreibt es so vor.
Das alles wäre kein großes Problem, sondern nur ein kleines Ärgernis, das sich in den kommenden Jahren wegen eines neuen Gesetzes sowieso entschärfen wird – wenn, ja wenn dieses Vorgehen nicht symptomatisch wäre für die Lage im Gesundheitssystem. Und für Deutschland insgesamt.
In den vergangenen Jahren haben Parlamente und Regierungen eine Regel nach der anderen beschlossen, immer mit guter Absicht. Sie haben die Verwaltung immer noch ein bisschen komplizierter gemacht – so lange, bis das Dickicht aus Regeln und Verwaltung praktisch jedes Vorankommen verhindert. «Bürokratie» nennen die Deutschen das Problem. Es ist ein Ärgernis für jeden einzelnen. Es hemmt Unternehmen, die dem Land Wohlstand bringen sollen. Und es blockiert selbst Politiker, die das Land auf aktuelle Herausforderungen vorbereiten wollen. Das ist nicht nur lästig und teuer. Am Ende gefährdet diese Erstarrung sogar die Demokratie.
Um all das soll es in diesem Buch gehen. Bleiben wir aber noch einen Moment bei den Ärzten. Zehn Arbeitstage pro Abteilung alle fünf Jahre – damit könnte man leben, wenn es weiter nichts wäre. Doch es gibt noch viel mehr. Jeden Handgriff müssen die Ärzte dokumentieren, weil die Krankenkassen vielleicht eines Tages die Abrechnungen überprüfen wollen. Sie müssen sich auch dagegen absichern, in Haftung genommen zu werden, wenn die Behandlung schiefgeht. Und dann brauchen sie unterschriebene Einverständniserklärungen von den Patienten für jede Petitesse, selbst wenn die nur entlassen werden oder wenn ihre neu geborenen Kinder einen Hörtest bekommen sollen.
Rund drei Stunden am Tag ist jeder Arzt im Durchschnitt nur mit Bürokratie beschäftigt, hat die Ärztegewerkschaft Marburger Bund erfragt. Bei Krankenpflegern sind es nur ein paar Minuten weniger. Das heißt auch: Würde die bürokratische Last im deutschen Gesundheitssystem nur halbiert, dann gewänne Deutschland die Arbeitskraft von rund 30.000 in Vollzeit arbeitenden Ärzten allein in den Krankenhäusern, von weiteren zehntausenden Ärzten in den Praxen und von mehr als 60.000 Krankenpflegern.
Natürlich sind Krankenhäuser nicht die einzigen, die unter diesem Problem leiden. Es leidet ganz Deutschland. Unternehmer leiden, wenn sie ein neues Werk oder eine ganz neue Idee in die Welt bringen wollen. Wissenschaftler leiden, wenn sie neue Entdeckungen zum Wohl der Menschheit machen wollen. Politiker leiden, wenn sie dringend nötige Reformen anpacken wollen. Und jeder Bürger leidet ganz individuell. Das gilt nicht nur beim Kontakt mit Ämtern und Sozialversicherungen, der oft schwierig genug ist. Es geht noch viel weiter: Sie wollen die gleichen ETFs kaufen wie sonst, aber Ihre Bank verordnet Ihnen erst mal ein Finanz-Quiz? Sie können nicht ungestört im Internet unterwegs sein, ohne ständig Cookie-Banner wegzuklicken? Ihr neues Auto macht während der Fahrt ständig laute Töne, weil es glaubt, Sie würden zu schnell fahren – dabei hat es nur die Verkehrsschilder falsch erkannt? All das hat mit Bürokratie zu tun. Und die ist in den vergangenen Jahren kräftig gewachsen.
Die Bundesregierung hat im Jahr 2006 einen so genannten Nationalen Normenkontrollrat eingerichtet: Wissenschaftler, Praktiker und andere Experten versuchen abzuschätzen, was neue Gesetze an Kosten verursachen. Laut ihrer Schätzung ist der Aufwand für die Befolgung neuer Gesetze in Deutschland seit 2007 um 27 Milliarden Euro im Jahr gestiegen. Die Bürger tragen davon nur vier Milliarden Euro, also 50 Euro pro Kopf und Jahr. Die Verwaltung trägt weitere neun Milliarden, das meiste tragen die Unternehmen.
Da ist der Baustoff-Unternehmer, der in Stuttgart beim Bau des Eisenbahntunnels den Aushub wegschafft. Dieser Aushub ist nur leider – von Natur aus – mit Sulfat belastet. In Baden-Württemberg reißt selbst dieser natürliche Aushub die Grenzwerte. Das Material müsste auf eine Deponie gebracht werden, die nach allen Seiten hin abgedichtet wird. Die Lösung ist am Schluss gedanklich simpel, praktisch aber kompliziert: Der Aushub wird ins Ruhrgebiet verschifft. Dort darf man damit Böschungen sichern.
Da sind die Landfrauen in Bordesholm, die gerne auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt Kuchen verkaufen wollten – so wie immer seit 48 Jahren. Doch weil das Gesundheitsamt mehr und mehr Kuchenverkäufe von Vereinen kontrollierte, rief die Vorsitzende beim Gesundheitsamt an und fragte nach den Regeln. «Da ist mir dann doch das Herz in die Knie gesackt», sagte sie dem Magazin SPIEGEL. Denn in privaten Küchen durften die Torten nicht hergestellt werden, die Küchen mussten zertifiziert sein. Alle, die einen Kuchen backen wollten, brauchten ein Gesundheitszeugnis, so schildert sie es. Für die Helfer im Verkauf war eine Hygienebelehrung nötig. «Und es muss für jede Torte eine Zutatenmappe geben, in der alle Zusatzstoffe und Allergene aufgelistet sind. Das übersteigt unsere Möglichkeiten.»
Da sind auch Tausende von Unternehmen, die sich jahrelang mit enormem Aufwand auf die von der EU verlangten Nachhaltigkeitsberichte vorbereitet haben. Den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte sollten die Unternehmen bis in die letzte Schraube aus Asien hinein nachverfolgen, jeden geöffneten Farbeimer sollten sie protokollieren und seine Umweltauswirkungen angeben. All das sollten sie nach den Wünschen der EU berichten und prüfen lassen. Ein simpler Bericht sollte nicht so kompliziert sein, denkt man. Doch diese Detailversessenheit hat es in sich. Der Normenkontrollrat hat geschätzt, dass allein diese Berichte jedes Jahr rund 1,6 Milliarden Euro kosten. «Noch nie wurde durch nur ein einziges Vorhaben ein so hoher Aufwuchs an Bürokratiekosten ausgelöst», heißt es in einem Gutachten des Rates. Kleinere Unternehmen will die EU jetzt von den Berichten entlasten. Die Großen stehen aber immer noch in der Berichtspflicht.
Die direkten Kosten sind nur ein Teil des Problems. Es geht noch weiter. Kleine Zulieferer in armen Ländern können die komplizierten Dokumentationspflichten aus Deutschland oft nicht erfüllen. Deshalb verlieren manche Zulieferer in armen Ländern ihre Aufträge und werden noch weiter in die Armut getrieben.
Auch die Deutschen gehen einige Vorhaben gar nicht mehr an, weil sie so kompliziert geworden sind. In Frankfurt wurde das Kurzfilm-Festival «Shorts at Moonlight» eingestellt, auch weil die Vorschriften immer komplizierter wurden und 70-seitige Sicherheitskonzepte verlangt wurden. In Husum schloss ein Straßenbau-Unternehmen, weil der 46-jährige Chef Michael Hoff die Hälfte seiner Arbeitszeit für Bürokratie aufwenden musste. In Hamburg beendete das KI-Unternehmen Oxolo den Betrieb und gab die Schuld den europäischen KI-Regeln. Und das sind nur die Fälle, in denen vorher überhaupt etwas gegründet worden war. Niemand kann wissen, welche guten Ideen vor lauter Komplexität erst gar nicht angegangen wurden.
«[Es ist] keine Seltenheit, dass sich die Bewilligung von Forschungsförderanträgen ein dreiviertel Jahr und in manchen Fällen sogar zwei Jahre hinzieht», schreibt die Expertenkommission Forschung und Entwicklung. Zwei Jahre – da hat die Konkurrenz aus anderen Ländern ihre Forschungsvorhaben manchmal schon beendet.
All das macht unser Land ärmer, nicht nur finanziell. Oft werden Schulen nicht so weit digitalisiert wie möglich, weil es für die Schulträger zu kompliziert ist, das Fördergeld beim Staat zu beantragen. Jedes Künstliche-Intelligenz-Startup, das angesichts komplizierter KI-Regeln nicht mehr gegründet wird, macht das Land ärmer. Auch die Krankenhäuser leiden darunter: Eigentlich sollten sie für die Behandlung unversicherter Patienten Geld von der öffentlichen Stelle bekommen, die die Sozialhilfe bezahlt. So sieht es das Gesetz vor – Paragraf 25 des zwölften Buchs des Sozialgesetzbuches, um genau zu sein; auch im Asylbewerberleistungsgesetz gibt es eine ähnliche Regelung. In Berlin gibt es mehr unversicherte Patienten, als man gemeinhin denkt. Doch der Antrag macht so viel Arbeit, dass viele Krankenhäuser auf die Erstattung des Geldes lieber verzichten. Auch so geht dem Gesundheitswesen Geld verloren. Nebenbei verliert die Politik an Macht: Sie hat sich zwar Regeln ausgedacht, die sie sinnvoll findet – doch die werden vor lauter Komplexität überhaupt nicht eingehalten. Am Schluss wird die Demokratie geschwächt: Bürger haben für eine Politik gestimmt, die nicht umgesetzt wird.
Das Ifo-Institut in München hat versucht, all diese Effekte abzuschätzen. Das Ergebnis ist deutlich. Doch um es zu verstehen, müssen wir uns ins Jahr 2015 zurückdenken: Es war das Jahr, in dem die Griechenlandkrise erst eskalierte und dann ein Ende fand, und in dem danach Hunderttausende syrische Flüchtlinge sich auf den Weg nach Deutschland machten. Man kann nicht sagen, dass Deutschland damals eine Bananenrepublik war, eher war das Land damals schon etwas überreguliert. Auf dieses Jahr bezieht sich das Ifo-Institut. Hätte Deutschland damals einen umfassenden Bürokratieabbau angestoßen, dann läge das Einkommen jedes Deutschen heute durchschnittlich um fast 2500 Euro im Jahr höher, vom Säugling bis zum Greis. Deutschland sind fast 150 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung entgangen. Hätte die Bundesregierung die entsprechenden Steuern eingenommen, würde das jährlich viel diskutierte Haushaltsloch deutlich kleiner ausfallen. Da ist es kein Wunder: In einer Umfrage von Ifo-Institut und FRANKFURTER ALLGEMEINER ZEITUNG unter 650 deutschen Ökonomen im Jahr 2024 galten Regulierung und Bürokratie als größte Probleme der Bundesrepublik, mehr als 80 Prozent der Ökonomen hielten beides für eine Schwäche des Landes.
Aber die Politik leidet noch darüber hinaus. Viele Vorhaben der Regierungen scheitern, weil sich die Politik selbst im rechtlichen Dickicht verheddert.
Der Bau kürzerer Bahnstrecken dauert in Deutschland vom Beginn der Planung bis zum ersten fahrenden Zug locker 25 Jahre. Gesetzeslage ist im Moment, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral sein soll – also in kürzerer Zeit. Das heißt: Auf dem bestehenden Bürokratieniveau können Politiker nicht mal mehr neue Bahnstrecken bauen, um Deutschland rechtzeitig klimaneutral zu machen. Wenn sich daran nichts ändert, verhelfen auch Hunderte Milliarden an neuen Staatsschulden dem Land nicht zu besseren Schienen. In diesem Buch werden wir noch einige Beispiele sehen, bei denen die Bundesregierung ihr Geld vor lauter Bürokratie gar nicht losgeworden ist.
Oder denken wir zurück an die Zeit nach Beginn des Ukrainekrieges, als Gas und Benzin so teuer wurden. Da wurde das Geld ausgegeben – aber nicht so, wie die Bundesregierung es vorgesehen hatte, sondern mit wesentlich weniger Wirkung. Wie gerne hätten Politiker der Bundesregierung damals Pro-Kopf-Hilfen an die Deutschen gezahlt, aber das ließ der Zustand der Verwaltung nicht zu. Nur die Gemeinden kannten alle Bürger mit Kontonummer, aber auf die hatte der Bund keinen direkten Durchgriff.
Dann begann die Suche nach Alternativen: Sollte man stattdessen die Mehrwertsteuer senken? Das wäre schwierig geworden, denn die geht zum Teil an die Länder, und die hätten wahrscheinlich nicht zugestimmt. Oder die Einkommensteuer reduzieren? Das betrifft nur Menschen, die Steuern zahlen – gerade die Ärmsten wären dann durchs Raster gefallen. Oder nur die Hartz-IV-Sätze erhöhen? Das hilft den Ärmsten der Gesellschaft, aber nicht der unteren Mittelschicht, bei der das Geld ebenfalls knapp ist.
Schon seit Jahren bemängeln Ökonomen zu Recht, dass arbeitende Menschen mit niedrigen Gehältern manchmal schlechter dastehen als Hartz-IV-Empfänger, auch weil die Regeln aus Steuer- und Sozialrecht nicht richtig zueinanderpassen; auf dieses Bürokratieproblem werden wir ebenfalls noch zu sprechen kommen.
Am Ende stand ein Tankrabatt, den niemand wirklich wollte, nicht mal seine Erfinder. Und eine unglaublich komplexe Gaspreisbremse, die kein Endkunde jemals richtig verstanden hat – und, wie der Normenkontrollrats-Vorsitzende Lutz Goebel erzählt: die so kompliziert gewesen sei, dass viele Unternehmen sie gar nicht in Anspruch genommen hätten.
Tankrabatt und Gaspreisbremse waren nicht die einzige Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Europa wurde sich auch darüber bewusst, dass es dringend aufrüsten muss, um sich besser verteidigen und Gegner besser abschrecken zu können. Doch während die Bundesregierung darüber nachdachte, eine Wehrpflicht einzuführen, damit Deutschland kriegstüchtiger wird, hatte sie den Kontakt zu fast einer Million trainierter Reservisten verloren, rund 93.000 davon haben einen Afghanistan-Einsatz hinter sich. Der Chef des Reservistenverbands sagte der FINANCIAL TIMES: «Das ist verrückt.» Und: «Wir wissen nicht mal, wie fit sie körperlich sind und ob sie noch einmal dienen möchten.» Warum kann man sie nicht einfach wieder ausfindig machen? Weil das der Datenschutz verbietet. Das Soldatengesetz sieht zwar vor, dass Soldaten ihren Umzug von sich aus melden – aber viele tun das nicht, und die Bundeswehr darf nicht bei den Einwohnermeldeämtern nachfragen. Die Zeitung zitiert das Verteidigungsministerium mit den Worten: Gute Kommunikation mit ehemaligen Soldaten sei wichtig, der Datenschutz aber auch.
So geht es oft: Entscheidungen aus früheren Zeiten setzen der Politik von heute so viele Grenzen, dass sie nicht mehr gut die Richtung ändern kann.
Ähnlich lief es mit der Migration. In den vergangenen Jahren kamen Bundes- und Landesregierungen allmählich überein, dass Deutschland mehr Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis abschieben müsse. Es folgten markige Ankündigungen und ein Interview des damaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz im SPIEGEL, in dem er forderte: «Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.» Was immer man politisch davon halten mag – sein Ziel erreicht hat Scholz jedenfalls nicht. Die Zahl der Abschiebungen stieg allenfalls um ein paar Tausend. Der Grund sind oft rechtliche Details: Hindernisse an der Abschiebung, Gerichtsurteile und vieles mehr. Die Europäischen Gerichte sollen Abschiebungen in Länder verhindern, in denen ihnen eine unmenschliche Behandlung droht – inzwischen geht es längst nicht mehr nur um Folter, sondern manchmal sogar um die Arbeitslosigkeit im Land. Und selbst von den Abschiebungen, die in Deutschland trotzdem versucht werden, scheitern mehr als 60 Prozent. Wie gesagt: Menschlich und politisch mag man davon halten, was man will. Aber dass die Bundesregierung nicht mehr in der Lage ist, ein laut angekündigtes politisches Ziel zu verwirklichen, das ist nicht gut.
Das führt zu einem Problem, das noch viel schwerwiegender ist als 150 Milliarden entgangene Euro im Jahr: Das Misstrauen in den Staat wächst. In den vergangenen Jahren hielten mehr und mehr Deutsche den Staat für überfordert. 70 Prozent waren es in einer Umfrage des Deutschen Beamtenbundes und des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Jahr 2024. Nur noch jeder vierte Deutsche glaubte, der Staat sei in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Eine relative Mehrheit der Deutschen hatte den Eindruck, die Lage sei über die Jahre schlechter geworden. Da ist es kein Wunder, wenn mancher Wähler zu extremeren Parteien überläuft. In Österreich hat die FPÖ dieses Thema ausdrücklich für ihren Wahlkampf genutzt: «Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht», so sagte es Herbert Kickl schon lange, bevor er 2024 in Österreich die Wahl gewann.
In Deutschland dagegen wollte man Energie sparen, nachdem Putin die Ukraine angegriffen hatte. Die Stadt Tübingen trug ihren Teil bei und schaltete nachts die Straßenlaternen aus: An vier Tagen in der Woche blieb es von 1 Uhr bis 5 Uhr dunkel, in Ausgehnächten kürzer. Dann allerdings schaltete sich das Regierungspräsidium ein und verwies auf die so genannten «Richtlinien für die Anlage und Ausstattung von Fußgängerüberwegen» aus dem Jahr 2001, Abschnitt 3.4, Absatz 1: Die Fußgängerüberwege müssen beleuchtet sein. Tübingen hatte natürlich keinen Extra-Schalter für die Zebrastreifen, also mussten alle Straßenlaternen weiterleuchten.
Und dann kam die vorgezogene Bundestagswahl 2025. Einst hielten es die Mütter und Väter des Grundgesetzes für vollkommen ausreichend, innerhalb von 60 Tagen nach der Auflösung des Bundestages neu zu wählen – länger dürfe das gar nicht dauern. Doch in Zeiten der Digitalisierung fanden Bundeswahlleiterin und Landeswahlleiter 2025 das ganze sehr sportlich, einige rieten sogar von der Briefwahl ab. Tatsächlich klagten hinterher viele Deutsche im Ausland darüber, dass sie ihre Wahlzettel nicht rechtzeitig bekommen hatten.
So trägt Bürokratie zur Unzufriedenheit mit dem Staat bei. Aber es geht sogar noch schlimmer. Denn es gibt eine zweite Folge des Schlamassels, die indirekter wirkt, das Land aber möglicherweise noch nachhaltiger in Unruhe versetzt.
Klar ist inzwischen: Selbst die beste Politik kann das Land kaum noch verändern, nur kleine Anpassungen scheinen noch möglich. Besonders ausgeprägt zeigt sich diese Entwicklung, wenn sich politische Prioritäten ändern. Dann werden die aktuellen politischen Ziele von den Bestimmungen früherer Tage aufgehalten – und es fällt Regierungen schwerer, den Kurs des Landes zu ändern. Doch der Soziologe Armin Nassehi hat festgestellt: Wenn eine Krise herrscht, werden plötzlich alle Widerstände aus dem Weg geräumt.
In der Flüchtlingskrise wurde das zuständige Bundesamt umgebaut, in der Ukraine-Krise wurden 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr mobilisiert, in der folgenden Gaskrise plötzlich in enormem Tempo Flüssiggas-Terminals genehmigt und nach einer Rede des amerikanischen Vizepräsidenten die Schuldenbremse geschleift.
Wenn eine Krise herrscht, dann geht vieles, das vorher nicht möglich war. Darum hat jeder mit einem Anliegen einen wachsenden Anreiz, eine Krise heraufzubeschwören – und umso öfter ist in Politik und Medien von Krisen die Rede. Wenn wir uns also wundern, dass Deutschland in den vergangenen Jahren so viele Krisen erlebt hat: Vielleicht lag es auch daran, dass man aus dem, was früher vielleicht nur ein Thema oder ein Problem gewesen wäre, heute eine Krise macht. Auch das sorgt für Unruhe im Land, die die Demokratie noch ein bisschen mehr gefährdet.
«Wenn es uns misslingt, das Vertrauen von Bürgern und Unternehmen zurückzugewinnen, droht uns der Demokratieinfarkt», sagt Stefan Kolev, der Leiter des Ludwig-Erhard-Forums in Berlin, «weil die Mitte der politischen Ordnung sich dann außerstande gezeigt hat, dieses Problem zu lösen, welches die täglichen Beziehungen der Ordnung zu Bürgern und Unternehmen so intensiv tangiert wie sonst nur die Besteuerung.»
Ist Bürokratie immer und überall überflüssig? Natürlich nicht. Wer so denkt, wird an diesem Buch keine Freude haben. Hier geht es nicht darum, den Staat kurz und klein zu hacken. Denn wahr ist: Bürokratie ist eine große Errungenschaft der Staatskunst.