Caro Pier Paolo - Dacia Maraini - E-Book

Caro Pier Paolo E-Book

Dacia Maraini

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Beschreibung

Dacia Maraini träumt von Pasolini, noch immer, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod. Ihre Träume rufen Erinnerungen wach, Erinnerungen, die Maraini mit ihrem unsterblichen Freund teilen möchte. Darum schreibt sie ihrem »Caro Pier Paolo« Briefe, sehr persönliche Briefe, in denen sie ihn fragt: »Erinnerst du dich?« Einfühlsam, aber nie sentimental erzählt Maraini von der Unruhe, die Pasolini beherrscht hat, von seiner Zerbrechlichkeit als Privatperson und seinem Furor als Künstler. Aus zeitlicher Distanz liest sie noch einmal seine Gedichte, begibt sich auf eine Gedankenreise, die manchmal ins Ungewisse führt. Daneben stehen sehr konkrete, sinnliche Erzählungen von gemeinsamen, zum Teil abenteuerlichen Erlebnissen. Es sind vor allem Erinnerungen an Filmrecherchen in Afrika, beschwerliche Reisen, auf denen sie Maria Callas einmal begleitet hat. Unauslöschlich sind für Maraini auch die Erinnerungen an den gewaltsamen Tod ihres Freundes und an den Gefängnisbesuch bei Pino Pelosi, dem angeblichen Mörder Pasolinis. Caro Pier Paolo ist das stille, faszinierende Porträt zweier großer Persönlichkeiten und ein Hohelied auf die Freundschaft.

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Dacia Maraini träumt von Pasolini, noch immer, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod. Doch der Freund bleibt meistens stumm in ihren Träumen. Darum schreibt sie ihm und fragt: »Caro Pier Paolo, erinnerst du dich?« Einfühlsam, aber nie sentimental erzählt Maraini von der Unruhe, die Pasolini beherrscht hat, von seiner Zerbrechlichkeit als Privatperson und seinem Furor als Künstler. Aus zeitlicher Distanz liest sie noch einmal seine Gedichte, begibt sich auf eine Gedankenreise, die manchmal ins Ungewisse führt. Daneben stehen Anekdoten aus dem Kreis der gemeinsamen Freunde (allen voran Alberto Moravia, Elsa Morante und Maria Callas), Erinnerungen an heftige politische Debatten (besonders zur Studenten- und zur Frauenbewegung) sowie farbige Erzählungen von zahlreichen, teils abenteuerlichen Afrikareisen. Unauslöschlich sind für Maraini aber auch die Erinnerungen an den gewaltsamen Tod Pasolinis und an einen Gefängnisbesuch beim angeblichen Mörder ihres Freunds.

Caro Pier Paolo, von Maja Pflug sorgsam ins Deutsche übertragen, ist das stille, faszinierende Porträt zweier großer Persönlichkeiten der italienischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts – und ein Hohelied auf die Freundschaft.

Dacia Maraini

Caro Pier Paolo

Briefe an Pasolini

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Die Publikation der Übersetzung erfolgt mit der freundlichen Unterstützung des italienischen Außenministeriums.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2022 unter dem Titel Caro Pier Paolo bei Neri Pozza Editore, Vicenza erschienen.

This edition published in agreement with the Proprietor through MalaTesta Literary Agency, Milan

© 2022 Neri Pozza Editore, Vicenza

© 2022 Rotpunktverlag, Zürich

(für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Sarah Schroepf

eISBN 978-3-85869-969-5

1. Auflage 2022

Inhalt

Caro Pier Paolo, heute Nacht habe ich von dir geträumt …

Caro Pier Paolo, oft werde ich gefragt …

Caro Pier Paolo, es ist merkwürdig …

Caro Pier Paolo, die Geschichte mit den Geckos …

Caro Pier Paolo, seit ich nach dem Tod meiner Mutter …

Caro Pier Paolo, für unsere afrikanischen Reisen …

Caro Pier Paolo, du hast mich immer leicht amüsiert angeschaut …

Caro Pier Paolo, gestern Abend …

Caro Pier Paolo, heute Nacht habe ich geträumt …

Caro Pier Paolo, es ist eigenartig …

Caro Pier Paolo, du hast schon immer wenig Romane gelesen …

Caro Pier Paolo, eines Abends …

Caro Pier Paolo, seitdem ich dir schreibe …

Caro Pier Paolo, ab und zu sprachst du über deine Ängste …

Caro Pier Paolo, soeben …

Caro Pier Paolo, ich sitze immer noch hier …

Caro Pier Paolo, ich halte immer noch den Band …

Caro Pier Paolo, du hast dich als »friulanisches Vögelchen« bezeichnet …

Caro Pier Paolo, erinnerst du dich an den Tag …

Caro Pier Paolo, noch einmal habe ich von dir geträumt …

Caro Pier Paolo, gestern Abend war ich so müde …

Caro Pier Paolo, Vor einigen Tagen …

Caro Pier Paolo, noch ein Traum …

Caro Pier Paolo, Und ein Diener mischt sein Suaheli …

Caro Pier Paolo, in meinen Büchern stöbernd …

Caro Pier Paolo, wenn ich an dich denke …

Caro Pier Paolo, diesmal sind wir nicht in Afrika …

Caro Pier Paolo, wieder ein Traum …

Caro Pier Paolo, gestern fand ich beim Kramen …

Caro Pier Paolo, über Maria hast du wenig geschrieben …

Caro Pier Paolo, wir sind nach wie vor in Afrika …

Caro Pier Paolo, jetzt, da ich über dich schreibe …

Caro Pier Paolo, heute Nacht habe ich geträumt …

Caro Pier Paolo, unversehens …

Caro Pier Paolo, die Erinnerungen hüpfen wie Heuschrecken …

Caro Pier Paolo, beim Wiederlesen deiner Gedichte …

Caro Pier Paolo, ich möchte diese Briefe …

Literaturnachweise

Über die Autorin

Caro Pier Paolo,

heute Nacht habe ich von dir geträumt. Mit dem gewohnten, sanften Lächeln hast du zu mir gesagt: »Hier bin ich!« Dann hast du eine Art malvenfarbene Weste ausgezogen und hinzugefügt: »Es ist heiß.«

Als ich dich umarmen wollte, glücklich, dich wiederzusehen, bist du verschwunden. Am Boden lag noch deine amarantrote Weste. Ich beugte mich vor, um sie aufzuheben, aber auch sie verschwand. An ihrer Stelle sah ich einen erschrockenen Gecko, der auf die Wand zulief.

Es ist so seltsam, dass ich nach all den Jahren im Schlaf die Möglichkeit finde, mich an dich zu erinnern und dich zu sehen. Du bist noch immer der junge Fünfzigjährige, mit dem ich in den sechziger und siebziger Jahren befreundet war: der gewandte, sportliche Körper, das ernste Gesicht, nicht mürrisch, sondern nachdenklich, der Blick verträumt, der Schritt entschieden und immer bereit, loszulaufen.

Auch heute Nacht standst du sprungbereit da und hattest einen sanften, fragenden Blick. Den Blick, der mir vertraut war und den ich liebte. Merkwürdig, wie sich Freundschaften manchmal durch Blicke ausdrücken, und was diese zwei Pupillen alles enthalten, die bereitwillig die Zeit verschlucken. Nun lebst du nur vor meinen inneren Augen und bewegst dich in dem außerordentlichen Raum, den der Blick der geschlossenen Augen umfasst.

Wie oft bist du zu Lebzeiten verschwunden, wenn wir zusammen unterwegs waren oder in Afrika in einer Garküche zu Mittag aßen. Du hattest diese Fähigkeit unterzutauchen, vor allem, wenn die Gesellschaft zu zahlreich war.

»Wo ist Pier Paolo? Er war gerade noch hier.«

Und dann suchten wir dich. Doch nach ein paar Minuten erschienst du wieder, fröhlich, wenn auch müde, und fuhrst fort, zerstreut auf deinem Teller herumzupicken oder die Milch zu trinken, die man dir nach dem Magengeschwür anstelle des Weins verordnet hatte.

Wie viele Gläser Milch habe ich dich trinken sehen. Ich weiß nicht, ob du Milch mochtest. Beim Abstellen des Glases verzogst du ein wenig das Gesicht, und häufig hattest du einen kleinen weißen Schnurrbart in den Mundwinkeln. Man hatte dir Saucen, Frittiertes, Gewürze, Alkoholika verboten, und du hast dich mit einer Geduld angepasst, die dir auf anderen Gebieten abging.

Eifrig bereitete deine Mutter gesottenen Fisch, gegrilltes Fleisch, im Dampf gegartes Gemüse für dich zu. War sie einmal müde, sprang Graziella ein, die großherzige und fürsorgliche junge Cousine, die liebevoll alle für deinen widerspenstigen Magen geeigneten Speisen kochte.

Als wir in Sabaudia gemeinsam ein Haus bezogen, war ich es, die oft für unser Abendessen sorgte. Du kamst gerne zu uns herüber, über die lange Terrasse, die wir uns teilten. Alberto wählte am Nachmittag den Fisch aus, nachdem er den Morgen mit Schreiben verbracht hatte, und ich tat ihn in den Topf. Ich versuchte, ihn mit Kümmel, mit ausgepresster Zitrone ein wenig schmackhafter zu machen, aber du hast dich nie beklagt. Ich kochte gern, und du kamst gern, um mit uns zu essen.

Du hast wenig geredet, du warst schon immer wortkarg, doch dein Schweigen war nicht befremdlich, sondern deine ganz eigene Art, dich auf einen gemeinsamen Gedanken zu konzentrieren, was sich in einer gegenseitigen Zugewandtheit ausdrückte. Dafür gefiel es dir, wenn Alberto auch für dich sprach. Du hörtest ihm gerne zu, wenn er von seinen literarischen Abenteuern und aus seinem Leben erzählte. Alberto war ein begnadeter Geschichtenerzähler, und wir hingen alle an seinen Lippen, wenn er den Weg in die narrativen Wälder einschlug.

An einem bestimmten Punkt des Abends bist du dann immer verschwunden. Wenn wir nicht auf Reisen waren, sorgten wir uns nicht. Wir wussten, dass du dich in dein schnelles Auto setzt, um den Jungen zu suchen, der du gewesen warst und der dir seit jeher entfloh.

Caro Pier Paolo,

oft werde ich gefragt, wie und wo ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Aber es fällt mir schwer, mich zu erinnern. Ich wette, du könntest es auch nicht sagen. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass sich Intellektuelle und Künstler in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht verabreden mussten, um ein bisschen zusammen zu sein: Man traf sich bei Rosati an der Piazza del Popolo oder im Ristorante La Campana oder bei Gigetto am Portico d’Ottavia, kurz, in einer nicht so teuren Trattoria, genoss die Freude, einander zu treffen, und tauschte sich aus.

Ich erinnere mich an keinen speziellen Tag, an dem jemand mich dir vorgestellt hätte nach dem Motto: Hier, das ist die kleine Maraini, die Tochter von Fosco, dem berühmten Ethnologen, sie ist in Bücher und Schriftsteller vernarrt und will dich kennenlernen. So funktionierte das nicht. Jeder, der Lust hatte, konnte mittags gegen zwölf oder abends gegen sieben in die beliebte Bar an der Piazza del Popolo gehen und dort Federico Fellini, Alberto Moravia, Alfonso Gatto, Elsa Morante, Cesare Garboli, Natalia Ginzburg, Bernardo Bertolucci begegnen und natürlich auch dir. Du sahst blendend aus, obwohl von kleiner Statur, warst immer schweigsam und streng mit deinem sanften, verzweifelten Blick, mit dem du die Welt zu betrachten pflegtest. Wir trafen uns rein zum Vergnügen, um zusammen zu sein und uns zu unterhalten, ohne irgendeinen sonstigen Grund.

Heute trifft man sich, wie du weißt und wie du als der feinfühlige Prophet, der du bist, schon vorhergesehen hattest, nur zweckgebunden: auf einer Tagung, einem Meeting, wie es heißt, auf Buchmessen oder noch schlimmer, im Fernsehen. Jedenfalls immer zu einem öffentlichen, gesellschaftlichen Anlass. Während wir uns damals außerhalb jedes vorher festgelegten Programms trafen, aus Freude am zwanglosen Ideenaustausch. Das ist ein Unterschied, nicht wahr?

Du selbst hast in deinen Gedichten und in den Freibeuterschriften von den Begegnungen mit Freunden, aber auch Feinden, in den römischen Trattorien erzählt, wo Bündnisse entstanden, Seelenverwandtschaften offenbar wurden, unterschiedliche Ideen miteinander kämpften, aber vor allem, würde ich sagen, Solidarität geübt wurde unter Personen, die sich als Handwerker betrachteten, die sich schwertaten, in einer gleichmacherischen Warenwelt zu überleben, und die sich täglich mit der Zensur herumschlagen mussten.

Du kennst das gut, da du mehr als achtzigmal angezeigt wurdest. Alle Anzeigen waren brutal, ungerecht, unterdrückerisch. Man beschuldigte dich der Obszönität, Beleidigung der Religion, Perversion, Unzucht mit Minderjährigen. Auch ich habe mehrere Anzeigen bekommen, wegen Obszönität, wegen Beleidigung der Religion, einmal, weil ich geschrieben hatte, Bagheria sei eine mafiose Stadt. Wir wurden immer freigesprochen, aber wie viel Ärger, wie viele Ausgaben für Anwälte, Papiere, Verhandlungen, die ständig vertagt wurden. Erinnerst du dich noch, wie wir beide auf dem Titelblatt der rechtsgerichteten Zeitschrift Il Borghese abgebildet waren, mit dem reißerischen Titel »Pornografische Schriftsteller«? An diesem Punkt war es nicht mehr die staatliche Zensur, sondern ein ganzes Land, oder zumindest der scheinheiligste und aggressivste Teil, der sich mit dir und deiner wunderbaren Kunst der Provokation anlegte.

Mir kommt noch eine andere Situation in den Sinn, bei der du brutal angegriffen wurdest. Es war 1968 und wir befanden uns als Jurymitglieder des Premio Zafferana, organisiert von Vanni Ronsisvalle, in Zafferana Etnea. Wir waren Leonardo Sciascia, Vincenzo Consolo, Alberto, du und ich, erinnerst du dich? Einer der Preisträger war in jenem Jahr Ezra Pound. Ein großer Dichter, der aber unglückseligerweise mit dem Nationalsozialismus sympathisiert und dessen Rassentheorie besungen hatte. Später hatte er es bereut und sich zur Strafe zum Schweigen verurteilt.

Erinnerst du dich, dass er nicht sprach und wenn er etwas kundtun wollte, sich an seine Frau (oder war es seine Lebensgefährtin, das weiß ich nicht mehr) wandte, die zuvorkommend in Worte fasste, was er dachte? Es herrschte ein wunderbares Einverständnis zwischen ihm und ihr, doch war diese Rollenteilung auch etwas künstlich und theatralisch.

Wir hatten ihn für seine Gedichte ausgezeichnet, die – abgesehen von den absurden Sachen, die mit der Nazizeit zusammenhingen – außerordentlich schön sind. Er war erschienen, um den Preis entgegenzunehmen, wollte sich aber weder dazu äußern noch sich bedanken. An seiner Stelle hatte anmutig und elegant seine Gefährtin gesprochen. Ein kleiner, hagerer Mann, freundlich, ernst, mit besessenen Augen, die sanft wurden, wenn er sich an die Frau an seiner Seite wandte; er trug ein widerspenstiges Bärtchen, und seine weißen Haare flatterten gern nach allen Seiten.

Ich glaube, er wäre abgestoßen vom Gebrauch, den die heutigen Faschisten von seinem Namen machen. Er war ein hochgebildeter Mann und hatte, wenn auch mit Verspätung, begriffen, wohin die Geschichte ging.

Nun gut, erinnerst du dich? Bei der Preisverleihung kamen junge Leute aus Catania, die begannen, uns alle lautstark zu beleidigen. Sie bewarfen den Tisch der Jury mit fauligen Selleriestangen, die uns Gesicht und Hände nass spritzten, und auch mit Fenchel. Keiner von uns verstand, was sie wollten. Anfangs dachten wir, sie wollten sich mit Pound und dessen Nazi-Vergangenheit anlegen. Doch dann sahen wir, dass es ihnen hauptsächlich um dich ging. Wie gewohnt zogst du die Wut und den Zorn der Spießer auf dich, und auch den der Protestgeneration von ’68.

Es war sehr unangenehm, auch wenn wir später darüber lachten. Pound wirkte nicht beeindruckt. Starr und stumm saß er da, als wäre sein Geist aus seinem Körper gewichen und hätte ihn leer zurückgelassen. Wir versuchten zu verstehen, was diese jungen Leute so aufregte an einem Preis, der die Bücher von Consolo, Bonaviri, Nigro, D’Arrigo und Grasso prämieren sollte. Noch heute weiß ich nicht, wogegen sie aufbegehrten: Die einen sagen, es waren junge Faschisten, die anderen, es habe sich um linke Demonstranten gehandelt. Man hat es nie erfahren.

Caro Pier Paolo,

es ist merkwürdig, dass deine Anwesenheit in meinen Träumen einen Strom von Erinnerungen und Gedanken freisetzt, die sich nicht aneinanderreihen und zu einem geordneten, klaren Bild zusammenfügen wollen, sondern sich überallhin verstreuen. Ich weiß nicht, ob es dein Erscheinen in meinen Träumen ist, das meinen Gedanken diese vage, wolkige Prägung verleiht, oder ob die Idee, meine Erinnerungen aufzuschreiben, mich dazu bringt, die Gedanken flüssig und unstet zu machen.

Als Roberto Cotroneo mich um ein Buch mit Erinnerungen an dich bat, habe ich sofort abgelehnt. Über deine Bücher, über deine Person ist schon so viel geschrieben worden, Pier Paolo, und außerdem wollte ich das kostbare, geheime Gefäß mit unseren gemeinsamen Erinnerungen nicht öffnen aus Angst, sie verwehen zu sehen, aber auch aus Scheu, sie dem Publikum auszusetzen. Als du mich aber zum soundsovielten Mal unerwartet im Traum besucht hattest, ohne dass ich das Wort an dich richten konnte, weil du plötzlich verschwunden warst, habe ich mir gesagt: Vielleicht kann ich dann endlich ohne die Angst vor Flucht mit ihm sprechen. Kann den geheimnisvollen Pfad durch die Wälder der Erinnerung beschreiten, den ich viele Male eingeschlagen, mich dann aber stets wieder zurückgezogen habe, aus Angst vor der Kraft jener geheimen und unzugänglichen Orte, die C. G. Jung »unsere Innenwelt« nennt.

Alles begann ungefähr ein Jahr nach deinem Tod.

Eines Nachts hörte ich auf dem Dach meiner römischen Wohnung das Klacken der Absätze deiner Gaucho-Stiefel. Es war das gleiche Getrappel, das ich in dem Haus in Sabaudia vernahm, wenn du in deinem Studio auf und ab gingst, das über der Ecke des Wohnzimmers lag, wo ich schrieb, mit Blick aufs Meer. Ich habe immer ein offenes Fenster gebraucht, durch das ich in den Schreibpausen in die Weite schauen konnte, auch wenn es zum Schreiben ideal ist, dass das Licht von hinten kommt und nicht von vorn, weil es dich sonst blendet. Doch für mich ist es wichtig, einen freien Raum vor meinen Gedanken zu spüren. Eine Mauer würde mich lähmen.

Deine Schritte sagten mir, dass du von einer Nacht voller Abenteuer heimgekehrt warst, und beruhigten mich. Alberto und ich standen früh auf. Du bliebst, wenn die Filmarbeit dich nicht zwang, nachts häufig bis spät auf und schliefst am Morgen.

In der Nacht, in der ich deine Absätze über meiner römischen Wohnung gehört habe, bin ich aufgestanden, habe die Fenstertür zum Balkon geöffnet, bin die steile Eisenleiter hinaufgeklettert, die zum Dach des Hauses führt, und habe dich dort unter einem noch nicht vollen, aber hellen Mond auf und ab spazieren sehen.

Ich war so überrascht, dass es mir die Sprache verschlug. Ich habe dich angestarrt wie eine Erscheinung – in religiösen Zusammenhängen würde man sagen, ein Wunder – und war glücklich, als du mit einer menschlichen Stimme zu mir gesagt hast: »Weißt du, Dacia, ich will wieder zu arbeiten anfangen. Ich habe eine wunderbare Idee für einen Film. Aber die hier wollen nichts davon wissen.«

»Wer, die?«, habe ich gefragt, und du hast auf eine Gruppe von Schatten im Hintergrund gezeigt. Die Schatten haben sich genähert und die Gestalt von Leuten angenommen, die ich kannte: Alessandro, Marcello und Luciano, deine üblichen Techniker, die dir überallhin folgten.

»Versuch du doch auch, sie zu überreden«, hast du gedrängt, und von deinen lebendigen Worten angespornt, wollte ich schon loslegen, als mir einer von ihnen zuvorkam: »Aber er kann nicht arbeiten, Dacia«, erklärte er mit einem gewissen Nachdruck, »sag ihm, dass er tot ist und nicht arbeiten kann.«

Ich wollte dich aber nicht verletzen, indem ich dir eine Tatsache enthüllte, von der du offenbar nichts wusstest, und blickte dich ratlos an, während ich versuchte, Zeit zu gewinnen. Was sollte ich tun?

Doch als würdest du meine Gedanken erraten, hast du mir sofort erklärt: »Ich weiß, dass ich tot bin, dieser Tod hat mich Jahre meiner Arbeit gekostet, aber jetzt kehre ich ins Leben zurück und will wieder Filme machen.«

Ich sah, dass die Techniker untereinander beratschlagten und aufsässig tuschelten, gar nicht geneigt, dir ihr Vertrauen zu schenken. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Bedauern, dich daran erinnern zu müssen, dass du tot warst, und der Freude, dich wieder lebendig zu sehen. Du warst dir so sicher, Pier Paolo, dass mich deine Argumente überzeugten.

Doch gerade, als ich Alessandros, Marcellos und Lucianos Zögern energisch entgegentreten wollte, schob sich eine graue Wolke vor den Mond, und du bist verschwunden, ebenso wie auch die Techniker, und ich bin keuchend und schwer atmend aufgewacht.

Dann, wie ein Ball, der an eine Mauer stößt und fröhlich hüpfend zu mir zurückkommt, ist mir deutlich die Erinnerung an einen Sonnenaufgang in Khartum in den Sinn gekommen. Welcher Monat war das? Vielleicht Januar. Ein trockener Monat, in dem sich die Flüsse in Afrika zurückziehen und die Erde staubig und rot wird. Ich erinnere mich, dass ich dich an einem heißen, dürren Januarmorgen um fünf Uhr wecken kam, weil der Land Rover auf uns wartete, um uns siebzig Kilometer weit weg zu fahren. Mit einem vom Schlafmangel entstellten Gesicht hast du die Türe geöffnet, und ich hatte Schuldgefühle, obwohl du doch selbst entschieden hattest, früh aufzubrechen, um nicht unter der Hitze zu leiden.

Hinter deinem gequälten Gesicht lag das dunkle Zimmer, in dem es nach deinem Körper roch. Ich kannte diesen Geruch gut, und er bestätigte mir, dass du ganz du selbst warst, mit deinem geheimen Nachtleben, wie du da in der Türe erschienst.

Es war ein Geruch nach bitterem Geschmack im Mund, aber auch nach Veilchenseife und nach einem Rasierwasser mit Tabakaroma. Du warst Nichtraucher, doch dieser leichte Tabakhauch gefiel dir, und ich roch ihn häufig an dir. Frisch geschnittener und an der Sonne getrockneter Tabak hat einen feinen, leicht stechenden Duft, bitter und süß zugleich, der an verdorrte Wiesen denken lässt, über die ein tropischer Wind streicht.

Ich hatte dich abrupt geweckt und aus der beruhigenden Dunkelheit gerissen. Ich habe mich damals gefragt, ob du dir wünschtest, in das tröstliche Dunkel des Bauchs deiner Mutter zurückzukehren, um dich dort zusammenzukrümmen wie manchmal, wenn dich die Schmerzen des Magengeschwürs überwältigten, und den Frieden des Körpers zu suchen.

Dennoch hast du nicht protestiert. Du hast nicht einmal den Mund verzogen, wie es jeder andere Mensch getan hätte, der aus seinem Erholungsschlaf gerissen wird. Du warst so sanft, Pier Paolo, und so nachgiebig, dass ich jedes Mal wieder staunte. Nie habe ich dich ein wütendes Wort sagen hören oder eine ärgerliche Geste machen sehen.

Aber die Leute hatten eine andere Vorstellung von dir. Die meisten sahen dich als einen nachtragenden, sturen Mann, wild in deiner Empörung und deinem ideologischen Zorn. Und zum Teil stimmte das. Aber nur beim Schreiben, oder wenn du an einem öffentlichen Diskurs teilnahmst. Du wolltest provozieren und warst ein Meister darin, Wut, Entrüstung und heftige Reaktionen hervorzurufen. Es freute dich, wenn es dir gelang, abgründige Furien und drängende Rachelust zu entfesseln. Ich glaube, dieser gesellschaftliche Zorn von dir war für den Hass verantwortlich, den du erregtest. Und doch warst du in deinem Verhältnis zu den Freunden, in deinem Privatleben, der geduldigste, sanftmütigste und gefügigste Mann, der mir je begegnet ist.

Auch damals in Khartum, als du mit deinem vom Schlaf zerknitterten Gesicht im Türspalt erschienst, während ich von dem Geruch nach Veilchen, Tabak und bitterem Geschmack im Mund eingehüllt wurde, hast du mich sanft angelächelt und mit deiner gewohnten weichen Stimme und dem friulanischen Akzent, den du nie verloren hast, zu mir gesagt: »Ja, Dacia, ich komme gleich.« Dann hast du unendlich geduldig gewartet, bis ich mich entfernt hatte, um die Tür nicht zu rasch und zu abrupt hinter mir zuzumachen. Diese rücksichtsvollen Gesten waren es, die mir nahegingen und meine Zuneigung zu dir wachsen ließen. Dein Taktgefühl und deine Liebenswürdigkeit rührten mich.

In jener Nacht, als du von meiner römischen Terrasse verschwunden bist, nachdem du deine Mitarbeiter gedrängt hattest, die Filmarbeit wieder aufzunehmen, fiel mir ein Gecko auf, der über den blassblauen Kachelboden lief. Es war derselbe Gecko, den ich entdeckt hatte, als ich dich das vorige Mal im Traum sah und du deine magentarote Weste auf dem Boden zurückgelassen hattest. Es sind die Geckos, die zwischen den Pflanzen wohnen und sich verstecken, sobald ich mich nähere, genau wie du in den Träumen.

Das Tierchen hat mich an eine entzückende Erzählung von Eugenio Montale aus seinem Band Schmetterlinge von Dinard erinnert, in der er über ein kleines Wesen schreibt, das in seinem Schlafzimmer die Wand entlangläuft und mit dem er spricht, als ob es sein Vater wäre. Ehrlich gesagt, Pier Paolo, weiß ich nicht, ob Montale diese Erzählung wirklich geschrieben hat, oder ob ich mir vorgestellt habe, er hätte sie geschrieben, aber ich wollte es nicht nachprüfen, weil mir die Idee gefällt, dass er mit seinem in dem Gecko verkörperten Vater sprach.

Du weißt ja, dass ich aus den Erzählungen von Montale kleine Theatertexte gemacht habe, und in einer davon berichtet er von einer Reise durch Frankreich und von einer Nacht, in der er und seine Frau eine Fledermaus in ihrem Schlafzimmer entdeckten. Ritterlich hatte sich der große Eugenio mit kriegerischer Geste aufgemacht, das Tier zu verjagen, indem er mit den Armen fuchtelte und das Handtuch schwang wie ein Schwert. Doch alle Versuche blieben erfolglos. Also hatte er es aufgegeben und beschlossen, den Nachtportier zu rufen. Als er ihn aber nach langem Warten endlich am Telefon hatte, konnte er sich nicht mehr erinnern, was Fledermaus auf Französisch heißt. Und hier wird der Dialog zwischen dem verschlafenen Portier und dem ritterlichen Dichter, ihre Unfähigkeit zu kommunizieren, komisch.

Wie sagt man nur Fledermaus auf Französisch? Montale entsinnt sich erst nach einer schlaflosen Nacht, als der kleine geflügelte Säuger endlich durchs Fenster entfleucht ist. »Chauve-souris«, seufzt er zuletzt erleichtert, so wie wenn wir ein Wort vergessen und es dann arglistig wieder auftaucht, wenn wir es nicht mehr brauchen.

Die kleine Kette symbolischer Zeichen hat noch einmal die Nacht mit dem Tag verbunden. Ein Gecko, eine Fledermaus, eine Fliege, ein Löwe, das Gedächtnis besteht aus Assonanzen und Verweisen.

Der Löwe hängt mit der Szene am Set von Erotische Geschichten aus 1001 Nacht zusammen, bei der der Protagonist der Erzählung neben einer herrlichen Raubkatze mit üppiger Mähne hergehen musste. Der verspielte Ninetto, der dachte, er könne auch mit dem gemieteten Löwen spielen, fühlte das Tier plötzlich auf sich, die Tatzen auf seinen Schultern, die Krallen in seinen Hals gebohrt. Erinnerst du dich an die Angst in jenem Augenblick? Es schien wirklich, als wollte der Löwe über den armen Ninetto herfallen.

Die Angst hat alle bei der Szene Anwesenden gelähmt, auch wenn die Kamera automatisch weiterlief. Die erschrockenen Techniker wussten nicht, ob sie eingreifen sollten. Wo war bloß der Dompteur, der Besitzer der Bestie? Als er kam, erklärte er, dass der Löwe nichts Böses im Schilde führe, er wolle nur das Spiel weiterspielen, das Ninetto begonnen habe, aber auf seine Weise, ungeachtet seiner gefährlichen Klauen.

Du hast nie Tiere gehabt, Pier Paolo, und doch zogen sie dich an und faszinierten dich. Eine Katze, ein Hund, sogar ein Hamster im Käfig müssen versorgt werden, und wie hättest du dein Leben eines Reisenden und nächtlichen Vagabunden mit der Pflege eines Haustiers vereinbaren können? Dennoch, du mochtest sie. Ich weiß noch, wie du dich bücktest, um meinen kleinen Mischling Mulino zu streicheln, und wie viel Spaß du hattest, wenn er sich, nachdem er im Kreis gerannt war, atemlos und freudig auf den Boden warf.

Caro Pier Paolo,

die Geschichte mit den Geckos hat mich an unsere Freundin Piera Degli Esposti erinnert. Zurzeit liegt sie leider im Krankenhaus. Die Tuberkulose, an der sie als Mädchen litt und die sie wegen mehrmaligem Pneumothorax zu Brustfellresektionen zwang, hat schließlich ihre Lunge zerstört. Nun ist sie vom Sauerstoff abhängig, der sie wie ein zischendes Schlänglein überallhin begleitet. Ich hoffe, dass es ihr gelingt, die Krise zu überwinden und wieder nach Hause zu kommen. Du wolltest sie für deinen Film Medea, erinnerst du dich? Sie ist sehr stolz auf deine Entscheidung und darauf, das tiefe und unerwartete Einverständnis zwischen dir und Maria Callas miterlebt zu haben.

Piera gefiel dir sehr auf der Bühne. Im Leben kannten wir sie noch kaum, weder du noch ich. Aber du hast mich angeregt, eine heutige Medea zu schreiben, die Piera spielen sollte, erinnerst du dich? Deinem Vorschlag folgend, haben Piera und ich beschlossen, uns jeden Tag zu treffen, um herauszufinden, wie wir eine moderne Medea entwickeln könnten.

Das Lustige ist, dass Piera, anstatt mit mir über Medea zu reden, zuletzt immer über ihre Mutter sprach. Eine Frau mit einem beunruhigenden, absolut einmaligen Schicksal, die an saisonalen Depressionen litt und dabei in eine Art Schlafsucht verfiel, die den ganzen Winter dauerte. Doch sobald sich das Wetter änderte und die Sonne die Luft zu erwärmen begann, erhob sich die schöne Mutter verjüngt aus ihrem Bett, zog geblümte Kleider an, parfümierte sich und fuhr auf dem Fahrrad los, um Eroberungen zu machen. Und die Kleine folgte ihr und teilte zuweilen auch die zufälligen Liebhaber mit ihr.

Doch dieses Verhalten, von der kindlichen Tochter akzeptiert und poetisch gefärbt, erregt schließlich Anstoß, und irgendwann bringt die Familie die Frau in die Irrenanstalt, um ihre angebliche Geistesverwirrung behandeln zu lassen.