Chaos in Cornwall - Elisabeth Kabatek - E-Book
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Chaos in Cornwall E-Book

Elisabeth Kabatek

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Beschreibung

Liebes-Chaos in Cornwall: ein humorvoller Roman über ein idyllisches Dorf an der wildromantischen Küste und die Liebe ab 50 von der Stuttgarter Bestseller-Autorin Elisabeth Kabatek Idyllische kleine Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, und atemberaubende Steilküsten mit Blick aufs unendliche Meer: Cornwall begeistert die 50-jährige Schwäbin Margarete mit jedem Tag mehr – im Gegensatz zu ihrem Reisegefährten Roland, der ihr schon nach drei Tagen den letzten Nerv raubt! Kurz entschlossen klaut sie sein Auto, um den gemeinsamen Cornwall-Trip ohne Rolands Schnarchen fortzusetzen. Im atemberaubend gelegenen Dörfchen Port Piran muss sich Margarete plötzlich um das B&B »Honeysuckle Cottage« und exzentrische englische Feriengäste kümmern. Dabei findet sie nicht nur eine Freundin mit wilder Punker-Vergangenheit und einen Haufen schräger Typen, sondern verknallt sich auch in einen Mann, der den Standpunkt vertritt, dass Frauen wie gute Weine sind: je älter, desto besser. Doch dann steht plötzlich Roland auf der Matte und will nicht nur sein Auto zurück ... Spritzige Romane mit einem Schuss Romantik sind die Spezialität von Bestseller-Autorin Elisabeth Kabatek, deren liebenswert-tollpatschige Heldin Pipeline Praetorius längst Kult-Status genießt. Mit der 50-jährigen Schwäbin Margarete kehrt Elisabeth Kabatek jetzt zurück nach Cornwall, wo man einfach die schönsten (Liebes-)Abenteuer erleben kann. Mehr Cornwall-Flair mit viel Humor gibt es in »Ein Häusle in Cornwall«

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Seitenzahl: 513

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Elisabeth Kabatek

Chaos in Cornwall

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Margarete ist zwar über 50 – aber längst nicht so verzweifelt, dass sie es länger als drei Tage mit ihrer Internetbekanntschaft Roland aushalten würde. Kurz entschlossen klaut sie sein Auto, um den gemeinsamen Cornwall-Trip ohne Rolands Schnarchen fortzusetzen. Im atemberaubend gelegenen Dörfchen Port Piran findet Margarete nicht nur eine Freundin mit wilder PunkerVergangenheit und einen Haufen schräger Typen, sondern verknallt sich auch in einen jüngeren Mann, der findet, dass Frauen wie gute Weine sind, je älter, desto besser. Doch dann steht plötzlich Roland auf der Matte und will nicht nur sein Auto zurück ...

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. KapitelDas Geheimnis der englischen SconesMabels Scones
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In liebevoller Erinnerung an Paco

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1. Kapitel

Margarete

Ich bringe ihn um«, zischte Margarete. »Ich nehme hier und jetzt das Kopfkissen und ersticke ihn damit.« Noch nie im Leben hatte sie solch eine Mordlust verspürt. Sie setzte sich im Bett auf, nahm eines der unzähligen Kissen und knüllte es versuchsweise zusammen. Wie lange würde es dauern, bis Roland tot war?

»Hei-di, Hei-di, deine Welt sind die Bääär-ge«, sang Roland voller Inbrunst und sehr schräg. Es war einfach nicht zu fassen. Margarete hatte ihn gestupst. Sie hatte ihn gezwickt. Sie hatte ihm ihren Ellenbogen in die Seite gerammt, die Nase zugehalten und an seinen Ohren gezogen, aber Roland schlief. Es gab unplattbare Reifen, Roland war ein unaufweckbarer Mann.

Margarete lag schlaflos in einem Bett, das angeblich Queensize hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Queen Elizabeth und Prince Philip es jemals auf so engem Raum miteinander ausgehalten hatten. Wahrscheinlich hatten sie sowieso getrennte Schlafzimmer und keinen Sex mehr, und die Queen kuschelte viel lieber mit diesen komischen Hunden, die aussahen wie eine Mischung aus Ferkel und Karnickel, als mit dem Mann, den sie vor gefühlt hundert Jahren geheiratet hatte.

Margarete blickte zum zwanzigsten Mal auf die elektronische Anzeige des Weckers und schlug dann frustriert mit den Fäusten auf die Mordwaffe, also das Kissen, mit dem sie Roland ins Jenseits befördern würde. 1.32 Uhr. Sie war hundemüde. Seit zwei Stunden versuchte sie vergeblich, einzuschlafen, es war aber schrecklich heiß im Zimmer, und sie schwitzte wie ein Schwein, obwohl sie bis auf ein Höschen alles ausgezogen hatte. Sie schlief normalerweise nicht bei geschlossenem Fenster. Sie übernachtete aber auch selten direkt an der Autobahn. Immerhin hatte das Hotel Lärmschutzfenster, sodass es zwar heiß, aber relativ ruhig war. Eigentlich. Bis zu dem Moment, wo Margarete einschlief. Einschlafen wollte. Genau in der Sekunde machte Roland ein Geräusch. Jedes Mal. Margarete hatte mittlerweile den Verdacht, dass er intuitiv wusste, wann sie in den Schlaf sank.

Roland schnarchte nicht wie normale Männer, die dann wie Lastwagen, Presslufthämmer oder rasselnde Ketten klangen. Nein, Roland röchelte ersterbend, brummte wie ein Bär, quietschte wie eine schlecht geölte Tür, grölte, als sei er im Bierzelt auf dem Cannstatter Wasen, fiepte wie ein Hamster, und manchmal sang er sogar, und zwar falsch. Das ging jetzt schon seit drei Nächten so, und Margarete war mit ihren Nerven am Ende.

Das Bett, in dem sich das Drama abspielte, stand in Cornwall, in einem viel zu kleinen Zimmer in einem schlechten Hotel im Industriegebiet direkt an einer innerstädtischen Autobahn. Es hatte ungeheuer romantisch geklungen, als Roland Margarete zu einer Fahrt nach Cornwall eingeladen hatte. Ich lade dich ein, hatte Roland gesagt, wir verbringen Ende Mai, bevor die Touristen in Scharen einfallen, ein paar Tage in Cornwall, nur du und ich, und dann schauen wir mal, wie es so weitergeht mit uns beiden. Margarete konnte ihr Glück kaum fassen, und sie hatte sofort zugesagt, trotz der Stimme in ihrem Kopf, die sehr, sehr laut brüllte: Tu’s nicht, Margarete! Du wirst es schrecklich bereuen! Du willst doch gar nicht, dass IRGENDWAS auch nur IRGENDWIE weitergeht! Klar willst du nach Cornwall, aber doch nicht mit Roland! Such dir lieber eine Bus-Ausfahrt »Cornwalls Gärten mit den Landfrauen von der Schwäbischen Alb«! Aber wer träumte nicht von einer Reise nach Cornwall, noch dazu im Wonnemonat Mai? Außerdem war Margarete pleite, und Roland wollte bezahlen.

Für kurze Zeit hatte sie sich eingebildet, endlich ihren Traummann gefunden zu haben. Aber jetzt hatte sich ihre Theorie bestätigt: Es gab keine Traummänner, die Single und über fünfzig waren. Traummänner (keine Hollywoodhelden, sondern nette, humorvolle, treue Männer) heirateten mit fünfundzwanzig oder spätestens dreißig, gründeten eine Familie und waren dann für den Rest ihres Lebens weg vom Markt, es sei denn, die Frau starb ganz plötzlich eines überraschenden Todes, haute ab oder wurde Lesbe. Bei Frauen war das irgendwie anders. Margarete kannte viele tolle Singlefrauen über fünfzig. Sie waren geschieden oder getrennt, sie hatten Kinder oder auch nicht, aber eines hatten sie gemeinsam: Sie waren erfolgreich im Beruf, humorvoll, attraktiv, clever, standen mit beiden Beinen im Leben, und es war vollkommen unverständlich, warum sie keinen Kerl hatten. Die meisten Männer über fünfzig dagegen hatten einen kahlen Kopp, eine leere Birne, einen dicken Bauch und hielten sich trotzdem für unwiderstehlich. Jedem (außer ihnen selbst) war klar, warum sie Single waren: weil keine Frau der Welt es mit ihnen aushielt.

»Hohohoho!« Roland lachte jetzt im Schlaf, als sei er der Weihnachtsmann. Margarete war schon seit Tagen nicht mehr zum Lachen zumute. Nach achteinhalb Stunden Nachtruhe wachte Roland prächtig gelaunt und erholt auf und verstand überhaupt nicht, warum Margarete so gereizt war. Durchwachte Nächte waren noch nie ihr Ding gewesen, aber über fünfzig hinterließen sie andere Spuren als mit zwanzig. Margarete sah im Spiegel des viel zu engen Bades die tiefen Ringe unter ihren Augen, fühlte sich uralt und fluchte vor sich hin.

»Roland, wo ist der Frühstücksraum?«, fragte sie am ersten Morgen argwöhnisch und sah sich im Foyer des Hotels suchend um. »Ich habe fürchterlichen Hunger.« Sie hatte eine Entschädigung verdient. Die ganze grauenhafte Nacht hindurch hatte sie sich niedliche kleine Würstchen, Baked Beans, Tomaten, Rührei und knusprigen Bacon vorgestellt, so intensiv, dass sie den Bacon riechen konnte. Ein Frühstück mit ungefähr fünftausend Kalorien, das brauchte sie jetzt, um zu überleben. Leider roch sie gar nichts. Sie hörte auch kein Klappern von Frühstücksgeschirr und sah niemanden geschäftig umherhuschen.

»Setz dich bitte«, antwortete Roland geheimnisvoll und deutete auf einen sehr hässlichen orangefarbenen Plastikstuhl neben einem sehr hässlichen orangefarbenen Tisch. Er ging zu einer Wand im Hotelfoyer, die komplett aus Schließfächern bestand, öffnete mit der Chipkarte fürs Zimmer ein Fach links oben und entnahm ihm zwei sehr hässliche orangefarbene Plastiktabletts.

»Breakfast to go!«, rief Roland sichtlich entzückt aus und stellte ein Tablett vor Margarete ab. Das war also das englische Frühstück, auf das sie sich gefreut hatte: ein Plastikbecher mit Cornflakes, ein kleiner Tetrapack Milch, ein Tütchen Trockenobst, eingeschweißte rosarote Muffins, eine Scheibe wabbeliger Toast mit grünlichem Rand, ein kleines Stück Butter, eine Minipackung Marmelade und Plastikbesteck. »Kaffee oder Tee?«

»Kaffee«, murmelte Margarete und nahm testweise einen Muffin in die Hand. Er hatte ungefähr das Gewicht eines Ziegelsteins. »Schwarz. Stark.« Roland hielt die Chipkarte an einen Automaten, der daraufhin einen Plastikbecher ausspuckte und füllte. Margarete starrte auf die kackbraune Brühe und beschloss, das Frühstück aus taktischen Gründen erst zu thematisieren, wenn die Zimmerfrage geklärt war.

»Roland, wir stehen möglicherweise am Anfang einer eventuellen gemeinsamen Beziehung. Da liegt es dir doch sicher am Herzen, dass es mir gut geht, oder?«

Roland nickte und biss kraftvoll in einen schweinchenrosa Muffin. Margarete wartete darauf, dass ihm die Zähne ausfielen. Stattdessen machte der Muffin quietschende Geräusche.

»Aber es geht dir doch gut, Margarete. Ist das nicht praktisch, dieses Frühstück? Das ist ein supermodernes Hotel, das komplett ohne Personal auskommt! Man kann vierundzwanzig Stunden lang frühstücken und muss mit niemandem reden. Und du kannst so viel Kaffee haben, wie du willst!«

»Gaanz toll. Roland, ich habe kein Auge zugetan. Das tut dir doch sicher leid? Da willst du doch sicher mit mir zusammen eine konstruktive Lösung finden? Ich hätte da so ein paar Ideen. Wie wär’s zum Beispiel mit einem größeren Zimmer, mit einer bequemen Couch, auf der du schläfst? Oder du mietest ein zweites Zimmer? Wir können ja trotzdem, du weißt schon was, und danach …«

»Das Hotel ist ausgebucht.«

»Es kommt mir nicht besonders ausgebucht vor.« Tatsächlich hatte Margarete seit ihrer Ankunft keinen einzigen anderen Gast gesehen. Es war ein wenig gespenstisch. Sie hatte überhaupt niemanden gesehen außer Roland, der die Chipkarte fürs Zimmer mit einem Code aus einem Minischließfach geholt hatte.

»Glaub mir, es ist ausgebucht. Die sind alle schon auf dem Weg zum Strand. Die Engländer haben eine Woche Schulferien. May half term heißt das. Und Cornwall ist mega-beliebt.«

»Dann ziehen wir eben um. Auch wenn die strategische Lage direkt an der Autobahn natürlich unschlagbar ist.«

»Ja, nicht wahr? Glaub mir, Margarete, ganz Cornwall ist ausgebucht. Und wenn wir möglicherweise am Anfang einer eventuellen gemeinsamen Beziehung stehen, dann gibt es nur eine Möglichkeit: Du musst dich an mein Schnarchen gewöhnen.«

»Das ist kein Schnarchen. Das ist Körperverletzung.«

»Margarete. Wenn unsere Beziehung längerfristig angelegt sein soll, wovon ich ausgehe − sonst wärst du nicht mitgekommen, und Cornwall ist ja schließlich auch alles andere als billig −, kannst du nicht jedes Mal ein Einzelzimmer nehmen, wenn du mich auf Tagungen oder Kongresse begleitest. Wie sieht das denn aus?« (Roland war Astrophysiker und als solcher sehr erfolgreich, wie er Margarete beim ersten Treffen nach drei Minuten erzählt hatte, er legte allerdings Wert darauf, dass er sich nichts darauf einbildete.) »Eine neue Beziehung ist wie ein Paar neue Schuhe«, fuhr er fort. »Du musst sie erst einlaufen, damit sie bequem sind. Am Anfang gibt es eben Blasen. Je älter du bist, desto größer und blutiger sind die Blasen. Das geht aber vorüber.«

»Bisher habe nur ich Blasen. DU schläfst wie ein Bär. Du könntest auf dem Boden pennen.«

»Sei nicht albern, Margarete. Und noch mal wegen dieser möglichen gemeinsamen Beziehung. Zum einen sollten wir gemeinsam definieren, was wir unter ›längerfristig‹ verstehen. Ich würde jetzt mal vorschlagen, dass wir zunächst von zwei Jahren ausgehen, ohne Probezeit. Darunter lohnt sich die Investition nicht. Zum anderen brauche ich noch einen Kosenamen für dich. Darf ich dich Häschen nennen?«

»Nein!«

»Schade. Ich finde, du hast etwas ausgesprochen Häschenhaftes.«

 

Es war jetzt kurz vor zwei. Margarete beschloss, dass es sich weder lohnte, Roland einzulaufen, noch, wegen ihm ins Gefängnis zu kommen, weil sie ihn umgebracht hatte. Sie kletterte aus dem Bett, schlüpfte im Dunkeln in Jeans und T-Shirt (wahrscheinlich hätte es sowieso keinen Unterschied gemacht, wenn sie das Licht angeschaltet hätte, aber es fühlte sich irgendwie besser an), stopfte ihre Sachen in ihre Reisetasche und schlich aus dem Zimmer. Das heißt, sie wollte aus dem Zimmer schleichen. Dann fiel ihr ein, dass Roland beim ersten Treffen nicht nur total beiläufig erwähnt hatte, dass er erfolgreich war, sondern auch, dass er ziemlich gut verdiente. Nicht an der Uni in München, wo er zweieinhalb Tage die Woche lehrte, sondern bei Tagungen und Kongressen und beim Rotary Club, wo er gut dotierte Reden und Vorträge über schwarze Löcher, dunkle Materie und ähnliche streng wissenschaftliche Sachen hielt (Sachen, von denen Margarete sowieso nichts verstand, wie Roland ergänzte, weshalb es keinen Zweck hatte, ihr irgendwas erklären zu wollen). Stephen Hawking hatte Astrophysik und schwarze Löcher in allen Größen sexy gemacht, und seither konnte sich Roland vor Anfragen nicht mehr retten.

Roland hatte bisher alle Kosten auf der Reise mit Bargeld beglichen. Margarete hatte den Eindruck, dass in England selbst kleinste Beträge an der Supermarktkasse und sogar Getränke im Café mit Kreditkarte bezahlt wurden, aber Roland hatte ihr erklärt, er sei nun einmal Naturwissenschaftler, und er glaube an Scheine, die er anfassen könne, und nicht an virtuelles Kartengeld. Nachts deponierte er seine Geldbörse in der Schublade seines Nachttisches. Margarete schlich um das Bett herum und zog die Schublade vorsichtig auf. Sie knarzte entsetzlich. Roland, der gerade pfiff, als sei er ein Murmeltier in den Schweizer Alpen, war schlagartig still, und Margarete hielt die Luft an.

»Häschen?«, fragte Roland laut in die Dunkelheit hinein. Das war’s dann wohl, dachte Margarete resigniert und hielt die Luft an. Vorzeitiges Ende der Flucht.

»Häschen?«, wiederholte Roland. Warum musste der Kerl ausgerechnet jetzt aufwachen?

»Ich werde dich Häschen nennen«, fuhr Roland fort. »Ob es dir gefällt oder nicht.« Dann pfiff er wieder, und Margarete atmete auf. Roland schlief wie ein Stein.

Drei Minuten später zog Margarete die Zimmertür hinter sich zu. Sie war unendlich erleichtert, und gleichzeitig hatte sie ein schrecklich schlechtes Gewissen. Du klaust ja nicht, dachte sie. Du leihst dir nur vorübergehend ein bisschen was aus und zahlst es ihm zurück, und ihm tut es nicht weh. Außerdem hast du sogar einen ganzen Schein im Portemonnaie stecken lassen. Ein echter Dieb wäre niemals so rücksichtsvoll. Na schön, im Dunkeln konntest du nicht sehen, wie viel Geld du ihm dagelassen hast und wie viel in deiner Reisetasche steckt. Sie würde später nachschauen. Weil der enge Aufzug bei ihr ähnlich klaustrophobische Zustände auslöste wie das Bad des Hotelzimmers, öffnete sie die schwere Feuerschutztür und lief die Treppe hinunter, die von einer Notbeleuchtung schwach erhellt wurde. Sie war jetzt nicht mehr nur erleichtert, sie freute sich wie ein Schnitzel, Roland loszuwerden, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie als Nächstes tun würde.

Mit Schwung öffnete sie die Tür zur Hotellobby, die ebenfalls schwach beleuchtet war, lief hinaus und krachte mit voller Wucht in ein kniehohes Hindernis. Die Reisetasche fiel ihr aus der Hand, und dann fiel sie selbst über das Hindernis und riss es dabei polternd um. Mit den Händen fing sie ihren Sturz ab, trotzdem knallten ihre Knie auf den Betonboden. Der Schmerz war fies. Etwas Lauwarmes durchweichte ihre Jeans und rann ihr über die Hände.

»Scheiße!«, stöhnte sie.

»O my God!«, antwortete eine Stimme im Dunkeln.

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2. Kapitel

Mabel

Die Haustür fiel ins Schloss, und Mabel atmete tief durch. Das wandernde deutsche Pärchen hatte sich mit einem Lunchpaket und unzähligen Beteuerungen, wie gut es ihnen gefallen habe, auf den Weg gemacht, sie hatten eine lange Etappe auf dem Coast Path vor sich. Wanderer waren in der Regel unkomplizierte Gäste, blieben aber meist nur eine Nacht, was eine Menge Arbeit bedeutete, weil Mabel das Zimmer komplett frisch herrichten musste.

Das an allem herumnörgelnde Londoner Ehepaar − das Familienzimmer war zu klein, der Parkplatz zu weit weg, und wieso gab es im Gemeinschaftsraum nur Bücher und keinen Fernseher mit Flachbildschirm und DVD-Player, wo die Eltern ihre eigenen Filme anschauen konnten? − hatte seine bescheuerten Kinder mit Eimern, Keschern und Klappstühlen ins Auto verfrachtet, um zu einem größeren Strand zu fahren, weil den Kindern der Strand von Port Piran nicht behagte. Man hätte sie doch bei der Buchung darüber informieren müssen, nölten und näselten die Eltern in einem Englisch, das an die Queen erinnerte, dass es hier in Port Piran keine rock pools gab, kleine Tümpel, in denen sich das Wasser bei Ebbe sammelte und in denen die Kinder mit dem Kescher Krebse und kleine Fische fangen konnten. Rock pools, so erklärten die Eltern, waren absolut fun-da-men-tal, wenn man mit Kindern erfolgreich Urlaub in Cornwall machen wollte, das musste Mabel als britischer Vermieterin doch sonnenklar sein! Niemand erwartete rock pools in Alicante. Aber in Cornwall!

Dabei hatte Mabel schon am Telefon darauf hingewiesen, dass Port Piran nicht ideal für kleinere Kinder war, weil einer der beiden Strände sehr felsig und der andere nicht wirklich für Feriengäste gedacht war, wegen der Fischer. Sie scheuchten die Kinder weg, wenn sie bei der Arbeit waren, und das waren sie meistens. Der Vater hatte ihr aber gar nicht zugehört. Jetzt würden sie sicher eine negative Kritik auf TripAdvisor hinterlassen: »Leider hat die Vermieterin nicht auf den Mangel an rock pools hingewiesen und unseren Augäpfeln damit komplett den Cornwalltrip versaut.« Sollten Sie doch! Die Krebse, die in den Keschern dieser rücksichtslosen Kinder landeten, taten ihr jetzt schon leid.

Der dritte Gast, ein allein reisender Amerikaner, den Mabel auf Anfang siebzig schätzte, hatte sich als Letzter auf den Weg gemacht. Vorher war er an die Küchentür zu Mabel gekommen und hatte sich für das leckere Frühstück bedankt. Mabel mochte ihn, weil er höflich und umgänglich war und ihr voller Mitgefühl zuzwinkerte, wenn sich die Londoner mal wieder komplett danebenbenahmen. Sie war froh, dass er noch ein paar Tage blieb, auch wenn er, wie die meisten ihrer Gäste, hoffnungslos romantische Vorstellungen von Cornwall hatte. Er war auf der Suche nach seinen roots, seinen Wurzeln. Das waren viele Amerikaner, deren Vorfahren vor Jahrhunderten von Cornwall nach Amerika ausgewandert waren. Sie kramten dann in irgendwelchen staubigen Archiven in Kirchen oder stolperten über alte Friedhöfe in der Hoffnung, ihren Familiennamen auf einem verwitterten Grabstein zu finden.

Aber Cornwall war nicht romantisch. Vielleicht war es romantisch für die, die aus London oder dem Ausland kamen, um Urlaub zu machen, und die genug Geld hatten für die teuren Cafés, Fischrestaurants und botanischen Gärten. Für die, die hier lebten und gerade mal so überlebten, hielt sich die Romantik in Grenzen, denn Cornwall war bitterarm. Außer Tourismus, Fischfang und ein bisschen Landwirtschaft, die sich kaum lohnte, gab es nichts. In den letzten Jahren waren die Immobilienpreise ins Unermessliche gestiegen. Fast alle der hübschen reetgedeckten Häuser im Hafen von Port Piran waren mittlerweile Ferienhäuser, die Einheimischen vermieteten sie an Touristen und zogen selber ins billigere Hinterland oder, noch schlimmer, verkauften ihre Häuser an reiche Londoner, die nun ihrerseits die Häuser vermieteten oder sogar die meiste Zeit leer stehen ließen. Vor einiger Zeit hatte der einzige Laden schließen müssen. Noch immer war das Dorf eine Idylle, aber sie war traurig und trügerisch, und Mabel war nicht die Einzige, die um der Touristen willen eine Rolle spielte: Sie war die freundliche, spießige, nicht mehr ganz junge Lady, die in Port Piran ein entzückendes B&B betrieb und so fabelhaft Scones backen konnte.

Mabel überprüfte, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren. Dann ging sie in die Küche, legte die bescheuerte Schürze mit den weißen Volants ab, öffnete die Vorratskammer, nahm die zusammengelegten Klamotten heraus, schlüpfte aus ihrem braven Wollrock, der Strumpfhose und der Bluse und zog stattdessen die zerschlissene schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit Löchern und ein Nietenhalsband an. Sie löste den schrecklichen Dutt, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und umrandete mit einem schwarzen Kajalstift ihre Augen. Sie seufzte wohlig vor Erleichterung. Es war ihr tägliches Ritual, ihr Befreiungsschlag, wenigstens für zwei Stunden: Zwei Stunden am Tag tauchte Mabel in ihre Vergangenheit ein und verwandelte sich zurück in einen Punk. Zufrieden wackelte sie mit ihren Zehen, deren Nägel tiefschwarz lackiert waren, dann ging sie barfuß zu ihrem CD-Player und nahm die unerträgliche Ed-Sheeran-CD heraus, die beim Frühstück gelaufen war. Die ganze Welt mochte Ed Sheeran. Die ganze Welt, bis auf Mabel. Briten wie Ausländer, junge und alte Gäste, sie hatte es ausprobiert; Ed Sheeran ging immer, er war der kleinste gemeinsame musikalische Nenner in einem B&B. Entsetzlich, aber was sollte Mabel machen. Punk war jedenfalls keine Option.

Mabel legte die CD Songs of Praise der Post-Punk-Gruppe Shame ein und drehte voll auf. Die Stimme von Charlie Steen dröhnte durch das Frühstückszimmer, und Mabel grölte lautstark mit. »But if you think I love you you’ve got the wrong idea …« Punk war die Geheimwaffe, mit der sie die grässliche tägliche Routine überstand. Noch immer grölend, räumte sie das dreckige Geschirr von den drei Tischen in die Spülmaschine, wusch die Tee- und Kaffeekannen von Hand aus und reihte sie penibel auf dem Regalbrett auf. Sie warf die Lebensmittelreste in den Kompost und stellte Butter und Milch zurück in den Kühlschrank. Dem Amerikaner hatte es offensichtlich geschmeckt, er hatte von seinem Full English Breakfast keinen Bissen übrig gelassen und auch den ganzen Toast gefuttert. Recht so, Mabel mochte es, wenn die Gäste alles aufaßen, dann musste sie nichts wegschmeißen. Sie schüttelte die drei Tischdecken auf den Boden aus und saugte. Es war unfassbar, wie viel Toast- und Chipskrümel die beiden Kids produziert hatten; die Tischdecke war voller Marmeladeflecken, sie würde eine frische brauchen. Den beiden gehörte mal kräftig eins hinter die Löffel. Und den Eltern dazu.

Mabel füllte die Dosen mit Müsli, Haferflocken und Cornflakes auf, die auf der Kommode standen, schraubte die Deckel auf die Marmeladengläser, wechselte das Wasser in den Väschen auf den Tischen – die Blumen aus ihrem Garten würden noch eine Weile halten – und ging dann hinauf, um einen ersten Rundgang durch die Zimmer zu machen und dreckiges Geschirr und Handtücher einzusammeln. Wie immer schloss sie vorher eine kleine Wette mit sich selber ab, wer von den Gästen frische Handtücher haben wollte, und wie immer hatte sie recht. Der Amerikaner im Zimmer »Ivy« wollte keine frischen Handtücher (er kam aus San Francisco und war umweltbewusst), während Familie Saunders aus Kensington im Familienzimmer »Marigold« sämtliche Handtücher in die Badewanne gepfeffert hatte, und nicht nur das. Einige der einstmals weißen Handtücher waren voller Dreck und Sand, dabei stand in den Hinweisen in dem Ordner, der in jedem Zimmer lag, ausdrücklich, dass Handtücher nicht mit an den Strand genommen werden durften.

Ich sollte sie den Pissern in Rechnung stellen, dachte Mabel wütend und zeigte dem Zimmer, das auch sonst einem Schlachtfeld glich, den Stinkefinger, aber wahrscheinlich würde das nur zu einer peinlichen Szene führen. Nicht dass Mabel mit peinlichen Szenen nicht klarkam. Leider würde die schreckliche Familie noch vier Nächte bleiben, weil Schulferien waren, half term, und bestimmt würden sie jeden Tag frische Handtücher wollen. Was für ein Aufwand! Mabel machte die Betten, legte die Tagesdecken darüber, arrangierte die unzähligen Kissen, putzte die Bäder, füllte Duschgel und Shampoo nach, dann zog sie im Zimmer »Rose« die Betten der beiden Wanderer ab und bezog sie frisch.

Als Mabel Honeysuckle Cottage zum B&B umbauen ließ, hatte sie für jedes Zimmer ein eigenes Bad eingeplant. Der Bankberater hatte versucht, es ihr auszureden, weil es die Höhe des Kredits ins Unermessliche trieb, aber Mabel hatte so lange mit dem Krawattenheini verhandelt, bis er klein beigab. Sie hatte es nie bereut, auch wenn sie bis ans Ende ihres Lebens Schulden haben würde. Die Zeiten, wo sich Gäste ohne Murren ein Gemeinschaftsbad teilten, waren längst vorbei, aber viele Bäder bedeuteten auch mehr Arbeit. Das Telefon unterbrach sie beim Putzen, jemand fragte ein Doppelzimmer für das Wochenende an, und Mabel sagte scheinheilig-bedauernd ab. Es war immer dasselbe, wenn die Wetterprognose gut war, hätte sie dreimal so viele Zimmer vermieten können, und wenn von Freitag bis Sonntag Landregen vorhergesagt war, starben plötzlich Omas und Tanten, aber Mabel war unerbittlich, sie hatte zu viel gelernt auf der Straße. Reservierungen waren erst verbindlich, wenn der komplette Übernachtungspreis auf ihrem Konto eingegangen war, und sie erstattete niemals Geld zurück. Seltsamerweise kamen die Leute dann doch, wenn Mabel hart blieb, trotz kürzlich verblichener Angehöriger, und sie wirkten auch kein bisschen traurig.

Mittlerweile war die Spülmaschine durchgelaufen, Mabel stellte sauberes Teegeschirr in die Zimmer und füllte die Tee- und Biskuitdosen auf. Familie Saunders hatte alle Kekse aufgegessen, aber dagegen hatte Mabel nichts, sie wusste, dass sie gut backen konnte. Es war zum Piepen; mit Mitte zwanzig hatte sie unaufgewärmten Fraß aus Dosen gelöffelt und nicht gewusst, wie man einen Ofen auch nur anschaltete, jetzt übernachteten die Leute bei ihr, weil auf ihrer Webseite »excellent homemade biscuits and scones« stand. Sie musste nicht erst in ihren Reservierungen nachschauen, um zu wissen, dass die Pension mit ihren nur vier Zimmern heute Abend wieder ausgebucht sein würde. Eine allein wandernde Frau hatte das zweite Einzelzimmer reserviert. Sie wanderte den kompletten South West Coast Path am Stück, über mehrere Monate hinweg, und wollte in Port Piran, das ungefähr auf halber Strecke lag, eine ganze Woche Pause machen, um sich zu erholen und in kleinen Tageswanderungen die Umgebung zu erkunden. Zwei Leute vom Team der beliebten historischen Serie Cornwall 1900 hatten für zwei Nächte das flexible Zimmer gebucht, in dem das deutsche Pärchen geschlafen hatte. Je nach Bedarf schob Mabel die beiden Einzelbetten zum Doppelbett zusammen oder auseinander. Die Filmleute suchten nach neuen Locations. Auch das war nichts Ungewöhnliches, in Cornwall wurden ständig Filme gedreht.

Mabel schob die Betten auseinander, was ihrem Rücken gar nicht gefiel, stellte eine Karaffe mit Wasser in die Zimmer der Neuankömmlinge, legte Schokolädchen auf die Kissen, saugte alle Böden und ging wieder hinunter. Nur noch die Tische fürs Frühstück neu eindecken, dann würde sie endlich Pause machen, bevor sie ihre Mails checkte, das Schild vor dem Haus auf »No Vacancies« drehte, frische Blumen aus dem Garten holte und Scones und Kekse buk, und dann würden auch schon die Filmleute eintreffen …

Mabel hasste Haushalt wie die Pest. Sie hasste Putzen, Spülen, Saugen, Waschen, Backen und Aufräumen. Sie hasste eigentlich alles, was mit ihrem B&B zusammenhing. Sie hasste schlecht erzogene Kinder und unfreundliche Gäste, sie hasste Buchungsanfragen und Small Talk. Mabel hielt sich selber nicht für einen netten Menschen, aber eigentlich gehörte es zu den Grundvoraussetzungen, ein netter oder zumindest geduldiger Mensch zu sein, wenn man ein B&B erfolgreich führen wollte. Erstaunlicherweise war ihr B&B trotzdem erfolgreich. Es brummte geradezu, und zwischen April und Oktober war Mabel in der Regel komplett ausgebucht. Danach wurde es ruhiger, und von Dezember bis März war Honeysuckle Cottage geschlossen, mit einer kurzen Unterbrechung um Weihnachten herum. Das bedeutete, dass Mabel sieben Monate im Jahr ohne einen Tag Urlaub schuftete. Es gab genug Leute, die Arbeit suchten, und Mabel hätte nur zu gerne jemanden eingestellt, der die Zimmer machte, aber das konnte sie sich nicht leisten. Das Geld, das sie in der Urlaubssaison verdiente, musste über den Winter reichen, und dann war da auch noch die monatliche Überweisung an die Bank. Während andere Hotel- und Pensionsbesitzer im Januar vor dem britischen Winter in eine billige Ferienhaussiedlung nach Benidorm flohen und sich an einem überfüllten Strand in knallrote Krebse verwandelten, packte Mabel ihren Rucksack, zog ihre Punk-Klamotten an und reiste alleine durch Thailand, Vietnam oder Guatemala. Sie schlief in billigen, verwanzten Pensionen, die mit ihrem B&B nichts gemeinsam hatten, tat sich mit anderen Backpackern zusammen, die sie für zwanzig Jahre jünger hielten, als sie tatsächlich war, rauchte alles Mögliche und tankte auf, bevor sie wieder in ihr Spießerleben in Port Piran eintauchte und sich in Mabel, die reizende Wirtin von Honeysuckle Cottage, verwandelte.

Aber inzwischen war Mabel Anfang sechzig und wusste nicht, wie lange sie die Knochenarbeit noch durchhalten würde. Jeden Tag früh aufstehen, Frühstück machen, aufräumen, putzen, backen für den nächsten Tag, Gäste empfangen, die immer gleichen Fragen beantworten. Wo ist der schönste Strand, wo gibt es Fish & Chips, ist der Pub gut, bla, bla, bla. Es war unendlich ermüdend, und Mabel fühlte sich wie ein Leierkasten. Sie hatte alle Tipps in einem Ordner zusammengestellt, der in jedem Zimmer lag, Visitenkarten, Buspläne, Öffnungszeiten, Wander- und Ausgehempfehlungen. Aber die Gäste wurden immer anspruchsvoller. Sie ignorierten den Ordner und wollten die Tipps aus ihrem Mund hören, als hätten sie mit dem Zimmer auch Mabel gebucht. Sie wollten neugierig an der Küchentür lehnen, während Mabel Rührei machte und Scones buk, sie wollten die Katze streicheln und ihren Namen wissen.

»Bluebell«, log Mabel. »Bluebell, wie hübsch«, wiederholten die Gäste entzückt. Mabel hatte die Katze nur aus Marketinggründen angeschafft und Bullshit getauft, aber das konnte sie ihren Gästen natürlich nicht zumuten. Sie mochten sich nicht besonders, sie und die Katze. Clever, wie Katzen nun mal waren, spürte Bullshit ganz genau, dass sie nur dazu diente, das Image des Honeysuckle Cottage aufzupolieren. Bluebell war genauso kitschig wie Honeysuckle Cottage, aber das war es, was die Leute wollten, und Mabel bediente die Erwartungen ihrer Gäste und verdiente daran. Es war eine einzige Lüge, aber was war schlimm daran, wenn es die Leute glücklich machte? Über die Jahre hatte sie es geschafft, ihre TripAdvisor-Bewertungen zu optimieren.

»Entzückende Vermieterin! Immer zu einem Plausch aufgelegt! Und sooo ein süßes Cottage! Wie aus dem Bilderbuch! Überall Blumen! Sogar die Zimmer haben Blumennamen! Und erst der Blick aufs Meer! Und die selbst gebackenen Scones! Cornwall, genau wie man es sich vorstellt!«

Mabel las die Bewertungen und lachte sich ins Fäustchen, weil ihr Plan aufging. Sie schrieb freundliche Antworten: »Danke, kommen Sie bitte bald wieder! Sie waren so reizende Gäste! Ich freue mich riesig, dass es Ihnen gefallen hat!« In sehr seltenen Fällen bekam sie eine vernichtende Kritik, immer dann, wenn Gäste sie derart zur Weißglut trieben, dass Mabel die Beherrschung verlor und ihr altes oder möglicherweise vielleicht sogar wahres Ich durchbrach. »Ein Albtraum! Völlig durchgeknallte, aggressive Vermieterin! Sie hat uns geradezu aus dem Haus gejagt!« Die wenigen negativen Kommentare verloren sich aber zwischen den überschwänglichen und schadeten ihr nicht. Manchmal war sich Mabel nicht sicher, ob sie froh darüber war, dass alles so reibungslos lief. Der Preis, den sie dafür bezahlte, war hoch: Mabel hasste ihr Leben und die Kompromisse, die es mit sich brachte. Statt Motherfucker sagte sie jetzt Schätzchen, Darling oder Honey. Andererseits wäre sie ohne das B&B längst tot, gestorben an zu viel Alkohol, Speed oder Heroin.

Genauso wie Bluebell nicht Bluebell hieß, hieß Mabel nicht Mabel, sondern Lori. Sie war in Manchester aufgewachsen, mit einem Vater, der nie einen Job zu haben schien und entweder zu Hause soff oder im Pub, mit ein paar Geschwistern, an deren Anzahl, Namen und Alter sie sich nicht mehr erinnerte, und mit einer depressiven Mutter, die immer nur auf dem abgewetzten Sofa saß, fernsah und niemals Essen kochte. Eigentlich war in den Siebzigerjahren das ganze Land, vor allem aber die ganze Stadt Manchester depressiv, ein dreckiges Loch ohne Jobs und ohne Hoffnung. Lori hätte selber nicht mehr sagen können, wie sie in das Konzert der Sex Pistols geraten war, das 1976 Geschichte schrieb. Niemand kannte die seltsame Band, die Klamotten trug, die von Vivienne Westwood entworfen worden waren, Songs mit drei Akkorden und provozierenden Texten brüllte und das ganze Publikum einschließlich Lori in einen Rausch versetzte. Endlich fühlte sie sich verstanden. Hier ging es um Protest gegen irgendwie alles, auf jeden Fall alles, was Lori hasste: ihre Eltern, das Scheiß-System, Scheiß-England und die kack-königliche Familie.

Nach dem Konzert kehrte sie nicht mehr nach Hause zurück. Bis dahin war sie David-Bowie-Fan gewesen, nun zerriss sie ihre Klamotten, stellte ihre Haare mit Autolack auf, legte sich ein Hundehalsband um den Hals und schrieb mit einem Filzstift »Hate and War« auf ihr T-Shirt. Sie war nicht die Einzige, denn mit dem legendären Konzert der Sex Pistols war der Punk in Manchester angekommen. Sie schloss sich anderen Straßenpunks an und lebte mal in besetzten Häusern, mal in verfallenen Fabriken und mal auf der Straße. Sie rauchte, soff und kiffte, und zwar von allem zu viel. Deshalb dauerte es auch so lange, bis der Brief vom Notar sie erreichte.

Lori hatte ein Cottage in Cornwall geerbt, von einer kinderlosen Tante, von deren Existenz sie bis dahin nichts gewusst hatte, in einem Ort, von dem sie noch nie gehört hatte: Port Piran.

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3. Kapitel

Margarete

Es tut mir ja so leid!«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du konntest doch nicht ahnen, dass ich hier nachts um halb drei über deinen Putzeimer stolpern würde! Ich bin übrigens Margarete. Aus Stuttgart.«

»Nice to meet you, Margret. Titilope. Aus Nigeria. Tut’s noch weh?«

»Ein bisschen. Nicht schlimm. Ich bin vor allem froh, dass du kein Axtmörder bist, der mir im Dunkeln aufgelauert hat.«

Titilope lachte, entblößte dabei ihre weißen Zähne, und Margarete schnappte nicht zum ersten Mal nach Luft. Die Putzfrau dieses unsäglichen Hotels direkt an der Autobahn hätte auf jedem Laufsteg und in jedem Film eine gute Figur gemacht, denn sie war vermutlich die schönste Frau, die ihr je begegnet war. Titilopes Gesichtszüge waren so ebenmäßig und makellos wie die einer griechischen Göttin. Alles an ihr strahlte: ihre Augen, ihre dunkle Haut und ihre perfekten weißen Zähne. Ihre unzähligen pechschwarzen Zöpfchen waren am Hinterkopf zu einem beeindruckenden Dutt aufgetürmt. Titilope war schlichtweg atemberaubend, und nicht einmal der schäbige Putzkittel mit dem Logo des Hotels konnte ihr etwas von ihrem Glanz nehmen. Am liebsten hätte Margarete all das laut ausgesprochen, aber sie hatte Angst, dass es irgendwie blöd rüberkam. Sie saßen in der Küche des Hotels. Ja, es gab tatsächlich eine Küche. Dort bestückte Titilope die orangefarbenen Frühstückstabletts mit vergammeltem Toast, weil ihre Proteste im Nichts verhallten, wie sie Margarete erzählte, und stellte die Tabletts in die Schließfächer. Danach putzte sie die Zimmer und die Lobby. In der Küche befand sich auch der Erste-Hilfe-Kasten mit dem Pflaster, das Titilope auf Margaretes blutige Knie geklebt hatte, nachdem sie die vom Putzwasser durchweichte Jeans ausgezogen hatte.

Margarete fühlte sich ein wenig verloren, jetzt, da sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. Sie wollte doch längst weg sein, und jetzt hing sie hier fest, mit zerbeulten Knien. Und was, wenn Roland doch noch aufwachte und nach ihr suchte?

»Ich muss los. So schnell wie möglich.« Sie hatte Titilope erklärt, dass sie vor einem Mann davonlief, den sie nicht mochte. Die schien das ziemlich normal zu finden.

»Das wird schwierig«, antwortete sie. »Wir sind hier im Industriegebiet, die nächste Bushaltestelle ist fünf, sechs Meilen entfernt, und da fährt erst am Morgen wieder was.«

»Das ist zu spät. Wie kommst du hier weg?«

»Mein Mann holt mich, wenn meine Nachtschicht rum ist. Das ist aber erst um sieben Uhr.«

»Das ist definitiv zu spät«, murmelte Margarete. »So lange kann ich nicht warten.« Dann fiel ihr ein, dass sie ausnahmsweise Geld in ihrer Reisetasche hatte. »Gibt’s hier irgendwo ein Taxi?«

»Ich fahre nie Taxi, aber selbst wenn ich’s täte, hier draußen gibt es keine. Und die werden dir was erzählen, wenn du sie mitten in der Nacht rausklingelst. Wir sind hier nicht in London. Manchmal kommen frühmorgens Taxis, die sind dann alle von den Gästen vorgebucht. Wie bist du denn hierhergekommen?«

»Mit dem Auto. Seinem Auto. Er hat Flugangst. Weißt du, wie endlos lange die Fahrt von Stuttgart nach Cornwall über Frankreich dauert, wenn das Auto grade mal hundert fährt?«

»Wo steht die Kiste?«

»Direkt vor der Tür. Auf dem Parkplatz. Dieser klobige alte museumsreife Mercedes.«

»Kannst du das Ding fahren?«

»Hm, keine Ahnung. Ich denke schon.«

»Na dann. Ist doch quasi ein Notfall.« Titilope lachte schallend. Dabei entblößte sie ihre perfekten Zähne, und Margarete haute es erneut um.

»Bist du religiös?«

»Ich bin Christin. Deshalb musste ich ja raus aus Nigeria.«

»Okay, dann stell dir vor, Gott sieht aus wie ein Mercedes. So etwa ist das bei Roland. Er betet sein Auto an.«

»Du klaust es ja nicht. Du leihst es dir nur.«

»Wie sieht’s mit Trampen aus?«

»Mitten in der Nacht? Da denken alle, du kommst besoffen aus dem Pub oder bist gerade irgendwo eingebrochen oder, noch schlimmer, du bist eine Nutte. Niemand würde dich mitnehmen. Um die Zeit fährt hier auch keiner rum.«

»Dann muss ich doch zurück ins Zimmer. Erst die Autoschlüssel, dann das Auto klauen. Mist. Ich hab keine Karte mehr fürs Zimmer. Karte klauen?«

»Frag doch einfach das Zimmermädchen.« Titilope verschwand und kam mit einer Plastikkarte in der Hand zurück.

»Du hast mich nicht einmal nach meiner Zimmernummer gefragt«, sagte Margarete verwundert.

»Es sind nicht so viele Zimmer belegt«, grinste Titilope.

 

Zehn Minuten später schloss Margarete Rolands Autotür auf. Titilope hatte sie hinausbegleitet. Die Nacht war kalt und sternenklar. Es fühlte sich an wie im Winter, nicht wie in den milden Mainächten in Stuttgart. Den Autoschlüssel zu klauen war ein Kinderspiel gewesen. Roland hatte sich gerade einen dreckigen Witz erzählt und schrecklich darüber gelacht. Das alte Auto war eine ganz andere Herausforderung. Margarete stellte die Reisetasche in den Fußraum des Beifahrersitzes, hängte die versaute Jeans über die Kopflehne, stieg umständlich ein, weil ihre Knie immer noch schmerzten, und schaute hilflos auf die Armaturen, Hebel und Knöpfe.

»Dieses Auto stammt aus der Jungsteinzeit«, murmelte sie.

»Hauptsache, das Rad war bereits erfunden«, meinte Titilope munter. »Ich muss weitermachen. Du kriegst das schon hin.« Sie beugte sich herunter und gab Margarete die Hand. Die drückte sie fest.

»Danke. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«

»Ohne mich wärst du auch nicht über einen Eimer gestolpert und hättest dir die Knie zerdeppert. Wo willst du überhaupt hin?«

»Keine Ahnung. Ans Meer. Wo ist es hübsch?«

»Da fragst du die Falsche. Ich kenne nur Cornwall by night. Ich würde aber mal tippen, es gibt hübschere Hotels als diesen Schuppen hier, und mit besserem Frühstück. Pass auf dich auf. Hier. Für alle Fälle.« Sie zog einen Zettel und einen Stift aus ihrer Kitteltasche, beugte sich ins Auto herein, um Licht zu haben, und kritzelte eine Nummer aufs Papier.

»Danke. Pass du auch auf dich auf. Alles Gute.«

»Und – Margarete? Gott wird dir verzeihen.« Titilope grinste, tätschelte das altmodische Lenkrad, richtete sich auf und ging in schnellen Schritten zurück zum Hotel. Margarete sah ihr nach. Ob sie wohl illegal in England war und deshalb nachts arbeitete? Sie hätte gerne mehr über sie erfahren, aber jetzt musste sie sich erst einmal um sich selber kümmern. Sie ließ den Motor an und fuhr im Schneckentempo eine Runde über den beleuchteten Parkplatz. Es schien unendlich lange zu dauern, bis das Gaspedal reagierte, es gab keine Servolenkung und eine gewöhnungsbedürftige Lenkradschaltung, aber immerhin eine Tachobeleuchtung. Margarete schaltete ruckelnd in den zweiten Gang und gab Gas. Allzu viel passierte nicht, zumindest was die Geschwindigkeit betraf. Sie musste zugeben, irgendwie hatte das alte Auto mit seinen Ledersitzen und seiner Holzleiste Stil. Wahrscheinlich war es ein Vermögen wert, und Roland würde einen Auftragskiller auf sie hetzen, wenn sie damit abhaute.

Sie war schon lange nicht mehr Auto gefahren, in Stuttgart brauchte sie keins, und deshalb drehte sie für alle Fälle eine zweite Runde um die geparkten Wagen herum. Langsam begann ihr die Kiste, die Roland, der in Stuttgart geboren war, zärtlich »mei Audole« nannte, Spaß zu machen. Sie hatte etwas Würdevolles, so ganz ohne Plastik und Elektronik. Margarete öffnete das Ausstellfenster und lachte. Noch eine Runde, und dann aber endlich los. Sie fuhr gerade am Hoteleingang vorbei, da wurde die Eingangstür aufgerissen. Titilope stand in der Tür, wedelte wild mit den Armen und brüllte etwas Unverständliches. Margarete hielt an.

»Go, Margret, go!«, kreischte Titilope. Jemand stürmte an ihr vorbei, brüllte noch lauter und war offensichtlich ziemlich wütend.

»MAR-GA-RE-TE!« Der Jemand kam die Treppe heruntergerannt. Shit. War Roland also doch noch aufgefallen, dass ihm Margarete abhandengekommen war. Nichts wie weg! Sie drückte das Gaspedal durch. Die Kiste reagierte nicht so richtig. Margarete presste den Fuß noch weiter nach unten, der Mercedes machte einen ungnädigen Hüpfer und wurde plötzlich so schnell, dass sie mit Ach und Krach um die Kurve schlitterte. Sie geriet in Panik, trat heftig auf die Bremse und krachte schmerzhaft mit der Brust gegen das ungepolsterte Lenkrad, weil sie vergessen hatte, sich anzuschnallen. Das Auto kam zum Stillstand. Sie holte tief Luft, tastete hektisch nach dem Gurt und fand ihn in der Eile nicht. Dann eben später! Jetzt ging es sowieso nur noch geradeaus, zwischen den parkenden Autos hindurch und dann nach rechts, in die Ausfahrt, in die Freiheit! Im Scheinwerferkegel tauchte Roland auf, in dem lächerlichen, viel zu kleinen Schlafanzug seines kürzlich verstorbenen Vaters, in dem er aussah wie ein Matrose. Er rannte zur Ausfahrt, positionierte sich strategisch davor und streckte beide Arme gebieterisch zur Seite aus, wie ein Polizist, der wegen einer ausgefallenen Ampel den Verkehr regelt. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu sehen, aber Margarete kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er sich hundertprozentig sicher war, dass sie reumütig anhalten und mit ihm ins Zimmer zurückkehren würde. Er würde nicht einmal sauer sein. »Die Wechseljahre«, würde er milde lächelnd sagen und ihr die Hand tätscheln, als sei sie eine Achtzigjährige im Altersheim. »Da gehen einer Frau schon einmal die Hormone durch.«

Das mit den durchgehenden Hormonen war eigentlich eine gute Idee. Margarete holte noch einmal tief Luft, dann trat sie mit aller Kraft aufs Gaspedal. Das Auto heulte auf und beschleunigte. Roland stand wie tiefgefroren vor der Ausfahrt, und sie kam ihm immer näher. Der Mercedes wurde schneller. Margarete hatte schreckliche Angst, hielt aber weiter auf Roland zu. Der sture Hund würde sich lieber umbringen lassen, als sein Audole aufzugeben! Sie biss die Zähne zusammen. Wenn Roland stehen blieb, würde er in drei Sekunden tot sein, jetzt konnte sie sein Gesicht sehen, seine Stirn war gerunzelt, so sah er aus, wenn er Margarete zurechtwies, noch zwei Sekunden, Roland ließ die Arme sinken, noch eine, er guckte sehr erstaunt und machte einen Hechtsprung nach links, Margarete riss das Lenkrad scharf nach rechts. Roland brüllte wie am Spieß, was entweder daran lag, dass er leider mit seinem Hechtsprung in einer Hecke gelandet war, oder daran, dass Margarete mit dem vorderen rechten Kotflügel des heiligen Autos erst gegen den Bordstein und dann gegen einen großen Müllcontainer geknallt war, wobei es sie ordentlich durchschüttelte. Sie riss das Steuer wieder nach links, betete, dass kein Reifen geplatzt war, und schlingerte endlich in die Ausfahrt, Rolands wütende Schreie im Ohr.

Erst nach ein paar Hundert Metern, als sie sicher war, dass er ihr nicht folgte, hielt sie zitternd an. Sie musste vollkommen verrückt sein. Was, wenn Roland nicht im letzten Moment ausgewichen wäre? Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Gegen ihren Willen fühlte sie plötzlich ein wildes Triumphgefühl in sich aufsteigen. Sie hatte es geschafft. Sie war Roland los. Den Schaden am Auto würde sie später begutachten, es würde schon nicht so schlimm sein.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie fahren sollte. Sie wusste nur, dass sie irgendwo im südlichen Cornwall war, in Redruth, einem ziemlich scheußlichen Ort, der kein bisschen dem entsprach, was sie sich unter Cornwall vorgestellt hatte. Hauptsache, sie brachte erst einmal ein paar Meilen zwischen sich, Roland und das schreckliche Hotel! Es war jetzt kurz vor drei, aber Margarete war hellwach. Sie kam an einen Kreisverkehr und fuhr einmal drum herum. Sie hatte drei Ziele zur Auswahl: Camborne und St Ives, Falmouth und Helston, oder Truro. Keiner der Orte sagte ihr wirklich etwas. Margarete fuhr ein zweites Mal um den Kreisverkehr. Sie störte niemanden damit, denn ihr Auto war das einzige weit und breit. Der Triumph wich langsam einer leisen Verzweiflung. Sie hatte keine Karte, sie hatte kein Ziel, sie war nicht daran gewöhnt, auf der linken Seite zu fahren, es war drei Uhr in der Nacht, und vor allem hatte sie Hunger. Immerhin hatte sie Geld, wenn sie auch nicht wusste, wie viel. Sie fuhr ein drittes Mal um den Kreisverkehr. Sie hatte sich so auf Cornwall gefreut, aber bisher war der Trip eine einzige Katastrophe gewesen, und der vermeintliche Lottogewinn Roland hatte sich als völlige Niete entpuppt! Sie zückte das Smartphone, um herauszufinden, wie sie am schnellsten ans Meer kam. Ganz toll, kein Empfang. Vertrau deinem Bauchgefühl, dachte sie und bog spontan Richtung Falmouth und Helston ab. Cornwall war schmal und vom Meer umgeben, so viel wusste sie immerhin. Irgendwie würde sie schon ans Meer kommen. Sie hatte die Stadt hinter sich gelassen, war auf einer Schnellstraße und kam flott voran. Niemand außer ihr schien unterwegs zu sein. Vielleicht waren ja auch alle Menschen tot, von einem bösartigen Virus dahingerafft, nur Margarete und Roland hatten es nicht mitbekommen?

Von Anfang an war dieser Urlaub eine einzige Katastrophe gewesen. Das lag nicht nur daran, dass Roland Flugangst hatte und sie deshalb Auto und Fähre nehmen mussten, was die Reisezeit ins Unendliche dehnte. Dass Roland Daimler fuhr, war ja für einen Stuttgarter ziemlich normal, aber das steinalte, klobige Modell wirkte genauso aus der Zeit gefallen wie Rolands pastellfarbene Anzüge, und es konnte offensichtlich nicht schneller als hundert Stundenkilometer fahren. Roland war nicht nur genervt davon, dass Margarete ab und zu aufs Klo musste – er selber schien über körperliche Bedürfnisse erhaben zu sein –, er war auch noch schrecklich pingelig.

»Keine Mahlzeiten im Audole«, verkündete er streng, als sie kurz hinter Karlsruhe in ihre Brezel beißen wollte. Autofahren machte Margarete immer schrecklich hungrig, sie hatte liebevoll elf Käse- und Schinkenbrote mit Gurke und Salatblättern vorbereitet, sechs für sie selbst, fünf für Roland, und für jeden eine Butterbrezel. Sie war dafür extra zum Bäcker Hafendörfer gegangen!

»Wieso nicht?«

»Wegen der Krümel natürlich. Du sitzt in einem sehr wertvollen Oldtimer. Einem Mercedes Strich-Acht von 1972.«

»Warum hast du einen komischen Strich-Mercedes und kein normales Auto, das normale Geschwindigkeiten fährt?«

»Weil das Audole viel toller ist als ein normales Auto.«

»Was ist schlimm an Krümeln?«

»Sie arbeiten sich in die Sitze und zerstören sie. Schleichend, hinterhältig und von innen heraus. Am allerschlimmsten sind Brezelkrümel. Auf einer Krümel-Gefährlichkeits-Skala von eins bis zehn liegen Brezelkrümel bei zehn.«

Margarete war bis dahin nicht bewusst gewesen, was für eine schreckliche Bedrohung von Krümeln ausging. Sie seufzte und stopfte die angebissene Brezel zurück in die Tüte. »Okay. Dann eben bei der Klopause.«

»Wenn wir schon dabei sind: Ich würde dich außerdem bitten, etwas auf dein Haar zu achten, Margarete.«

»Mein Haar?«, fragte Margarete verdutzt. »Was ist damit?«

»Du hast sehr viel Haar.«

»In der Tat, das ist mir schon aufgefallen«, sagte Margarete zufrieden und schüttelte zum Beweis ihre schulterlangen, flammend roten, lockigen Haare. Es gab nicht so viel, was sie wirklich an sich mochte. Das Haar gehörte definitiv dazu.

»Bitte nicht schütteln!«, flehte Roland.

»Aber … hattest du nicht gesagt, du magst mein Haar?«

»Ja! Aber doch nicht auf den Polstern von meinem Audole!«

»Lass mich raten. Auf einer Haar-Gefährlichkeits-Skala von eins bis zehn liegen meine Haare bei zehn?«

»Richtig.«

»Weißt du was, Roland? Mein Vater hatte früher einen Aufkleber auf dem Kotflügel seines VW-Käfers: Fahr net auf mei Heilix Blechle.«

»Meiner auch. Aber was hat das mit meinem Audole zu tun?«

»Ich muss aufs Klo.«

»Keine Klopause vor der französischen Grenze!«

 

Roland hatte Flugangst, und Margarete war nicht seefest − als sie in Roscoff auf die Fähre stiegen, nachdem sie halb Frankreich im Auto durchquert hatten, wurde Margarete auf der sechs Stunden dauernden, stürmischen Überfahrt entsetzlich seekrank. Es dauerte einen halben Tag, bis sie sich davon erholte. Dann stellte sich heraus, dass Rolands und Margaretes Vorstellungen von Urlaub kein bisschen kompatibel waren. Nach dem schrecklichen Retortenfrühstück im Hotel pflegte Roland mit seinem Mercedes in irgendein Städtchen ans Meer zu fahren und suchte dort zunächst stundenlang nach einem Parkplatz mit reichlich Pufferzone drum rum, um das Heilix Blechle nicht zu gefährden. Das war angesichts der schmalen Sträßchen, in denen die Autos dicht an dicht parkten, nahezu aussichtslos. Hatten sie nach endlosem Umherkreisen endlich etwas gefunden, suchte Roland sofort das nächste Café auf, meist aber nicht eines der idyllisch gelegenen mit Blick aufs Meer, sondern eines in zweiter Reihe ohne Aussicht, und am liebsten saß er drinnen.

»Weißt du, Margarete, ich kenne mich aus. Cafés mit Meerblick sind doppelt so teuer.«

»Dafür gibt es aber auch einen Grund, und wir sind doch in Urlaub!«, versuchte Margarete verzweifelt zu retten, was zu retten war.

»Genau, Margarete. Wir sind in Urlaub, und das versuchen die Einheimischen auszunutzen, indem sie uns das Geld aus der Tasche ziehen. Skru-pel-los. Hast du nicht die geldgierigen Blicke der Lokalbevölkerung gesehen? Nicht mit mir.«

Margarete hatte bisher eigentlich den Eindruck gehabt, dass die Lokalbevölkerung sehr freundlich und hilfsbereit war. »Roland, weißt du was? Du bist einfach ein echtes Cleverle.«

»Nun ja. Ich will mich nicht selber loben, aber wenn du meinst … ich kenne mich schon ein bisschen aus in der Welt …«

»Können wir wenigstens draußen sitzen?«

»Nein. Ich mag kein Wetter.«

»Du meinst, du magst kein schlechtes Wetter?«, hakte Margarete nach. »Die Sonne scheint!«

»Nein, ich mag überhaupt kein Wetter. Sonne, Wind, Regen. Das ist alles so … so … unberechenbar irgendwie. Viel zu viel Natur.«

»Du bist Naturwissenschaftler!«

»Ich bin Astrophysiker. Ich beschäftige mich mit dem Weltall, nicht mit der Erde.«

In seinem Internet-Profil hatte Roland angegeben, er sei sportlich und liebe Spaziergänge. Mehr als fünfzehnminütige Rundgänge durch die allerliebsten Örtchen am Meer waren mit ihm aber nicht drin, weil er sich von seinen anstrengenden Münchner Studenten erholen musste. Am liebsten fuhr er in gemütlichem Tempo im Auto spazieren, mit kurzen Stopps an Aussichtspunkten.

»So lernt man ein Land am besten kennen«, erklärte er. »Und die Briten machen das schließlich auch.« Seltsamerweise stimmte das. Auch die Briten schienen am liebsten im Auto sitzen zu bleiben und Tee zu trinken, oder sich maximal einen Klappstuhl neben das Auto zu stellen, selbst bei schönem Wetter. Während Roland also typisch britisch im Auto sitzen blieb, wenn auch ohne Tee, und durch die Scheibe fotografierte, sprang Margarete wie der Blitz aus dem Auto und genoss wenige Minuten der Freiheit, ehe Roland das Seitenfenster herausklappte und zum Aufbruch mahnte.

Ein Glücksfall war es, wenn irgendwelche Autofreaks Rolands alten Mercedes bewunderten, dann stieg er würdevoll aus und gab in seinem schwäbischen Englisch bereitwillig Auskunft. Margarete blickte währenddessen hinunter aufs Meer und sah sehnsüchtig den Wanderern hinterdrein, die mit strahlenden Gesichtern an ihr vorbeimarschierten und von der Schönheit des Küstenpfades schwärmten. Am sehnsüchtigsten sah sie wandernden Paaren hinterher, die offensichtlich einträchtig einem gemeinsamen Hobby nachgingen. Vom Wandern hielt Roland aber gar nichts, weil man da dreckig und nass werden konnte und das Auto viel zu lange unbeaufsichtigt auf einem einsamen Parkplatz ließ. Margarete hatte schon auf der Fahrt kapiert, dass das niemals etwas werden würde mit Roland und ihr, aber sie hatte sich doch soo auf Cornwall gefreut!

Natürlich war Margarete auch klar gewesen, dass Roland, ohne es explizit zu erwähnen, ein Doppelzimmer buchen würde. Vor Cornwall hatten sie sich drei-, viermal getroffen, beim dritten und vierten Mal hatten sie sich geküsst, viel mehr war nicht passiert. Margarete war sich aber ziemlich sicher, dass Rolands Reiseplanung auch den Programmpunkt »Sex« umfasste. Er lud sie schließlich nicht ohne Hintergedanken ein. Margarete fand das okay. Schließlich war sie verknallt in Roland (gewesen, vor der Reise) und hatte sich darauf gefreut, mit ihm ins Bett zu gehen. Roland schritt gleich in der ersten Nacht im Hotel zur Tat.

»Wie war’s?«, fragte Roland hinterher eifrig und angelte nach dem Oberteil seines Matrosenschlafanzugs.

Margarete zögerte. Einerseits wollte sie Roland nicht verletzen, andererseits auch nicht anlügen.

»Es war – okay«, sagte sie schließlich und fühlte sich ein wenig schuldbewusst dabei.

»Super!«, strahlte Roland, schlüpfte in das Oberteil, drehte sich auf die Seite und war in drei Sekunden eingeschlafen. Nach vier Sekunden fing er an zu schnarchen. Er schien nicht auf die Idee zu kommen, dass es sich bei »okay« nicht gerade um den orgiastischen, unfassbar guten, sofort zu wiederholenden Ich-verliere-das-Bewusstsein-Sex handelte, auf den Margarete ihr ganzes Liebesleben lang gewartet hatte und den sie nie wieder missen wollte. Sie war der Meinung, dass Sex immer besser werden sollte, je älter frau wurde. Lästige Dinge wie Verhütung oder im unpassenden Moment seine Tage zu haben spielten endlich keine Rolle mehr. Man kannte seinen Körper, wusste, was einem gefiel, schämte sich weniger und war viel experimentierfreudiger. So weit die Theorie.

Einer der Gründe, warum Margarete auf Roland hereingefallen war und gegen Sex mit ihm nichts einzuwenden hatte, war sein unglaublich attraktives Aussehen. Er war groß und schlank und hatte dunkelbraunes, leicht verwuscheltes, erstaunlich dichtes Haar für einen Dreiundfünfzigjährigen und sah mit seiner sportlichen Figur (nicht dass er Sport machte) kein bisschen so aus, wie man sich einen leicht seltsamen Professor für Astrophysik so vorstellte. Tatsächlich erinnerte er sie an Cary Grant. Er kniff auch manchmal die Augen zusammen und guckte so irritiert wie Cary Grant in Der unsichtbare Dritte in der Szene, in der dieser von einem Flugzeug attackiert wurde.

Roland tat alles, um dieses gute Aussehen mit einem absolut grauenhaften Outfit zu ruinieren. Seine randlose Steve-Jobs-Brille war ja noch ganz okay. Aber Roland trug Anzüge in Pastellfarben, die Margarete nicht an Cary Grant, sondern an Miami Vice erinnerten. Anders als Sonny Crockett in der Kultserie aus den Achtzigern trug er keine T-Shirts dazu, sondern Hemden, was das Outfit nicht retro, sondern einfach nur albern erscheinen ließ. Bei ihrem ersten Date hatte Margarete noch geglaubt, er habe sich ihr zuliebe fein machen wollen und sei deshalb in einem apricotfarbenen Anzug aufgetaucht. Das wirkte zwar lächerlich, aber Margarete fand es auch irgendwie rührend, weil Roland sich positiv von anderen Männern abgehoben hatte, die zum ersten Treffen in schlampigen Klamotten erschienen und sich offensichtlich keine Mühe gaben. Margarete schloss daraus, dass sie sich auch in einer Beziehung keine Mühe geben würden. Außerdem schien bei den meisten Männern mit zunehmendem Alter die Altersweitsichtigkeit die Wahrnehmung zu verzerren. Sie beschrieben sich in ihrem Internetprofil in leuchtenden Farben, wirkten dann aber in echt eher blass. Es war ein bisschen so, als würde man einen Farbfernseher kaufen, der dann aber nur schwarz-weiße Bilder lieferte. Mit der Zeit lernte Margarete, die Beschreibungen zu interpretieren. »Kein Spießer« bedeutete Zwerge im Vorgarten, »Lausbubencharme« hieß, sie schmatzten beim Essen und redeten mit vollem Mund. »Nicht mehr ganz jung, aber in bestem Zustand« war ein Synonym für »Mein Bauch ist in bestem Zustand«, und »tageslichttauglich« und »vorzeigbar« stand für ungewaschene Haare und ausgebeulte Cordhosen. Roland dagegen hatte sich selbst als »durchschnittlich« beschrieben, weil er offensichtlich nicht die geringste Ahnung hatte, wie gut er aussah. Als er zum zweiten Treffen in einem pinkfarbenen Anzug erschien, fragte Margarete ihn beiläufig, ob er oft Anzug trug.

»Immer. Ich habe gar nichts anderes.«

»Immer? Auch in der Freizeit? Hast du keine ausgebeulten Jogginghosen, um morgens zum Bäcker zu gehen?«

»Margarete!«, rief Roland aus und sah sie an, offensichtlich vollkommen geschockt. »Natürlich nicht!«

»Und wieso nicht?«

»Die zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft manifestiert sich nicht nur in schlechten Manieren, sondern auch in einer zunehmenden Vernachlässigung der Kleiderordnung. Jogginghosen gehören auf den Trimm-dich-Pfad, nicht in die Öffentlichkeit.«

»Äh … ja«, antwortete Margarete und dachte an ihre geliebte Jogginghose. Ihr Bäcker kannte sie in gar nichts anderem.

Margarete seufzte, wenn sie an die geplatzte Beziehung dachte. Es war kurz vor halb vier. Bald würde es hell werden. Sie war jetzt seit einer guten Dreiviertelstunde auf der Schnellstraße unterwegs, wurde immer hungriger und erschöpfter und war dem Meer offensichtlich kein bisschen näher gekommen. Natürlich war weit und breit auch niemand zu sehen, den sie hätte fragen können. Die Augen fielen ihr zu. Vielleicht war es besser, von der Schnellstraße herunterzufahren und irgendwo einen Parkplatz zu suchen, um wenigstens kurz die Augen zu schließen? Bei der ersten Gelegenheit bog sie nach links ab auf ein schmales Sträßchen, das von hohen Hecken gesäumt war. Das war ja noch blöder, da würde sie das Meer erst sehen, wenn sie drei Meter davon entfernt war! Der nächste Abzweig, wieder bog sie nach links ab. Das Sträßchen war jetzt noch ein wenig schmaler und führte steil bergab. Das war ein gutes Zeichen, das Meer lag ja vermutlich unten. Dann ging es um eine scharfe Kurve und sofort wieder steil nach oben. Plötzlich begann der Motor zu stottern. Margarete trat kräftig aufs Gaspedal. Nichts passierte. Der Wagen rollte, wurde langsamer und langsamer und blieb dann einfach am Fuß der Steigung stehen. Der Motor war erstorben. Margarete zog die Handbremse an und öffnete die Tür, damit die Innenbeleuchtung anging. Kalte Luft strömte ins Auto. 4/4, 2/4, R, das musste die Tankanzeige sein. Margarete gab einen frustrierten Laut von sich. Die Nadel stand links vom R. Der Tank war leer.

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4. Kapitel

Mabel

Lori brauchte zweieinhalb Tage, um von Manchester nach Port Piran zu trampen. Nach Cornwall zu kommen war ja schon schwierig genug, aber dann noch in ein winziges Dorf, das keiner kannte? Es gab außerdem nicht allzu viele Autofahrer, die bereit waren, ein Mädchen mit Nasenpiercing, Hundehalsband, Ballett-Tutu, Netzstrümpfen und Springerstiefeln mitzunehmen. Wobei es wahrscheinlich hauptsächlich an ihrem mit Autolack gestylten Irokesenschnitt lag, dass sie immer sehr lange am Straßenrand ausharren musste. Mitte der Achtzigerjahre war Margaret Thatcher sehr erfolgreich dabei, das Land zu ruinieren und seine Bewohner in Spießbürger zu verwandeln, und Punk war mehr oder weniger Vergangenheit, was Lori noch mehr zum Paradiesvogel machte. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto länger musste sie warten, bis sich ein Autofahrer ihrer erbarmte. Sie hatte auch keine Landkarte und wusste deshalb gar nicht, wo in Cornwall sie sich eigentlich gerade befand. Dort schienen vor allem Milchlaster, Traktoren und klapprige Autos herumzufahren, in denen Familien mit mindestens sechs Kindern saßen. Die Kinder klebten mit großen Augen und offenem Mund an den Scheiben, wenn sie Lori sahen, und die Farmhunde rannten wütend auf den Ladeflächen rostiger Morris-Marina-Pick-ups hin und her und bellten sich die Seele aus dem Leib.

Lori hockte schon gute zwei Stunden am Straßenrand und hatte ihren letzten Joint längst geraucht. Schon jetzt hasste sie Cornwall. Sie war ein Stadtkind, und da sie als Punk immer eine Zielscheibe für Angriffe und Überfälle gewesen war, hatte sie gelernt, sich auf den Straßen, unter den Brücken und in den verlassenen Lagerhäusern von Manchester sicher zu bewegen und Männer in die Eier zu treten, wenn es sein musste. Auf dem Land war sie niemals gewesen. Der stinkende Mist auf den Feldern, die Bremsen, die auf den Rücken der Kühe saßen, um sich dann unverhofft auf Lori zu stürzen, die Vögel und die Hasen und die Fasanen, die sie aufschreckte, all die Gerüche und Geräusche, die sie nicht kannte, machten sie nervös und unsicher. Sie hatte keine Ahnung, wie weit es noch nach Port Piran war. Zu essen hatte sie auch nichts mehr, und ihr Vermögen belief sich auf ganze sechs Pfund und dreiunddreißig Pence. Sie versuchte, Essen von den Leuten zu schnorren, die sie mitnahmen, aber die meisten reagierten empört, weil sie fanden, dass Lori ihre Gutmütigkeit überstrapazierte, und es fiel allenfalls mal ein kleine Tüte Salt & Vinegar-Chips oder ein halber Riegel Schokolade für sie ab. Vor allem aber war Lori auf Entzug. Vor mehr als zehn Stunden hatte sie den Inhalt ihres letzten Tütchens Speed sorgfältig auf ihren Handrücken geleert und die Nase hochgezogen. Jetzt hatte sie nichts mehr. Speed machte sie hellwach und ließ sie Hunger, Durst und Müdigkeit nicht spüren. Es machte sie auch gesprächig, was ein Vorteil beim Trampen war. Aber jetzt ließ die Wirkung immer mehr nach, und ihre Vorräte waren aufgebraucht. Und selbst wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie keine Ahnung gehabt, wo sie in diesem offensichtlich nur aus Kühen, Schafen, Weiden und Landstraßen bestehenden Kack-Cornwall Speed kaufen konnte, das in Manchester an jeder Ecke angeboten wurde. Ja, Lori war hungrig, müde und wütend auf diese bescheuerte Tante, die ihr wahrscheinlich eine Bruchbude in der Größe einer Hundehütte hinterlassen hatte. Plötzlich hielt ein beigefarbener Ford Escort vor ihr, und eine Scheibe wurde heruntergekurbelt.

»Wo willst du hin?«, fragte ein ungefähr fünfzigjähriger Typ im Anzug, der Lori nicht besonders sympathisch war.

»Port Piran«, antwortete sie.

»So ein Zufall, da habe ich heute geschäftlich zu tun«, sagte der Typ.

Lori glaubte ihm kein Wort, stieg aber trotzdem ein, einfach nur, damit irgendetwas passierte. Es passierte auch ziemlich schnell etwas. Der Typ plauderte über dies und das, ohne eine Antwort von Lori zu erwarten, und nach gut zwei Meilen nahm er scheinbar beiläufig die linke Hand vom Steuer, grapschte nach Loris Hand und versuchte, sie auf seinen Schritt zu legen. Sie war darauf vorbereitet und scheuerte ihm eine. Der Typ schrie auf vor Schmerz, griff sich an die Backe, das Auto begann gefährlich zu schlingern und beendete seine Fahrt auf dem kurvenreichen schmalen Sträßchen in einer Hecke.

»Raus mir dir! Du bist ja völlig durchgeknallt!«, brüllte der Typ. Lori schnappte die kleine Reisetasche, in der sich ihre ganzen Habseligkeiten befanden, sprang aus dem Wagen und stellte mit großer Befriedigung fest, dass der Ring mit den Spikes, den sie trug, blutige Striemen auf der Wange des Mannes hinterlassen hatten. Er fuhr mit quietschenden Reifen davon. Ein Junge auf einem Mofa knatterte Lori entgegen. Sie winkte und fragte, wie weit es noch bis Port Piran war. Der Junge hatte angehalten und dachte angestrengt nach.

»Vielleicht zehn Meilen?«, antwortete er schließlich. Und dann sagte er noch: »Du stinkst.«