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Elisabeth Kabatek

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Beschreibung

Pipeline Prätorius lebt in Stuttgart, der wildesten Stadt Deutschlands. Sie zieht Katastrophen vollautomatisch an und kämpft gegen die schwäbische Spießigkeit. Mit ihrem Freund Leon aus Hamburg hat sie sich versöhnt, doch der schafft jetzt bei Bosch in China. Und auch ihr neuer, vielversprechender Job in einer Werbeagentur entpuppt sich als absolute Katastrophe. Da hilft nur noch Tante Dorles unübertroffener Käsekuchen …

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Seitenzahl: 510

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Elisabeth Kabatek

Spätzleblues

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelEpilogAnhangSpätzlebluesLines String-Tanga zum SelberbastelnSongzitateDanksagungLESETIPP: »Die Achse meiner Welt«Vorbemerkung1. Kapitel
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Für Dylan

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Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.

 

Oscar Wilde

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1. Kapitel

The moment I wake up

before I put on my make-up

I say a little prayer for you

while combing my hair now

and wondering what dress to wear now

I say a little prayer for you

Wutzky! Du bisch so an Vollidiot! Du hosch’s echt druff, dich dodal unbeliebt zu macha!«[1]

Ich saß auf meinem Hintern und schnappte nach Luft. Keine gute Idee. Das Riesenvieh stank wie ein Mülleimer. Es war aus der Haustüre geschossen wie eine Rakete, hatte seine Schnauze in meinen Magen gebohrt und mich auf mein Hinterteil katapultiert. Nun hing es mit heraushängender Zunge über mir, sah irgendwie begeistert aus und blies mir seinen Atem ins Gesicht. Das Tier war nicht furchterregend. Nur ziemlich eklig. Offensichtlich hatte es sich schon ziemlich lange nicht mehr die Zähne geputzt.

»Hosch dr wehdoo?« Harald packte das Viech am Halsband und zog es mit aller Kraft zurück. Mit der anderen Hand half er mir auf die Beine. An meinem Po klebten feuchte Blätter. Ich war zum Glück in einem modrigen Laubhaufen gelandet. Wie gut, dass Lila und ich es nicht so mit der Kehrwoche hatten!

»Nix passiert«, sagte ich atemlos.

»Dud mr echt leid, Line. Offasichdlich hot dr Wutzky dich glei ens Herz gschlossa.«

»Ist das etwa dein Hund?«, fragte ich. War das überhaupt ein Hund? Das Vieh war etwa so groß wie ein Kalb, nur deutlich hässlicher. Es hatte kurze, struppige Haare, einen zu kurzen Schwanz und viel zu große Schlappohren. Es sah ein bisschen aus wie eine missratene Kinderzeichnung. Okay, die Farbe des Fells war ganz hübsch. Verschiedene Brauntöne, die ineinanderliefen wie Strähnchen vom Friseur. Das war aber auch das Einzige, was mir positiv auffiel.

»Lila erklärd dir älläs«, sagte Harald hastig. »Mir gangad derweil oms Viereck. Komm, Wutzky.« Ohne Jacke und Leine zischten Harald und Wutzy ab.

Ich pflückte die feuchten Blätter von meiner Jeans, ließ im Flur Jacke, Schal und Umhängetasche fallen, zog die Stiefel aus und ging in die Küche. Lila, meine Mitbewohnerin und beste Freundin, stand am Herd und rührte in einem Topf.

»Was ist das für ein Hund?«, fragte ich.

»Und auch dir einen schönen Abend, Line. Das ist Haralds Scheidungshund«, sagte Lila. »Seine Frau – Ex-Frau – streikt. Sie hat einen neuen Freund und keine Lust mehr, sich ständig um den Hund zu kümmern. Sie haben ausgehandelt, dass Wutzky unter der Woche in Schorndorf ist und das Wochenende bei Harald verbringt.«

»Soll das heißen, wir haben jetzt jedes Wochenende diesen stinkenden Köter am Hals?«, fragte ich.

»Ich fürchte, ja. Ich bin auch nicht gerade begeistert, aber was soll ich machen. Der Hund gehört nun mal zu Harald.«

»Ich bin allergisch gegen Hundehaare!«

»Quatsch.«

»Doch! Es juckt mich schon am ganzen Körper!« Ich fing an, mich wie wild zu kratzen.

»Das bildest du dir ein.«

»Außerdem hatte ich erst vor ein paar Monaten eine traumatische Erfahrung mit einem Hund. Erinnerst du dich? Darüber bin ich noch nicht hinweg. Seither war ich nie mehr Joggen.« Ein zotteliges Monster namens Klaus-Peter, nicht ganz so groß wie Wutzky, hatte mich auf dem Blauen Weg umgenietet und abgeschleckt.

»Du hast das Joggen nicht des Hundes wegen gelassen, sondern weil du deinen Arsch danach nicht mehr hochgekriegt hast. Und Wutzky ist so ein lieber Hund, er wird dir helfen, dein Trauma zu verarbeiten. Wenn er dich stört, verbringen wir in Zukunft eben jedes Wochenende bei Harald in der Landhausstraße. Wenn dir das lieber ist, gib Bescheid.«

»Das ist Erpressung! Ich will nicht, dass du jedes Wochenende weg bist!«

Vor allem jetzt nicht, wo mein eigener Freund Tausende von Kilometern entfernt war. Im Moment hatten wir nicht mal eine Wochenendbeziehung. Mehr so eine Fernbeziehung. Eine Sehr-weit-weg-Beziehung. Oder eine Skype-Beziehung. Knutschen am Bildschirm war allerdings auf Dauer ziemlich unbefriedigend. Dann doch lieber Lila plus Harald plus Riesenköter, als ganz alleine rumzusitzen.

Ich seufzte, ließ mich auf einen unserer wackeligen Stühle fallen und schenkte mir eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein. Die Haustüre öffnete sich, und Harald und Wutzky kamen zurück. Wutzky trabte zu Lila, die gerade Gemüse schnippelte, drückte seine Schnauze an ihr Bein und sah sie bittend an. Als Lila nicht reagierte, schaltete sein Blick – klick – auf flehend um, und als auch das nichts fruchtete – klick – auf leidend.

»Verschwinde«, knurrte Lila. »Das fangen wir gar nicht erst an. Außerdem schmeckt dir Biogemüse sowieso nicht.«

Wutzky trollte sich unter den Tisch. Er schien zu wissen, wann er verloren hatte.

»Wow«, sagte ich. »Gibt’s da eine Fernbedienung, mit der man den Gesichtsausdruck umschalten kann?«

»Mei Ex-Frau hot emmr gsagt: Wenn es einen Oscar für Hunde gäbe, hätte Wutzky ihn schon längst bekommen. Er ischt der geborene Schauspieler.«

Harald war in etwas verfallen, das so klang, wie wenn schwäbische Politiker vorgaben, Hochdeutsch zu reden. »Dud mir echt leid, dass i eich mit dem Hond nerv. Mei Ex-Frau sagt: Ich brauche Zeit für meinen neien Freund, da will ich nicht von einem Hund geschdört werden«, sagte Harald. Seine Stimme klang bitter. »Machd’s dr ebbes aus, Line?«

Ich ächzte. »Ich hab’s nicht so mit Hunden. Aber wenn’s nicht anders geht … ich fände es auch schade, wenn ihr jetzt wegen Wutzky nicht mehr hier aufkreuzt. Er ist nur ein bisschen groß.«

»Du muscht jetzt Verantwortung für den Hund übernehmen, sagt mei Ex-Frau. Schließlich kümmere ich mich om unsere Töchter. Ond soll der arme Hond jetz ens Dierhoim, bloß weil mei Frau an Neia hot?«

In Haralds Augen standen Tränen. Auweia. Lila zerkleinerte mit großer Energie Karotten und schwieg. Wutzky streckte seinen Kopf unter dem Tisch vor und sah Harald mit einem Blick an, der eindeutig sagte: »Ich weiß, was du durchgemacht hast, Cowboy.«

In diesem Augenblick gab es einen lauten, geräuschvollen Knall wie aus einer Kinderpistole. Kurz darauf durchzog ein ekelhafter Gestank die Küche. Harald rannte zum Fenster und riss es weit auf.

»Des isch leider au so a Gewohnheid vom Wutzky. Wenn er glicklich isch, noo lässt er oin fahra.«

Wutzky sah von einem zum anderen. Sein lächerlich kurzer Schwanz schlug heftig auf den Boden. Er sah in der Tat sehr glücklich aus und schien sich bei uns ausgesprochen wohl zu fühlen. Besonders sensibel schien er nicht zu sein. Sonst hätten ihn meine negativen Schwingungen vom Glücklichsein abgehalten.

»Kann i dir ebbes helfa, Lila?«, fragte Harald.

»Ist ja nett, dass mal einer fragt«, sagte Lila.

»Tut mir leid«, sagte ich schuldbewusst. »Ich bin nur vollkommen platt. Ich muss mich erst wieder an diese langen Arbeitstage gewöhnen.«

»Sozialpädagoginnen haben auch lange Arbeitstage. Trotzdem lassen sie nicht ihren ganzen Kram einfach im Flur fallen. Sie kochen sogar noch.«

»Ich räum’s ja gleich weg«, sagte ich.

»Wie laufd’s denn so?«, fragte Harald.

»Im Moment eigentlich ganz okay. Es ist nur so wahnsinnig viel, das ist eigentlich nicht zu schaffen. Da hat sich ein Riesenberg angestaut, weil die Frau, die ich vertrete, fehlt ja jetzt schon länger. Und ich merke eben, dass ich ziemlich lang aus dem Job raus war. Außerdem haben die so eine komische Verwaltungs-EDV, an die muss ich mich erst gewöhnen. Aber was soll’s, ich bin froh, dass ich wieder arbeiten darf.«

»Mach uns doch mal ein Fläschchen Wein auf, Harald«, sagte Lila. »Dann läuten wir das Wochenende ein.«

Vor drei Wochen hatte ich einen neuen Job angefangen. Fast ein Jahr lang war ich arbeitslos gewesen. Dann hatte ich durch Zufall wieder eine Stelle als Texterin bei der Werbeagentur Friends and Foes gefunden. Im Moment war ich in der Probezeit. Die sollte zwei Monate dauern, und deswegen musste ich ranklotzen. Außerdem war es erst mal nur eine Schwangerschaftsvertretung. Aber nach der langen, deprimierenden Zeit ohne Arbeit war es großartig, morgens wieder aus dem Haus gehen zu können. Außerdem lenkte es mich davon ab, dass mein Freund in China saß.

Ich räumte meine Sachen im Flur auf und lief die Treppe hinauf in mein Zimmer. Auf meinem Bett lag Suffragette, Lilas Katze, und beantragte offensichtlich Asyl. Ich streichelte sie und sagte: »Na, Suffragette, jetzt gibt es hier schon zwei, die den Köter nicht mögen, oder?« Suffragette sprang auf, fauchte, machte einen Katzenbuckel und schoss zur Tür hinaus. Bestimmt roch ich nach Wutzky. Jetzt gehörte ich auch zu den Verrätern.

Ich tauschte meine Klamotten gegen einen schlabbrigen verfärbten Jogginganzug. Hurra, Wochenend-Look! Nicht, dass man bei einer Agentur im gebügelten Blüschen auftauchen oder schick sein musste. Aber man durfte zumindest keine Flecken auf den T-Shirts haben. Oder Löcher. Löcher in den Jeans, das ging durch, aber nur, wenn es vom Hersteller gewollte Löcher waren. Meine Hosen hatten oft ungewollte Löcher und meine T-Shirts ungewollte Flecken. Mir war aber schon aufgefallen, dass auch mein neuer Kollege Micha morgens mit einem sauberen T-Shirt kam und abends mit einem fleckigen T-Shirt ging. Das hatte etwas Beruhigendes.

Ich ging zurück nach unten in die Küche. Lila goss gerade die Spaghetti ab.

»Wie stellst du dir das mit Suffragette vor?«, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. »Sie wird sich eben dran gewöhnen müssen. Wutzky jagt keine Katzen. Und er darf nicht nach oben. Unten Hund, oben Katze, wie bei den Bremer Stadtmusikanten. Außerdem ist es ja nur am Wochenende. Und wenn Harald seine Töchter hat, ist er sowieso mit Hund und Töchtern in der Wohnung über der Zahnarztpraxis.«

Auf dem Tisch standen drei riesige Weingläser, in denen Rotwein schimmerte. Sie sahen nicht aus wie die Senfgläser, die wir normalerweise benutzten. Harald hatte sich hinter den Gläsern aufgebaut und platzte schier vor Stolz.

»I han denkd, i spendier eich an ordentlicha Bordeaux ond die Gläser drzu, weil i so oft bei eich ben. Den Wei brengd mr a Patient emmr aus Frankreich mit, direkt vom Weigut.« Lila ließ die Spaghetti stehen, küsste Harald auf die Wange und nahm ein Glas. Wir prosteten uns zu, und Harald sah uns erwartungsvoll an. Ich nahm einen tiefen Schluck von dem offensichtlich edlen Tropfen. Leider schmeckte mir der Wein kein bisschen besser als der, den Lila normalerweise von ihren Eltern mitbrachte, »Cannstatter Zuckerle« mit Schraubverschluss, aber um Harald eine Freude zu machen, nahm ich einen zweiten Schluck, gurgelte, schloss die Augen, spülte den Wein im Mund hin und her, nickte mehrmals anerkennend und sagte: »Tolles Bukett. Und so total animalisch im Abgang! Auf das Wochenende. Und von meinem ersten Gehalt zahle ich dir meine Schulden zurück.«

»Des reichd au no noch Weihnachda. Du brauchsch doch des Geld jetz sicher für Gschenkle on so.«

»Ich hasse es aber, Schulden zu haben.«

Kurz bevor ich meinen neuen Job angefangen hatte, war mein Freund Leon nach China abgezwitschert. Na ja, eigentlich war er zu diesem Zeitpunkt mein Ex-Freund gewesen. Ich hatte erst kurz vor seinem Abflug erfahren, dass er sich von seinem Arbeitgeber Bosch ins Ausland hatte versetzen lassen, nach Wuxi in China. Da war mir klargeworden, dass ich ihn immer noch liebte. Reichlich spät, zugegebenermaßen. Harald hatte einen Patienten auf dem Stuhl sitzen lassen, dem er für eine Wurzelbehandlung gerade eine Spritze in den Kiefer gejagt hatte, hatte mich mit seinem Porsche im Affenzahn zum Flughafen gebracht, und ich hatte Leon gerade noch in der Abflughalle erwischt. Dafür hatte ich ein Ticket gebraucht. Jetzt schuldete ich Harald dreihundertzwanzig Euro. Da ich über keinerlei Ersparnisse verfügte, das Arbeitsamt sofort die Bezüge eingestellt hatte und das Gehalt bei Friends and Foes mehr als bescheiden war, war das für mich ziemlich viel Geld. Unterm Strich war es aber eigentlich ein Schnäppchen gewesen, dafür, dass es mit der Versöhnung im buchstäblich allerletzten Moment noch geklappt hatte, bevor Leons Flieger nach Wuxi abhob. Leider war uns nach langen Wochen der Trennung nicht viel mehr vergönnt gewesen als eine Umarmung und ein paar Küsse. Manchmal malte ich mir aus, Herr Tellerle und Frau Müller-Thurgau, meine früheren Nachbarn aus der Reinsburgstraße, ohne die ich nie erfahren hätte, dass Leon im Begriff war, das Land zu verlassen, wären eine halbe Stunde früher bei Lila aufgetaucht. Dann hätte es vielleicht noch für einen Quickie auf dem Flughafenklo …

Natürlich liebte ich Leon. Aber ich vermisste ihn so schrecklich, und es war so schwierig, jemanden zu lieben, der so unendlich weit weg war! Den man nicht anfassen, nicht riechen konnte. Er war so unwirklich. Wie ein Phantom. Oder wie ein von der Polizei weltweit gesuchter Juwelendieb, der im Dschungel von Südamerika untergetaucht war und nur heimlich mit seiner Liebsten kommunizieren durfte. Ich sah ihn auf dem Bildschirm meines Laptops, ich hörte seine Stimme, ich sah sein Grinsen, das ich so liebte, und küsste seine virtuellen Lippen am Ende des Gesprächs. Es war Leon, und es war doch nicht Leon. Ein bisschen so, als würde ich jeden Tag eine riesige Tafel Schokolade essen, nichts schmecken und trotzdem immer dicker werden. Wenn er auf dem Mond gewesen wäre, wäre es mir nicht weiter weg vorgekommen! China. Gab es einen Ort, der noch weiter weg war von Stuttgart als Wuxi?

Selber schuld, Line, dachte ich wütend. Du hast Schluss gemacht, remember? Wegen dir ist Leon nach China gegangen. Wenn du dich nicht getrennt hättest, würde er nach wie vor im Stuttgarter Westen in der Reinsburgstraße wohnen. Nicht ganz so weit weg wie China! True love waits. Was sind schon zwei Jährchen in deinem hoffentlich langen Leben? Dann kommt Leon wieder, hat sich im Ausland seine Sporen verdient, wird bei Bosch befördert, ihr sucht euch eine gemeinsame Wohnung, Bingo. Bis dahin kannst du dich hervorragend auf deine Karriere konzentrieren. Kannst bis in die Puppen im Büro bleiben, weil es eh kein Schwein interessiert.

O Gott. Wie sollte ich diese zwei Jahre überstehen, ohne an Sehnsucht und Langeweile zu sterben? Da gab es nur eins: Ich würde es als Prüfung ansehen. Wie im Märchen! Es würde meinen Charakter stählen, meine Langmut, meine Geduld. Am Ende würden wir beide so abgehärtet sein, dass nichts unsere Liebe jemals wieder gefährden konnte. Keine intriganten Rivalinnen, keine noch so weite Distanz, kein Katastrophen-Gen …

Auch der Zeitunterschied war ein riesiges Problem. China war uns schließlich sieben Stunden voraus. Wenn ich abends nach Hause kam, war es in Wuxi mitten in der Nacht. Oft stand Leon morgens um fünf statt um sechs auf, um mit mir zu reden, bevor er zur Arbeit ging. Manchmal raste ich in der Mittagspause mit dem Rad nach Hause, um wenigstens eine Viertelstunde mit Leon zu skypen. Insgesamt war das alles ganz schön anstrengend, weil man die Beziehung jeden Tag generalstabsmäßig unter dem Aspekt »Zeitverschiebung« planen musste. Ich war eigentlich mehr fürs Spontane, aber das ging nun wirklich gar nicht mehr. Wenn ich abends unterwegs war, sah ich immer nervös auf die Uhr, damit ich auch ja rechtzeitig zu Hause war. Ich zählte die Tage bis Weihnachten. Dann würde Leon zu Besuch kommen, hurra, und wir würden alles nachholen! Die ersten zwei Tage würden wir komplett im Bett verbringen … mmmh …

»Line, wo bischn du grad? En Wuschi beim Leon?« Harald fuchtelte mit einem Schöpflöffel vor meiner Nase herum.

»Ehrlich gesagt – ja«, sagte ich und blickte erstaunt auf die Riesenportion Spaghetti mit Gemüse, die Harald mir auf den Teller geschaufelt hatte, weil ich nicht rechtzeitig »Stopp« gebrüllt hatte.

»Es schadet dir nichts, wenn du eine ordentliche Portion isst«, sagte Lila und lächelte verliebt ihre Spaghettiportion an. »Du bist schon wieder klapperdürr.«

»Keine Sorge. Ich sitze eben nicht mehr heulend auf dem Sofa und futtere mir wegen der Trennung von Leon Pfunde an.«

»Ich sitze auch nicht auf dem Sofa und bin trotzdem dick. Es ist einfach zu ungerecht!«, seufzte Lila.

»Mir gfallsch, wie d’bisch, Schätzle. Schnauze, Wutzky«, sagte Harald. Der Hund lag vor ihm auf dem Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und gab wimmernde Laute von sich. »Jetzt verzehl amol von deim G’schäft[2], Line.«

»Hmm, ich bin ja noch nicht lange da, deswegen kenne ich die anderen noch nicht so richtig. Aber weil wir im Großraumbüro arbeiten, kriegt man doch ziemlich viel voneinander mit. Wir sind insgesamt sechs Leute. Philipp, das ist unser Online-Mann, hat wohl grad Beziehungsstress. Er wohnt mit seiner Freundin im Westen. Wenn er morgens kommt, hat er sauschlechte Laune. Im Laufe des Tages wird sie immer besser, und kurz bevor er abends geht, wird sie wieder schlecht. Ab und zu ruft die Freundin an, dann verdreht er jedes Mal die Augen und versucht, ganz leise zu reden, aber alle wissen, dass sie sich zoffen.

Arminia, die Chefin, sitzt im gleichen Raum, wenn auch ein bisschen abgetrennt hinter einem Paravent. Ich hab irgendwie das Gefühl, alle haben Schiss vor ihr. Ich komme bisher ganz gut mit ihr klar. Einmal die Woche gehen wir zusammen essen, da besteht sie drauf, wegen der Teambildung und so, und damit man sich informell austauschen kann. Die beiden Male, wo ich dabei war, hat aber nur sie geredet, und sie hat es gar nicht gemerkt. Am nettesten ist Micha, der ist Grafiker und sitzt schräg vor mir. Er ist ein bisschen schüchtern, aber irgendwie auch knuffig. Dann gibt’s noch eine Praktikantin. Die steht den ganzen Tag am Kopierer oder wimmelt Telefonate ab, auf die Arminia keinen Bock hat. Was Praktikantinnen eben so machen. War bei mir früher auch nicht anders. Arminia hat auf die meisten Telefonate keinen Bock, so dass die Praktikantin ausgelastet ist.«

»Auf jeden Fall bist du viel besser gelaunt, seit du wieder arbeitest«, sagte Lila.

»Kein Wunder, ich hab ja nicht nur einen neuen Job, sondern auch keinen Liebeskummer mehr.«

Lila holte den leckeren Schokopudding mit Sahne aus dem Kühlschrank, wir nippten andächtig an dem teuren Bordeaux und verplauderten und verlachten den Rest des Abends. Es war herrlich, wieder zur arbeitenden Bevölkerung zu gehören und sich aufs Wochenende zu freuen! Ich bemühte mich großmütig, Lila und Harald das Paarglück zu gönnen und nicht eifersüchtig zu sein. Es gelang mir beinahe. Leider wurde der Frieden ab und zu empfindlich von Wutzkys Glücksfürzen gestört.

»I gang nomol mitem Wutzky naus«, sagte Harald schließlich, als die Abstände zwischen den Fürzen immer kürzer wurden.

Ich sah auf die Uhr. »Oje, es ist ja schon nach zehn. Ich bin mit Leon verabredet, er wartet sicher schon. Lasst alles stehen, ich räume nachher die Küche auf.«

Ich sauste ins Bad, wusch mir den Schokopudding aus den Mundwinkeln, kniff mir in die Wangen, legte mein kurzes Haar vorteilhaft, lief die Treppe hinauf und startete Skype.

Nach ein paar Minuten erschien ein wackeliger, verschlafen aussehender Leon auf dem Bildschirm. Wir küssten uns. Es war praktisch unmöglich, die Lippen des anderen zu treffen. Und besonders erotisch war es auch nicht gerade.

»Guten Morgen, meine Süße«, sagte Leon zärtlich. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. »Die Nacht war lang ohne dich. Wie war dein Tag?«

»Anstrengend«, sagte ich. »Tut aber auch irgendwie gut.« Mit Grauen dachte ich an die Zeit zurück, als sich die Tage wie Kaugummi gezogen hatten, weil ich arbeitslos war. Ich erzählte Leon haarklein, was ich am Tag alles erlebt hatte. Auch wenn er so unendlich weit weg war, es war einfach schön, alles mit ihm zu teilen, den Stress in der Agentur, den WG-Alltag und Wutzky, unseren neuen Mitbewohner. Es gab nichts, was ich nicht mit Leon besprechen konnte. Er lachte immer an den richtigen Stellen, hakte ein, wenn es nötig war, oder lauschte konzentriert. Eines stand fest: Ein Freund in China war unpraktisch, aber besser als gar kein Freund! Und schon bald würden wir uns wiedersehen!

»Du musst mir unbedingt ein Foto von Wutzky mailen«, sagte Leon. »Ich will wissen, wie das Vieh aussieht.«

»Klar, mach ich. Und du, wie war’s bei dir?«

»Ich war gestern Abend mal wieder mit den Kollegen essen«, sagte er. »Ist ein bisschen öd, wenn man tagsüber sowieso miteinander arbeitet, aber die Kontaktmöglichkeiten sind hier eben sehr begrenzt.« Leon hatte meist nicht so viel zu berichten. Seine Arbeitstage in Wuxi waren lang und verliefen ziemlich eintönig. Er wohnte im vierzehnten Stock eines Hochhauses mit dreißig Stockwerken, in einem Appartment, das seinem Arbeitgeber Bosch gehörte. Er war mit dem Notebook durch die Wohnung gelaufen, um sie mir mit der Webcam vorzuführen. Sie war ziemlich steril eingerichtet. Natürlich hatte er von dort eine großartige Aussicht, allerdings hing eine dauernde Smogwolke über der Stadt, und Wuxi schien ziemlich hässlich zu sein. Zumindest sah es auf den Fotos so aus, die Leon gemailt hatte.

»Die anderen haben dann noch angefangen, Maotai zu trinken. Aber ich wollte nach Hause, damit ich früh aufstehen kann, um mit dir zu reden.«

»Leon, wie blöd. Nun hast du sowieso kaum Gelegenheit, etwas zu unternehmen, und dann gehst du auch noch früher weg, wegen mir! Und das noch am Wochenende!«

»Mach dir keine Gedanken. Außerdem konnte ich mir vorstellen, wie der Abend endet. Maotai und noch mehr Maotai und am nächsten Tag ein dicker Kopf. Ich bin sowieso kein großer Schnapstrinker, und das Zeug ist echt heftig. Das Bier hier ist auch nicht so mein Fall. Was gäbe ich für ein ordentliches Flens, ein Tannenzäpfle oder ein Stuttgarter Hofbräu!«

»Ich stell dir an Weihnachten zur Begrüßung von jeder Sorte eines kalt«, sagte ich vergnügt.

Leon schlug die Augen zu Boden und schwieg.

»Was ist los?«, fragte ich schließlich alarmiert, nachdem Leon keine Anstalten machte, etwas zu sagen.

»Line … ich muss dir etwas sagen.« Er klang plötzlich sehr ernst.

»Ja?«, sagte ich und unterdrückte die aufkommende Panik. Leon war doch gerade mal ein paar Wochen weg. Er hatte sich doch nicht etwa in der kurzen Zeit in jemand anderen verliebt?

»Ich … ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll«, murmelte er.

»Nun sag schon!«, rief ich erregt aus. »Du machst mich total nervös!«

»Es tut mir so schrecklich leid. Ich … ich kann an Weihnachten nicht kommen, Line.«

Im ersten Moment war ich unendlich erleichtert, dass Leon mir keine eindeutig beziehungsgefährdende Mitteilung gemacht hatte. Im zweiten Moment war ich unendlich traurig. Ich hatte Weihnachten so entgegengefiebert!

»Aber … aber warum denn nicht?«, stotterte ich.

»Ganz einfach. Ich bekomme keinen Urlaub«, sagte Leon und sah dabei sehr unglücklich aus. »Den Letzten beißen die Hunde. Ich bin ja erst seit November hier. Dabei war alles schon abgesprochen! Aber der Kollege, der eigentlich erst im Februar Urlaub nehmen wollte, muss nun doch zwischen den Jahren nach Schwieberdingen, um dort irgendeine dringende familiäre Angelegenheit zu regeln. Und weil die Produktion hier normal weiterläuft, weil es ja kein Weihnachten gibt, müssen ein paar Leute dableiben.«

»Dann komme ich eben!«, rief ich aus.

»Line, das kann ich dir nicht zumuten. Schon allein des teuren Tickets wegen. Ich könnte dir ja den Flug bezahlen, aber meine Arbeitstage sind sehr lang, und meine Wohnung ist klein. Ich würde mich schrecklich fühlen, wenn ich wüsste, du sitzt herum, wartest auf mich und verschleuderst deinen kostbaren Urlaub. Und es ist auch nicht gerade so, dass man in Wuxi alleine viel unternehmen könnte. Lass uns doch lieber schauen, ob wir im neuen Jahr bald mal zusammen hier Urlaub machen. Wir fahren zusammen nach Peking, oder Shanghai … Da haben wir sicher mehr davon.«

Ich schluckte. »Du hast natürlich recht«, sagte ich. »Es ist nur … ich vermisse dich so schrecklich …«

»Ich vermisse dich doch auch, Süße. Jede Nacht vermisse ich dich, beim Aufstehen, beim Frühstücken, wenn ich zur Arbeit fahre, und in der Mittagspause …«

»Und dazwischen nicht? Ich meine, zwischen zur Arbeit fahren und Mittagspause?«

»Da arbeite ich.«

»Trotzdem. Ich vermisse dich auch, wenn ich arbeite.« Das war mal wieder typisch! Männer konnten eben nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun. Ich dagegen vermisste Leon eigentlich vierundzwanzig Stunden am Tag, was ganz schön anstrengend war. Ich schlief viel schlechter, weil ich mich nicht an seinen Rücken kuscheln konnte. Ich aß wieder viel ungesünder, zumindest mittags, wenn ich nicht unter Lilas Aufsicht stand. In der Agentur bestellten wir meistens Pizza oder holten uns einen Döner. Außerdem blieben jetzt wieder alle Reparaturen im Haus liegen. Harald hatte erklärt, er sei Zahnhandwerker. Zähne zu reparieren würde nicht automatisch bedeuten, dass man sich auch mit tropfenden Wasserhähnen auskannte. Ich hatte den Verdacht, dass er zu faul war, weil er irgendwann mal erzählt hatte, dass er sein Haus in Schorndorf, in dem seine Frau und seine Töchter jetzt ohne ihn lebten, selber renoviert hatte.

»Line, wir sehen uns bald, okay? Bis dahin müssen wir eben durchhalten. Das schaffen wir doch, oder?«

»Ja, natürlich«, sagte ich und versuchte, überzeugend zu klingen. Wir bemühten uns beide, zu einem munteren Ton zurückzukehren, aber es wollte uns nicht so recht gelingen. Auch die Verabschiedung fiel nicht gerade fröhlich aus.

Ich schaltete den Laptop aus. Angezogen, wie ich war, legte ich mich aufs Bett und starrte an die Decke.

Ich fühlte mich bedrückt. Bis Weihnachten ohne Leon klarzukommen, war mir schon wie eine Ewigkeit erschienen. Aber noch länger? Leon konnte ja nun wirklich nichts dafür. Sorgen machte mir nur, dass er so wenig Ablenkungsmöglichkeiten hatte und so viel Zeit mit anderen Boschlern verbrachte. Nicht, dass ich ihm nicht traute. Ich war das Vertrauen in Person! Eifersucht war mir völlig fremd! Und ich würde Leon niemals vorhalten, dass er mich schon einmal eine Nacht mit seiner Kollegin Yvette betrogen hatte, dem Rattengesicht im Erotik-Dirndl! Aber was, wenn er sich in eine andere Kollegin verliebte? In eine Chinesin, beispielsweise? Die waren sicher klein, anschmiegsam, pflegeleicht und kochten großartig, im Gegensatz zu mir. Andererseits – aus welchem Grund sollte Leon mir nicht treu sein? Musste ich nicht viel mehr Angst vor mir selber haben? Würde ich Leon auf unbestimmte Zeit treu sein können? Eine Prüfung. Es war eine Prüfung. Wie im Märchen …

 

Ich stand hinter einem riesigen Herd, neben mir eine bildhübsche, lächelnde Chinesin im enganliegenden Seidenkleid, schlank, jedoch mit Kurven an den richtigen Stellen. Vor dem Herd stand ein blondgelockter Moderator im weißen Anzug, aus dessen rosafarbenem Rüschenhemd dichtes Brusthaar quoll, und strahlte uns an. Er drehte sich zum Publikum um und brüllte enthusiastisch: »Bitte begrüßen Sie mit mir unsere heutigen Kandidatinnen, Pipeline Praetorius aus Stuttgart und Fang-Hui aus Wuxi!«

Das Publikum applaudierte und johlte. Zwei Mädchen in kurzen Jeansröckchen und hochhackigen Stiefeln versuchten mit wackelndem Hintern, den Applaus zusätzlich anzuheizen. Der Moderator schrie: »Unserer heutigen Siegerin winkt ein ganz besonderer Preis. Begrüßen Sie mit mir Leon, unseren Testesser!« Das Publikum tobte. Leon kam in einem T-Shirt mit der Aufschrift »Bosch – Technik fürs Leben« winkend herein, nahm an einem Tischchen vor der Kochstation Platz, griff nach dem Besteck und stellte links und rechts des Tellers erwartungsvoll die Fäuste auf.

Der Moderator rief: »Fang-Hui wird Rindfleischstreifen mit Gemüse im Wok zubereiten. Pipeline Praetorius dagegen wird ein echt schwäbisches Gericht kochen: Zwiebelroschdbroda mit Spätzle, Soß’ und Salat!« Er deutete auf meine Seite des Herds, auf ein rohes Stück Fleisch, eine Zwiebel, eine Plastikschüssel mit Teig und eine Schüssel mit Salat ohne Dressing. Leon liebte zwar Zwiebelrostbraten, aber das war trotzdem total unfair, Wok-Gerichte gingen doch viel schneller! Außerdem konnte ich nicht kochen!

»Und nun zum Preis unseres Kochduells. Unser Testesser Leon wird die Kandidatin, deren Essen ihm besser schmeckt« – er holte tief Luft –, »zur Frau nehmen!«

Das Publikum war jetzt nicht mehr zu halten. Es sprang auf, brüllte, tobte und klatschte sich vor Begeisterung auf die Schenkel. Der Moderator hob eine Plastikpistole. Es machte »Peng«, und ein fürchterlicher Gestank durchzog das Studio. Die Chinesin fing sofort an zu brutzeln, warf Gemüse in den Wok und sang dazu mit einem allerliebsten Stimmchen ein Lied, das an die Hintergrundmusik in China-Restaurants erinnerte.

Ich starrte wie gelähmt auf meine Kochplatten, die Pfanne und den Topf mit dem blubbernden Wasser. Wenigstens die Spätzle musste ich hinkriegen, sonst war Leon für immer für mich verloren! Vielleicht gab es ja einen Spätzle-Shaker? Das war so ein neumodisches Ding. Man füllte den Teig in eine Plastikflasche mit Löchern, drückte ihn ins kochende Wasser, fertig! Aber hier gab es nicht einmal eine Spätzlepresse, sondern nur ein Holzbrett und einen Schaber. Die vorsintflutliche Dorle-Methode! Mir blieb keine Wahl. Hektisch tunkte ich den Schaber in die Schüssel und schmierte eine dicke Schicht Spätzleteig auf das Holzbrett. Dann kratzte ich los wie eine Besessene. Dicke Teigfetzen klatschten in den Topf, kochendes Wasser spritzte nach allen Seiten, Teig klebte an meinen Fingern und verteilte sich auf meinen Armen.

Während ich mir eine Schlacht mit dem Teig lieferte, schichtete Fang-Hui längst das köstlich duftende Gemüse auf einen Teller mit Reis, garnierte die Rindfleischstreifen obendrauf und vollendete die Kreation mit einem allerliebsten Stengelchen Minze. Dann eilte sie an Leons Tisch, verbeugte sich und stellte ihm mit einem strahlenden Lächeln das Essen hin. Er spießte ein Stück Rindfleisch mit etwas Gemüse auf, schob es sich in den Mund, kaute andächtig und nickte dann anerkennend. Der Moderator jubelte, das Publikum klatschte frenetisch.

Ich hingegen war mittlerweile von oben bis unten mit Spätzleteig überzogen. Rostbraten und Salat würden warten müssen, aber mit meinen schwäbischen Spätzle würde ich Leons Hamburger Herz gewinnen! Ich goss das, was erfolgreich im Topf gelandet war, ab, füllte es in einen Teller, stolperte zum Tisch und donnerte Leon den Teller hin. Leon sah mich fassungslos an und richtete dann seinen Blick auf den Teller. Er nahm die Gabel, spießte ein Spätzle auf und hielt es hoch. Das war kein Spätzle. Das war ein unförmiger Teiglappen von der Größe eines Pfannkuchens! Das Publikum brach in wieherndes Gelächter aus und deutete abwechselnd auf den Teiglappen und auf mich. Leon würdigte mich keines Blickes mehr und nickte dem Moderator unmerklich zu. Der nahm die zarte Hand der Chinesin und legte sie in Leons Hand. Sie sahen sich verliebt an.

»Fang-Hui hat den Kochwettbewerb gewonnen! Leon wird sie zur Frau nehmen! Ihre Hochzeitsreise wird zur Chinesischen Mauer führen!«, rief der Moderator triumphierend.

»Nein!«, rief ich verzweifelt. »Leon gehört zu mir! Ich reise mit ihm zur Chinesischen Mauer!«

Leon nahm Fang-Hui, in deren Augen Tränen standen, in die Arme und küsste sie, das Publikum tobte, im Hintergrund wiegten sich entzückende Chinesinnen, und der Moderator sang »Tränen lügen nicht …«.

Ich fuhr hoch. Da war ich doch glatt einen Moment eingenickt! Und was hatte ich bloß für ein großartiges Talent, bescheuert zu träumen! Erleichtert ließ ich mich wieder in die Kissen fallen. Komischerweise war es draußen hell. Ich sah auf meinen Wecker. Es war kurz nach zehn. Zehn Uhr morgens, ganz offensichtlich. Ich hatte fast zwölf Stunden durchgeschlafen! Na ja. Schlafen war gesund, und angezogen war ich auch schon, das war praktisch. Am Wochenende trug ich eh meist nur Jogginganzug. Der Traum allerdings war ziemlich beunruhigend gewesen. Vielleicht war das ja ein Wink von oben, dass ich Leon so rasch wie möglich besuchen sollte, auch wenn er tagsüber arbeitete? Allerdings würde ich ihn dann bitten müssen, mir den Flug zu bezahlen, und dazu war ich zu stolz.

Im Haus war es totenstill. Vor meiner Zimmertür lag Suffragette, putzte sich und würdigte mich keines Blickes. Ich lief die Treppe hinunter zum Bad, machte ebenfalls Katzenwäsche und ging in die Küche. Die sah leider genauso aus wie am Abend zuvor: Komplett unaufgeräumt. Lila und Harald hatten offensichtlich das Geschirr vom Vorabend auf der einen Hälfte des Tisches gestapelt und auf der anderen Hälfte gefrühstückt. Neben dem Frühstücksgeschirr hatten sie mir einen Zettel hinterlassen.

»Hallo, Line, so viel zum Thema! Sieh zu, dass du in die Pötte kommst! Wir sind auf der Waldau auf dem Tennisplatz.« Oje. Ich hatte versprochen, die Küche aufzuräumen! Aber was wollte Lila auf dem Tennisplatz? Dass Harald Tennis spielte, wusste ich. Schließlich war er Zahnarzt. Vor zwei Jahren hatte er auf dem Weissenhof das Tennisturnier »Zahnärzte for Peace« gewonnen und das Preisgeld der Aidshilfe Stuttgart gespendet. Aber Lila? Die machte doch höchstens Yoga oder Qigong. Vielleicht sah sie Harald nur zu? Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen, schließlich war sie nicht so der anhimmelnde Typ. Außerdem fiel draußen ein ekliger Schneeregen. Wer ging da schon freiwillig vor die Tür?

Ich stellte einen Kaffee auf und beschloss, als Allererstes zu spülen. Noch vor dem Frühstück. Hurra! Ich war der Traum jeder WG und stand auf der Liste der beliebtesten WG-Mitbewohnerinnen der Welt ganz oben! Ich sammelte die dreckigen Teller ein und stapelte sie neben der Spüle. Ein lautes Schnaufen ließ mich herumfahren. Wutzky! Den hatte ich komplett vergessen. Lila und Harald offensichtlich auch. Der Hund trabte heran, streckte seine Schnauze zwischen meine Beine und schnupperte entzückt. »Pfui, Wutzky!«, rief ich empört und drückte ihn zur Seite. Dann wickelte ich mir Lilas Schürze um die Hüften und ließ Wasser ein. Leider hielt Lila Spülen von Hand für eine wichtige sinnliche Erfahrung, die einem half, sich zu erden. »Und du hast es definitiv nötig, dich zu erden, Line!«

Ich begann mit dem Abwasch, sehnte mich nach einer Spülmaschine und dachte an den saublöden Traum. Wenn die Trennung von Leon schon eine Prüfung war, wie im Märchen, dann brauchte ich dringend eine gute Fee, die mir zur Seite stand. Hmm. Was würde ich mir wünschen, wenn es tatsächlich Feen gäbe und ich drei Wünsche frei hätte? Als Allererstes ein riesiges Lotterbett, auf dem Leon lasziv lümmelte, nur mit einem Lendenschurz aus Leder bekleidet. Als Zweites dreihundertzwanzig Euro, um sie Harald zurückzuzahlen. Und als Drittes jemanden, der den Abwasch für mich machte. Ich konnte mit den Armen nicht einmal wohlig im Schaum wühlen, weil unser Spülmittel nicht schäumte. So machte es wirklich keinen Spaß!

In diesem Augenblick klingelte es. Bestimmt der Briefträger. Ich trocknete die Hände an der Schürze ab, ging zur Haustür und öffnete.

»Holla, i ben die Butzfee! Doo komm i ja grad rechd! Wo isch’d Küche?«

Ich knallte die Tür zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Entweder war ich jetzt völlig verrückt geworden, oder ich träumte noch immer. Oder warum hatte ich sonst Erscheinungen von kleinen, kugelrunden Frauen in samtenen Gewändern unter Schirmen mit einem Zauberstab in der Hand? Diese ganze verrückte Idee mit dem Märchen und der Prüfung und der Fee!

Es klingelte wieder. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen winzigen Spalt. Die Erscheinung war immer noch da. Ihr Gesicht war gerötet, und auf ihrem Kopf thronte ein leicht verrutschtes Krönchen aus Goldfolie. Irgendwie sah sie ziemlich irdisch aus. Es klopfte energisch. »Lassad Se me nei! ’s schneit! ’s isch kalt!«

Zögernd öffnete ich die Tür. War das im Märchen nicht auch so? Jemand bat flehend um Einlass und entpuppte sich dann als Monster?

»Wo isch d’Kiche?«, wiederholte die Gestalt, klappte den Schirm zusammen, lehnte ihn gegen die Haustür, schob mich zur Seite und marschierte schnurstracks Richtung Küche, als hätte sie den Grundriss der Wohnung im Kopf. In der einen Hand schwang sie den Zauberstab, in der anderen trug sie einen Alukoffer, auf dem »Butzfee International« stand. Das grüne Samtkleid reichte bis zum Boden und hatte Fledermausärmel, um die ziemlich breite Taille hatte sie eine goldfarbene Kordel geschlungen, die aussah, als stamme sie von einem altmodischen Vorhang.

Ohne mich weiter zu beachten, stellte die Fee ihren Koffer auf dem Esstisch ab, klappte den Deckel hoch und stellte eine ganze Armada verschieden großer Plastikflaschen in der Farbe ihres Kleides auf den Tisch. Zwischendurch beugte sie sich herunter, um Wutzky den Kopf zu tätscheln, der sich an sie drängte, als hätte er sie vermisst. »Du bisch a guder Hond! Diese Küche hat es aber sehr nötig!«, dozierte sie. »I sag bloß: Simsalabim, on die Kiche isch clean!« Sie ging zur Spüle und deutete auf die Flasche mit dem Biospülmittel. »Mit dem Glomp kommad Se net weit!«

»Aber es ist zu hundert Prozent biologisch abbaubar«, protestierte ich. »Da legt meine Mitbewohnerin sehr viel Wert drauf.«

»Ach kommad Se, biologisch abbaubar! Interessiert doch koin! Hauptsach’ isch doch, sauberle mit wenig Aufwand! Ond ordentlich schäuma muss’s!«

Sie schubste mich erneut zur Seite, ließ das Wasser in der Spüle ab, drehte den Hahn auf und gab aus einer der Plastikflaschen einen kleinen Spritzer Flüssigkeit ins einlaufende Wasser. Innerhalb von Sekunden hatte sich ein riesiger fluffiger Schaumberg gebildet. Die Putzfee versenkte Teller und Arme im Wasser, fing an, abzuspülen, und sang dazu auf die Melodie von »Auf dr Schwäb’sche Eisebahne«: »Dr Dreck isch ons net einerlei, mir butzad älles saubr ond rei, du guggsch zu on hosch dei Ruh, mach’sch endschbannd die Oigla[3] zu. Trulla, trulla, trullala, trulla, trulla, trullala, Butzfee International, butzd dei Wohnong obdimal.«

Ich fühlte mich etwas hilflos. Es war ja nett, dass diese wildfremde, singende Frau, von der ich nicht wusste, ob sie eine Fee, eine Verrückte oder eine gewöhnliche Hausiererin war, meinen Abwasch machte, und eigentlich gab es keinen Grund, sie davon abzuhalten. Schließlich war sie freiwillig hier. Andererseits war es doch etwas seltsam. Ich fand noch ein paar Oreo-Kekse im Schrank, schenkte mir einen Kaffee ein und setzte mich.

»Sagen Sie … wer sind Sie überhaupt?«, fragte ich schließlich.

»Annegret Butzer. Butzfee International.«

Sehr aufschlussreich. Ich knabberte weitere Oreos. In Windeseile spülte die Fee das Geschirr weg, putzte mit einem anderen Zaubermittelchen den Gasherd, bis er glänzte, und riss dann die Backofentür auf.

»Isch des schee! Vergruschded on eibrand on verdreckt!«, rief sie triumphierend aus. Das mussten die sterblichen Reste meiner letzten Pizza Vier Jahreszeiten sein, die ich vor ein paar Wochen zu lange im Ofen gelassen hatte. Die Fee rannte entzückt zum Tisch, blieb einen Moment davor stehen, fixierte die Flaschen wie ein Raubvogel seine Beute, schlug schließlich zu, schüttelte die Flasche heftig und sprühte den Ofen mit weißem Schaum ein. »Dr klingonische Backofareinigr! So dick wie’d Vergruschdung macha mrs druff! On en Kürze semmr begeischderd, was doo älles rauskommd!«

Nach ein paar Minuten Einwirkzeit, in denen nichts passierte, außer dass ich weitere Oreos vertilgte und Wutzky einen heftigen Furz ließ, der die Fee veranlasste, bei einem heiteren Lied Raumspray zu versprühen, beförderte sie eklige braune Schlieren und verkohlte Pizzareste aus dem Ofen ans Tageslicht und wischte dann mit einem weiteren Mittelchen nach. Dann winkte sie mich zu sich und drückte mir eine Taschenlampe in die Hand. »Jetzt kriechad Se amol en Backofa nei zom Gugga!«

Ich bückte mich und leuchtete ganz kurz in das Innere des Ofens, zog aber den Kopf gleich wieder heraus, weil ich der Fee nicht traute.

»Tatsächlich. Ich glaube nicht, dass unser Ofen mal so sauber war! Leider ist meine Mitbewohnerin generell gegen Backofenspray.«

»Weil se ’s klingonische Prinzip net kennd. Die Kraft aus dem Weltall!«

»Natürlich«, sagte ich höflich.

Die Fee wusch sich die Hände, schenkte sich einen Kaffee ein und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ich schob ihr die verbliebenen Oreos hin. Aus ihrem Butz-Koffer holte sie einen Block, riss das oberste Blatt ab und schob es mir unter die Nase. Auf dem Blatt stand eine endlose Liste verschiedener Produkte, deren Preise bei zehn Euro begannen und bis in schwindelerregende Höhen stiegen. Die angebliche Fee war also doch bloß eine stinknormale Vertreterin, die mit ihrem Zauberstab eine Show abzog! Okay, sie hatte die Küche geputzt, aber ich hatte sie nicht darum gebeten und deshalb auch nicht vor, etwas zu kaufen.

»Also mir von Butzfee International hen a einzigardige Methode entwickld, die Strahlen aus dem All für das Putzen zu nutzen. Das isch das klingonische Brinzip und wissenschaftlich erwiesen. Desch isch sogar em Färnsäh komma beim Rangar Yogeshwar. Doo brauchad mir faschd koi Chemie meh, ons Butza gohd ruck, zuck, des hen Se ja gsäh.«

Das stimmte allerdings. Bei mir dauerte Putzen viel länger.

»Außerdem sind unsere Fasern intelligent und lernfähig. Des hoißd, onsre Butzdicher kriegad au Strahla ausem All. Je öfter Sie butzad, desto bessr butzds, weil die Dichla[4] weltraummäßig trainierd sen wie Aschdronauda, on noo kennad die scho die Umgäbung, wo se butzad. Außerdem lernt dr Dreck, dass er fortbleibd, wäga dr Schwerkraft. Des isch also dobbelde Wirkong: ’s Duch lernd ebbes, on dr Dreck au! Deshalb sen die Dichla halt au a bissle deirer als beim Schleckr. Weil sie butzad viel gscheitr!«

Ich warf einen Blick auf die Preisliste. Die lernenden Putzlappen fingen bei achtundzwanzig Euro an.

»Interessant«, heuchelte ich. »Und es ist ja auch sehr nett, dass Sie bei uns geputzt haben, es ist nur leider so, meine Mitbewohnerin, die gleichzeitig meine Vermieterin ist, wäre sicher dagegen. Sie legt großen Wert auf Öko. Außerdem war ich lange ohne Job und arbeite erst seit kurzem wieder. Das klingonische Prinzip ist sicher jeden Cent wert, aber teure Putzmittel kann ich mir nicht leisten.«

Die Fee nickte bedauernd. »Des verschdand i. I han mein Beruf an de Nagl ghängd, weil i mit Butzmiddel viel besser verdiena du. Des isch viel mehr als bloß a lugradiver Näbenverdienschd.«

Lukrativer Nebenverdienst. Hmm. War mein zweiter Wunsch nicht gewesen, meine Schulden loszuwerden?

»Sagen Sie mal, wie viele Mitarbeiter hat denn Ihre Firma?«, fragte ich vorsichtig.

Die Putzfee sah mich alarmiert an. »Wieso frogad Sie?«

»Nun ja … vielleicht brauchen Sie Verstärkung? Gegen einen kleinen Nebenverdienst hätte ich nichts einzuwenden.«

»Ach so!« Die Fee schwieg einen Augenblick. »Also om ehrlich zu sei: I ben die oinzig Mitarbeiderin. I ben sozusaga d’Chefe on dr Verdrieb ond älles en oim.«

»Aber wieso heißen Sie dann Butzfee International?«

»Ha, weil’s mehr hermachd! On mir Schwoba sen doch weitlaifig! Iberall uff dr Welt sen Schwoba, wo butzad! Vom Nordkap bis noch Südafrika! Ond i heiß halt Butzer, on Fairy gibd’s scho, on die Schwoba hen’s ned so mitm Englische.« Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wenn i mir’s so iberleg … also i däd scho nomol ebbr braucha. I kennd Sie eilerna. On noo schaffad Sie auf Provision. Sie müssded sich halt selbr a Koschdümle macha, weil vom Vorhang isch nix meh übrig. I han an Haufa Stoff brauchd, weil i so gut beinander ben[5].«

Sie nahm eine Produktliste, drehte sie um, kritzelte eine Nummer darauf und sagte: »Jetz macha mr’s oifach so. I denk nomol driber noch, on Sie denkad nomol driber noch, on noo delefonierad mir ons zamma.«

»In Ordnung«, sagte ich.

»Annegret«, sagte die Fee und streckte mir die Hand hin.

»Line«, antwortete ich.

»Doo kriagsch no a Butzerle als Gschenkle«, sagte sie und reichte mir ein eingeschweißtes Erfrischungstuch. »Mir hörad vonanandr. Adele[6]!« Sie lächelte ein zauberhaftes Lächeln, fuhr mit ihrem Zauberstab durch die Luft, machte eine schwungvolle Kehrtwendung, stolperte über ihren Rocksaum und rauschte mitsamt ihrem Köfferchen zur Tür hinaus.

Ich ließ mich ermattet auf einen Stuhl sinken. Was für ein Vormittag! Eine Erfrischung konnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich riss die Verpackung des Erfrischungstüchleins auf und fuhr mir damit über das Gesicht. Igitt, das stank ja widerlich! Ich warf einen genaueren Blick auf die Verpackung. Auf der einen Seite war ein Schuh abgebildet. Auf der anderen stand Butzfee Shoe Polish. Großartig. Ich lief ins Bad und versuchte, die milchig weiße Flüssigkeit mit warmem Wasser vom Gesicht zu schrubben. Wenigstens war es keine schwarze Schuhcreme gewesen. Meine Güte, war das Zeug hartnäckig! Auf dem Badewannenrand lag ein Einmalrasierer, den Lila wohl zum Enthaaren benutzt hatte. Ich schnappte mir den Rasierer und zog ihn vorsichtig über die linke Backe. Super, jetzt kam das Schmierzeug runter. Schnell noch die rechte Backe. Autsch. Unter der weißen Creme quoll es rot hervor. In der Haustür drehte sich der Schlüssel. Rasch tupfte ich das Blut mit Klopapier ab.

»Line?«

»Hi, Lila, bin im Bad!«

»Kann ich reinkommen?«

»Klar. Wie siehst du denn aus?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen. Also ich sehe aus wie jemand, der gerade eine Dreiviertelstunde im Schneeregen auf dem Tennisplatz verbracht hat und nichts zum Duschen dabeihatte. Als wir losfuhren, schien die Sonne.« Lila langte an mir vorbei nach einem Handtuch und frottierte sich die klatschnassen langen Haare. Sie schnupperte. »Du siehst aus wie jemand, der meine Rasierklinge geklaut hat. Außerdem riechst du etwas streng.«

»Ich habe mir gerade das Gesicht mit Schuhcreme poliert. Ist das ein neuer Sportanzug?« Lila trug eine schicke dunkelblaue Funktionsjacke mit passender Hose. Das war ungewöhnlich. Als Konsumhasserin war sie der Meinung, man könne hervorragend in ausgedienten Klamotten Sport machen, und hielt die Erfindung von Funktionskleidung und die damit einhergehende Differenzierung nach Wandern, Trekking, Walken, Nordic Walken, Joggen, Yoga, Pilates, Golfen, Tennis und Mountainbiken für vollkommen überflüssige Geldmacherei.

»Das war ein neuer Sportanzug, bevor er auf dem Tennisplatz durchweicht wurde.«

»Seit wann spielst du Tennis?«

»Harald hat mir eine Probestunde geschenkt. Plus den passenden Anzug.«

»Ich dachte immer, du stehst mehr auf so besinnliche Bewegung und tiefer gehende Entspannung. Yoga oder Qigong oder Autogenes Training und so.«

»In einer Beziehung muss man Kompromisse machen und gemeinsame Interessen entwickeln«, deklamierte Lila.

Ich seufzte. »Hatten wir das mit den Kompromissen nicht schon mal? Falls du dich erinnerst, habe ich mir für das Cannstatter Volksfest Leon zuliebe ein Dirndl gekauft. In der gleichen Nacht ist er mit Yvette im Bett gelandet.«

»Das war eine Verkettung unglücklicher Umstände.«

»Wann trittst du bei Wimbledon an?«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich hatte einen Riesenspaß! Ich hab seit einer Ewigkeit keinen richtigen Sport mehr gemacht! Also so Sport mit Schwitzen!«

»Aber es wird doch Jahre dauern, bis du mit Harald zusammen spielen kannst!«, protestierte ich. Lila zuckte mit den Schultern.

»Na ja, der Trainer meinte, vielleicht so zwei, drei Jahre.« Aha. Die Beziehung war also längerfristig angelegt.

»Und, macht Harald für dich auch Kompromisse?«

»Klar. Ich habe uns zu einem Wochenend-Seminar Aktiv ja zur neuen Beziehung sagen angemeldet. Er hat noch nie ein Paarseminar besucht. Er kennt nur Fortbildungen für Zahnärzte.«

»Hat Harald denn bisher noch nicht aktiv ja zu eurer Beziehung gesagt?«, fragte ich alarmiert. Obwohl ich anfangs skeptisch gewesen war und Lila ungern teilte, konnte ich sie mir ohne Harald kaum noch vorstellen. Die beiden machten immer so einen harmonischen Eindruck. »Ihr habt doch nicht etwa Probleme?«

Lila schüttelte den Kopf. »Nein. Aber man kann schließlich gar nicht früh genug anfangen, die Beziehung zu pflegen.«

»Aber ihr seid doch gerade mal ein paar Monate zusammen!« War das nicht etwas früh für ein Paarseminar? Oder war meine Beziehung zu Leon deshalb nach einigen Monaten erst mal in die Brüche gegangen – weil wir nicht aktiv genug ja zueinander gesagt hatten? »Wo ist Harald überhaupt?«

»In der Praxis, Abrechnungen machen. Line, ich könnte noch ewig so mit dir weiterplaudern, aber meinst du, du könntest allmählich aus dem Bad verschwinden? Ich bin nass, und mir wird kalt. Machst du mir einen Kaffee? Und hast du eigentlich die Küche aufgeräumt?«

»Schau’s dir selber an«, sagte ich geheimnisvoll.

Ein paar Minuten später kam Lila in ihrem lila Bademantel mit den rosa Punkten in die Küche, ein Handtuch um die Haare gewickelt und die taz in der Hand.

»Du meine Güte«, staunte sie. »Hat dich heute Morgen die Putzwut gepackt? So sauber war’s hier ja noch nie!« Sie schenkte sich Kaffee ein.

»Nun, ich dachte, ich sage aktiv ja zu unserer Wohngemeinschaft«, behauptete ich unschuldig. Die Feen-Episode würde ich erst mal für mich behalten. »Ich wollt’s ja gestern Abend noch machen, aber ich bin eingeschlafen. Die Arbeitswoche war eben zu anstrengend.«

»Was gibt es Neues aus Wuxi?«

»Nichts Gutes«, sagte ich düster. »Leon kann an Weihnachten nicht wie geplant kommen. Er kriegt keinen Urlaub.«

»Line, wie schade!«, rief Lila aus. »Dabei hattest du dich schon so darauf gefreut!«

Ich seufzte. »Ja. Jetzt kann ich mir den Urlaub aufsparen und Dorle nach der Arbeit uneingeschränkt bei der Brutpflege helfen.«

Meine Schwester Katharina hatte sich vor einiger Zeit von ihrem Mann Frank getrennt, weil sie sich in einen Amerikaner verliebt hatte. Max war aber wegen seines Jobs zurück nach New York gegangen. Meine Großtante Dorle hatte angeboten, sich in den Weihnachtsferien um die beiden Kinder zu kümmern, damit Katharina Max besuchen konnte, um zu sehen, wie sich die Beziehung entwickelte. Dorle war schon über achtzig und konnte etwas Unterstützung gebrauchen.

In diesem Augenblick klingelte es. Hoffentlich tauchte die Butzfee nicht wieder auf und machte mein neues Putz-Image kaputt. »Wehe, du lässt jemanden in die Küche, solange ich hier im Bademantel sitze!«, rief Lila drohend, als ich zur Tür ging.

»Hallo, Line. Darf ich reinkommen?«

»Darf Tarik reinkommen?«, brüllte ich in Richtung Küche. »Meinetwegen«, brüllte Lila zurück.

Tarik begrüßte mich mit seinem üblichen Ritual. Er setzte seine Lippen ganz harmlos auf meiner Wange an, aber dann rutschte sein Mund wie zufällig auf meinen und blieb dort deutlich länger liegen, als es sich für eine Frau mit festem Freund geziemte. Ich fand das okay, schließlich hatten Tarik und ich längst das Stadium hinter uns, in dem wir ernsthaft etwas miteinander anfangen würden, und immerhin behielt Tarik seine Zunge bei sich. Außerdem war er ein Mega-Macho, den ich sowieso nicht ganz für voll nehmen konnte. Trotzdem genoss ich das Prickeln im Bauch bei seiner Begrüßung. Das war wenigstens nicht so langweilig wie der gediegene schwäbische Handschlag.

Tarik deutete auf meine Backe. »Was hast du denn da gemacht?«, fragte er.

»Ich hab mich beim Rasieren geschnitten«, sagte ich achselzuckend. Die Geschichte mit der Schuhpolitur würde ich Tarik gerade noch auf die Nase binden.

»Was ist das denn?«, fragte Tarik wie vom Donner gerührt und blieb in der Küchentür stehen.

»Das ist mein lila Bademantel«, sagte Lila würdevoll. »Der ist eigentlich nicht für Publikum gedacht.«

»Das meine ich nicht. Der Bademantel betont deine schönen Kurven. Ich meine dieses … dieses Tier!«

»Das ist Wutzky, Haralds Scheidungshund. Ein gaaanz Lieber. Sag Tarik guten Tag, Wutzky!«

Wutzky stand da wie festgefroren, eine Pfote in der Luft, und starrte Tarik an. Tarik starrte zurück. Beide guckten sehr, sehr böse. Für eine Sekunde blieb die Zeit stehen. Schließlich schloss der Hund die Augen und warf die Schnauze nach oben, als würde er »Du kannst mich mal« sagen, drehte sich um und marschierte hochmütig in die hinterste Küchenecke, wo er sich so hinlegte, dass er uns den Hintern zustreckte.

»Komisch«, sagte Lila und runzelte die Stirn. »So hab ich ihn noch nie erlebt. Er scheint dich nicht zu mögen.«

»Falls es dich beruhigt: Ich mag ihn auch nicht«, sagte Tarik.

»Hast du was gegen Tiere?«, fragte Lila.

»Aber nein. Ich habe überhaupt nichts gegen einen Lammbraten mit Knoblauch und Rosmarin gespickt, der im Backofen lecker vor sich hinschmort. Tiere sind nichts anderes als Fleisch.«

Wutzky knurrte.

Tarik war einer der momentan angesagtesten Künstler in Deutschland, berühmt geworden durch seine Fleischkunstwerke. Die Kunstkritik nannte ihn ehrfürchtig Tarik, den Four-D-Creator (keine Ahnung, was das bedeuten sollte). Außerdem war er Professor an der Kunstakademie, machte mit seinen überwiegend weiblichen Studentinnen spirituelle Tänze in wallenden Gewändern und kümmerte sich nicht nur hinter, sondern auch auf dem Schreibtisch seines Büros intensiv um sie. Wir hatten uns bei der Vernissage seiner Dönerkunstwerke kennengelernt. Damals hatte Tarik mich spontan zu seiner Muse auserkoren, was Leon aus irgendwelchen Gründen nicht so richtig gefallen hatte. Wir waren nach der Trennung von Leon einmal kurz und leidenschaftlich aufeinandergeprallt, aber da ich nur bedingt musentauglich war, waren wir stattdessen Freunde geworden. Zum Glück! Seit Leon weg war, sahen wir uns viel. Tarik lenkte mich davon ab, dass mein Freund in China saß. Er wiederum genoss es, dass ich nichts von ihm wollte. Ich war seine erste und einzige platonische Freundin.

»Magst du einen Kaffee?«, fragte ich.

»Türkischer Mokka wäre mir lieber, aber meinetwegen …« Ich goss Tarik Kaffee ein und klopfte fragend gegen die Plätzchendose. Lila nickte gnädig. Sie hatte schon den Großteil der Weihnachtsbäckerei absolviert. Ich hatte es zwar nicht so mit Vollkornmehl, aber Lilas Spitzbuben, Ausstecherle und Vanille-Kipferl schmeckten großartig. Ich stellte die offene Dose auf den Tisch und sicherte mir schnell einen Spitzbuben. Die waren immer schon lang vor Weihnachten weg.

»Ich wollte dich eigentlich entführen«, sagte Tarik geheimnisvoll.

»Mich entführen? Wohin denn?«

»Wird nicht verraten. Sagen wir mal, du und ich, wir machen eine kleine Spritztour.«

»Heißt das etwa, ich muss meinen Jogginganzug aus- und öffentlichkeitstaugliche Kleidung anziehen?«

»Genau das heißt es.«

Ich seufzte. »Tarik, es ist so schrecklich gemütlich in unserer Küche!«

Das war es tatsächlich. Der Gasofen bullerte heimelig vor sich hin, Kerzen brannten, ich hatte Lila ausnahmsweise mal für mich, und man hätte den Rest des Nachmittags gemütlich Gutsle essen und dabei zusehen können, wie es draußen langsam wieder dunkel wurde. Die Wochen vor Weihnachten waren total gemütlich, wenn man nicht durch die Innenstadt hetzen und Geschenke besorgen musste! Ich war zum Beispiel gar nicht mehr auf dem neuesten Stand, was die europäischen Königshäuser anging! Was machten Felipe und Letizia? Und Brangelina? Und war Penelope Cruz nicht schwanger? Mit Tarik konnte man hervorragend Klatsch austauschen. Und mit Lila sowieso!

»Ich werde nicht mehr lang zur Gemütlichkeit beitragen«, sagte Lila. »Harald kommt nachher wieder, und wir müssen mindestens eine Stunde mit dem Hund raus.« Sie seufzte. »Am liebsten würde ich auch einfach in der Küche bleiben und endlich den Adventsschmuck aufhängen. Diese vielen sportlichen Aktivitäten sind ganz schön anstrengend.«

»Kann ich gut verstehen«, sagte ich. Leon hatte auch ständig Sport machen wollen. Zumindest ein Gutes hatte es, dass er weg war. Niemand hetzte mich mehr durch den Wald oder ins Schwimmbad.

»Also gut, ich zieh mich um«, sagte ich. »Brauche ich irgendwas Besonderes?«

Tarik schüttelte den Kopf. Ich lief in mein Zimmer und schlüpfte schnell in Jeans und Sweatshirt. Mein Blick blieb auf dem Laptop hängen. Leon und ich waren beide so traurig gewesen, dass wir keinen Skype-Termin für heute ausgemacht hatten. Das war nicht gut. Wir mussten deutlicher ja sagen zu unserer Beziehung, auch in schwierigen Momenten! Ich musste nach der Spritztour mit Tarik unbedingt versuchen, ihn zu erreichen.

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2. Kapitel

Samstagmorgen, nach dem Frühstück, fängt das Wochenende an.

Ich brauch dringend neue Schuhe, die mit Riemchen sind jetzt dran.

Schnell ins Städtchen zu den Läden, wo sie warten auf dein Geld.

Dafür kriegst du Glitzer, Glamour, Illusion der weiten Welt.

Ich will Schuhe ohne Absatz, gerne schwarz, vielleicht auch grau.

Schuhgeschäfte gibt es viele, also los jetzt, such und schau.

Tschau, Lila!«, rief ich und ging mit Tarik hinaus. Er hielt mir die Tür seines schwarzen Mercedes auf. Ich machte es mir auf dem Vordersitz bequem und blickte hinaus. Der Schneeregen war in Schnee übergegangen und blieb allmählich liegen. Es sah allerliebst aus auf den Puppenhäuschen in der Neuffenstraße, besonders auf unserem efeubewachsenen Häuschen. Warum blieben wir nicht einfach im Auto sitzen und hörten mit Tariks überdimensionierter Anlage Musik? Das war doch auch gemütlich!

»Nun sag schon, wohin fahren wir?«

Tarik ließ den Motor aufheulen. »Wir machen heute Nachmittag mehr aus deinem Typ.«

»Bitte was machen wir?«, rief ich empört und griff spontan nach der Autotür.

»Du kannst nicht rausspringen«, sagte Tarik gelassen. »Da ist die Kindersicherung drin.«

»Das ist Freiheitsberaubung! Außerdem hast du doch gar keine Kinder!«

»Mir war schon klar, dass du versuchen würdest abzuhauen.« Der Mercedes brauste mit überhöhter Geschwindigkeit die Haußmannstraße hinunter.

»Wir sind doch hier nicht bei Brigitte vorher – nachher!«, stöhnte ich. »Was soll das heißen, wir machen mehr aus deinem Typ?«

»Aus deinem Typ, nicht aus meinem. Aus meinem Typ ist schon alles rausgeholt. Ich ziehe mich meinem Image entsprechend an. Eine perfekte Mischung aus Professor an der Kunstakademie und enfant terrible der Kunstszene. Ein bisschen Klischee-Türke, ein bisschen Spiel mir das Lied vom Tod. Ich überlasse nichts dem Zufall.«

Das stimmte allerdings. Tariks Selbstinszenierung war perfekt. Er trug einen edlen schwarzen Rollkragenpulli, schwarze Jeans, darüber einen langen schwarzen Mantel aus Glattleder und spitz zulaufende, schwarze Stiefel, die trotz des Matschwetters glänzten. Seine Handgelenke waren mit schwarzen Lederbändchen umwickelt, und am Mittelfinger trug er einen Totenkopf-Ring. Tarik trug immer nur Schwarz. Meine Inszenierung war dagegen eher schlicht. Ich trug eine dicke Fleecejacke über dem ausgeleierten Sweatshirt und ein paar ausgelatschte Turnschuhe, die nur bedingt wettertauglich waren.

»Du bist unmöglich, Tarik«, sagte ich vorwurfsvoll. »Warum gebe ich mich eigentlich mit dir ab?«

Er warf provozierend sein wirres schwarzes Haar zurück. »Weil ein Macho-Türke in Stuttgart immer noch besser ist als ein Hamburger in China. Über Leons Aussehen kann ich mir zwar kein Urteil erlauben, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er so attraktiv ist wie ich. Und er hat bestimmt nicht so viele Freunde auf Facebook.«

»Du meinst wohl Freundinnen. Alles Studentinnen, die du schon mal abgeschleppt hast!«

»Gefällt mir.« Tarik nickte mit einem selbstzufriedenen Lächeln.

Ich stöhnte. Auf der »Liste der eingebildetsten Männer alive« war Tarik auf jeden Fall unter den ersten zehn, noch vor Til Schweiger mit dem Ich-kneif-nur-die-Augen-zusammen-und-schon-willst-du-mit-mir-ins-Bett-hüpfen-Blick. Trotzdem mochte ich Tarik, weil es mit ihm immer so lustig war und wir uns so herrlich streiten konnten. Außerdem war mein Selbstbewusstsein nicht gerade ausgeprägt, und ich fand es einfach fabelhaft, mit ihm herumzulaufen und die neidischen Blicke anderer Frauen auf mir zu spüren. Vor allem jetzt, wo Leon nicht da war!

»Was heißt das jetzt konkret, wir machen mehr aus meinem Typ? Schleppst du mich zum ›Botox ohne Voranmeldung‹?«

Tarik schüttelte den Kopf. »Viel banaler. Wir kaufen dir zuallererst ein Paar Schuhe. Dann sehen wir weiter.«

»Wir kaufen dir ein Paar Schuhe?«

»Dir, nicht mir.«

»Tarik, ich bin doch kein kleines Kind!«

»Nein, aber du profitierst von meinem unfehlbaren Geschmack. Außerdem sollte man im Schneematsch nicht mit Turnschuhen herumlaufen.«

»Das mag ja sein, ich habe aber Schulden! Ich hab kein Geld für neue Schuhe!«

»Ich schenk sie dir zu Weihnachten.«

»Das ist mir peinlich!«

»Muss es dir nicht sein, Schnuckelinchen. Ich nehm’s aus meiner Kaffeekasse. Außerdem mach ich das nur für mich. Schließlich zeigst du dich mit mir in der Öffentlichkeit.«

»Schade, dass du einen Mantel anhast, Super-Tarik. Sonst könnte ich mal eben herzhaft in das Granatapfel-Tattoo auf deinem Oberarm beißen!«

Tarik fuhr über die Olgastraße und bog dann nach rechts ins Bohnenviertel ab, die flache Hand lässig auf dem Lenkrad. Ein paar Minuten später standen wir vor dem Züblin-Parkhaus im Stau.

»Tarik, an einem Adventssamstag in die Stadt, das war doch zu erwarten!« Ich hasste Staus, und ich hasste Einkaufsrummel. Wenn es nach mir ginge, würde man die komplette Fußgängerzone von September bis Silvester unter Quarantäne stellen. Meine Weihnachtsgeschenke bestellte ich sowieso im Internet. Man konnte problemlos im Stuttgarter Osten wohnen, im Heusteigviertel arbeiten und monatelang nicht die Innenstadt betreten! Tarik ignorierte mich komplett, ließ die Scheiben herunter, damit auch jeder die türkische Wummermusik aus seinen Monsterboxen hörte, studierte die Nachrichten auf seinem iPhone und grinste, als hätte er gerade einen dreckigen Witz gehört. Zehn Minuten später fuhr er mit Schwung ins Parkhaus und stellte den Mercedes auf einem Frauenparkplatz ab. Er warf mir einen Blick zu, um meine Reaktion zu testen. Ich knuffte ihn kräftig in die Seite.

»Bist du eine Frau, oder bist du keine?«, antwortete Tarik und tätschelte mir den Hintern. »Dem Hintern nach nicht. Der ist viel zu knochig.«

Wir liefen durch die Rathauspassage, fuhren die Rolltreppe zur Eberhardstraße hinauf und landeten mitten in der vorweihnachtlichen Hölle. Auf der Straße stauten sich hupende Autos, Radfahrer rutschten über den Schnee, dazwischen schwankten Fußgänger unter der Last ihrer Einkaufstüten. Der Breuninger hatte sich mit einer roten Schleife in ein überdimensionales Weihnachtspaket verwandelt. Am großen Eckschaufenster, das wie ein nostalgisches Kinderzimmer gestaltet war, klebten brüllende Kinder, die keine Lust hatten, von ihren Eltern weitergezerrt zu werden. Das war wirklich ein total günstiger Tag, um Schuhe zu kaufen.

Tarik nahm meine Hand und bahnte uns mit seiner mächtigen Gestalt mühelos einen Weg durch die Menge. Hinter dem Spielwaren-Kurtz bog er rechts ab. Nun waren wir mitten im dichtesten Gewühle des Weihnachtsmarkts, und es ging nur noch schrittweise vorwärts. Vor uns lief ein Polizist, der wahrscheinlich offiziell wegen der erhöhten Terrorgefahr und inoffiziell wegen der Taschendiebe, die sich an den prall gefüllten Geldbörsen unschuldiger Schweizer bedienten, auf dem Weihnachtsmarkt Dienst schob. Ein kleiner Junge kratzte auf seiner Geige Stille Nacht, während ein Mann, der vermutlich sein Vater war, ihn verzückt betrachtete und den Passanten eine Wollmütze entgegenstreckte, in der ein paar Münzen klimperten.

Es roch nach Glühwein, Magenbrot und Waffeln. Lecker! Ich kriegte schon wieder Appetit. Ich schielte hinüber zur Holankaffeebar.