Schwäbisch für Engel - Elisabeth Kabatek - E-Book

Schwäbisch für Engel E-Book

Elisabeth Kabatek

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Beschreibung

Liebeschaos im Ländle – und das mitten im Wahlkampf: Bestseller-Autorin Elisabeth Kabatek entführt mit ihrem humorvollen Roman »Schwäbisch für Engel« wieder nach Schwaben und stiftet vergnügliches Chaos zwischen der jungen idealistischen Politikerin Anna und dem schwäbischen Lokal-Journalisten Lukas, der von seinem Arbeitgeber erpresst wird. Sie: jung, klimabewegt, ehrlich – und aus Norddeutschland! – will Bürgermeisterin in Schwäbingen werden. Er: gebürtiger Schwabe und Lokaljournalist unter Druck soll das verhindern – um jeden Preis! Da hilft auch keine gegenseitige Anziehung, denn dank Lukas droht Anna eine echte Schlammschlacht im Wahlkampf: Die Zeitung, für die der junge Journalist schreibt, wird vom größten Arbeitgeber im Ort finanziert. Und der stellt nicht nur sehr unökologische Wegwerf-Unterwäsche her, der Chef ist auch der beste Kumpel des amtierenden Bürgermeisters. Als wäre das nicht genug Chaos-Potenzial, taucht auch noch Annas Exfreund auf und stürzt sie in emotionale Turbulenzen – während Lukasʼ urschwäbischer Opa sich auf die Seite der Herausforderin schlägt … Mit viel Humor und unvergleichlichem schwäbischem Charme schenkt Elisabeth Kabateks romantische Komödie neben Lachtränen auch herrlich unbeschwerte Lesestunden. Entdecken Sie auch die anderen humorvollen Romane von Elisabeth Kabatek - Zur Sache, Schätzle! - Schätzle allein zu Haus - Ein Häusle in Cornwall - Chaos in Cornwall - Ein Cottage in Cornwall

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Seitenzahl: 533

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Elisabeth Kabatek

Schwäbisch für Engel

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sie: jung, klimabewegt, ehrlich – und aus Norddeutschland! – will Bürgermeisterin in Schwäbingen werden.

Er: gebürtiger Schwabe und Lokaljournalist unter Druck soll das verhindern – um jeden Preis!

Da hilft auch keine gegenseitige Anziehung, denn dank Lukas droht Anna eine Schlammschlacht im Wahlkampf: Die Zeitung, für die er schreibt, wird vom größten Arbeitgeber im Ort finanziert. Und der stellt nicht nur sehr unökologische Wegwerf-Unterwäsche her, der Chef ist auch der beste Kumpel des amtierenden Bürgermeisters. Als wäre das nicht genug Chaos-Potenzial, taucht auch noch Annas Exfreund auf – während Lukasʼ urschwäbischer Opa sich auf die Seite der Herausforderin schlägt …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Das Schwäbinger Personal

Ein Wort zum Schluss

Für Lene

1. Kapitel

In dem wir die Heldin und den Helden dieser Geschichte kennenlernen und erfahren, warum der Roman »Schwäbisch für Engel« heißt

Meine Damen und Herren, liebe Diverse …« Erst krächzt Anna wie ein Rabe, dann kippt ihr die Stimme einfach weg, als sei sie stockheiser. Sie ist wütend, enttäuscht, frustriert und verzweifelt, alles gleichzeitig. Die Verzweiflung ist am schlimmsten. Sie lauert unter den Sohlen ihrer nigelnagelneuen Sneakers, klettert blitzschnell auf ihre Füße und springt mit einem großen Satz mitten hinein in ihr aufgeregt klopfendes Herz. Verpiss dich, droht sie, aber die Verzweiflung macht es sich gemütlich. So schnell haut die nicht wieder ab.

Anna hat nichts dem Zufall überlassen. Sie ist die sorgfältig durchkomponierte Rede mit ihrem »Feministischen Arbeitskreis für werdende Bürgermeisterinnen« (FAWB) durchgegangen, hat sie auswendig gelernt und sich selbst vor dem Spiegel gehalten. Selbstverständlich ist sie mit dem Fahrrad gekommen und von Kopf bis Fuß politisch korrekt gekleidet, damit man ihr nicht vorwerfen kann, dass sie ihre Ideale nicht konsequent persönlich lebt: dunkelblauer Parka aus Biobaumwolle, nachhaltig produzierte Jeans, Socken, die ihr ihre Mutter aus der Wolle von ökologisch gehaltenen Deichschafen gestrickt hat, und an den Füßen vegane Turnschuhe aus Hanf. Alles sehr sportlich und ein bisschen schlabberig und bestimmt nicht sexy, aber sie will sich schließlich nicht nachsagen lassen, sie sei ein Püppchen. In ihrer Tasche aus recycelten PET-Flaschen warten die auf Altpapier gedruckten Flyer ebenso darauf, verteilt zu werden, wie die Schirmkappen aus Biobaumwolle. »Anna Freitag. Die frische Brise aus dem Norden!« hat sie in Schreibschrift auf die Kappen drucken lassen, Meeresblau auf weißem Grund, mit einer fliegenden Möwe darüber. Natürlich trägt sie selbst eine solche Kappe über ihren kurzen blonden Locken. Leider muss die jetzt als Schutz gegen den Regen herhalten.

Sie hat die letzten drei Nächte vor Aufregung kaum geschlafen in der kleinen Wohnung im Mehrfamilienhaus im Neubaugebiet. Anna ist bereit. Bereit, alles zu geben, nicht nur an diesem Abend, bei der Auftaktveranstaltung zu ihrem Wahlkampf, hier auf dem Marktplatz von Schwäbingen, sondern auch in den kommenden Wochen und Monaten. Es gibt nur eine klitzekleine Komplikation.

Der Marktplatz mit seinen eigentlich hübschen Fachwerkhäusern ist leer. Es gibt nicht einmal Tauben, oder Blätter, die der Wind vor sich hertreiben könnte, oder eine streunende Katze. Es gibt einfach nichts. Gar nichts. Nur einen völlig menschenleeren Platz und trostlosen Nieselregen.

Ihr Gesicht brennt. Es fühlt sich an, als habe sie jemand geschlagen. Ihre Eltern werden später anrufen, um zu fragen, wie es gelaufen ist. Sie weiß genau, dass sie im Moment an nichts anderes denken können und über nichts anderes reden. Was soll sie ihnen sagen? Und den Mädels in ihrer Arbeitsgruppe? Natürlich hat sie nicht damit gerechnet, dass sich die Leute auf dem Marktplatz drängen. Es kennt sie ja keiner. Noch nicht. Aber dass nicht einmal ein paar Neugierige aufgetaucht sind! Es muss doch in einer Zwanzigtausend-Seelen-Stadt Leute geben, die sich nach vierundzwanzig Jahren mit demselben Bürgermeister nach einer Veränderung sehnen! Was hat der überhaupt vorzuweisen? Er hat eine Mehrzweckhalle bauen lassen und zwei Firmen angesiedelt, ein Taxiunternehmen (anstatt den öffentlichen Nahverkehr zu fördern) und einen Unterwäschehersteller (der sehr unökologische Wäsche produziert). Einmal im Jahr veranstaltet er im Namen der Stadt die Wahl zur Miss Schwäbingen. Dann wird die schönste Frau in Schwäbingen gewählt. Wie frauenfeindlich ist das denn? Außerdem hat er das »Schwäbinger Bierfest« ins Leben gerufen, einen Mini-Ableger des Cannstatter Volksfestes, offensichtlich vor allem deshalb, weil er so gerne Bierfässer ansticht. Super. Natürlich unternimmt er auch nichts gegen den Landwirt mit der Hühnerzucht in Massentierhaltung, den es schon vor seiner Amtszeit gegeben hat und der von der Tierschutzorganisation PETA angeprangert worden ist, nachdem Mitglieder der Gruppe heimlich verendete Hühner im Stall gefilmt haben. Kultur, Umwelt, Infrastruktur, Frauenförderung, Digitalisierung? Fehlanzeige. Von Bürgerbeteiligung erst gar nicht zu reden. Und trotzdem steht sie hier mutterseelenallein auf einem leeren Platz?

Anna hat so viel Arbeit, Zeit und Geld in die Werbung gesteckt! Plakate, Facebook, Insta, nicht zu vergessen die Anzeige in der Lokalzeitung. Offensichtlich hat das alles nichts gebracht. Natürlich spielt das Wetter eine Rolle. Warum muss es ausgerechnet heute Abend regnen, am Ende eines bis dahin sonnigen Septembertages? Das allein kann jedoch nicht der Grund sein. Sie muss etwas übersehen haben. Eine größere Veranstaltung, hier oder im Nachbarort. Vielleicht liegt’s auch an der Uhrzeit? Es wird schon langsam dunkel. Sie muss unbedingt herausfinden, ob man in Schwäbingen nicht so gerne spät aus dem Haus geht. Das hilft ihr jetzt aber nichts. Lohnt es sich überhaupt noch, zu warten? Ihr ist zum Heulen zumute.

Ein winziges bisschen Hoffnung schöpft sie, als sich eine groß gewachsene Gestalt aus dem Schatten löst und auf sie zustapft. Viel erkennen kann sie nicht. Der Figur nach ein Mann. Er trägt einen weiten Regenmantel, die Kapuze verdeckt das Gesicht. Ein Zuhörer ist besser als gar keiner!

»Herzlich willkommen!«, schmettert sie ihm entgegen und legt so viel Enthusiasmus in ihre Stimme, wie sie nur kann. »Oder, wie man bei uns sagt: Moinmoin!« Sie bekommt keine Antwort. Stattdessen positioniert sich die Person in ein paar Metern Abstand in gerader Linie vor ihr und reckt eine Hand nach oben. Eine Hand mit einem Smartphone.

»Ich darf doch?« Eine Männerstimme, sie hat richtig geraten. Reichlich unterkühlt, ohne den üblichen schwäbischen Einschlag.

»Aber natürlich!«, ruft sie und setzt ihr Fotografiergesicht auf. Sie weiß genau, wie sie rüberkommt: seriös und doch sympathisch, mit dem Anflug eines Lächelns in den Mundwinkeln. Sie hat dafür lange vor dem Spiegel geübt, noch länger als für ihre Rede. Ja, sie ist eine richtig gute Lächlerin geworden, dabei ist sie mehr so der ernsthafte Typ.

»Möchten Sie vielleicht ein Selfie mit mir machen? Dann würde ich es auf Facebook posten!«, schlägt sie eifrig vor. »Und darf ich Ihnen eine Kappe mitgeben?«

Sie streckt ihm eine Kappe hin. Der Mann schüttelt den Kopf und senkt langsam den Arm mit dem Handy. Noch immer kann sie sein Gesicht nicht erkennen.

»Nein, danke. Also weder noch. Das Bild erscheint morgen im Schwäbinger Boten.«

»Sie sind … von der Lokalzeitung?« Ihr Herz setzt für mindestens zwei Schläge aus. Er wird doch nicht etwa dieses Bild bringen? Anna Freitag, die Herausforderin des Amtsinhabers, bei der Auftaktveranstaltung zu ihrem Wahlkampf, mutterseelenallein auf dem Marktplatz? Das wäre eine Vollkatastrophe!

»Ja. Wir hatten telefoniert. Wegen der Anzeige für heute Abend. Ich bin Lukas.« Er schlägt die Kapuze zurück. Sie kann sein Gesicht in der Dämmerung nur undeutlich erkennen. Nur einen verstrubbelten Bart, eine Brille und ein Hipstermützchen. Sie mag keine Hipster.

»Lukas? Ach ja, stimmt. Verraten Sie mir noch mal Ihren Nachnamen?« Charmant-distanziert, heißt die Devise. Und souverän. Vor allem souverän.

»Wann warst du das letzte Mal bei IKEA? Kein Mensch spricht sich mehr mit Nachnamen an. Lukas reicht. Chefredakteur, Marketing und Anzeigenabteilung des Schwäbinger Boten in einer Person.« Er stellt einen Fuß vor den anderen, nimmt einen imaginären Hut vom Kopf und macht eine schwungvolle Verbeugung. Für wen hält er sich? Für Johnny Depp in »Fluch der Karibik?« Und dieser blasierte Tonfall!

»Diese aufgesetzte Duzerei ist nicht so meins«, zischt sie. Das ist glatt gelogen. Da, wo sie herkommt, sind alle per Du miteinander. Aber der Typ hat nicht nur ein Foto von ihr ohne klare Ansage gemacht, er ist auch noch unerträglich arrogant.

»Meinetwegen, dann siezen wir uns eben. Ich bin dann der Herr Allgöwer. Duzt man sich in Hamburg auf dem Fischmarkt nicht?«, fragt er zurück. Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Will er sie provozieren oder ist er einfach nur bescheuert?

»Ich stamme aus Hallig Hooge. Nicht aus Hamburg. Dazwischen liegen exakt hundertachtundvierzig Kilometer.«

»Ach ja. Jetzt erinner ich mich. Sie sind Insulaner.« Insulaner! Offensichtlich reicht ihm das saupeinliche Foto nicht, er will sie auch noch provozieren. Damit sie was Blödes sagt, was er dann in seiner kackpopeligen Zeitung zitieren kann. Den blöden Spruch kriegt er nicht, aber wehren wird sie sich.

»Wenn überhaupt, dann Insulanerin. Und eine Hallig ist keine Insel.« Sie hat sich erfolgreich bemüht, die Temperatur in ihrer Stimme um zehn Grad abzusenken, und ist mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.

»Ich glaube nicht, dass sich in Schwäbingen irgendjemand für diese norddeutschen Feinheiten interessiert.« Er macht eine bedeutungsvolle Pause. »Offensichtlich interessiert sich überhaupt niemand für Sie.«

»Das wird sich ändern.«

»Niemand legt hier Wert auf Veränderung. Der alte Bürgermeister wird der neue sein. So wie bei jeder Wahl.« Er kramt in den Taschen seines Regenmantels. Wenn er jetzt direkt vor meiner Nase eine Zigarette anzündet und mir den Rauch ins Gesicht bläst, dann knalle ich ihm eine, denkt sie. Er holt aber nur ein Taschentuch heraus und trocknet damit das Smartphone ab.

»Helmut Bartholomä ist hier seit vierundzwanzig Jahren im Amt. Das ist ziemlich lange, oder? Und was hat er vorzuweisen?«, zischt sie.

»Das richtige Parteibuch.«

»Tatsächlich. Das allein reicht schon?«

»In einer konservativen schwäbischen Kleinstadt? Ja. Es hat ja sogar in Stuttgart gereicht. Sie sind parteilos. Gaaanz schlecht. Wenn Sie wenigstens von den Grünen oder der SPD wären und die Unterstützung des Ortsverbandes hätten!«

»Es sind zunehmend Außenseiter:innen und Quereinsteiger:innen, die Bürgermeister:innenwahlen gewinnen. Da geht es um die Persönlichkeit, nicht die Partei!«

»Und um das Geschlecht. Man hat hier lieber werdende Mütter als werdende Bürgermeisterinnen. Feministisch und dieser ganze Innen-Scheiß? Das ist so ziemlich dasselbe wie kommunistisch, also eher bäh. Wahrscheinlich sind Sie auch noch Vegetarierin.« So, wie er es sagt, klingt es wie Schwerverbrecherin.

»Nein. Veganerin!«

»Noch schlimmer ist eigentlich nur öko. Und dass Sie aus Norddeutschland kommen, hilft auch nicht gerade. Das macht die Leute misstrauisch. Die nehmen lieber das, was sie kennen. Was von hier. Was, was Schwäbisch kann.«

Maultasche statt Fischbrötchen? Auf diese bescheuerte Bemerkung wird sie erst gar nicht eingehen.

»In Zeiten von rasant fortschreitendem Klimawandel ist öko das neue sexy«, deklamiert sie stattdessen.

Er stöhnt theatralisch. »Nicht in einer Stadt, deren größter Arbeitgeber Billigunterhöschen produziert, mit der die Discounter in ganz Deutschland beliefert werden, und die das komplette Gegenteil von öko sind. Was jedem völlig klar ist, der dort arbeitet, und trotzdem stopft es die hungrigen Mäuler und zahlt den Kredit fürs Häusle ab. Wissen Sie, wie viel Leute in Schwäbingen bei Miss Nightingale arbeiten? Zweitausendvierhundert. Wenn Sie deren Familien dazurechnen, hängt halb Schwäbingen an einem einzigen Arbeitgeber. Und ein weiteres Viertel arbeitet bei der Stadt und will es sich mit dem aktuellen Bürgermeister nicht vermiesen. Niemand von denen wird Sie wählen. Niemand! Die sägen sich doch nicht den eigenen Ast ab, bloß, weil Sie da mit Ihrem Umweltgedöns kommen! Vielleicht können Sie ein paar aus den Siebzigern übrig gebliebene Ökodödel überzeugen, aber Sie kriegen niemals die Mehrheit der Stimmen. Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Sachen zu packen und zu verschwinden, und zwar so schnell wie möglich. Hier gibt’s noch Kannibalismus. Die werden Sie genüsslich durch die Spätzlespresse drücken und mit einer Bratensoße verspeisen, die ganz bestimmt nicht vegetarisch ist. Allein schon, wie Sie aussehen!«

»Wie sehe ich denn aus?«, platzt es aus ihr heraus. Anfängerfehler. Sie hätte niemals anbeißen und auf eine so offensichtlich unqualifizierte Bemerkung eingehen dürfen. Sie weiß ja genau, was als Nächstes kommt.

»Wie ein Weihnachtsengel!« Er klingt jetzt richtig vorwurfsvoll.

»Sie haben zu viel Fantasie«, knurrt sie und klingt wie ein großer, böser Hund. Das mit dem Engel verfolgt sie, seit sie denken kann. Rauschgoldengel, Weihnachtsengel. Oder einfach nur Engel. Und jetzt fängt dieser unerträgliche Typ auch noch damit an!

»Weihnachtsengel gewinnen keine Bürgermeisterwahlen!«

»Ich kann nichts für meine blöden blonden Locken!«, zischt sie. »Und überhaupt. Was hat mein Aussehen mit dem Wahlkampf zu tun? Zu einem männlichen Bewerber hätten Sie so etwas nie gesagt! Sollte die Presse nicht neutral sein?«

»Neutral.« Er lacht schallend. »Träum weiter, Engelchen.« Und damit dreht er sich um und stapft davon, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.

2. Kapitel

In dem wir erfahren, warum sich Lukas selbst schrecklich peinlich ist, und den Opa, Helmut Bartholomä und Werner Schelkle kennenlernen

Duzt man sich in Hamburg auf dem Fischmarkt nicht? Weihnachtsengel gewinnen keine Bürgermeisterwahlen? Lukas steht vor seinem Waschbecken, starrt sein Spiegelbild an, fährt mit den Fingern durch seinen Bart und stöhnt. Peinlich. Er ist sich selbst unendlich peinlich. Nein, noch schlimmer, er fühlt sich elend. Wenn das so weitergeht, dann kann er sich nicht mehr in die Augen schauen. Er benimmt sich wie seine besten Kumpels aus Schwäbingen. Seine ehemals besten Kumpels, die von früher, mit denen er nicht mehr klarkommt. Wie so ein richtig fieses Macho-Arschloch.

Aber es hilft ja nichts. Er wäscht sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Nicht, dass es überhaupt warmes Wasser gäbe. In dem Zimmer auf dem Dachboden, den der Opa vor Jahren ausgebaut hat und der auf Schwäbisch »Bühne« heißt, gibt es gar kein warmes Wasser. Nicht einmal ein richtiges Bad. Nur ein Klo, olivgrün, mit einem winzigen Handwaschbecken in derselben Farbe. Die Siebziger lassen grüßen. Lukas versucht, so oft wie nur möglich in das große Erlebnisbad im Nachbarort zu gehen. Nicht nur, weil ihn die Fahrt mit dem Rennrad dorthin und die tausendzweihundert Meter Kraulen im Sportbecken fit halten, sondern auch, weil er da vernünftig duschen kann. Den Opa stört es zwar nicht, wenn er bei ihm duscht, aber in seinem Bad gibt’s nur eine Badewanne ohne Vorhang, sodass man sich beim Duschen entweder hinkauern muss, was total unbequem ist, oder alles nass macht. Das Wasser wird auch nie richtig heiß. Vor allem aber hängt das Bad voll mit müffelnden Waschlappen und ungewaschenen Handtüchern. Dem Opa fällt das nicht auf. Lukas ist zwar nicht besonders empfindlich, wirklich nicht, so als Mann, aber manchmal wird es ihm doch zu viel. Dann stopft er schnell die Wäsche in die klapprige Waschmaschine, auch wenn er damit riskiert, dass der Opa böse wird, weil er sich von ihm bevormundet fühlt. Früher ist der Opa nie böse geworden, er war eine Seele von Mensch. Irgendetwas verändert sich, langsam und schleichend, aber er will lieber nicht darüber nachdenken. Es gibt im Moment ziemlich viele Dinge, über die Lukas lieber nicht nachdenkt. Zum Beispiel, wer sein Gehalt bezahlt.

 

Er starrt schon seit Minuten auf den Bildschirm seines Laptops. Der ist noch immer gähnend leer und er hat nicht mehr viel Zeit. Natürlich hat der Opa kein Internet gehabt, als er vor ein paar Monaten wieder bei ihm eingezogen ist. Nur ein uraltes Festnetztelefon, immerhin mit Tasten. Die Telekom musste extra anrücken, um einen Anschluss zu legen, den er nicht selbst bezahlen musste. Werner Schelkle hat das übernommen. Jetzt hat Lukas High Speed und kann wenigstens vernünftig arbeiten. Zumindest theoretisch.

Lukas’ Hände schweben über der Tastatur. Er schließt die Augen und lässt den kleinen Finger der linken Hand fallen, ohne hinzusehen. Er landet auf dem A. Das war ja zu erwarten, denkt er. A wie Anna. Wieso muss ihm dieses friesische Mädel sympathisch sein? Er hat so sehr gehofft, dass sie eine richtig blöde Zicke ist. Eine steife, wortkarge Norddeutsche, die kein bisschen in eine schwäbische Kleinstadt passt. Jemand, den er mit gutem Gewissen vergraulen kann. Er braucht ein vernünftiges Feindbild. Er kann ja jetzt schon nicht mehr richtig schlafen.

Steif ist sie ganz bestimmt nicht, auch wenn sie es abgelehnt hat, ihn zu duzen. Eher völlig verunsichert, und das ist ja wohl kein Wunder. Nicht einmal Lukas kann es fassen, dass kein Mensch auf dem Marktplatz von Schwäbingen aufgekreuzt ist. Es ist schon ziemlich beängstigend, dass der Bürgermeister mit seiner Drohkampagne derart erfolgreich gewesen ist. Obwohl, Drohkampagne ist vielleicht das falsche Wort. Er hat einfach mehr so beiläufig auf Facebook und Insta gepostet, dass er hofft, dass alle, die auch in Zukunft ihren sicheren Arbeitsplatz in Schwäbingen behalten wollen, am Sonntagabend brav zu Hause bleiben. Eigentlich ein Skandal. Aber Lukas spielt das Spielchen schon seit Monaten mit, worüber regt er sich also auf?

Natürlich weiß er, dass Anna Freitag nicht aus Hamburg kommt. Sondern von einer komischen Insel mitten im Wattenmeer, die keine ist. Eine Hallig. Wieso ist sie überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, sich ausgerechnet in Schwäbingen auf den Bürgermeisterposten zu bewerben? Warum hat sie sich keinen anderen Ort ausgesucht, einen, der weniger kompliziert ist? In Norddeutschland, wo es keiner komisch findet, wenn man kein Schwäbisch kann? Nun muss er dieses Bild in der Montagsausgabe des Schwäbinger Boten bringen. Der besteht sowieso nur aus sechs Seiten: Ein Drittel sind städtische Ankündigungen, zum Beispiel die Termine der Müllabfuhr, Todes- und Geburtsanzeigen, dazu die Veranstaltungen der Kirchen und Vereine. Ein weiteres Drittel sind Anzeigen des Taxiunternehmens, der Hühnerfarm und vom Fabrikverkauf von Miss Nightingale. Nur zwei Seiten sind tatsächlich Berichterstattung, und auf denen muss Lukas das Foto von Anna als Aufmacher bringen und zusätzlich auf der Webseite des Schwäbinger Boten posten, www.schwaebinger-bote.de. Dieses Foto, auf dem Anna völlig allein auf dem Marktplatz von Schwäbingen steht, enttäuscht und verzweifelt, wie ein unschuldiges Engelchen, das vom Himmel gefallen ist und nicht weiß, wie es wieder hinaufkommt. Lukas findet, es ist einfach herzzerreißend. Dabei hat er es selbst geschossen. Sie darf natürlich auf keinen Fall merken, dass sie ihm leidtut und dass er sie nett findet. Deswegen die Macho-Nummer, klar. Aber selbst ohne die Kampagne, die gegen sie läuft, hätte sie an dem Abend keine Chance gehabt. Wie kann man nur so dämlich sein und seinen ersten öffentlichen Auftritt auf einen Sonntagabend 20 Uhr legen, wenn im Fernsehen der neue Stuttgart-»Tatort« läuft? Da geht doch kein Mensch aus dem Haus!

Aber der »Tatort« war bestimmt nicht der einzige Faktor. Werner und Helmut haben schließlich nichts dem Zufall überlassen. Vor zwei Wochen haben sie ihn einbestellt, abends, in die Villa. Lukas hasst diese Zusammenkünfte. Zum einen, weil er nie gefragt wird, ob er Zeit hat, zum anderen, weil sich ihm immer dasselbe Bild bietet: Die beiden Männer rauchen Zigarren und trinken Whisky, neben Werner liegt ein knurrender Schäferhund. Unsäglich!

Fast kommt es Lukas so vor, als wollten sie sich selbst davon überzeugen, dass sie die Bösewichte in einem schlechten Film sind. Er selbst trinkt und raucht nie, um einen klaren Kopf zu behalten, obwohl sie ihn dafür regelmäßig mit beißendem Spott überziehen. Wie bei jedem Treffen deutete Werner auf den freischwingenden Bauhausstuhl, der vermutlich von Mies van der Rohe persönlich stammt und ein Vermögen wert, leider aber auch schrecklich unbequem ist und noch dazu in der Mitte der Bibliothek steht, sodass sich Lukas immer vorkommt wie bei einem Verhör. Das gehört zu der Mafiaboss-Inszenierung, genauso wie die Tatsache, dass Werner ihn von Anfang an geduzt hat, ohne zu fragen, ob das okay ist (Lukas hingegen siezt ihn natürlich).

»Setz dich, Lukas«, sagte Werner also vor zwei Wochen bei Lukas’ letztem Besuch und schüttelte sein Whiskyglas, sodass die Eiswürfel klirrten. Dann nahm er einen Schluck und schaute das Glas wieder nachdenklich an. Lukas wusste, das gehörte alles zur Inszenierung. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass es neben den üblichen Spaß- und Dauerdeppen, die bei jeder Bürgermeisterwahl mitmischen, einen Kandidaten gibt, der es ernst meint. Ernst genommen wird er vermutlich nicht, weil es nämlich eine Frau ist. Eine Frau! Will! In! Schwäbingen! Bürgermeisterin! Werden!«

Er lachte drei Minuten über seinen eigenen Witz, der keiner war. Drei Minuten, und Lukas saß bloß da und lächelte verkrampft. Helmut, der amtierende Bürgermeister, lachte auch nicht.

»Und dann noch aus Norddeutschland. Hat gerade in Ludwigsburg den Bachelor zum gehobenen Verwaltungsdienst gemacht. Eine Anna Freitag. Junger Hüpfer, Ende zwanzig. Beste ihres Jahrgangs. Wird ihr nichts nutzen gegen einen alten Hasen und vierundzwanzig Jahre erfolgreiche Arbeit.« Er prostete Helmut zu, der sich mit einem knappen Nicken bedankte. »Trotzdem. Wir wollen kein Risiko eingehen. Du weißt, was du zu tun hast?« Er machte eine Pause. »Und wofür du bezahlt wirst.« Lukas schwieg. Natürlich wusste er, was von ihm erwartet wurde.

»Ganz oifach. Du schreibsch die kabudd«, sagte Helmut und grinste.

 

Lukas starrt immer noch auf seinen Laptop. Kaputt schreiben. Das heißt im Klartext, er soll Annas Kampagne, ja, sogar ihre Karriere beenden, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat. Er soll ihre Hoffnungen zerstören. Ist es das, was er vor ein paar Monaten unterschrieben hat? Aber er konnte doch nicht ahnen, dass Anna auftauchen würde! Normalerweise wäre die Wahl einfach durchgelaufen, Helmut Bartholomä hätte im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit bekommen, zack, fertig. Und damals stand Lukas mit dem Rücken zur Wand. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass das Ende seiner Ausbildung an der Journalistenschule in München, die renommierteste Einrichtung ihrer Art, mit dem Höhepunkt der Pandemie zusammenfiel! Sein Abschluss war damit praktisch wertlos geworden. Man bot ihm eine Stelle bei einem kommerziellen Radiosender an, aber Lukas wollte unbedingt zur Zeitung. Das war schließlich von Anfang an sein Ziel, und es ist das, was er am besten kann. Er bewarb sich bestimmt hundertmal. Es kamen nur Absagen, überall wurden Stellen abgebaut, wegen zurückgehender Werbeeinnahmen und weil immer weniger Menschen bereit waren, für eine Zeitung zu bezahlen, wenn man doch fast alles im Internet umsonst nachlesen konnte. Man bescheinigte ihm eine herausragende Ausbildung, Talent und eine gute Schreibe, aber es gab einfach keine Jobs. Er war fertig. Fertig und pleite. Er hatte sein ganzes Geld, seine ganzen Ersparnisse in die zehnmonatige Ausbildung gesteckt. München war teuer. Er hätte damals versuchen können, den Opa anzupumpen, aber der hat ja auch nicht viel. Glaubt Lukas wenigstens. Und selbst wenn, das wäre nicht okay gewesen, findet er. Seinen eigenen Opa anzupumpen!

Und dann bekam Lukas den Anruf von Werner. Werner Schelkle, Geschäftsführer von Miss Nightingale, dem größten Arbeitgeber in Schwäbingen, dem Ort, in dem Lukas aufgewachsen ist und der ihm vor ein paar Jahren zu eng geworden ist. Er produziert Unterwäsche, die man für ein paar Euro bei Lidl oder Aldi kaufen kann. Wegwerfware, die kaum eine zweite Wäsche übersteht, aber gekauft wird wie blöd, weil sie sexy ist, und auch in großen Größen erhältlich. Sexy Wäsche für die schwäbische Hausfrau, das ist Werner Schelkles Erfolgsrezept. Stringtanga unterm Kittelschurz, der radikale Gegenentwurf zu Trigema, aber auch vor Ort produziert und nicht in Bangladesch hergestellt. Sie hatten sich nie zuvor persönlich getroffen, Lukas und Werner Schelkle, und Lukas hatte nicht die geringste Ahnung, woher der Schelkle seine Nummer hatte, oder wieso er überhaupt wusste, dass es Lukas gab, und dass er dringend einen Job suchte. Aber nur einen Tag später fand sich Lukas das erste Mal auf dem Freischwinger wieder. Bei diesem ersten Treffen in der Bibliothek von Schelkles Villa war Helmut nicht dabei. Dass der Schelkle und der Bürgermeister dickste Kumpel waren, dass sie schon vor Jahren einen Pakt geschlossen hatten, dessen einziges Ziel es war, in Schwäbingen die Strippen zu ziehen und alle politischen und wirtschaftlichen Gegner auszuschalten, das war Lukas zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Auch nicht, dass Helmut die Marionette von Werner war.

Helmut Bartholomä, der Bürgermeister, hatte Werner Schelkle, den Unterhosenfabrikanten, in den Ort geholt, nicht weil er Jobs schaffen, sondern weil er seine Position stärken wollte, nur war seither Werner der eigentliche Chef. Was der Helmut natürlich nicht kapierte, weil der Werner viel zu schlau für ihn war. Der ließ ihn im Glauben, dass er der große Macker war, und zog im Hintergrund die Strippen. Lukas hat manchmal den Eindruck, dass er der Einzige ist, dem das auffällt. Es ist unfassbar. Aber selbst wenn ihm das alles vorher klar gewesen wäre, hätte es etwas an seiner Entscheidung geändert? Werner bot ihm einen gut bezahlten Job auf dem Silbertablett an, und er war verzweifelt und brauchte dringend Geld. Er ließ sich einwickeln. Und so marschierte er mit einem unterschriebenen Vertrag in der Tasche und dem Knurren des Schäferhundes im Ohr aus der Villa.

Natürlich weiß er, dass es ein Pakt mit dem Teufel ist. Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, und Werner Schelkle bestimmt die Richtlinien des Schwäbinger Boten. Und irgendwie auch die der Schwäbinger Politik. Lukas liefert ihm jeden Tag eine Zeitung, die vor Erscheinen von ihm zensiert wird. Toll ist das nicht, aber das ist schließlich alles nur vorübergehend. Ein Sprungbrett. In spätestens einem Jahr ist er weg.

 

»Schwäbingen zeigt Anna Freitag die kalte Schulter«, tippt Lukas als Überschrift. Ja, er weiß, was er zu tun hat. Und es wird noch viel schwieriger werden als gedacht. Weil Lukas Anna Freitag zwar nur wenige Minuten auf dem Marktplatz erlebt hat, aber das hat gereicht. Seine Menschenkenntnis trügt ihn nur selten. Sie mag vielleicht aussehen wie ein unschuldiges Engelchen mit ihren blonden Locken unter dem albernen Mützchen, diese Anna, aber das bedeutet bei Weitem nicht, dass sie nicht durchsetzungsfähig ist. Und nicht nur das. Anna Engel, nein, Anna Freitag würde, wenn man ihr nur eine faire Chance gäbe, eine ganz großartige Bürgermeisterin abgeben. Dann hätte es ein Ende mit Vetterleswirtschaft und Gemauschel. Lukas hat nur eine leise Ahnung davon, wie Schwäbingen dann aussehen würde, aber er ist sich ziemlich sicher, es wäre ein freundlicherer, glücklicherer Ort auf dieser durchgeknallten Erde, wenn es einen Engel als Bürgermeisterin hätte. Und seine Aufgabe ist es, genau dies zu verhindern.

Es wird nicht einfacher werden mit dem Schlafen.

3. Kapitel

In dem Anna sich zuerst selbst bemitleidet, dann mit dem Straßen- und Häuserwahlkampf beginnt und einen kleinen Schock erleidet

Anna ist nicht stolz drauf, dass sie nach dem Fiasko auf dem Marktplatz geheult hat wie eine Dreijährige, der man im Sandkasten das Förmchen weggenommen hat. Erst am Telefon mit ihrer Mutter, dann im Zoom-Meeting mit den Mädels vom FAWB. Dabei ist Anna alles andere als eine Heulsuse. Das letzte Mal geheult hat sie, als sie Lennart und Marie in Hamburg ertappt hat. Vor Wut. Das ist jetzt immerhin schon vier Jahre her. Seither keine einzige Träne, nichts. Jetzt aber fließt die Enttäuschung aus ihr heraus wie aus einem Wasserhahn und lässt sich nicht stoppen. Leider haben weder ihre Mutter noch die Mädels Mitleid mit Anna. Im Gegenteil. Sie reden ihr unabhängig voneinander sehr streng ins Gewissen, dass sie sich gefälligst zusammenreißen soll.

»Anna! Du bist eine Freitag«, hat ihre Mutter sehr energisch gesagt. »Freitags flennen nicht, sie kämpfen. Hast du mich jemals heulen sehen?«

»Wetten, da hat der olle Bürgermeister seine Finger im Spiel«, hat Alina bissig gesagt, »oder der Unterhosenunternehmer. Vielleicht sogar beide? Die haben den Leuten bestimmt eingeflüstert, sie sollen daheim bleiben. Davon lässt du dich doch nicht beeindrucken! Wieso coachen wir dich eigentlich seit Wochen? Damit du beim ersten Rückschlag anfängst zu flennen?«

»Glaubst du etwa, ein Mann würde so rumjaulen?«, hat Miriam streng gesagt. »Der würde das schlechte Wetter verantwortlich machen. Aber weil du eine Frau bist, denkst du, es liegt an dir, und zerfleischst dich!«

Sie haben ja recht.

Sie hat ihnen auch von diesem schrecklichen Lukas von der Lokalzeitung erzählt, der so unerträglich arrogant ihr gegenüber aufgetreten ist und alles noch viel schlimmer gemacht hat. Natürlich fanden Alina und Miriam sein Macho-Gehabe unmöglich, was Anna extrem guttat. Alina hat ihr dann später noch eine WhatsApp geschickt.

»Ich habe ein bisschen recherchiert, und rat mal, was dabei rausgekommen ist. Stell dir vor, die Zeitung gehört dem Unterhosenfabrikanten! Damit ist doch alles klar!«

Ja, jetzt ist Anna alles klar. Lukas wird dafür bezahlt, sie fertigzumachen. Der Unterhosenfabrikant weiß ganz genau, dass sie ihn als Bürgermeisterin zwingen würde, Abwassertestergebnisse vorzulegen und seine Produktion umweltfreundlicher zu machen. Ihre Kandidatur ist erst seit wenigen Tagen öffentlich, er muss also schon vorher direkt aus dem Rathaus erfahren haben, dass sie sich bewirbt, und dann hat er seinen Zeitungsjungen entsprechend instruiert. Das wiederum bedeutet, dass der Bürgermeister und der Unterhosenkerl unter einer Decke stecken, was nicht besonders erstaunlich ist. Viel erstaunlicher ist, dass sich dieser Lukas auf so einen miesen Deal eingelassen hat. Der ist doch jung, ungefähr in ihrem Alter, und er passt nicht zu diesen korrupten weißen alten Männern. Wenn sie sich unter anderen Umständen kennengelernt hätten, hätte sie ihn vielleicht sogar ganz nett gefunden. Auch wenn sie es total albern findet, wenn jemand mit Bart, dick umrandeter Brille und Mützchen voll das Hipsterklischee bedient. Aber viel schlimmer ist ja, wie der sich aufgeführt hat! Der kommt wohl nicht damit klar, dass sich eine Frau als Bürgermeisterin bewirbt! Es macht sie unendlich wütend. Aber Miriam hat recht, ein Mann würde garantiert nicht heulen und sich über Lukas aufregen. Er würde einfach weitermachen, völlig unbeeindruckt.

Am meisten geärgert hat sie sich darüber, dass Lukas sie als Weihnachtsengel bezeichnet hat. Das ist so was von sexistisch und total nicht auf der Sachebene! Leider ist das auch nichts Neues. Seit Anna denken kann, wird sie mit einem Engel verglichen. Das hat sie schon als Kind wahnsinnig genervt. Weil es so wenige Kinder auf Hooge gab, musste jedes einzelne beim Krippenspiel in der Hooger Kirke antreten. Da wurde man erst gar nicht gefragt. Die meisten Kinder freuten sich darauf, Anna dagegen hasste es. Jedes Jahr bettelte sie, einmal, nur einmal einen Hirten oder den Esel spielen zu dürfen, aber keiner der Pfarrer, Organisten oder sonstigen Erwachsenen, die über die Jahre hinweg das Krippenspiel mit den Hooger Kindern einstudierten, ließen Anna etwas anderes spielen als einen Engel. Man musste ihr nur ein weißes Leintuch umhängen, ein Paar Flügelchen dranpappen und ein Sternchen aus Goldfolie an ihren blonden Löckchen befestigen, schon sah sie aus wie ein Engelchen. So putzig, dass die Feriengäste, die an Heiligabend zum Gottesdienst in die Halligkirche kamen, Entzückensschreie ausstießen. »Nein, was für ein süüüßes Kind! Wie ein echter Engel!« Und dann wurde sie fotografiert. An Heiligabend war Anna definitiv das gefragteste Foto- und Handymotiv auf ganz Hooge. Die Leute fragten nicht mal, ob das okay war, und ihre Eltern ließen es einfach zu, weil sie nicht unhöflich sein wollten. Eigentlich hätte Anna die Hand aufhalten müssen.

Anna legte nicht den geringsten Wert drauf, süüüß zu sein. Mit sechs klaute sie das Brotmesser aus der Küche und säbelte sich die Locken ab. Es sah grausam aus, und ihre Mutter war schrecklich böse, vor allem wegen des Messers. »Du hättest dir aus Versehen die Kehle durchschneiden können!« Sie hielt es für die beste Strafe, erst Wochen später mit Anna zum Friseur aufs Festland zu fahren. Anna konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben himmlische Ruhe, weil sie aussah wie ein gerupftes Huhn. Endlich rasten mal keine Touristen und Tagesgäste auf sie zu, um ihr den Kopf und die Locken zu tätscheln, als sei sie ein Tier im Zoo.

»Peter, guck doch mal, wie süüüß! Ein echtes Halligkind! Es sieht aus wie ein Engelchen!«

Als junge Erwachsene hatte sie es dann mit einer Kurzhaarfrisur versucht, aber da standen ihre Haare in alle Richtungen ab. Sie sah aus wie ein Igelball. Nun trägt sie einen kinnlangen Bob, um etwas weniger engelmäßig rüberzukommen. Es hilft nur bedingt, wie man an Lukas’ Reaktion gesehen hat. Was soll sie machen, schließlich kann sie sich schlecht die Nase vergrößern und die Locken glätten lassen. Okay, sie sieht also süüüß aus und ist außerdem noch nett. Aber sie ist bestimmt kein Weibchen, das wegen seines Aussehens gewählt werden will, dafür trägt sie viel zu schlabbrige Klamotten. Sie weiß ganz genau, was sie will, und sie wird darum kämpfen. Hätte sie sich vielleicht sonst Schwäbingen ausgesucht, um Bürgermeisterin zu werden? Es gibt sicher einfachere Orte und leichtere Gegner als einen Amtsinhaber, der seit vierundzwanzig Jahren unangefochten wie ein König regiert. Genau diese Herausforderung hat Anna gereizt. Wenn man sie wegen ihres Aussehens für schwach und nicht durchsetzungsfähig hält, umso besser. Sollen die Leute sie ruhig unterschätzen. So wie dieser Lukas. Sie wird jedes Mal von Neuem wütend, wenn sie an die Begegnung mit ihm denkt.

Anna wird weitermachen, als hätte es den missglückten Auftakt nicht gegeben, und den Nachmittag mit Häuserwahlkampf verbringen. Wenn die Leute nicht zu ihr kommen, dann wird sie eben zu ihnen gehen. Aber erst muss sie noch ein paar Stunden arbeiten. Sie hat die Praxisphase ihres Studiums bei der Stadt Konstanz auf dem Hauptamt absolviert. Die haben sie gar nicht mehr gehen lassen wollen, und jetzt arbeitet Anna noch immer auf Stundenbasis online für das Personalamt. Sie verfasst Stellenausschreibungen und sichtet Bewerbungen. Sie ist ganz froh, dass auf diese Weise während ihres Wahlkampfes wenigstens ein bisschen Geld reinkommt. Anna arbeitet schnell und konzentriert. Zumindest die ersten Stunden. Dann wird sie immer langsamer. Ihr graut davor, von Haus zu Haus zu gehen! Man wird ihr die Tür vor der Nase zuschlagen. Davor werden sie einen schwäbischen Kommentar loslassen, den sie nicht versteht. Obwohl Anna schon seit fast vier Jahren in Süddeutschland ist, tut sie sich schwer mit dem Dialekt. In Konstanz war es nicht so schlimm, da kam sie ganz gut klar, denn es gab viele Leute, die wie sie aus anderen Ecken Deutschlands oder aus dem Ausland kamen und Hochdeutsch sprachen.

Aber in Schwäbingen ist der Dialekt ziemlich ausgeprägt. Nomen est omen! Viele Leute scheinen gar kein Hochdeutsch zu können. Die Verzweiflung, die immer noch gemütlich und selbstgerecht in Annas Herzen hockt, grinst breit, weil sie Oberwasser hat. Außerdem kann sie Schwäbisch. Des schaffsch du nie, Mädle, flüstert sie. Anna wird jetzt sauer auf sich selbst. Du bist eine Freitag, hat ihre Mutter gesagt. Freitags heulen nicht, sie kämpfen. Wenn sie sich nicht mal traut, Häuserwahlkampf zu machen, wie will sie dann hier als Bürgermeisterin bestehen? Sie sagt der Verzweiflung, sie solle gefälligst verschwinden (was die leider nicht besonders beeindruckt), und konzentriert sich auf die Arbeit. Nach einer weiteren Stunde klappt sie den Computer zu und holt tief Luft. Sie schlüpft in ihre Hanfschuhe, zieht eine dünne Baumwolljacke an und hängt sich die Umhängetasche mit ihren Flyern und den Schirmkappen um. Natürlich setzt sie auch selbst eine auf. Und ihr Lächeln. Das wird ihr vermutlich spätestens dann im Gesicht festfrieren, wenn sie sich die Zeitung von heute besorgt.

Jetzt ist sie erst einmal froh, dass sie dem dunklen Zimmer entkommt, das ihr die schwäbische Vermieterin nur deshalb für ein paar Wochen überlassen hat, weil sie niemanden gefunden hat, der längerfristig mieten will, was Anna überhaupt nicht wundert, weil das vollmöblierte Appartement offensichtlich als Abstellkammer für hässliche alte Schränke und Kommoden dient. Jedes Mal, wenn Anna aus dem Haus geht, geht im Parterre die Wohnungstür der Vermieterin ein kleines Stück auf.

 

Kurz nach zwei läuft sie durch die kleine Fußgängerzone von Schwäbingen, mit Cap, Tasche und dem festgetackerten Lächeln. Hier wird sie anfangen. Gestern Abend war hier alles wie ausgestorben, nun herrscht auf einmal reger Betrieb zwischen Bäcker Nr. 1, Metzger Nr. 1, Metzger Nr. 2, dm-Markt, Apotheke, Bäcker Nr. 2, Blumenladen, Bankfiliale, Dönerimbiss, Café und dem Zeitungslädchen mit Paketshop und Schreibwaren. Heißt das etwa, die Leute fühlen sich abends nicht sicher? Oder liegt es an der mangelnden Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum außerhalb der Ladenöffnungszeiten? Das muss sie rausfinden.

Jetzt sind hier viele Mütter mit Kindern unterwegs, außerdem ältere Leute, dazwischen ein paar Halbwüchsige in schwarzen Klamotten und mit Punkfrisuren, die rauchend und mit Bierflaschen in der Hand an einem Mülleimer lehnen und offenbar nicht wissen, wohin mit sich. Da fehlt ein Freizeitangebot, ganz klar! Eine Frau mit Kinderwagen kommt Anna entgegen, sie streckt ihr einen Flyer und eine Kappe hin.

»Schönen guten Tag! Ich bin Anna Freitag, und ich möchte Bürgermeisterin von Schwäbingen werden! Haben Sie Lust, sich kurz mit mir zu unterhalten?« Ihre Stimme klingt gut, findet sie. Enthusiastisch, aber nicht aufdringlich. Die Frau starrt sie bloß an, als habe sie ein Alien getroffen, ihre Augen sind weit aufgerissen. Dann schüttelt sie den Kopf, murmelt etwas von »koi Zeit« und eilt weiter, ohne auch nur den Flyer mitzunehmen. Na toll, denkt Anna frustriert. Als Nächstes kommen ein paar Frauen im Rentenalter, sie laufen gemächlich nebeneinander und unterhalten sich im breitesten Schwäbisch. Für Anna klingt es wie Chinesisch, trotzdem sagt sie brav ihr Sprüchlein auf. Die Frauen bleiben stehen. Das ist doch wenigstens ein Anfang, denkt Anna.

»Wer send Sie?«, sagt die erste.

»Was wellad Sie?«, sagt die zweite.

»Mädle, lass bleiba!«, sagt die dritte.

»Dr Helmut isch dr Helmut isch dr Helmut!«, sagt die erste und läutet damit die zweite Runde ein. Sie schauen sich an, wackeln mit den Köpfen und sagen »Ha wa!« und »Gell!« und »Ha noi!«. Chinesisch, ganz klar. Das geht eine ganze Weile so. Offensichtlich haben sie Anna völlig vergessen. Sie will eigentlich schreiend davonrennen. Stattdessen räuspert sie sich laut und fragt: »Darf ich Ihnen mein Wahlprogramm vorstellen?«

Die Rentnerinnen seufzen schwer und setzen ihren Weg fort, ohne Anna auch nur zu antworten. Immerhin haben sie die Flyer mitgenommen. So geht es weiter. Die Leute runzeln entweder die Stirn, oder ihre Augen weiten sich vor Schreck, oder sie drehen sich panisch in alle Richtungen um, als würde sie jemand bei etwas Verbotenem ertappen. Dann hasten sie an Anna vorbei. Niemand lässt sich auf ein Gespräch ein. Was herrscht denn hier für ein Klima, denkt Anna, das ist ja noch viel schlimmer als gedacht! Und wie soll sie Wahlkampf machen, wenn niemand auch nur mit ihr redet? Und dann taucht plötzlich Lukas auf. Ausgerechnet! Er biegt um die Ecke und läuft geradewegs auf sie zu, aber er unterhält sich dabei angeregt mit einem noch viel größer gewachsenen Mann und schaut nicht in ihre Richtung. Das muss jetzt wirklich nicht sein. Wenn er sie sieht, macht der Kerl gleich das nächste fiese Foto! Anna Freitag macht Wahlkampf mit sich selbst! Sie ist nur ein paar Meter weg vom Zeitungsladen, stürzt hinein und versteckt sich hinter dem Zeitungsständer. Vorsichtig späht sie hinaus und hofft, dass die Zeitungen sie verbergen. Lukas marschiert eine Sekunde später draußen vorbei, ins Gespräch vertieft, und Anna ist sich ziemlich sicher, dass er sie nicht gesehen hat. Sie seufzt tief auf vor Erleichterung. Die Erleichterung hält so lange an, bis ihr Blick auf die Zeitung fällt, die direkt vor ihrer Nase klemmt. Dann verwandelt sie sich in Entsetzen. Es ist, als ob Anna in einen Spiegel schaut, denn sie sieht sich selbst, in Großaufnahme, vorne, auf dem Schwäbinger Boten, und sehr allein.

4. Kapitel

In dem wir Martin Sickinger kennenlernen, Lukas sich bei der feierlichen Ehrung des zwanzigtausendundersten Bürgers von Schwäbingen in Grund und Boden schämt und die drei Kerle von der Stadtkapelle einen großen Auftritt haben

Natürlich hat Lukas Anna gesehen, aber er hat sich nichts anmerken lassen. Sie hat es schließlich auch so schon schwer genug. Wahrscheinlich kauft sie gerade bei Davut die Zeitung und starrt genau in diesem Augenblick auf ihr Bild. Übelkeit steigt in Lukas hoch, als er sich vorstellt, was für einen Schock das bei ihr auslösen muss. Reflexartig hält er sich die Hand vor den Mund und hustet, um nicht zu würgen.

»Älles in Ordnung, Lukas?«, fragt Martin Sickinger, der neben ihm herstapft, leutselig. Wobei er mehr so über ihm schwebt. Lukas ist nun wirklich nicht klein, aber Sickinger ist 2,05 Meter groß und so stolz drauf, als sei es sein eigener Verdienst. Alle, die kleiner sind als er, sind irgendwie selbst dran schuld. Findet er jedenfalls.

»Alles gut«, antwortet Lukas und versucht, lässig zu wirken.

Sie haben sich zufällig getroffen auf dem Weg ins Rathaus zum Pressetermin. Sickinger geht mittags immer heim und lässt sich bekochen, was nicht ungewöhnlich ist in Schwäbingen, wo die schwäbische Hausfrau noch das tut, was man von ihr erwartet, zumindest im Umfeld von Helmut Bartholomä. Martin Sickinger ist sein Erster Beigeordneter. Dabei ist Sickingers Frau gar keine Schwäbin, sondern Thailänderin. Er hat sie aus dem Urlaub mitgebracht und sie geht ihm bis zur Hüfte. Drei alte Frauen stehen mitten in der Fußgängerzone und scheinen nicht zu merken, dass sie den Weg versperren. Sie halten Flyer in der Hand, die ganz offensichtlich von Anna stammen, und reden wild durcheinander.

»Sie hot doch nett ausgsäh.«

»Aber viel z’jong.«

»Die hot koi Chance.«

»Mr muss ihr halt oine gäba!«

»Die soll lieber Kendr kriega!«

»Außerdem isch se vo Norddeitschland!«

»Ond Schwäbisch kah se au net.«

»Des kah se lerna!«

So geht es weiter. Die Frau, die Anna eine Chance geben will, wird von den anderen beiden zugetextet. Martin Sickinger dreht sich noch mal um, als sie an den Frauen vorbei sind, und grinst.

»Keine Chance«, murmelt er. »Des Mädle hat keine Chance. Schon gar nicht mit unserem subbr Lokalreporter.« Als er das sagt, wird es Lukas schon wieder schlecht, und dann haut ihm Martin auch noch jovial auf die Schulter, so heftig, dass Lukas fast in die Knie geht. Er reibt sich die schmerzende Stelle. Martin Sickinger hat beim letzten Ironman auf Hawaii einen mehr als respektablen dreihundertvierundneunzigsten Platz von insgesamt knapp fünfhundert deutschen Teilnehmern geschafft und ist dafür selbstredend vom Bürgermeister im Rathaus geehrt worden. Lukas hat ausführlich darüber im Schwäbinger Boten berichtet.

Sickinger ist Ende vierzig, besteht nur aus Muskeln und trainiert fünf- bis sechsmal die Woche, was zusammen mit seinen ausgedehnten Mittagspausen ein kleines Licht darauf wirft, wie viel Zeit ihm dann noch fürs Rathaus bleibt. Natürlich kennen sie sich von früher (es gibt praktisch niemanden in Schwäbingen, den Lukas nicht von früher kennt). In seiner Schulzeit hat Lukas Handball im SV Schwäbingen gespielt, und Sickinger war der Trainer. Erst Jahre später, als die Missbrauchsskandale in den Kirchen ans Tageslicht kamen, ist Lukas ins Grübeln gekommen, warum der Martin nach dem Training eigentlich immer in der Umkleide aufgetaucht ist. Damals war es ihm normal vorgekommen, dass er lässig am Türrahmen lehnte, während sich die Mannschaft – alles Jungs zwischen vierzehn und siebzehn – duschte und umzog.

Sie sind jetzt am Marktplatz angekommen, Sickinger hält Lukas die Tür zum Rathaus auf, einem hübsch renovierten Fachwerkhaus. Die alte Holztreppe hinauf in den ersten Stock knarzt.

»Diese Ehrung heute …«, Lukas bemüht sich um einen lässigen Plauderton, »war die eigentlich schon länger geplant?« Sickinger lacht laut heraus. Es ist einfach unfassbar, wie naiv dieser Lukas ist. Das ist auch der Grund gewesen, warum er Werner Schelkle auf ihn aufmerksam gemacht hat, als der eine Marionette für die Lokalzeitung suchte. Lukas weiß nichts davon, er denkt vermutlich, Schelkle habe ihn wegen seiner tollen Schreibe engagiert. Super Lokalreporter? Der Kerl ist ein blutiger Anfänger und so wunderbar einfach zu manipulieren. Vor ein paar Monaten hat Martin zufällig von Jessica gehört, dass Lukas dringend einen Job braucht, und er wusste, dass Werner mit ihm leichtes Spiel haben würde. Deswegen hat er die beiden zusammengebracht. Noch immer ist er stolz auf seinen Coup. Von der kleinen Vermittlungsgebühr, die ihm der Werner diskret hat zukommen lassen, hat er sich eine neue Leder-Sofalandschaft gekauft.

»Länger geplant? Ha noi. Das haben wir uns letzte Woche beim Werner und beim Whisky ausgedacht, der Helmut und ich. Das ist bloß wegen dieser Anna.« Er lacht laut und hämisch. Es gibt wenige Dinge, die Martin Sickinger so viel Spaß machen, wie Lukas Allgöwers naives Weltbild zu erschüttern. Dem stehen seine Gefühle einfach immer ins Gesicht geschrieben. Das war früher beim Handballtraining schon so, und es hat sich nichts daran geändert, bis heute. Er ist zwar älter geworden – und sieht immer noch gut aus, sein Hipsterlook gefällt ihm –, aber offensichtlich kein bisschen erwachsen.

»Aber was hat denn die Einwohnerzahl mit der Wahl zu tun?«, fragt Lukas verwirrt.

»Wenn du dich mit Kommunalwahlrecht auskennen tätest, wüsstest du, dass man ab dem zwanzigtausendundersten Einwohner fünfzig Unterstützungsunterschriften sammeln muss, wenn man Bürgermeischder werden will. Der Amtsinhaber isch davon natürlich ausgenommen. Das wird dieses Mädle sicher nicht aufhalten, aber sie hat ein bissle mehr Arbeit. Ein Stein mehr im Weg.« Lukas scheint noch immer nicht zu begreifen, dass das Ganze ein Spiel ist, denkt Martin. Ein Spiel um die Macht. Eine Art Mensch-ärgere-dich-nicht, für das bei einem Glas altem Whisky in der Villa von Werner Schelkle die Regeln aufgestellt werden, während es nach außen hin so scheint, als gäbe es nur das Rathaus, und alles ginge mit rechten Dingen zu. Es geht gar nicht um diese Anna als Person. Die ist nur eine Schachfigur, die es hinauszukicken gilt. Auch Lukas ist nur eine Schachfigur, die hin- und hergeschoben wird, so, wie es Martin, Helmut und Werner passt.

»Ja, aber haben wir denn nun mehr als zwanzigtausend Einwohner in Schwäbingen oder nicht?«

»Ach, das muss man doch nicht so genau nehmen!«, ruft Sickinger vergnügt. »Einer hin oder her! Kann doch sowieso keiner beweisen! Das ischt halt der Trottel, der wo als Letzter zugezogen ist!« Bauernschläue. Man gibt sich ein bisschen dümmer, als man ist. Er hat gelernt, dass man damit weit kommt im Leben. Damit, und mit einer Körpergröße von 2,05 Metern, die alle Leute um einen herum wie mickrige Würstchen aussehen lässt. Selbst Lukas ist letztlich nicht viel mehr als ein mickriges Würstchen. Eine Marionette, die sie tanzen lassen, wie es ihnen passt. Natürlich ist Schwäbingen nicht die Bühne der großen, weltbewegenden Politik. Mit deren Ränkespielen hätte Martin Sickinger auch nicht mithalten können, da macht er sich gar keine Illusionen. Aber für Schwäbingen reicht es allemal. Es reicht auch für Helmut Bartholomä. Der ist nicht einmal bauernschlau, sondern schlicht und ergreifend strunzdumm. Was wiederum bedeutet, dass er ihn manipulieren kann. Der Schelkle denkt natürlich, er wäre der Strippenzieher, und Martin lässt ihn in dem Glauben. Aber er, der Martin, ist viel näher an seinem Chef dran, und der macht nichts, wirklich gar nichts, was er nicht will.

Lukas kann nicht fassen, dass sein alter Handballtrainer, den er eigentlich immer gern gemocht hat, im Bilde darüber ist, dass er Anna Freitag im Schwäbinger Boten fertigmachen soll. Und nicht nur das, offensichtlich nimmt er an den konspirativen Treffen in Werner Schelkles Villa teil, und dort ist man auf die tolle Idee gekommen, dass Schwäbingen einen Einwohner mehr hat, nur, damit die Herausforderin fünfzig Unterschriften von Wahlberechtigten sammeln muss? Das wird Anna zwar sicher hinkriegen, aber es bedeutet für sie natürlich eine zusätzliche Hürde. Geht es wirklich nur drum, Anna Freitag eins reinzuwürgen, oder ist sich Helmut Bartholomä vielleicht gar nicht so sicher, dass er wiedergewählt wird, und er spielt deshalb solche Kinderspielchen? Wenn Lukas bisher Zweifel daran gehabt hat, dass auch Martin Sickinger mit unter der dreckigen Decke steckt, dann sind die spätestens jetzt komplett ausgeräumt. Bei der Vorstellung, wie die drei das zusammen in der Villa ausgeheckt und sich dabei vermutlich prächtig auf Annas Kosten amüsiert haben, wird ihm zum dritten Mal schlecht.

 

Sie sind jetzt im ersten Stock, Sickinger klopft sehr bestimmt an das Vorzimmer des Bürgermeisters und marschiert hinein, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Die sind schon im Trauzimmer!«, ruft Jessica, die Sekretärin von Helmut Bartholomä. Es gibt im Rathaus zwar einen Festsaal, aber der wird nur für offizielle Anlässe mit mindestens fünfzig Personen benutzt, darunter muss das Trauzimmer herhalten. Lukas bleibt auf der Türschwelle stehen und winkt Jessi zu. Normalerweise arbeitet sie nur vormittags, wegen ihrer beiden kleinen Kinder. Offensichtlich ist sie extra wegen dieses besonderen Anlasses nachmittags gekommen.

»Hi, Lukas!« Sie winkt fröhlich zurück. »Subbr Artikel!« Sie kennen sich schon ihr ganzes Leben, Jessi und er. Sie war eine Klasse über ihm und ist nach der Mittleren Reife vom Gymi abgegangen, um eine Ausbildung bei der Stadtverwaltung zu machen. Mitte zwanzig heiratete sie Marcel Bäcker, den Sohn des Metzgers. Es wird Lukas auf ewig ein Rätsel bleiben, warum sie ihn zur Hochzeit eingeladen hat. Natürlich ist er nicht hingegangen. Schließlich hatte er gut fünf Jahre vorher mit ihr Schluss gemacht.

»Wann kommst du endlich mal vorbei? Du hast das neue Haus immer noch nicht gesehen.«

»Ach, im Moment ist einfach zu viel los, mit dem Wahlkampf und dem Opa und so«, murmelt er ausweichend.

Seit er Jessi vor ein paar Monaten wieder im Rathaus von Schwäbingen über den Weg gelaufen ist, drängt sie ihn, dass er sie und den Metzgerssohn, der natürlich vom Vater den Betrieb übernehmen wird, besucht. Er erfindet ständig Ausreden. Das liegt nicht daran, dass Jessi seine erste große Liebe war. Er hasst Einfamilienhäuser in Neubaugebieten, mag Marcel nicht besonders, kann mit kleinen Kindern nichts anfangen, und worüber würden sie reden? Über ihre Schulzeit, Schweinehälften, ihre Hamster – Jessi liebt Hamster – und was Helmut Bartholomä für ein toller Chef ist? Jessi himmelt ihn an. Lukas hat dazu eine Theorie. Die besteht darin, dass Jessi Helmut als Ersatzvater betrachtet. Jessis leiblicher Vater war der Oberförster von Schwäbingen. 1999 ist er beim Sturm »Lothar« von einem Baum erschlagen worden, als er im Wald nach dem Rechten sehen wollte. Man muss schon ganz schön blöd sein, um als Forstwirt beim Sturm schnurstracks in den Wald zu marschieren, findet Lukas, aber das sagt er natürlich nicht laut zu Jessica. In der Grundschule war sie nach dem Unfall von allen Lehrern mit Samthandschuhen angefasst worden. Das arme, vaterlose Kind! Helmut und seine Frau Elfriede waren mit Jessicas Eltern befreundet, und Elfriede holte Jessica nach dem Tod des Vaters oft zu sich nach Hause. Später schwärmten alle Jungs für sie, mit ihren langen braunen Haaren und ihrer tollen Figur, auch Lukas machte da keine Ausnahme. Die Figur hat sie immer noch, die Haare ebenfalls. Lukas hat immer bedauert, dass sie kein Abi machen wollte und in Schwäbingen hängen geblieben ist. Er war gierig auf Neues und wollte nichts wie weg zum Journalistikstudium, während sie fand, dass sie in Schwäbingen alles hatte, was sie brauchte – Familie, Freunde, Arbeit. Nur eben Lukas nicht. Eine Zeit lang fuhr er noch mit halbem Herzen von München hin und her, dann kam es zur endgültigen Trennung. Jessica heulte, aber Lukas ist sich sicher, das lag vor allem daran, dass er ihren Stolz verletzt hatte und sie lieber mit ihm Schluss gemacht hätte, und nicht umgekehrt. Er hat schon immer den Verdacht, dass sie mehr an Schwäbingen hing als an ihm.

 

Sie quetschen sich ins Trauzimmer. Das ist eigentlich schon voll, mit dem Bürgermeister, drei Mitgliedern der Stadtkapelle in blauen Uniformen und dem zu ehrenden zwanzigtausendundersten Bürger. Der ist wohl Referendar an ihrem alten Gymi, wie Jessi Lukas berichtet hat. Er scheint irgendwie peinlich berührt, reagiert nur mit einem Murmeln auf Lukas’ Gruß und wirkt kein bisschen so, als könne man mit ihm über ehemalige Lehrer tratschen. Einer der Musiker hat eine riesige Trommel vor dem üppigen Bauch hängen und füllt damit schon das halbe Zimmer. Die Traustühle sind zwar rausgeräumt worden, aber der große Tisch, hinter dem normalerweise der Standesbeamte sitzt, ist dringeblieben, und obendrauf liegt ein eingewickelter Blumenstrauß. Sie stehen so dicht an dicht, dass sie sich beinahe auf die Zehen treten. Martin Sickinger schüttelt Helmuts Hand, dann klopft er dem Referendar jovial und so kräftig auf die Schulter, dass der in die Knie geht, genau wie Lukas vorher. Er keucht kurz, sagt aber immer noch kein Wort und sieht ganz eindeutig so aus, als ob er jetzt lieber in der Wüste Gobi wäre als im Rathaus von Schwäbingen. Martin Sickinger zieht den Kopf ein und positioniert sich unter den Dachbalken. Er erinnert Lukas an einen Aasgeier.

»Der Größschte muss platzsparend unter die Schräge!«, poltert er.

»Subbr Artikel, Lukas«, raunt Helmut Bartholomä in Lukas’ Ohr. »Sodele«, sagt er dann laut. »Jetzt, wo alle da sind, können mir mit unserem Festakt anfangen. Leider haben bloß drei Kerle von der Stadtkapelle kurzfrischdig Zeit gehabt. Schön, dass wenigstens ihr gekommen seid!« Er nickt den drei Musikern zu. Den zu ehrenden Neubürger hat er offensichtlich komplett vergessen.

Die drei Kerle von der Stadtkapelle formieren sich mit ihren Instrumenten zu einem Halbkreis, was dazu führt, dass die anderen noch dichter stehen müssen.

»Ois, zwoi, drei, vier!«, skandiert der Trommler zackig und beginnt, die Trommel kräftig mit dem Schlegel zu bearbeiten. Entzückt lauscht er seinen eigenen Schlägen. Was heißt hier Schläge, denkt er, es ist die allersüßeste Musik in seinen Ohren. Das hier ist viel besser als das Feuerwehrhaus, wo sie normalerweise proben. Da bringt man nicht die Scheiben zum Klirren, so wie hier. Außerdem hat der Helmut jedem von ihnen fünfzig Euro versprochen, bar auf die Hand. Dafür hat sich der Trommler bei seinem Chef krankmelden müssen, so am helllichten Nachmittag, aber das kriegt der nicht mit, der Malerbetrieb ist im Nachbarort. Nun haben auch die beiden anderen eingesetzt und stehlen ihm damit ein bisschen die Show, aber er ist immer noch der Lauteste, obwohl der neue Beckenspieler, wie heißt der noch gleich, versucht, seine Becken so kräftig gegeneinanderknallen zu lassen, dass er die Trommel übertönt, und der Peter mit seiner Tuba seine Basslinie dazu prustet. Die Melodie fehlt, deshalb kommen sie mehr zur Geltung als sonst. Der Referendar ist offensichtlich ein Kunstbanause, denkt der Trommler, weil er so weit, wie es nur geht, zur Tür zurückgewichen ist und seinen Körper gegen die Tür und die Hände auf die Ohren presst. Wahrscheinlich erkennt er nicht einmal, was sie spielen, dabei ist es völlig offensichtlich, auch ohne Melodieinstrument. Der verdient doch gar keine Ehrung! Dieser Lukas von der Lokalzeitung guckt auch leicht gequält. Nur der Helmut und der Martin scheinen zu wissen, was für einem Kunstgenuss sie da beiwohnen, sie haben ganz rote Backen vor lauter Aufregung und klatschen begeistert mit. Gegen den Takt, aber immerhin. Ob sie’s erkennen, ob sie’s erkennen? Er wird gleich nachfragen.

»Foddo machen nicht vergessen, Lukas!«, brüllt Helmut. Lukas nimmt die Hände von den Ohren und macht brav Fotos. Viel erkennen wird man darauf nicht, weil es so eng ist, und es wird bescheuert aussehen, aber das ist nicht sein Problem. Der Referendar starrt jetzt sehr konzentriert auf seine Turnschuhe. Endlich hört die Kapelle auf. Was haben die drei da eigentlich gespielt?, fragt sich Lukas. Vielleicht hat auch jeder was anderes gespielt? Helmut und Martin scheinen sich nicht zu wundern.

»Hend ihr’s erkannt? Hend ihr’s erkannt?«, ruft der Trommler begeistert. »Des war –«

»… das war Jingle Bells!«, fällt ihm der Tubaspieler ins Wort. Spielverderber. »Wir dachten, wenn es jetzt schon Lebkuchen in den Supermärkten gibt, obwohl erst September ist, können wir auch ein Weihnachtslied spielen! Jingle Bells passt immer, vor allem für einen feierlichen Anlass wie diesen! Wir üben gerade für unser Konzert in der Stadthalle am ersten Advent.«

Die Tür wird abrupt aufgerissen, was zur Folge hat, dass der an ihr lehnende junge Referendar nach vorn katapultiert wird, gegen die Trommel kracht und zu Boden geht. Der Trommelspieler hilft ihm auf und klopft ihm dann auf die Schulter, sodass er wieder in die Knie sackt.

»Hallole, Sie send aber stürmisch!«, ruft der Trommler jovial. »Meine arme Trommel!«

»Darf ich kurz stören?«

Jessica ist es, die die Tür aufgerissen hat, sie bückt sich und hält dann ein Tablett mit Kaffeetassen, einer silbernen Thermoskanne und einem Korb voller Butterbrezeln in den Händen. Sie strahlt Helmut an. Helmut strahlt zurück. Die zwei haben sich echt gefunden, denkt Lukas.

»Bei ons gibt’s noch ganze Brezla, net bloß halbe wie früher beim Rommel in Stuttgart!«, ruft Helmut und lacht, als habe er einen großartigen Witz gemacht.

»Ich muss jetzt wirklich zurück in die Schule zum Nachmittagsunterricht«, murmelt der zwanzigtausendunderste Bürger von Schwäbingen. »Schönen Mittag noch.« Er stürzt zur Tür hinaus. Helmut zuckt mit den Schultern. »Dann kriegsch du halt seine Butterbrezel, Jessica. Und die Blumen hat er auch vergessen, die kannsch du in eine Vase tun und für die nächste Trauung hierlassen, dann sparen mir schon die zwanzig Euro für den Blumenschmuck. Und wollt ich ihm nicht eine Urkunde überreichen? Wie heißt der Kerle überhaupt?«

»Die Urkunde hatte ich dir auf den Tisch gelegt, Helmut. Übrigens hat gerade jemand angerufen und sich über die Lärmbelästigung aus dem Rathaus beschwert.« Jessica schenkt Kaffee ein, alle bedienen sich bei den Butterbrezeln.

Helmut winkt Lukas mit seiner Brezel zu und sagt verschwörerisch: »Dass der Referendar nur seinen Zweitwohnsitz hier hat, davon schreibsch nix, das gilt eigentlich net beim Einwohnerzählen. Aber im Krieg, in der Liebe und im Wahlkampf isch alles erlaubt! Oder?« Er sieht sich Beifall heischend um. Martin Sickinger, immer noch wie ein Aasgeier unter der Dachschräge eingeklemmt, nickt mehrmals enthusiastisch und scheint nicht zu merken, dass sein Hinterkopf dabei gegen den Dachbalken kracht, die drei Kerle von der Stadtkapelle feixen mit vollen Backen, und Jessica strahlt Helmut schon wieder an. Wie tief sind wir in Schwäbingen eigentlich schon gesunken?, denkt Lukas verzweifelt.

5. Kapitel

In dem Anna ihren ersten Freund in Schwäbingen findet, um sich gleich darauf einen gefährlichen Feind zu machen

Wie kann man nur so unfassbar tief sinken? Es ist nicht nur ein Foto, nein, es sind sogar zwei. Das erste nimmt fast die halbe Titelseite ein. Auf dem ist Anna in Großaufnahme zu sehen, die Augen weit aufgerissen wie ein verschrecktes Reh. Hat sie wirklich so geguckt, oder hat der widerliche Kerl das Foto nachbearbeitet? Darunter steht, als Artikelüberschrift, »Schwäbingen zeigt Anna Freitag die kalte Schulter«. Von Lukas Allgöwer. Lukas Kotzbrocken, denkt sie wütend. Dann folgt ein kurzer Artikel, den sie am besten gar nicht erst liest, überraschenderweise auch von Lukas Allgöwer, und drunter ein zweites Bild, auch von … Auf dem wirkt der Marktplatz so groß wie der Petersplatz, nur ohne die üblichen Menschenmassen, und sie selbst ist so klein wie eine Maus. Unter diesem Bild steht: »Niemand zeigt Interesse an der ersten Wahlkampfveranstaltung der Herausforderin.« Wer wird sie nach diesem vernichtenden Bericht überhaupt noch ernst nehmen? Sie faltet die Zeitung so zusammen, dass man die Titelseite nicht sieht, und reicht sie dem jungen Typ, der hinter der Theke des Zeitungsladens steht und sie neugierig mustert. Sie ist jetzt vor allem wütend. Sehr wütend.

»Das sind Sie, oder?«, sagt er, in einem für Schwäbingen auffallenden Hochdeutsch, klappt die Zeitung wieder auseinander und streckt ihr die Titelseite entgegen. Sie zuckt zusammen.

»Ja.« Mehr sagt sie lieber nicht, weil sie sonst komplett ausrastet. Sie starrt auf die Zeitung. Dann starrt sie den Typen hinter der Theke an und wappnet sich für eine saublöde Bemerkung. Er starrt nicht zurück. Er lächelt.

»Wollen Sie vielleicht einen Kaffee? Sie sehn aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«

»Einen Kaffee?« Sie schaut den Kerl ungläubig an. Zu gucken gibt es bei ihm einiges. Kräftig gebaut, dunkler Teint, Zwanzigerjahre-Schiebermütze, ein riesiger goldener Ohrring, und auf seinen ausgeprägten Oberarmmuckis sieht man vor lauter Tätowierungen keine Haut mehr. Sehen so etwa echte Schwaben aus? Eher nicht. Und er lächelt und bietet Anna einen Kaffee an! Ob sie ihm leidtut, wegen der Fotos? Egal. Der Kaffee ist die erste nette Geste überhaupt, seit sie nach Schwäbingen gezogen ist. Wahrscheinlich ist er im Plastikbecher und bestimmt nicht fair gehandelt, und eigentlich trinkt sie nur Grüntee aus biologischem Anbau, aber da muss sie wohl über ihren Schatten springen, ausnahmsweise.

»Kaffee wäre echt nett. Ich bin übrigens Anna.«

Er grinst. »Ich weiß. Ganz Schwäbingen weiß das. Auch wenn alle so tun, als ob sie dich nicht kennen. Ich bin Davut. Ich komme aus Türkei.« Er ahmt den typischen türkischen Akzent nach und grinst noch breiter. Sein Deutsch ist makellos, findet Anna, bestimmt ist er hier geboren. Obwohl er dann eigentlich Schwäbisch sprechen müsste.

»Den Kaffee mit Milch?«

»Ich trinke keine Kuhmilch«, sagt sie ausweichend. Das findet er jetzt sicher komisch. »Gerne schwarz, kein Zucker.«

»Ist Hafermilch okay?«