Chat - L. Lenz - E-Book

Chat E-Book

L. Lenz

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Beschreibung

Viele Dates, zweifelhafte Komplimente, Gespräche über Sex und was Männer wirklich wollen, gefolgt von praktischen Übungen zum Thema, rauschen an der 33-jährigen Alex vorbei, bis sie nach Monaten vor einem Stapel Rechnungen, verwelkten Zimmerpflanzen und einem nicht amüsierten Kater steht und eine simple Feststellung macht ... Unprätentiös und selbstironisch erzählt Alex aus ihrer Welt, die voller Selbstzweifel ist. Eine Geschichte über Entwicklung, Erkenntnisse und das Ausschöpfen von Potentialen. Alex, gefangen zwischen Laptop, Rotwein, den Liedern von Rosenstolz und einer Reihe von Onlinedates, versucht, sich selbst zu finden. Nicht nur ihr Herz und ihr Verstand haben den Blick für den richtigen Weg verloren, auch auf den Straßen in und rund um Köln fehlt so manches Mal die Orientierung.

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Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Die Personen und Handlungen der nachfolgenden Erzählung sind frei erfunden.

Sollten sich Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Handlungen ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten reiner Zufall und nicht beabsichtigt.

ONLINE

Guided by the senses

With a license to provide

„Bits“ of Low-Life to the senseless

You can be Jakyll or you can be Hyde

Enjoy the „secret service“

And the messages you‘ll get

Hope you can tell by the intention

Who‘s the spider in the „Net“?

Well, you‘ve got to meet me online

Disconnected for a long time

Well you got to meet me online

Download you for a lifetime

Today they won‘t use nails

Jesus would not be crucified

He would be choked by mails

„ ...I still love to touch you offline“ *

* Songtext ONLINE von DE | PHAZZ

Auf dem grandiosen Album DEATH BY CHOCOLATE

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

1

Noch zweihundert Kilometer Autobahn. Die Sonne war längst vom Himmel verschwunden, trotzdem kochte ich, nach einem hochsommerlichen Maitag, in meinem nichtklimatisierten 92er Corolla vor mich hin. Die schwarze, ärmellose Bluse, die ich mir gestern noch zusammen mit dem dunkelroten Slip gekauft hatte, klebte unangenehm an meinem Rücken. Außerdem spürte ich, muss eine Art weiblicher Instinkt sein, dass die Saugkraft meines Tampons ihr Limit erreicht hatte und eine blutige Katastrophe zu befürchten war, wenn ich nicht bald eine Toilette aufsuchen würde. Ist ja nicht so schlimm, wenn man eh auf dem Heimweg ist: Es gibt Waschmaschinen und Duschen lässt ein solches ‚Malheur’ schnell vergessen. Aber ich befand mich nicht auf dem Weg nachhause. Ich befand mich auf dem Weg von Köln, wo ich lebte, nach München, wo er lebte. Er, das war Adriano Saragozza.

Warum ich zu ihm fuhr? Eine lange Geschichte. Ich meine, wir kannten uns ja eigentlich nicht, oder zumindest sind wir uns noch nie begegnet. Ich kannte ihn nur aus dem Internet. Dennoch fuhr ich an diesem Mittwochabend exakt 576 km, laut Routenplaner, um ihn zu treffen. Dieter_2 war sein Nickname, langweilig, wie ich fand, der Nick. Ganz und gar nicht langweilig der Mann, der hinter diesem Nick stand. Der Mann, der knapp 600 Kilometer von Köln entfernt an seinem Rechner saß und mir täglich rotzfrech an den Kopf warf, ich sei ein Trotzkopf und er mir deshalb 33 Schläge mit seiner Peitsche auf meinen Po geben wollte, wenn wir uns begegneten. 33 Schläge, für jeden meiner Geburtstage einen.

Bis vor ein paar Tagen wäre ich mit 32 davongekommen, aber ich hatte inzwischen Geburtstag gehabt. Ich sage bewusst gehabt und nicht gefeiert. Es gibt da ein Foto von mir, ich wurde vielleicht elf oder zwölf, ein Kuchen steht auf dem Tisch und eine Menge Kinder sitzen an dem Tisch. Wenn dieses Dokument meiner Lebensgeschichte nicht vorhanden wäre, ich würde schwören, diesen Tag noch nie gefeiert zu haben. Man kann seinen Geburtstag nämlich sehr gut ignorieren. Ich hatte es inzwischen so weit gebracht, dass lediglich zwei Menschen mir gratulierten: meine Mutter und mein Lebensgefährte Jan. Dieses Jahr war es nur noch meine Mutter.

Ich vergaß: und die lieben Kollegen. Kennt man ja, die Sammelaktion, wenigstens einmal im Monat. Es gibt ein Geschenk und eine Karte mit den Unterschriften aller Kollegen. Selbst der Stillste organisiert für diesen Tag Leckereien und auf jeden Fall Sekt, um für eine halbe Stunde im Sozialraum – meist die ungemütliche Küche einer Firma – rumzustehen und sich damit für das meist öde Geschenk zu bedanken, zumindest in der Agentur, wo ich arbeitete, war das schon fast ein Muss. Ich hatte das noch nie getan, in den vier Jahren, die ich jetzt bei dieser Firma meinen Lebensunterhalt verdiente. Mir schleierhaft, warum meine Ignoranz diesem Tag gegenüber immer noch nicht respektiert wurde. Ich bekam eine Karte und ein Buch geschenkt. Design Annual 2001. Ein Fachbuch, denn ich bin Designerin. Die Karte enthielt eine Zeichnung von meinem Kollegen Christian. Er machte das für jedes Geburtstagskind und bemühte sich, immer einen für die Person charakteristischen Spruch beizufügen. Katja, aus der Programmierung, hatte er vor einer Woche in einem Kajak sitzend gezeichnet. Bei Eiseskälte und mit einem verbissenen Ausdruck im Gesicht. Das bezog sich auf ihre Irrsinnstat, aus meiner Sicht, über Silvester einen Zelturlaub mit Kajak zu machen.

Auf meiner Karte befand sich dieses Jahr eine Comiczeichnung von einer völlig aufgelösten Frau am Rechner sitzend. In der Sprechblase darüber stand, ganz puristisch in Großbuchstaben: OHJEE!!!, mit vielen Ausrufezeichen. Christian klärte mich auf, sie hätten lange überlegt, was für mich typisch sei. Ihm fiel nur mein entsetztes Ohjee, im Angesicht von kurzfristigen Projekten ein. Es gab mir zu denken. Konnte man mich einzig auf meinen Job reduzieren? Hatte ich denn abgesehen von Arbeiten keine Hobbys, über die man sich lustig machen konnte? Was wohl auf der Karte stehen würde, wenn er von meinem neu erwachten Privatleben wüsste? – Darüber wollte ich gar nicht erst nachdenken.

Doch ob ich nun 32 oder 33 Schläge von Adrianos Peitsche bekommen sollte, ist ohnehin egal. Vor allem, da ich eh nicht an seine Peitsche glaubte. Ich hielt ihn nur für halb so abgebrüht, wie er mir vormachte. Schließlich sagte er auch Po und nicht Arsch, wenn er mir erklärte, wie fest er zuschlagen und wie laut ich schreien würde, ihn anflehen würde aufzuhören. Doch er würde nicht aufhören und kein Mitleid haben, weil ich ein Trotzkopf sei und es genau so verdient hätte.

Ich ging davon aus, dass es vermutlich nicht mal annähernd zur Ausführung seiner sexuellen Phantasien, die er mir reichlich und sehr farbenfroh geschildert hatte, kommen würde. Ist schließlich nicht ganz dasselbe, von Mensch zu Mensch, statt anonym in den eigenen vier Wänden zu sitzen und von »Ich würde, wenn du jetzt bei mir wärst...«, zu reden.

Viel wahrscheinlicher erschien mir ein Szenario, in dem wir uns mehr oder weniger schweigend gegenübersitzen, heimlich auf die Uhr schauen und auf ein Wunder hoffen, welches dieses peinliche Etwas beenden würde. Er plante, mir die Klamotten vom Leib zu reißen und mich zu ficken, bis ich schreie. Haha. Ich glaubte ja inzwischen, Männer hören sich viel lieber über Sex reden – reicht denen schon, um richtig glücklich zu sein –, als ganz mutig zuzugreifen. Im allerhöchsten Fall würden wir uns nett miteinander unterhalten, vermutlich über mich.

Ein interessantes Thema für ihn, wie ich in den letzten Wochen feststellen konnte. Wir würden uns gepflegt verabschieden, ich suche mir ein Hotel, oder, wie ich mich kannte, fahre, noch bevor der Morgen graut, wieder nach Köln zurück. Möglicherweise übernachte ich ja in seinem Gästezimmer, aber in keinem Fall würde ich morgen früh neben ihm aufwachen, nackt, umhüllt vom Geruch nach Sex und Schweiß – nee. Doch was, wenn ich mich irrte?

Vierundzwanzig Uhr zeigte das Display meines Radios, als ich endlich das erlösende blaue Schild vor mir sah: Raststätte.

Nachdem ich getankt hatte, dabei schon merkte, wie mein Schritt vom Blut bedenklich warm wurde, parkte ich meinen Wagen nahe dem Restauranteingang.

Mitternacht: ein dunkler Parkplatz und jede Menge LKWs. »Du ziehst ein Kleid an, keinen Slip.« Spinner! Bin ich bescheuert? Ich fahre garantiert nicht nachts, halbnackt durch die Gegend, um dann auf einer Polizeiwache die lustigen Erlebnisse meiner Vergewaltigung wiederzugeben. Noch dazu, wo ich so überhaupt kein Kleidertyp bin.

Mein letztes Kleid war sonnengelb, gehäkelt, sehr kurz und das I-Tüpfelchen stellte die gelbe gehäkelte Unterhose, mit kunstvollen Rüschen am Popo, dar. Dank gilt in jedem Fall der häkelnden Tante und meiner Mutter, die mich mit dieser Schocktherapie möglicherweise für mein Leben geprägt hatten.

Dass ich diese Wahnsinnsfahrt nach München unternahm, war eine Sache, hatte lange genug gedauert, bis ich den Mut dazu aufbrachte, bedeutete in der Folge aber nicht, dass ich fatalistisches Heldentum zu meinem neuen Lebensmotto machen wollte. Meine Mutter hatte es mir von klein auf eingeimpft: »Geh niemals nachts alleine auf die Straße. Jeder Mann ist ein potentieller Serienkiller, mindestens aber ein Vergewaltiger.« Alleine der Weg zur Mülltonne gestaltete sich für mich damals schon zu einem nervenaufreibenden Thriller, bei dem ich regelmäßig mit dem Schlimmsten rechnete. Gehe ich heute, mit 33 Jahren, nachts auf einer einsamen Straße und höre Schritte hinter mir, schlägt mein Herz schon in Infarktnähe und ich kann nur noch daran denken, was ich im Falle eines Falles als Waffe einsetzen könnte. Meist fällt mir dann meine EC-Karte oder mein Schlüsselbund ein, mit dem ich dem Angreifer spektakuläre Wunden ins Gesicht ritzen könnte. Aber vielleicht habe ich einfach auch zu viele Krimis, zu viel Stephen King, in meinem Leben gelesen. Möglicherweise ist die Welt ja nur halb so gefährlich, wie ich sie mir in den letzten 33 Jahren zurechtgelegt hatte. Ich würde es herausfinden. Deshalb fuhr ich nach München. Mutprobe, über den eigenen Schatten springen, Grenzerfahrungen sammeln, um dann als neuer Mensch die Welt mit anderen Augen zu sehen und das Leben genießen zu können, statt mich selbst zu bedauern und darüber zu grübeln, was wohl die schmerzloseste Selbstmordmethode sein könnte.

Alle Sinne geschärft, darauf bedacht, einen selbstbewussten Blick nach vorne zu schicken, betrat ich den Flur der Raststätte. Links der Geruch nach altem Frittenfett, rechts Chemiekeule und Urin, die Feuchträume.

Eine Megakatastrophe. Mein Slip hatte sich vollgesogen und ein erster Fleck machte sich schon auf der dunkelblauen Levi’s-Jeans breit. Was jetzt? Umziehen? Wieder nachhause fahren? Vielleicht doch das schwarze, wadenlange Sommerkleid? – ich hatte es mir vorsichtshalber letzten Samstag gekauft. Nur so, falls ich es mir anders überlege, mit dem Kleid. Na ja, Frauen tragen halt Kleider und Männer mögen das offenbar. Nein, ich wollte ihm nicht gefallen und seine Bekleidungswünsche interessierten mich auch nicht – oder doch? Ach, ich weiß nicht. Es gehört einfach dazu, während der Suche nach dem eigenen Ich, auch mal ein Kleid anzuziehen. Vielleicht gefällt das Kleid ja dem neu gefundenen Ich – irgendwann.

Im Angesicht meines Malheurs tat sich vor meinem inneren Auge auf jeden Fall ein Horrorszenario auf: Er zieht mich aus und mir würde die Schamesröte ins Gesicht steigen. Klar, die Wahrscheinlichkeit des Nahkampfes hielt ich nach wie vor für gering – aber wie schon erwähnt: Was, wenn ich mich irrte? Dämmrige Beleuchtung, er wird’s nicht mitbekommen. Aber egal, selbst bei einer gepflegten Unterhaltung im Stockdunkeln, meine Gedanken würden ständig um meine blutige Hose kreisen. Rot anlaufen war garantiert und entspanntes Sitzen unmöglich. Die Lösung, mich jetzt und hier auf diesem versifften Klo umzuziehen, war nicht wirklich eine Lösung. Boah, hallo? Ich sollte es ja wohl schaffen, mich für fünf Minuten auf sein Klo zurückzuziehen, um mich frisch zu machen. Jetzt mal nicht so zimperlich. Was war schon eine blutige Hose gegen die wüsten Dinge, die er plante mit mir zu machen? Genau. Nix.

Ich war und bin ein sehr pragmatischer Typ. Aus diesem Grund befindet sich in meiner Handtasche so ziemlich alles, was irgendwann vielleicht einmal lebensrettend sein könnte: Eine Maglight, mein Leatherman Allzweckwerkzeug und, ja richtig, da sind sie, die feuchten Kleenex für unterwegs. Meinen Slip zog ich aus. Immerhin, zwar kein Kleid, aber doch sliplos. Noch ein bisschen Puder, der dunkelrote Lippenstift unverzichtbar und ich fühlte mich fast begehrenswert beim Blick in den schummrig beleuchteten Spiegel.

Ich bin jetzt nicht direkt eine Schlampe oder so, aber wenn ich dann mal eine längere Autofahrt mache, dann schaffe ich es sehr schnell, den Autoinnenraum kriegsähnlich zu verwüsten. Doch wer fängt schon an aufzuräumen, bei 140 km/h auf der Autobahn? Höchstens ein Lebensmüder.

Bonbonpapierchen, CDs und ein überquellender Aschenbecher lachten mich nicht direkt an, als ich die Tür von meinem Corolla öffnete, und während ich die Unordnung zu beseitigen versuchte, fiel mein Blick auf das Display meines Motorola. Eine SMS von Adriano: »WO BIST DU? WAS MACHST DU? KUSS AN DEINE MUSCHI!«

Großbuchstaben und wie immer mit einem kurzen A. für Adriano unterschrieben. Eine Adriano-typische SMS, wie ich sie in den letzten Wochen täglich mehrmals zu lesen bekam. Was bewegte diesen Mann dazu, sich solche Mühe zu machen, stündlich eine SMS-Nachricht zu verschicken? Kontrolle? Eroberungszwang? Keine Ahnung, aber es gefiel mir, es streichelte mein Ego wie nichts in meinem Leben zuvor.

Vor etwa sechs Wochen hatte ich ihn kennengelernt. Oder besser, ist mir sein virtuelles Ich über den Bildschirm gelaufen. Portal der Einsamen für die einen, Portal der Bekloppten für andere, aber auf jeden Fall ein Bio-top für Neurosen und Psychosen. Tummelplatz für Menschen, die nach sich selbst oder ganz simpel nach Sex suchen. Das Internet. Ein Eldorado für jeden Psychoanalytiker und seit einigen Monaten mein Hobby.

Es waren die langweiligen Osterfeiertage, an denen ich Adriano das erste Mal im Netz begegnete, und es waren die letzten Tage mit Jan in unserer gemeinsamen Wohnung.

Jan, das ist inzwischen mein Ex. Noch ungewohnt die Bezeichnung Ex, aber in diesem Leben ist man ja kein Mensch, wenn man nicht wenigstens einen oder eine Ex vorzuweisen hat.

Nach 14 Jahren kuscheliger Beziehung hatte ich mich zu dem Schritt durchgerungen, der meinem Leben eine neue Perspektive geben sollte: Trennung.

Im Internet findet man ja bekanntlich, spätestens seit Wikipedia, auf alles eine Antwort. Ich hatte die Antwort darauf gefunden, warum ich mich eigentlich trennen wollte. Hört sich selten blöde an, aber schließlich ist jeder Mensch anders und ich brauchte einen Grund, warum ich die Bequemlichkeit der eingespielten Beziehung aufgeben wollte. Dummerweise lebte ich nämlich mit Jan den Traum einer Beziehung. Ich wurde bekocht, bekam regelmäßig rote Rosen geschenkt, hatte mit Jan jederzeit einen Freund an meiner Seite – in guten und in schlechten Zeiten. Weit und breit kein einleuchtender Trennungsgrund. Bis auf die Kleinigkeit, dass ich täglich wenigstens einmal über mein Dasein nachdachte, während ich der Stimme von Madonnas »Don’t cry for me Argentina« lauschte und mit ganzer Inbrunst mitsang: »... my mad existence ...«

Vermutlich würde ich in zehn Jahren noch Madonna in der Repeat-Schleife hören, wenn ich mich nicht vor knapp drei Monaten, aus rein beruflichen Gründen natürlich, in dieser virtuellen Community eingeloggt hätte.

Ende Februar war es. Ich hatte den Auftrag, ein Design für eine Partnerbörse zu entwickeln. Da musste ich schließlich mal schauen, was es so gibt, was die Konkurrenz zu bieten hatte.

Diverse Adressen surfte ich an. Neu.de, Parship.de, Bildkontakte.de, friendscout.de und wie sie alle heißen. Hängen blieb ich bei einer sehr unscheinbaren Seite. Cybermoon.de. Jetzt nicht weil die Seite besonders innovativ gewesen wäre, sondern, weil mein Chef mich darauf aufmerksam machte, dass die Seite schon seit Jahren online sei und vor Jahren zu den kultigsten Seiten gehörte. Hörte ich da so was wie Erfahrung mit Partnerbörsen raus? Egal. Ich startete den Loginvorgang.

Was die alles wissen wollten, bevor ich endlich Einblick in diese noch fremde Welt bekam. Meine Lieblingsfarbe, mein Lieblingsfilm, meine Hobbys, wie groß ich bin, Haarfarbe, welche Bücher ich lese usw. Es nervte mich an, aber ich beantwortete brav jede Frage. War mir, analytisch wie ich bin, darüber im Klaren, dass diese Fragen zu einem ausgefeilten System gehörten. Die Antworten würden mit Sicherheit analysiert und für teures Geld als Trendbarometer verkauft.

Als ich dann endlich das »Wohnzimmer« der Community betreten durfte, klickte ich mich mehr oder weniger lustlos durch die an sich langweilige Seite. Schließlich war das Arbeit und nicht Vergnügen, bis zu dem Zeitpunkt, als die erste Nachricht in meinem Fenster auftauchte: *lächel*. Also ich kannte mich überhaupt nicht aus. Chatten gehörte bis zu diesem Tag nicht zu meinen Kommunikationsmitteln. Virtuelle Jungfrau, könnte man sagen. Ich wusste nicht, dass die Sternchen Ausdruck für die Mimik des Schreibers waren. Noch viel weniger wusste ich, warum da jemanden danach war, mir solch ein Wort zu schicken. Dennoch, dieses »Lächel« berührte etwas in mir. Dieses eine Wort war vermutlich der Auslöser für all das, was mir in den nächsten Wochen und Monaten noch blühen sollte. Aber auf jeden Fall beinhaltete dieses »Lächel« das Ende meiner Suche nach meinem lang gesuchten Trennungsgrund.

Ich lächelte zurück. Nicht schriftlich, sondern mein Gesicht lächelte. Völlig bescheuert, es war ja nur ein Wort, aber ich lächelte. Es war ein Lächeln, wie man es vermutlich noch nie auf meinem Gesicht gesehen hatte. Ich wusste ja gar nicht, dass ich überhaupt so lächeln konnte. Mit einem warmen Gefühl in der Bauchgegend, ein liebevolles Lächeln halt. Okay, ich reite jetzt nicht länger auf dem Wort rum. Ich klickte den Lächler, Merlin war sein Nick, auf jeden Fall an und schrieb, ohne groß darüber nachzudenken, zurück:

Xela: Worüber lächelst du?

Merlin: Ich lächle, weil du mir begegnet bist *schmunzel*

Ich muss doch noch mal drauf rumreiten. Ehrlich, es würde mir eher entsprechen zu fragen: Was in aller Welt es denn in diesem Leben zu lächeln gibt? Oder auch denkbar, ganz schnöde: Lach nicht so blöd. Nein, stattdessen fragte ich, warum er lächelt und das auch noch mit einem vermutlich selten dämlichen Gesichtsausdruck, den aber Gott sei Dank keiner zu sehen bekam.

Ich meine, wann hat mich ein Mann jemals so angelächelt? Nur ein Wort, aber mir fuhr es in den Magen, weckte eine Sehnsucht in mir, die mir fremd war, und ließ mein Leben von einem Moment zum anderen erstrahlen. Gut, wo Strahlen sind, da ist auch Schatten, aber das konnte ich als emotionsarmer Workaholic noch nicht einmal ahnen.

Dann schrieb er, was er gerade am Kochen war: Spinatlasagne. Lecker. Mit Lachs. Für einen eingefleischten Vegetarier wie mich natürlich nichts, aber über diese leichten Unstimmigkeiten meiner »Das muss Schicksal sein« - Gedanken«, sah ich gerne hinweg.

Viele Zeilen gingen in den nächsten Wochen hin und her. Banales, Alltägliches und Sex stellten die Themen. Seine erotischen Phantasien, farbenfroh und detailverliebt, ließen meine Finger jedes Mal in einer Spontanlähmung über der Tastatur schweben. Was sollte ich auch antworten auf Sätze wie: »Würde dich jetzt lecken, bis du wahnsinnig wirst, wenn du bei mir wärst.«

Verbale Pornografie mit mir als Hauptdarstellerin. Meine Libido schlug Purzelbäume und mein Selbstwertgefühl schwelgte in Galaxien, die ich zuvor nicht kannte. Ich tänzelte auf einmal mit einem Dauergrinsen durch den Tag, bekam eine Ahnung davon, was das Leben lebenswert machen könnte. Endlich hatte ich meinen Trennungsgrund gefunden: Liebe. Ich liebte Jan nicht mehr. Keine Schmetterlinge mehr, kein Kribbeln im Bauch.

Kühle Distanz und nicht selten sogar Aggressionen prägten meine Gefühlswelt gegenüber Jan. Aber ganz nebenbei gab er mir auch keinen Grund zu glauben, dass er mehr als »Ich hab’ dich lieb« für mich empfand. Leidenschaft und Begehren war im Laufe der Jahre auf Füßekraulen und anregende Diskussionen über den alltäglichen Ärger im Job reduziert.

Mit 17 lernten Jan und ich uns kennen und sind dann sehr bald mit jugendlichem Eifer zusammengezogen. Wir rauften uns auf 36 qm zusammen. Ich fand mich damit ab, dass Jungs halt eine andere Vorstellung von Ordnung haben. Überzeugte ihn, dass es durchaus, unter hygienischen Gesichtspunkten, von Vorteil ist, sich auf dem Klo zu setzen.

Irgendwann verstummten auch die gut gemeinten Fragen, wann wir denn heiraten, oder wie es in der Eifel heißt: wann es denn einen guten Tag gibt. Auch die Erwartung an die Zeugung von Enkeln und Nichten legte die liebe Verwandtschaft im Laufe der Jahre ad acta. Wir halfen uns gegenseitig durch miese Zeiten. Glaubten den anderen sehr gut zu kennen, verloren zwischen Studium und Geldverdienen unsere Träume und Bedürfnisse aus den Augen. Für Emotionalitäten, Romantik und Spontaneität blieb kein Platz. Aus Verliebtheit wurde nicht Liebe, es blieb bei: »Ich hab’ dich lieb.« Wir waren Freunde, gute Freunde geworden und viele Jahre redete ich mir ein, 3-5-mal im Jahr Sex zu haben ist nach so langer Zeit völlig normal. Beziehung ist halt so und nicht anders. Liebe? Für mich ein Mythos, ein abstrakter Begriff und eine, zugegebenermaßen, schöne Idee von Poeten, die Menschheit auf Besseres hoffen zu lassen.

Traurig, aber wahr: Ich, Alex, lebte ein emotionsloses Leben. Reduziert auf Job und Karriere, auf Erfolg und Misserfolg meiner Leistungen als Designer. Die Erfolgsbilanz? Sichtbar auf meinen Kontoauszügen und im Gesicht meines Chefs. Privatleben? Geht nicht, passt nicht, ein andermal – vielleicht. Ideal für jeden Arbeitgeber, solche Menschen, doch wehe, sie entdecken die andere Welt da draußen.

Madonnas Hymne musste den Liedern von Rosenstolz weichen. Liedern, die von Lust und Leiden(schaft) erzählen. Merlin, der Zauberer, im wahrsten Sinne des Wortes hatte er mich verzaubert. Ich entwickelte Sehnsucht nach einem Mann, den ich lediglich von Bildern kannte.

Stapelweise mailte er sie mir zu: Merlin auf seiner Terrasse, Merlin beim Wandern, Merlin in Tokio, Merlin im Anzug, Merlin in Jeans, Merlins Schwanz, Merlins Miniatureisenbahn. Eine wirklich umfangreiche Sammlung lagerte inzwischen auf meinem Laptop. Und der Mann sah richtig gut aus. Eine Mischung aus Bruce Willis und Hugh Grant, würde ich sagen. Das freche Grinsen seiner blauen Augen ließen meine Gesichtszüge regelmäßig entgleiten und erzeugten ein warmes Gefühl in meiner Magengegend und ein kribbeliges ganz woanders.

Was da in meinem Kopf, mit meinem Körper geschah, machte es unmöglich, weiterhin mit Jan Beziehung zu simulieren. Selbst im Hinblick darauf, dass ich überhaupt nicht plante, den Anfragen des Zauberers, uns doch mal auf einen Kaffee zu treffen, nachzugeben. Im Leben nicht. Mir reichte die virtuelle Form der Leidenschaft völlig. Ist halt so: Zaubern ist Illusion, und wenn der Trick auffliegt, weicht die Illusion den Fakten. Diese Fakten hießen in meinem Fall: Ich bin nicht liebenswert, von begehrenswert weit entfernt. Nicht falsch verstehen. Ich hielt mich nicht für hässlich. Im Gegenteil. Ich hätte wenig an meiner Optik ändern wollen, außer vielleicht die Form meiner Beine. Auch bin ich der Überzeugung, dass ich einen guten Geschmack habe, weiß, was mir steht.

Als Kind wünschte ich mir oft blond zu sein. Weil die blonden Mädels in der Klasse sehr beliebt waren und ich mich mit meinem südländischen Aussehen oft als Außenseiter, als anders und damit sowieso nicht beliebt fühlte. Vorstellungen bestimmen unser Verhalten. So verkroch ich mich als Kind sehr gerne in meinen vier Wänden, statt meiner sozialen Entwicklung eine Chance zu geben. Mit dem Älterwerden kam dann wenigstens die stille Einsicht, dass meine Optik gar nicht so verkehrt ist, doch die Angst vor dem Urteil anderer blieb. Ich verkroch mich weiter, konzentrierte mich auf meinen Beruf und soziale Kontakte blieben ein notwendiges Muss. In der Folge war ich mit 33 Jahren ein Fall für soziale Reintegration.

Die Vorstellung, dass ein Mann wie Merlin mich noch attraktiv finden würde, wenn er mir gegenübersteht, war völlig abwegig. Nein, ein Treffen mit ihm wollte ich ganz sicher nicht. Aber ich wollte wenigstens die virtuelle Form der Leidenschaft ausleben und das konnte ich nur, wenn ich nicht ständig aufpassen musste, mit diesem dümmlichen Grinsen vor meinem Laptop erwischt zu werden.

Vorbei die Überlegungen, ob und aus welchem Grund ich mich trennen wollte, einzig den richtigen Zeitpunkt zu finden, stellte ein Problem dar.

Echt, ich habe mir wochenlang die Lippen blutig genagt bei der Überlegung, wann und wie ich es Jan sagen sollte. Statt das große Gespräch zu suchen, machte ich es dann knapp, kurz und schmerzhaft. Es war Ende März, zwei Wochen noch bis Ostern, als ich ihn nachts um zwei Uhr weckte. »Du, Jan, ich möchte getrennte Wohnungen. Ich will alleine leben.« Feige, wie ich war, wählte ich die softe Fassung, um das Wort Trennung nicht erwähnen zu müssen.

Jan schaute mich an und seine Augen drückten Fassungslosigkeit, Schmerz und Leiden aus. Ich schaute weg. »Ich kann ohne dich nicht leben«, der einzige Satz, den er auf meine Entscheidung erwiderte, in dieser Nacht. Um etwas zu sagen, seinen Schmerz vielleicht zu lindern, antwortete ich: »Natürlich kannst du das, ich bin ja nicht aus der Welt. Wenn wir wirklich zusammengehören, dann werden getrennte Wohnungen daran nichts ändern.« Gemein, aber so ist das Leben. Neben mir im Bett mein zukünftiger Ex, dessen Leben gerade den atomaren Erstschlag erlitten hatte, und ich schlief, glücklich wie lange nicht mehr, ein.

Ich schaute auch in den nächsten Tagen weg, wenn mich der leidende Blick von Jan erwischte. Las auch die lange Mail, die er mir am nächsten Tag schickte, nicht wirklich intensiv. Ich wollte nicht weinen und ich wollte meinen Entschluss auch nicht gefährden. Die Mail ging im Laufe der nächsten Monate verloren. Irgendeine Rechner-Neuinstallation. Nur noch an einen Satz kann ich mich erinnern: »Ich möchte nicht der Grund dafür sein, dass du unglücklich bist.«

Entgegen den Gewohnheiten der trendbewussten Kölner hatten wir keinen Kurztrip, nach Mallorca oder wenigstens Holland, über Ostern geplant. Klar, seit einer Woche lebten wir in Trennung, kein günstiger Zeitpunkt für gemeinsame Urlaubstage. Aber so und nicht anders sah unser Beziehungsalltag all die Jahre aus. Auf keinen Fall etwas Verrücktes oder Unerwartetes tun.

Es war Karfreitag, der Tag, an dem ich Adriano kennenlernte. Statt Holland oder Malle tripte ich mit meinem Laptop in die wunderbare »Alles kann, nichts muss« - Welt. Buffet für Singles, Bühne von Eitelkeiten und Sammelsurium an verkorksten Selbstzweiflern, verletzten Liebenden und allerlei Befindlichkeiten.

Ich richtete mich nachmittags auf dem Wohnzimmerboden gemütlich ein und ging online. Darauf hoffend, meinen Zauberer online zu finden. Ich scrollte die Liste der Nicknamen von A wie »AbindieKiste« bis Z wie »zärtlicher_Verführer« nach unten. Suchte nach seinem Nick, Merlin. »Liste aktualisieren« – nichts, die Buchstaben tauchten nicht auf. Er war nicht online. Mein Magen schmerzte vor Sehnsucht. Mein Herz verlangte nach seinen Worten, nach seinen verbalen Streicheleinheiten.

Im wahren Leben hieß Merlin Jan und hatte auch noch am gleichen Tag wie mein Jan Geburtstag. Gut, ein paar Jahre älter war er, aber ich fing an, mir Gedanken über Schicksal zu machen. Ich bin nicht esoterisch veranlagt, ein bisschen vielleicht, aber das sind zu viele Zufälligkeiten, um zufällig zu sein. Das musste Bestimmung sein. Alternativ könnte ich aber auch in einem Paralleluniversum, in dem Rosamunde Pilcher die Regeln diktiert, gelandet sein. Ein Blick auf meinen Monitor riss mich aus der Welt meiner romantischen Erwartungen.

Dieter_2: Bin bei dir um die Ecke, kommst du runter oder soll ich klingeln?

Die Worte standen schwarz auf weiß in meinem Nachrichtenfenster. Blitzschnell durchforstete ich mein virtuelles Leben. Nein, ich hatte keinem meiner Chatbekanntschaften bisher meine Adresse mitgeteilt. Ein Arbeitskollege von mir hieß Dieter. Sicher, Dieter wusste von meinen Chataktivitäten – ich sollte wachsam bleiben. In der Profilkarte von Dieter_2 entdeckte ich allerdings keinen Hinweis darauf, dass es sich um diesen Dieter handeln könnte. Er kam aus München und hatte 38 Jahre auf dem Buckel, laut seinen Einträgen. Viel mehr Details gab das Profil aber auch nicht preis. Und überhaupt, Dieter_2 zählte nicht zu den Nicknamen, die mein Interesse weckten. Viel zu gewöhnlich, viel zu unromantisch.

Xela: Ach – wo wohne ich denn?,

schrieb ich herausfordernd zurück.

Dieter_2: Ich sitze am Kölner Bahnhof, in einem Bistro mit Internetanschluss. Bin gerade angekommen und will mich mit dir auf einen Kaffee treffen. Bis jetzt habe ich deine Adresse noch nicht, aber ich werde sie herausfinden.

Xela: Wie willst du die denn herausfinden, ohne meinen Namen zu kennen?

Dieter_2: Das ist leicht. Ein Freund von mir kennt sich mit Computern aus. Der sitzt schon dran, dich zu suchen.

Geht das wirklich, überlegte ich. Ist es möglich, vielleicht über die IP-Nummer, meine Adresse herauszufinden? Ach Mist. Ich bin Designer, weit weg von solch technischen Details. Dennoch, grundsätzlich hielt ich es für unmöglich.

Xela: Spinner. Geht doch gar nicht.

Dieter_2: Er sitzt mit Hochdruck dran. Gleich werde ich den Anruf bekommen.

Er gab nicht auf mit der Story.

Xela: Das ist mir jetzt zu blöd. Ich werde nicht mehr mit dir reden.

Das mulmige Gefühl im meiner Magengegend wurde immer mulmiger. Ich kam mir vor wie auf dem dunklen Weg zur Mülltonne.

Nur vor dem Laptop sitzend machte es wenig Sinn, die Faust zu ballen. Als Waffe konnte ich hier nur Worte oder den Logout-Button einsetzen. Möglicherweise kennt er ja doch meine Adresse und steht gleich vor der Wohnung? Die Geschichten von Internetfreaks und Psychopathen kannte ja inzwischen jeder.

Dieter_2: Komm an den Bahnhof, dann treffen wir uns hier im Café.

Xela: Was für ein Café denn?

Dieter_2: Gleich neben der Dresdner Bank, ich warte auf dich.

Xela: Ich wüsste nicht, wo da ein Café sein soll und überhaupt, ich gehe jetzt offline.

Dieter_2: Warte, geh noch nicht!

Der Typ gab nicht auf. Da Jan am Kochen war und vermutlich gleich mit dem Essen ins Wohnzimmer kommen würde, schaute ich nochmal schnell nach, ob Merlin online war, doch weit und breit keine Spur von ihm. Ich schaltete den Laptop aus, als Jan um die Ecke kam. Unnötig, ihn darüber ins Bild zu setzen, was ich trieb. »Keine neuen Wohnungsanzeigen gefunden«, nuschelte ich kaum hörbar, als ich mich auf die Couch setzte.

Jan hatte in der letzten Woche einen Ehrgeiz beim Durchforsten von Wohnungsanzeigen an den Tag gelegt, der sich nur mit Flucht erklären ließ. Nur mäßig interessiert nahm ich daran teil, schließlich hatte ich in den nächsten Wochen besseres zu tun, als Möbel zu rücken und Wände zu streichen. Sollte er doch ausziehen.

Schweigend aßen wir. Nudeln mit Rucolasalat und einer grandiosen Walnusssoße. Mein Leibgericht. Im Fernsehen lief Shrek. Unter anderen Umständen hätte ich das Märchen begeistert verfolgt, doch ich schwebte in Hemisphären, in denen ich weder liebevoll gekochtes Essen wahrnahm, noch die Konzentration für den Pro7 Blockbuster aufbringen konnte.

Mein Bauch schmerzte vor Sehnsucht, und ich musste mich in den letzten Wochen schon fast zwingen, irgendwas zu essen und wenn es nur ein Bissen in einen Apfel war. Auf schlanke 58 kg hatte ich es inzwischen geschafft. Nicht nur ideal, bei einer Größe von 174 Zentimetern, aber Frau kann ja eh nie zu viel Gewichtsverlust notieren.

Als wir gemeinsam die Teller in die Küche räumten, war mein Teller noch mehr als halb voll, und Jan fragte mich besorgt, ob mir nicht gut wäre. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich Bauchschmerzen hätte.

Rückblickend denke ich, Jan musste gemerkt haben, dass da mehr vor sich ging als nur Trennung. Mein verklärtes Grinsen, meine Handyaffinität.

Wir hatten uns beide die Handys nur angeschafft um Alltagskram und Termine zu koordinieren. Niemals wäre ich davon ausgegangen, das Vibrieren meines Handys könnte mich derart in Aufregung versetzen, wie es inzwischen der Fall war. Dass meine SMS-Nachrichten ganz anderer Natur sein würden als: »Kannst du mal eben noch in den Aldi springen, bei mir wird’s später.« Auch jetzt steckte es in meiner Hosentasche und signalisierte eine eingegangene SMS, und es gab nur zwei Quellen für diese SMS: entweder eine hochinteressante Information meines Netzanbieters, oder er.

Meine Handynummer hatte ich ihm Anfang der Woche geschickt. Nicht wirklich mit Absicht. Als ich Montagmorgen zur Arbeit kam und mich in der Community einloggte, begrüßte mich mein Monitor mit der Information, dass der Server wegen Wartungsarbeiten runtergefahren wäre. »Bitte haben Sie etwas Geduld. In Kürze werden wir wieder online gehen. Ihr Cybermoon-Team.« Das ist nicht wahr. Das konnten die mir doch nicht antun. Seite aktualisieren. Der Server blieb unten, Merlin war nicht erreichbar. Das ganze Wochenende freute ich mich darauf, wieder arbeiten gehen zu können, nur um ungestört seine »Nähe« zu genießen.

Keine zwei Stunden hielt ich es aus, bis ich ihm eine SMS schrieb. Er hatte mir seine Telefonnummer schon kurz nach dem ersten »Lächel« mitgeteilt. Falls ich mal Lust hätte, mit ihm zu reden. Damals hatte ich mir die Nummer nur mäßig interessiert auf einem Haftnotizzettel notiert, und ich verzweifelte fast, als ich meinen gesamten Schreibtisch durchsuchte und der kleine gelbe Zettel nicht zu finden war. Erst als ich meine Handtasche schon komplett leergeräumt hatte und darüber nachdachte, ihn vielleicht über Google ausfindig machen zu können fand ich den Zettel. Er klebte im Kleingeldfach meines Portemonnaies. Klar, wo sollte er auch sonst sein. Da klebe ich ja immer Zettelchen hin.

»Ich vermisse dich. Alex.« Brauchte es mehr an Worten? Nein. Sekunden später vibrierte seine Antwort-SMS: »Ich vermisse dich auch, mein Schmetterling. Versuche die ganze Zeit, mich einzuloggen, klappt aber nicht ... *traurigbin*« Es ging ihm wie mir. Er vermisste mich. Ich seufzte glücklich vor mich hin.

Ich verzog mich aufs Klo, hatte ja schließlich Bauchschmerzen und las die Nachricht.

»Ich vermisse dich, mein Schmetterling. i.h.d.l. Merlin«

Diese Worte brauchte ich. Auch wenn sie meine Bauchschmerzen verschlimmerten und die Befürchtung aufkommen ließen, mein Abendessen könnte wieder hochkommen.

Wenn ich bisher über die SMS-Tipperei anderer gelästert hatte, so konnte man mich inzwischen einen Profi unter den Tippern nennen. Bestimmt zehn Minuten überlegte ich, welche Worte meinen Gefühlszustand, meine Sehnsucht nach ihm, am besten beschreiben würden:

»Würde dich jetzt gerne streicheln …

über deinen Rücken, deine Brust, dein

Gesicht … Kuss auf deinen Bauchnabel …

i.h.d.l. deine Alex.«

Senden. Dümmlich verliebt grinsend verzog mich ins Schlafzimmer, kroch unter das 2x2 Meter Plumeau, wo ich träumend nach meiner leidenschaftlichen Zukunft suchte.

Jan schnarchte tief und laut, wie immer, als mich mein Handy gegen ein Uhr aus dem Schlaf vibrierte. Unter der Bettdecke, im Schein des beleuchteten Displays, las ich die Nachricht: »Ich bin online. Merlin.«

Wenn mir jemand, eine Freundin vielleicht, erzählen würde, dass sie neben ihrem Ex in spe heimlich SMS-Nachrichten von ihrem Lover unter der Bettdecke liest, würde ich ganz klar sagen: Du bist bescheuert. Aber gut, eine beste Freundin, die mich beraten könnte, hatte ich nicht, wollte ich auch gar nicht. Die wollen gepflegt werden, melden sich ständig mit ihrem persönlichen Leid und gemeinsam shoppen ist sowieso nicht mein Ding. Außerdem, Verliebte sind resistent gegen jeden Hauch von Rationalität. Ich bildete da mit Sicherheit nicht die Ausnahme. Ich sehe es fast bildlich vor mir, wie sich meine beste Freundin, die ich ja nicht hatte, an den Kopf packt, wenn ich ihr erzählte, wie ich aufgrund der Nachricht aus dem warmen Bett kroch und ganz gehorsam im Wohnzimmer meinen Laptop hochfuhr.

Merlin: Hallo mein Schmetterling. Wie geht es dir?

Xela: Ich bin kein Schmetterling. Höchstens ein Nachtfalter.

Merlin: *lächel* Ich vermisse dich.

Merlin: Würde dich jetzt gerne lecken. Was hast du an?

Xela: Einen Bademantel.

Merlin: Und drunter?

Xela: String. Schwarz.

Merlin: Ich möchte, dass du dich streichelst. Berühr mit deinen Fingern deinen Kitzler. Streichle sanft über ihn.

Ich stöhnte leise, während ich seine Sätze las und meine Hand über meinen Bauchnabel, runter zu meinem Slip führte. Ich fühlte meine Schamhaare, spürte die samtene Haut meines Kitzlers.

Merlin: Jetzt schiebe deinen Finger in deine Muschi. Bist du feucht?

Xela: Ja.

Merlin: Hast du deinen Saft schon mal von deinen Fingern geleckt?

Xela: Nein.

Merlin: Warum noch nicht? Tu es. Es wird dich geil machen.

Aufregend und fremd fühlte es sich an, auf dem Wohnzimmerboden liegend, seinen Anweisungen zu folgen. Aber ich tat es. Nicht weil ich ihm megamäßig vertraute oder so. Ich wollte dieses neue prickelnde Leben, und solche Dinge gehörten wohl dazu.

Außerdem sollte er nicht denken, ich sei prüde, schlimmer noch, frigide und so gar nicht die leidenschaftliche Genießerin, wie er mich immer umschrieb.

Ich fummelte also weiter, seinen Vorstellungen folgend, an mir rum. Leckte den Saft von meinen Fingern und fand den Geschmack gar nicht abstoßend. Es wäre mir bisher nie in den Sinn gekommen, meinen Saft schmecken zu wollen zwecks Steigerung meiner Erregung. Ich meine, sanfte Massage und ein bisschen Phantasie führen zu dem gleichen Ergebnis.

Ich stellte mir vor, wie er jetzt mit einem harten Schwanz vor seinem Rechner saß, sich selbst streichelte. Mein Finger glitt tiefer in mich hinein.

Ich hatte damals zwei Kater. Ein schwarzer und ein grauer, und der Graue war es, der in diesem Augenblick aus dem Schlafzimmer angeschlichen kam und schnurrend um meinen Kopf strich. Ich kannte den Kater sehr gut, schließlich lebten wir schon seit 14 Jahren zusammen, und ich wusste, es handelte sich nur um die Einleitung, mich davon zu überzeugen, er sei am Verhungern und bräuchte gerade jetzt dringend frisches Futter. Einleitung heißt, er würde gleich mit seinem wolfsähnlich heulenden Miauen seine Forderung unterstreichen. Mit anderen Worten, er würde garantiert Jan wecken.

Merlin: Ich würde meine Zunge jetzt tief in deine Muschi schieben, deinen Saft aufsaugen, wenn ich bei dir wäre. Alex! Ich möchte, dass du dich jetzt selbst befriedigst. Streichle deinen Kitzler ganz langsam bis zum Höhepunkt.

Es half nichts. Ich stand auf, ging mit dem verhungernden Kater auf dem Arm in die Küche und füllte seine Futterschale. Als ich am Schlafzimmer vorbeikam, lauschte ich kurz, ob die regelmäßigen Atemzüge von Jan noch zu hören waren. Ich hörte nichts. Und leise heißt, entweder er ist wach, nicht gut, oder es ist einer der ganz seltenen Momente, wo er einfach leise schläft. Ich ging zurück ins Wohnzimmer, setzte mich wieder vor den Laptop und hoffte auf leisen Schlaf.

Merlin: Du Genießerin, du antwortest mir gar nicht *schmunzel* ... Stelle mir gerade vor, wie du kommst, mich dabei anschaust und ich dir ein letztes Mal meinen Schwanz in deine nasse Muschi stoße. Hallo, mein Schmetterling, bist du noch da? .......

Xela: Bin noch da, hatte nur gerade keine Hand frei zum Schreiben ...

War ja nicht nur gelogen. Meine Lust auf weitere Fummeleien an meinem Körper war mir irgendwie vergangen, aber ich wollte auch nicht, dass er offline ging. Ich wollte mit ihm reden. Mehr von ihm erfahren als seine feuchten Phantasien.

Xela: Passiert dir das eigentlich zum ersten Mal?

Merlin: Was?

Xela: Dass dir im Internet jemand begegnet, der mehr sein könnte. Jemand, der dir nicht aus dem Kopf geht. Diese Sehnsucht nach einem eigentlich fremden Menschen.

Merlin: Nein. Hast du deinen Slip noch an?

Xela: Und – was ist draus geworden? Ich kann es einfach nicht glauben, was hier passiert. Und ich habe Angst vor dem Moment, wenn ich feststelle, ich bin nur eine Spielerei von vielen für dich.

Es musste einfach raus. Seit fast sechs Wochen schrieben wir uns jetzt, und meine Sehnsucht wuchs von Tag zu Tag. Ja, ich dachte inzwischen schon darüber nach, ihn treffen zu wollen. Ein nicht geringer Teil von mir, vermutlich die Reste der pragmatischen Alex, zweifelte an der Echtheit seiner Gefühle. Und dieser sachlich pragmatische Teil flüsterte mir auch die Frage ein, wie viele dieser Internetflirts er wohl verfolgte. Schließlich ist er ein Mann, und was er mir schrieb, wie er schrieb, deutete nicht auf wenig Übung hin.

Xela: Ich möchte nicht irgendwann aufwachen aus diesem wunderbaren Traum und feststellen, dass es besser ist, sich nicht fallen zu lassen, zu vertrauen – verstehst du, was ich meine?

Merlin: Wehr dich nicht dagegen und genieße es. Du bist keine Spielerei. Was hier passiert, ist kein Traum *schmunzel*

Xela: : ) Soviel Vertrautheit überfordert halt meine eingefrorene Seele.

Merlin: Hast du dich selbst befriedigt?

Xela: Nein.

Merlin: Tu es! Sag mir, wie du es gerne hättest. Welche Phantasien hast du, wenn du an uns denkst?

Aus irgendeinem Grund machten mich seine Worte traurig und wütend zugleich. Mir schossen die Tränen in die Augen, und ich hätte in diesem Augenblick die Welt anheulen können. »Machs gut, mein Herzens-schöner, nun lasse ich dich ziehn. Vergiss was ich gewollt hab...«, eine Liedzeile von Rosenstolz schlich sich in meinen Kopf. Wiederholte sich wieder und wieder. Warum? Er hatte mich doch lieb. Ich sollte glücklich sein und mich auf die Zukunft freuen.

Xela: Ich gehe jetzt offline. Ciao, schlaf gut.

Zum ersten Mal brach ich den Chat ab und nicht er. Ohne mich langatmig und sehnsuchtsvoll zu verabschieden, loggte ich mich aus und fuhr den Laptop runter. Im Dunkeln sitzend, weinte ich leise vor mich hin. Mein Handy meldete sich keine zwei Minuten später.

»Was ist los? Ich mache mir Sorgen.

Warum bist du offline gegangen?

i. h. d. l. Merlin.

Was sollte ich darauf antworten? Ich wusste nicht, warum mir auf einmal so elend war.

»Aus einem Nachtfalter machst du so ohne Weiteres keinen Schmetterling.«

... Alex.«

Während ich den tiefen Atemzügen von Jan lauschte, ging mir meine verdrehte Gefühlswelt durch den Kopf. Ich kreiste um die Frage, was sein wird, wenn wir uns in die Augen schauen. Die peinlichste Situation meines Lebens baute sich vor meinem inneren Auge auf. Er, der inzwischen die intimsten Details von mir kannte, von meinem Muttermal direkt über meinem Kitzler, bis hin zu der Tatsache, dass ich bis zu diesem Abend noch nie meinen Saft geschmeckt hatte. Ich sah ihn vor mir, belanglose Konversation fernab unserer bisherigen Intimität betreiben. Sah mich, unfähig, ihn anzuschauen und ein vernünftiges Wort zu formulieren. Mein emotionales Todesurteil. Lieber auf ewig alleine leben, als mich dieser Demütigung auszusetzen.

Man fragt sich jetzt sicher, warum ich denn nun in meinem alten Corolla saß, auf dem Weg nach München, zu dem nichtssagenden Dieter_2, wo ich doch offensichtlich in Merlin verliebt bin und ein echtes Problem damit habe, von der Virtualität in die Realität überzugehen. Weibliche Hormone? Austitschen nach der Trennung?

Die erste Nachricht, die Merlin mir am Dienstagmorgen nach Ostern ins Büro schickte lautete:

Merlin: Ich bin nächste Woche Dienstag in Köln. Ich will dich sehen, mein Schmetterling.

Mein Herzschlag hämmerte durch meinen Körper. Vielleicht Adrenalin oder eine unerkannte Herzinsuffizienz? Mein Gesicht musste gestrahlt haben wie ein Kernkraftwerk kurz nach dem Supergau. Ich saß vor meinem Mac, die Hände über der Tastatur, und wusste nicht, was ich antworten sollte. Vom orgiastischen Jaaaa bis hin zu Scheiße passte alles.

Ja, ich will ihn treffen, und nein, in meinen Träumen kann ich nicht enttäuscht und verletzt werden. Und sollte es doch mal der Fall sein, kann meine Phantasie mit Schlagfertigkeit und Stärke kontern. Ein klares Jein also, zu diesem Date.

Für solche Fälle gibt es ja genug schlaue Sprüche: »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, oder auch anwendbar: »Wer A sagt, muss auch B sagen«. Da musste ich wohl oder übel durch, wenn ich mein Leben in Zukunft leben und nicht nur davon träumen wollte. Die neue Wege beschreitende Alex setzte sich durch. Ist letztlich wie ein Vorstellungsgespräch: Wenn du den Job haben willst, musst du auch hin. Und außerdem ist es doch schmeichelhaft, wenn die Bewerbung genug Eindruck geschunden hat, um den Fuß in die Tür zu bekommen.

Xela: ANGST!!!,

schrieb ich. Das einzige Wort, was hundertprozentig auf meine Symptome passte.

Merlin: *schmunzel*

Ist klar, schmunzel ist wohl im Internet auf alles die passende Antwort. Aber gut, besser als *grins*. Verstand er meine Ängste? Vielleicht ja gerade deshalb das Interesse .

Merlin: Ich werde dich von der Arbeit abholen und dir zärtlich in deine wunderbaren Augen schauen. Du wirst sehen, der Abend wird alles noch schöner machen.

Was, wie, von der Arbeit abholen? NEIN! Eine laute Stimme in mir kreischte gerade schriller als 100 Girlis beim Anblick von Tokio Hotel. Womöglich würde ich mit Kollegen die Firma verlassen und er stünde da, vor seinem Audi. Ich bekäme weiche Knie, stolperte und machte mich nicht nur vor ihm zum Volltrottel, sondern auch noch vor meinen Kollegen. Aber ich hatte ja noch eine Woche Zeit, das Wie, Wann und Wo zu überdenken.

Merlin: Ich muss jetzt los. Melde mich bei dir. *drück dich ganz lieb*

Typisch. Kam, sprach, haute ab. Ich brauchte eine Zigarette und ging in die Küche. Garantiert gelang es mir auf dem Weg quer durch die Agentur nur suboptimal, meine Gesichtszüge auf »alles wie immer« zu stellen. Unübersehbar für jeden im Büro, ich stand kurz vor einer Überlastung meiner Nervenbahnen.

Ich arbeitete als Designerin in einer Kölner Internet Agentur. Eine dieser hippen Bürohallen im geschichtsschweren, denkmalgeschützten Industriegebäude aus der Jahrhundertwende.

Die ganze Mannschaft sitzt in einem Raum und ist lediglich durch Regale und Stellwände vom Telefon-gebimmel und Gequassel der Kollegen abgeschirmt. Aus diesem Grund fand ich das Großraumbüro nur mäßig hip.

Obwohl ich erwiesenermaßen eine Frostbeule bin, öffnete ich an diesem Tag freiwillig das Fenster. Egal, ich brauchte Luft, und da Raucher ja bekanntermaßen gesellige Menschen sind, saß ich sehr bald qualmend mit Anja, der jüngsten unseres elfköpfigen Designteams, in der feudal eingerichteten Küche auf den unbequemen Designerstühlen.

Vermutlich signalisierte mein Zustand so was wie: Mir ist schlecht, ich muss kotzen, habe meine Tage und werde gleich sterben auf einmal. »Hey, geht’s dir nicht gut? Du bist blass.« Die fürsorgliche Anja legte bei dieser Frage ihre Hand auf meine Schulter. »Nein, geht schon. Ich rauch ja noch, da kann’s nicht allzu schlimm sein«, frotzelte ich ironisch und hoffte, sie würde sich damit zufrieden geben. Grinsend setzte die kleine Blonde fragend einen drauf: »Vielleicht ja schwanger?« Haha, von wem denn? »Nein, eher nicht«, antwortete ich kurz angebunden und hoffte, sie würde schnell ihre Zigarette zu Ende rauchen. »Also, so wie ich den Jan kennengelernt habe, würde der sich als Vater gut machen.« Wenn die weiter so dämliche Vermutungen in den Raum stellt, dann schreie ich. »Weißt du es denn sicher? Ich meine, dass du nicht schwanger bist.« »Ja, Anja. Mit fast 33 hat man so was im Griff«, versuchte ich lachend einen auf »Mir geht’s klasse!« zu machen.«

Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur mit Dieter, einem Kollegen aus der Abteilung, über mein privates Chaos geredet. Er wusste von meiner Trennung und auch von Merlin. Er hörte sich regelmäßig meine Flennerei, meine Selbstzweifel an und bestätigte mich mit Sätzen wie: »Man sieht dir an, dass du irgendwie glücklicher bist.« Ich, im Gegenzug, nahm Anteil an seiner Trennung. Seine Frau hatte ihn verlassen, und auch ihn hatte es inzwischen in die Welt der virtuellen Romantik getrieben.

Als Anja endlich den Raum verlassen hatte, starrte ich das Telefon auf dem Tisch an. Zu gerne hätte ich Dieter jetzt von der neuerlichen Entwicklung erzählt. Sollte ich ihn anrufen, damit er in die Küche käme und ich mich ausheulen könnte? Ich ließ es bleiben. Zündete mir stattdessen eine zweite Zigarette an und verlief mich gedanklich in meinem Leben.

Wenn mir in den letzten Jahren das Thema Trennung durch den Kopf ging, war für mich jedes Mal klar: Nach Jan wird nichts mehr kommen. Jetzt nicht, weil ich an die eine große Liebe glaubte, sondern weil ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte, dass irgendwer sich für mich interessierte. Möglicherweise hatte ich in meiner frühen Jugend zu viele Fehlschläge beim ersten Antesten meiner sexuellen Ausstrahlung. Ich erinnere mich da an diesen Schwimmmeistergehilfen. Ich war 15. Er: groß, braun gebrannt, muskulös, voll männlich und zwei Jahre älter. Er fuhr eine MTX, das coolste Moped damals, aus meiner Sicht. Ich wollte ihn und marschierte, immer mein Ziel im Kopf, mit ihm »gehen« zu wollen, in den Ferien jeden Morgen neben einer Reihe Rentnern Richtung Schwimmbad. Ich versuchte möglichst attraktiv auszusehen, wenn ich im schwarzen Adidas-Einteiler an ihm vorbeimarschierte und lässig Hallo sagte. Versuchte total sportlich zu wirken und zog meine Bahnen durch das große, immer arschkalte Becken.

Das Ganze nahm jedoch eines Abends ein schnelles Ende. Dieser Schwimmmeistergehilfe war ein Kumpel von meinen Brüdern.

Natürlich bemühte ich mich, mit dabei zu sein, wenn die Kumpels zusammensaßen. Ein fataler Fehler. Knallrot lief ich an, als dieser Schwarm meiner schlaflosen Nächte während eines lustigen Kumpelabends meine Schwimmkünste mit der einer Planschkuh verglich. Die Runde hatte einen Riesenlacher und der Wahnsinnstyp setzte selbstverständlich begeistert noch ein paar Witzchen drauf. Schwimmen gehen fand ich von diesem Tag an eher nicht mehr so toll, und Olympia hat ganz sicher eine Größe verloren. Na ja, so hatte die Almsick eine Chance.

Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz lief mir Dieter über den Weg. Er schaute mich lächelnd an: »Merlin?« Mein Zustand schien Bände zu sprechen. »Mmmm«, bestätigte ich nickend und vermutlich mit flehendem Blick seine Frage. »Ich weiß ja, dass du nichts von Mittagmachen hältst, aber wennste magst?« Er schaute auf die Uhr. »In einer halben Stunde?«

Als wir dann im Cafè, direkt um die Ecke, saßen, sprudelte es aus mir heraus: »Ich kann das nicht. Schlipsträger sind nicht meine Welt. Mach mir doch schon Pipi in den Schlüpfer, wenn er nur anruft.« »Alex, hallo? Du präsentierst deine Designs vor zig Schlipsträgern, das wirst du schon hinbekommen.« »Das ist was anderes«, erwiderte ich und überlegte, was an einem Treffen mit Merlin anders ist als an einer Präsentation. Sehr viel. Schließlich habe ich mit Kunden im Vorfeld einer Präsentation nicht wochenlang über sexuelle Details geplaudert. Die wollen nur ein gutes Design und nicht durch meine Muschi lecken.

»Alex, der ist auch nur ein Mensch. Um es mal so auszudrücken: Der pinkelt und scheißt wie jeder andere Mensch. Seh es mal so: Vielleicht hat er ja auch Angst?« Ich musste lachen. »Nee, das glaube ich nicht. Das ist so ein Typ, der jede haben kann. Ein Geschäftsmann, 38 Jahre und ist schon das zweite Mal verheiratet. Ich weiß gar nicht, warum der so einen Narren an mir gefressen hat. Vermutlich sucht der nur nach einer Abwechslung in seinem öden Eheleben und da kommt ihm Klein-Alexa ganz recht.«

Obwohl ich diese Sätze sagte, hoffte und glaubte ich insgeheim, mich zu täuschen. Aus welchem Grund würde er sonst meine Zickigkeit so lange mitmachen? Weigerte ich mich doch bis heute, mit ihm am Telefon zu plaudern. Wenn ich dann doch mal, kamikazemäßig, meinen Mut zusammennahm und einen Anruf entgegennahm, statt auf eine Mailboxnachricht zu hoffen, dann schaffte ich es kaum, ein halbwegs erwachsenes Wort zu formulieren, von sinnhaften Sätzen ganz zu schweigen. So verliefen unsere Telefongespräche immer recht einseitig und waren rekordverdächtig schnell zu Ende. Ich würde ja gerne plaudern wie ein Wasserfall, vor allem selbstbewusst und auf der gleichen intimen Ebene, wie wir uns Mails, SMS und Nachrichten im Chat schrieben, aber ich wurde immer zittrig, klein und unbeholfen beim Klang seiner Stimme. In der Folge verursachte mir allein schon der Gedanke, mit ihm zu reden, Schweißausbrüche. So beschränkte ich mich darauf, seine Nachrichten auf meiner Mailbox abzuhören. Ich speicherte sie alle ab, und es konnte passieren, falls meine Sehnsucht zu groß war, dass ich eine Nachricht gleich drei - viermal abhörte. Was, nebenbei bemerkt – nein, damals gab es noch keine Flatrates für Handys – , meine Handyrechnung immens in die Höhe trieb.

Aber selbst das Abhören seiner Mitteilungen trieb mich schon in eine Krise. Ich hörte seine Stimme gerne, keine Frage, aber ich entwickelte eine Art Expertentum, wenn es um die Suche nach schlechten Schwingungen, nach Worten ging, die meine Angst vor Ablehnung bestätigten. Nicht selten hat ja das Gemeinte wenig mit dem Gesagten zu tun.

»Alex, denk doch mal darüber nach, warum der Typ sich jetzt das zweite Mal scheiden lässt.« »Weil seine Frau ihm wohl ständig nachspioniert. Hat er zumindest gesagt. Das würde dir auch auf die Nerven gehen«, erinnerte ich mich laut an einen der wenigen Chats, in deren Verlauf er über seine Ehe geschrieben hatte. »Alex, du bist ein großes Mädchen. Treff dich mit ihm, lern ihn kennen, dann wirst du schon merken, ob er dir was vormacht.«

Zurück an meinem Rechner öffnete ich, noch stehend, mein Chat-Fenster. Vielleicht war Merlin ja wieder online. Oh nein! Nicht schon wieder diese Nervensäge. Es war Dieter_2.

Gelangweilt klickte ich auf seine Profilkarte. Hoppla. Da hatte er tatsächlich die Osterfeiertage genutzt, um seine Selbstbeschreibung auszuarbeiten. Er interessierte sich für Italien. Er las Finanzmagazine und, nein, er stand auf Julio Iglesias. Wesentlich interessanter machte ihn das wirklich nicht.

Xela: Nervensäge.

Dieter_2: Was machst du?

Xela: Ich arbeite.

Dieter_2: Mit wie vielen Männern chattest du?

Xela: Mit keinem.

Dieter_2: Gut. Wie heißt du?

Xela: Du willst meine Adresse rausbekommen und kennst nicht einmal meinen Namen?

Dieter_2: Gib mir einen Hinweis

Xela: Mein Nickname.

Dieter_2: Du heißt Xela?

Xela: Nein. Mein richtiger Name steckt in meinem Nicknamen.

Dieter_2: Alex?

Als ich mich in der Community angemeldet hatte, fiel mir zum Thema Nicknamen nichts wirklich Bombiges ein. Rose lag in der engeren Wahl, weil ich Rosen liebe. Rote Rosen. Dummerweise schien ich mit meiner Ansicht, Rose sei ein Knallernick, nicht alleine zu sein. Es gab ihn schon in zig Variationen. Da ich die vom System vorgeschlagenen Alternativen wie Rose_2 für einen schlechten Kompromiss hielt, meldete ich mich, ohne lange nachzudenken, mit meinem Vornamen, rückwärts geschrieben, an.

Xela: : ))) ... und, wie ist dein richtiger Name?

Dieter_2: Adriano.

Dieter_2: Und jetzt deine Telefonnummer.

Xela: Nein!

Dieter_2: Ich will doch nur deine Stimme hören.

Xela: Ich will aber deine nicht hören.

Dieter_2: Dann schick mir ein Bild von dir.

Xela: Nein! Warum sollte ich?

Schick du mir eins von dir.

Dieter_2: Ich habe keins von mir.

Xela: Das glaube ich nicht.

Dieter_2: Ehrlich. Es gibt kein Bild von mir. ALEX!

Das ging eine Ewigkeit so weiter. Er wollte irgendwas von mir und ich wiederholte zeilenweise meine Neins. Die Sache mit dem Bild konnte er sich eh abschminken. Merlin hatte ich in der ersten Woche des Kennenlernens ein Urlaubsbild von mir geschickt. Lange Haare, braun gebrannt, Urlaubsstimmung pur. Nicht ganz dieselbe Alexa wie heute. Vielleicht ja auch ein nicht unerheblicher Grund, warum ich dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegensah, aber als er das Bild von mir bekam, hatte ich noch nicht im Geringsten darüber nachgedacht, dass die Möglichkeit besteht, von der Virtualität in die Realität überzuwechseln. Natürlich hatte ich ihm inzwischen erzählt, dass meine Haare inzwischen nicht mehr weich über meine Schultern fallen, ich Kreolen an den Ohren heute eher lästig finde und Röcke nur in Ausnahmesituationen, wie Urlaub, zum Tragen kommen.

Adriano würde dieses Bild von mir auf keinen Fall bekommen. Warum? Weil er in mir keine romantischen Gefühle weckte und letztlich, Adriano war ja nur irgendwer im großen Pool der Chatter.

Xela: Ich mache dir einen Vorschlag:

Du gibst mir deine Telefonnummer und ICH werde dich, vielleicht, wenn mir mal schrecklich langweilig ist, anrufen.

So langweilig konnte es mir gar nicht werden und solange ich noch mit Jan die 90 qm Wohnung teilte, würde ich eh mit niemandem telefonieren. Und schließlich, wenn ich ein Computerspiel spiele, will ich mit dem auch nicht telefonieren.

Dieter_2: 0140 45 69 69

Xela: Na wenn das mal ein Zufall ist, mit der 69. Soll mir das etwas Spezielles sagen?

Dieter_2: Magst du die Stellung?

Xela: Kann sein.

Dieter_2: Ruf mich an!

Xela: Nein!

Dieter_2: Ich muss jetzt los. Will dir noch was Wichtiges sagen.

Xela: Was denn? Schreib’s doch.

Dieter_2: Das geht nicht. Muss es dir sagen.

Xela: Ich rufe dich nicht an. Schreibs mir.

Dieter_2: Nein. Ruf mich an, dann sag ich’s dir.

Xela: Nervensäge.

Dieter_2: Trotzkopf. Lass die Finger von anderen Männern. Wir sehen uns.

Xela: Ciao.

Extra nervig der Typ, dennoch schmeichelhaft, seine Hartnäckigkeit. Ein nicht geringer Teil von mir genoss diese Form von Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Vielleicht war ich ja doch was Besonderes. Immerhin, zwei Männer, die mich zur Zeit belagerten. Das war 200% mehr Aufmerksamkeit von der Männerwelt als in den letzten 14 Jahren.

Da es trotz der Projektflaute noch einiges für mich zu erledigen gab, loggte ich mich aus dem System aus. Es grenzte sowieso schon an ein Wunder, dass ich noch keinen Anpfiff von oben bekommen hatte. Offensichtlich vertraute man mir nach wie vor, als williges Arbeitstier, ohne Ambitionen ein Privatleben zu entwickeln. Nur dank meiner Routine schaffte ich es an diesem Tag, meine Arbeit zu erledigen.

Wie ich diese Woche rum bekam? Eine reine Geduldsprobe. Wenn ich nicht Merlins extravaganten Vorstellungen von unserem gemeinsamen Date las, diskutierte ich mit Adriano die Telefon- und Bildproblematik durch.

Alain F. tickerte mich an. Schrieb, er käme an so einem interessanten Profil nicht vorbei und müsste mich kennenlernen. Wow, Nummer drei. Mein Selbstwertgefühl schwappte fast über. Ich lehnte seine Anfrage ab. Schließlich ist die Gefahr, sich zu verheddern, während des Chattens nicht gering. Zumindest, wenn man ganz nebenbei auch noch seinem Job nachgehen muss. Die Vorstellung, dass Merlin mir gerade schrieb, wie doll er mich lecken will, und ich antwortete ihm mit einem Nein, oder wahlweise mit Nervensäge, ist nicht gerade prickelnd. Adriano würde vermutlich vom Glauben abfallen, wenn ich ihm Worte wie »Seufz« oder schlimmer noch »vermisse dich« zusenden würde. Alain F. ahnte offensichtlich, dass ich zur Zeit anderweitig beschäftigt war und schrieb: »Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du den Kopf frei für mich hast. Melde dich einfach.«

Das Wochenende vor dem Treffen mit Merlin wurde zu einer Nervenzerreißprobe. Als ob es nicht reichen würde, dass ich mir Gedanken um meine Bestimmung, das Zusammentreffen mit meinem Mister Perfect machte, lag auch noch ein Verwandtschaftsbesuch in der Eifel an. Mein Neffe feierte Kommunion, und natürlich waren Jan und ich eingeladen. Super. Wer konnte denn ahnen, als wir die Einladung bekommen hatten, dass wir zu dem Termin in Trennung leben würden?

Da wir beide bisher unserer Verwandtschaft von dieser einschneidenden Veränderung noch nichts erzählt hatten und auch keine Lust verspürten, uns die jeweiligen Kommentare anzuhören, einigten wir uns stillschweigend darauf, es fürs Erste nicht zu erzählen. Warum auch, es ging ja nur um getrennte Wohnungen. Eine Entscheidung, die garantiert keiner verstehen würde.

Während der Kommunionsmesse hatte ich seine erste SMS erhalten. »Ich werde dir zärtlich in deine Augen schauen, während ich meinen harten Schwanz in deine nasse Muschi stoße.«