Chefarzt Dr. Holl 1936 - Katrin Kastell - E-Book

Chefarzt Dr. Holl 1936 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Nach einer schweren Grippe plagen Nora noch immer Schwächeattacken, und das Kribbeln in ihren Beinen hört einfach nicht auf. Um sich endlich wieder für den Alltag fit zu machen, beschließt die Versicherungsfachangestellte, zum Geocaching in die Ammergauer Voralpen aufzubrechen. Wandern an der frischen Bergluft wird mir guttun, denkt sie. Und kann es kaum erwarten, die GPS-Schnitzeljagd zu beginnen ...
Nur wenige Stunden später ...
Die Sonne geht bereits hinter den Gipfeln unter, die Schönheit der Bergwelt versinkt in tiefster Nacht. Seit Stunden sitzt Nora auf dem harten Waldboden. Verletzt und unfähig, sich zu bewegen. Ihr Herz rast. Wieder geht sie in den Vierfüßlerstand und versucht, sich aufzurichten. Doch ihre Beine versagen, eiskalte Angst kriecht in ihr empor.
Nora ruft um Hilfe. Doch als Antwort ertönt nur ein heftiges Donnergrollen ...


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Seitenzahl: 131

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Gelähmt in den Bergen

Vorschau

Impressum

Gelähmt in den Bergen

Nora stürzt beim Geocaching – wird sie rechtzeitig gerettet?

Von Katrin Kastell

Nach einer schweren Grippe plagen Nora noch immer Schwächeattacken, und das Kribbeln in ihren Beinen hört einfach nicht auf. Um sich endlich wieder für den Alltag fit zu machen, beschließt die Versicherungsfachangestellte, zum Geocaching in die Ammergauer Voralpen aufzubrechen. Wandern an der frischen Bergluft wird mir guttun, denkt sie. Und kann es kaum erwarten, die GPS-Schnitzeljagd zu beginnen ...

Nur wenige Stunden später ...

Die Sonne geht bereits hinter den Gipfeln unter, die Schönheit der Bergwelt versinkt in tiefster Nacht. Seit Stunden sitzt Nora auf dem harten Waldboden. Verletzt und unfähig, sich zu bewegen. Ihr Herz rast. Wieder geht sie in den Vierfüßlerstand und versucht, sich aufzurichten. Doch ihre Beine versagen, eiskalte Angst kriecht in ihr empor.

Nora ruft um Hilfe. Doch als Antwort ertönt nur ein heftiges Donnergrollen ...

Nora Keller schreckte aus dem Schlaf hoch. Hatte es gerade geklingelt?

Jede Faser in ihr sehnte sich danach, wieder in die Traumwelt abzutauchen. Das Sofa war so weich und kuschelig warm. Sie wollte das jetzt nicht aufgeben!

Wahrscheinlich war es ohnehin nur die lästige Nachbarin von nebenan, die sich wieder einmal ein Ei oder eine Zwiebel leihen wollte. Sie sollte es morgen wieder versuchen oder schnell in den Supermarkt nebenan gehen ...

Gerade wollte sich Nora wieder in Kissenlandschaft fallen lassen, da klingelte es erneut lang und quälend schrill.

Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie sich noch nicht um eine erträglichere Türklingel bemüht hatte. Doch sie blieb weiter standhaft. Sie ging nicht zur Tür, sondern ließ sich mit einem Seufzer endgültig wieder auf ihr gemütliches Sofa zurücksinken.

Wer auch immer da etwas von ihr wollte, musste warten und später wiederkommen. Und wenn es ein hartnäckiger Paketbote war, der Einlass begehrte: Sollte er doch bei den anderen Parteien im Haus klingeln!

Aber der Besucher ließ nicht locker. Der Klingelrhythmus wurde aufdringlicher und fordernder.

Ob ein Kollege aus der Firma vor der Tür stand? Vielleicht wollte jemand nach ihr schauen. Immerhin war sie nun schon seit zehn Tagen krankgeschrieben ...

Das Klingeln wiederholte sich.

Genervt stöhnte Nora auf: »Mein Gott, was gibt es denn so Dringendes?«

Dann biss sie die Zähne zusammen und stemmte sich hoch. Das Kribbeln in den Beinen und die leichte Taubheit der Haut ignorierte sie dabei, so gut es ging.

Nora hatte gerade eine heftige Grippe hinter sich. Das glaubte sie jedenfalls. Die Krankheit hatte ihren Körper geschwächt. Aber sie meinte, bereits eine gewisse Besserung zu spüren.

Ihr Hausarzt hatte infolgedessen eine Pseudoparese der Beine diagnostiziert. So etwas käme gelegentlich nach einer Infektion vor. Sie solle sich aber keine Sorgen machen, da die Taubheitsgefühle von selbst wieder verschwänden. Schonung und regelmäßige Physiotherapie seien für sie die Mittel der Wahl.

Nur leider ging der Genesungsprozess viel zu langsam voran. Die Beinmuskeln blieben zu schwach. Sie sollte endlich zusätzlich mit einem leichten Ganzkörpertraining anfangen.

Natürlich wusste Nora, dass es nicht nur ihre Schwäche in den Beinen war, die sie belastete. Auch der Ärger mit Bastian spielte dabei eine Rolle. Zwar hatte sie sich nun endgültig von ihm getrennt, doch immer wieder kam in ihr die Frage hoch, ob sie richtig gehandelt hatte.

Als sie schon dachte, an der Tür wäre endlich Ruhe eingekehrt, klingelte es erneut, diesmal mindestens zehn Sekunden am Stück. Und dazu hämmerte jemand noch heftig gegen ihre Wohnungstür.

Sollte das jetzt so weitergehen? Dieser Besucher musste doch spüren, dass sie, auch wenn sie zu Hause war, nicht gestört werden wollte. Sie war doch nicht verpflichtet, jedem, der Einlass begehrte, die Tür zu öffnen.

***

Um nach dem x-ten Klingeln die Odyssee anhaltender Ruhestörung endlich zu beenden, erhob sich Nora nun doch, blickte durch den Türspion und rief: »Hallo, wer ist da?«

Ein großer Blumenstrauß wurde in die Linse gehalten. Darunter erkannte sie ein Paar stämmige Männerbeine. Jemand rief etwas.

Nora seufzte ergeben. Na gut, dann öffnete sie eben doch die Tür ...

Plötzlich hing der riesenhafte Blumenstrauß in ihrem Gesicht. Noras Miene verdüsterte sich.

»Bastian, was soll das? Und wie kommst du überhaupt ins Treppenhaus?«

»Ich liebe dich«, erklang die vertraute Stimme ihres Ex-Freundes hinter den Blumen.

»Das fällt dir jetzt so plötzlich ein? Und dann war es sogar so dringend, dass du es mir sofort persönlich mitteilen musstest?«

»Du gehst ja nicht ans Telefon. Und um das mal richtigzustellen: Ich liebe dich nicht auf einmal wieder, sondern immer noch. Vielleicht war mir das kurzfristig mal nicht klar genug, aber was interessiert uns die Vergangenheit? Das Hier und Jetzt zählt. Zum Glück habe ich noch rechtzeitig erkannt, dass du meine große Liebe bist und für immer bleiben wirst.«

Nora lachte spöttisch auf.

Doch Bastian ließ sich nicht beirren und fuhr fort: »Bitte verzeih mir. Das, was passiert ist, tut mir unendlich leid. Es war ein Riesenfehler und wird nicht wieder vorkommen. Soll ich niederknien, mich auf den Boden werfen, damit du mir glaubst? Ich tu alles, was du von mir verlangst!«

Wortlos wandte die junge Frau sich ab, ließ die Tür aber offen. Er warf sie ins Schloss und kam ihr sofort nach.

Nora ließ sich aufs Sofa fallen und versuchte, tief durchzuatmen.

Eine weitere Auseinandersetzung würde sie jetzt nicht ertragen.

»Wir haben Schluss gemacht«, erinnerte sie ihn.

Bastian ging an den Schrank und holte die große Vase heraus, die Noras Mutter ihrer Tochter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er füllte sie mit Wasser, setzte die Blumen hinein und fummelte noch ein wenig an ihnen herum, bis er zufrieden war. Erst dann nahm er Nora gegenüber Platz.

»Ich bitte dich von Herzen um eine zweite Chance. Die Affäre mit Claudia hatte keinerlei Bedeutung.«

»Unsere Beziehung ist toxisch geworden. Darum war sie ohnehin am Ende. Deine Affäre mit Claudia war nur noch das i-Tüpfelchen.«

Bastian Schöller schüttelte den Kopf.

»Verstell dich nicht länger. Ich sehe doch immer noch die Zuneigung in deinen Augen.«

Nora blinzelte verwundert.

Was sollte in ihren Augen zu sehen sein? Klar, Bastian versuchte, sie mit allen Tricks friedlich zu stimmen. Aber sie ließ sich nicht von ihm beeindrucken.

»Ach, wirklich? Ich weiß nicht, was es da zu sehen gibt. Aber du irrst dich, wenn du in meinen Augen Zuneigung zu entdecken meinst. Ich liebe dich nicht mehr. Ist das deutlich genug?«

»Ich glaube dir nicht.«

»Das ist dein Problem. Ich will, dass du jetzt gehst. Ich fühle mich noch nicht gut genug für so viel sinnloses Gerede. Ich brauche Ruhe. Also spar dir deine Worte.« Sein verständnisvolles Lächeln brachte sie zur Weißglut. Ihre Stimme wurde lauter. »Deine Anwesenheit stört mich, verstehst du das? Ich habe dich nur reingelassen, weil ich Aufsehen im Treppenhaus vermeiden wollte und noch nicht so lange stehen kann.«

»Ich habe mit deiner Mutter telefoniert«, überging Bastian Noras Rausschmiss geradeso, als habe er ihre Worte nicht gehört. »Sie findet immer noch, dass wir gut zusammenpassen. Ich soll dir ausrichten, sie würde sich über unsere Versöhnung freuen.«

Nora schnaufte. »Nur weil meine Mutter dich gut findet, soll ich dir wieder um den Hals fallen? Pff, da irrt ihr euch aber gewaltig. Ich bin erwachsen und kann ganz allein entscheiden, was ich will und was nicht. Und daher sage ich es nur noch ein einziges Mal: Geh bitte, und zwar sofort. Oder wenn du das nicht verstehst: Raus hier, sonst rufe ich die Polizei!«

»Na gut.« Bastian stand auf. »Ich sehe, dass es dir aus gesundheitlichen Gründen noch nicht gelingt, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber keine Sorge, das wird wieder. Du liebst mich. Das weiß ich, und das spüre ich. Ich kann warten. Ich komme wieder. Und wenn du etwas brauchst, egal, was es ist: Ruf mich an. Ich besorge es dir sofort.«

Er neigte sich zu ihr und strich ihr mit einer zärtlichen Geste über das dunkelbraune Haar, das sie am Hinterkopf zusammengebunden hatte. Es brauchte längst einen neuen Schnitt, aber der musste eben noch warten.

Mit Erleichterung hörte Nora, wie die Tür wieder ins Schloss fiel. Den Schlüssel zu ihrem Apartment hatte sie schon vor vier Wochen von ihm zurückverlangt ...

***

Dr. Jochen Hansen, Assistenzarzt an der Münchener Berling-Klinik, befand sich in seiner Facharztausbildung zum Neurologen. Er hatte noch zwei Jahre vor sich, wusste aber schon jetzt, dass er auf dem richtigen Weg war.

»Therapieoptionen erworbener Myopathien«, war das Thema seiner letzten Fortbildung gewesen. Er schaute aufmerksam die auf dem Laptop gespeicherten Unterlagen durch.

Sein Pager vibrierte. Chefarzt Dr. Holl erwartete ihn bei einer Patientin, deren Diagnose nun vorlag.

Inzwischen war es bereits zwanzig Uhr. Seine Schicht war längst zu Ende. Er hätte gehen können.

Aber irgendwie fühlte sich der alleinstehende Assistenzart in der Berling-Klinik mehr beheimatet als in seinem spärlich eingerichteten Apartment in Untermenzing. Hier ging es familiär zu, manchmal etwas ruppig, aber immer fand man jemanden, mit dem man reden konnte. Niemand ging achtlos an einem vorbei, wenn man traurig dreinschaute oder laut seufzte.

Auch wenn ein Kollege dann locker »He, Alter, was ist los?«, fragte, wollte er eine ehrliche Antwort hören.

Als Jochen einmal an heftigem Liebeskummer gelitten hatte, hatten ihn die Chirurgen Michael Wolfram und Jan Jordan in die Mitte genommen und waren mit ihm einen trinken gegangen. Naja, ein Glas, ein einziges hatte natürlich nicht gereicht ...

Zwar hatten sie auch nicht gewusst, wie man das Leid des Verlassenen erfolgreich bekämpfte, aber sie waren gute Zuhörer gewesen. Das allein bewirkte schon ein schwaches Licht am Ende einer langen Phase dunklen Kummers. Und Jans Ansage, dass auch der größte Liebeskummer mit einem Ablaufdatum versehen war, hatte ihm die Gewissheit gegeben, dass letztlich auch er getröstet sein würde.

Der Klinikchef erwartete ihn schon.

»Gut, dass Sie noch da sind, Kollege Hansen. Ich wollte Sie beim Gespräch mit der Patientin dabeihaben. Und danach gehe ich dann endlich heim. Ich bin seit achtzehn Stunden im Dienst.«

»Ich auch«, sagte der Assistenzarzt. »Aber es kommt mir gar nicht so lang vor. Um was geht es?«

»Um eine dreißigjährige Carolin Keller, die meine Anordnungen nicht befolgt hat und wohl auch in Zukunft nicht befolgen wird, wenn wir ihr nicht gründlich ins Gewissen reden. Ich bin mir sicher, dass sie in Tränen ausbrechen wird, wie es schon einmal der Fall gewesen ist. Aber davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Ich habe Sie dazu gebeten, weil sie in Ihr Fachgebiet fällt.«

»Was ist denn passiert?«

»Das, womit wir oft zu tun haben. Sie fühlte sich beschwerdefrei und hat ihre Medikamente eigenmächtig abgesetzt, weil sie nicht so viel Chemie einnehmen wollte. Nun hat sie einen neuen Schub. Er hätte verhindert werden können. Sie werden diese Patientin übernehmen und sie im Rahmen regelmäßiger Kontrollen überwachen. Bitte halten Sie Ihren Vorgesetzten, Doktor Pfeffermann, und mich hierbei immer auf dem Laufenden.«

»Schub? Sie sprechen also von MS?«

»Ganz genau. Kommen Sie.«

Stefan Holl winkte den Assistenzarzt mit sich. Vor dem Krankenzimmer wandte er sich noch einmal um und warf Jochen einen bedeutungsvollen Blick zu. Machen Sie Ihre Sache gut!, sollte er wohl ausdrücken.

Die Patientin schaute den beiden Ärzten zerknirscht entgegen.

»Tut mir wirklich leid, Doktor Holl, aber ich war der Meinung ...« Hilflos brach sie ab.

»Schon gut. Bitte regen Sie sich nicht auf. Wenn Sie einverstanden sind, werden wir uns ein wenig unterhalten. Sie können uns vertrauen. Wir wollen Ihnen nur helfen.«

Seine Bereitschaft für ein vertrauliches, friedliches Gespräch signalisierte er mit einem Augenzwinkern.

»Aber ja, natürlich wollen Sie das«, bestätigte die Patientin hastig. »Es wäre dumm, etwas anderes anzunehmen.«

»Wenn das so ist, würde mich interessieren, warum Sie die Medikation eigenmächtig verändert haben.« Er machte eine kleine Pause. »Aber das kann noch eine Weile warten.«

Mithilfe des Tablets, das Dr. Holl ihm in die Hand gedrückt hatte, machte sich Jochen Hansen schnell über den Krankheitsverlauf der Frau kundig.

»Mich begleitet heute mein werter Kollege Hansen«, stellte Dr. Holl seinen Begleiter vor. »Er ist ein sehr guter Arzt und möchte mit Ihnen über Ihre Krankheit sprechen. Da er nicht im Detail weiß, was ich Ihnen bereits erklärt habe, wird er mit seinen Ausführungen von vorn beginnen. Aber, liebe Frau Keller, doppelt hält bekanntlich besser. Es muss Ihnen zusätzlich klar sein, dass Sie selbst viel dazu beitragen müssen, um mit der Multiplen Sklerose leben zu können.«

Nun ließ Stefan Holl den jungen Kollegen nach vorne treten.

»Grüß Gott, Frau Keller. Meinen Namen kennen Sie, Doktor Holl hat mich ja vorgestellt. Ich werde Ihnen erklären, was es mit der Multiplen Sklerose auf sich hat und wie man sie beherrschen kann.«

»Ich höre Ihnen zu«, sagte sie.

»Obwohl die Krankheit ursächlich nicht heilbar ist, gibt es recht gute Behandlungsmöglichkeiten. Vielleicht findet man eines Tages das ultimative Medikament, aber noch haben wir es nicht. Darum ist es von hoher Wichtigkeit, das Fortschreiten der MS aufzuhalten. Das geht aber nur mit den Medikamenten, die Ihnen verordnet wurden. Die müssen Sie nehmen, ohne Wenn und Aber. Auch wenn Sie sich gut fühlen. Das heißt, es darf niemals eine Unterbrechung geben. Die Multiple Sklerose muss nicht zwangsläufig schwer verlaufen.«

Die Dreißigjährige zog schuldbewusst den Kopf ein.

»Nach der Diagnose bin ich in eine Depression verfallen. Ich sah mich schon gelähmt im Rollstuhl sitzen. Ich hatte fürchterliche Angst.« Tränen traten ihr in die Augen. »Entschuldigen Sie.« Mit den Handflächen wischte sie sich über das Gesicht. »Ich war unvernünftig und dumm. Und sehr verunsichert. Dann waren die Symptome plötzlich weg. Ich war der Meinung, dass es eine andere Krankheit als MS sein musste. Es ging mir wieder gut. Ich hatte wieder Lebensfreude. Dann kam die Krankheit zurück.« Sie brach ab.

»Wenn Sie sich gut fühlen, bedeutet das nicht, dass die Krankheit verschwunden ist. Sie macht nur eine Pause. Und damit diese Pausen immer länger werden, müssen sie sich an unsere Anordnungen halten.« Jochen Hansen lächelte die Patientin freundlich an. »Das ist der Pakt zwischen Ihnen und uns. Wir verbünden uns gemeinsam gegen die Krankheit, damit Sie besser damit zurechtkommen. Ja, es kann zu Behinderungen kommen, aber die Lebenserwartung mit dieser Krankheit ist fast immer normal.«

»Mein Freund sieht das anders. Er hat mich schon verlassen. Ich bin wieder frei. Verzeihen Sie, damit wollte ich Ihnen keinen Antrag machen, Sie wissen ja, wie man halt so sagt.«

»Natürlich verstehe ich das, Frau Keller. Ich kann nachvollziehen, wie Sie sich fühlen. Sehen Sie es doch mal von der anderen Seite. Ein Mann, der wegen Ihrer Krankheit zurückschreckt, hat Sie gar nicht verdient.«

»Warum bekommt man MS? Habe ich mich falsch ernährt oder zu wenig Sport getrieben?«

Darauf antwortete Dr. Holl bedauernd: »Das wissen wir nicht. Der Multiplen Sklerose liegt ein ganzes Bündel an Ursachen zugrunde. Das Immunsystem scheint in hohem Maße beteiligt zu sein. Es sieht im körpereigenen Gewebe einen Feind und versucht, ihn zu eliminieren. Das bezeichnen wir als eine Autoimmunreaktion. Bei MS werden die Nerven im Gehirn und im Rückenmark angegriffen. Die Folgen dieser Nervenschädigung haben Sie bereits am eigenen Leib erfahren müssen.«

Die Patientin lauschte nun aufmerksam den Worten des Arztes.

Jochen Hansen ergriff wieder das Wort: »Wir führen morgen wieder eine MRT des Gehirns und des Rückenmarks durch, dann stellen wir Sie mit Medikamenten neu ein. Sie müssen mir jetzt ganz genau Ihre Symptome schildern. Das ist sehr wichtig, um die Dosis Ihrer Medikamente festzulegen. Die sollen dann Ihr Immunsystem hindern, die Zellen anzugreifen. Sie bekommen jetzt sechs Monate lang ein Medikament, das zu den Immunsuppressiva gehört. Einverstanden?«

»Ich bin mit allem einverstanden«, erwiderte Carolin Keller.

»Dann sind wir uns ja einig.«

Zufrieden nickte Dr. Stefan Holl Carolin zu, bevor er das Krankenzimmer verließ.

Jochen Hansen zog sich einen Stuhl ans Krankenbett heran, um das weitere Vorgehen noch einmal im Detail mit der Patientin zu besprechen.

***

»Hallo, Süße.« Die Stimme ihrer Mutter klang etwas vorsichtig. Offensichtlich wollte sie erst mal abwarten, warum ihre Tochter anrief. »Wie geht es dir?«

»Ich hatte eine Grippe«, erwiderte Nora. Sie hatte die Stimme erhoben.