Chefarzt Dr. Holl 1966 - Katrin Kastell - E-Book

Chefarzt Dr. Holl 1966 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Hochzeitsfotografin Mila König bricht in ihrer Heimatstadt Düsseldorf die Zelte ab, um sich mit ihrer großen Liebe Darius ein neues Leben in München aufzubauen. Seitdem geht alles Schlag auf Schlag: die Verlobung, der Umzug und Milas Schritt in die Selbstständigkeit. Große Umwälzungen, also, die ein einzelnes Leben ganz schön auf den Kopf stellen können. Doch Mila ist überzeugt: Zusammen mit Darius hält sie allen Stürmen des Lebens stand.
Der erste Gegenwind lässt auch nicht lange auf sich warten. Darius’ Freunde und Familie sind wenig begeistert von der Verlobung der beiden. Schließlich liegt seine Beziehung zu Ex-Freundin Jenny noch nicht lange zurück. Wäre diese nicht depressiv geworden, hätten die beiden wahrscheinlich geheiratet, glaubt sein Umfeld und hält die neue Liaison für eine Kurzschlussreaktion.
Als es dann auf der Arbeit auch nicht rosig läuft, beginnt Mila, nachts immer öfter von Darius’ Ex-Freundin zu träumen. Es sind Albträume, pechschwarz und fratzenhaft. Bald ist von der übersprühenden Energie und Lebenslust der 31-Jährigen kaum noch etwas übrig. Sie erkennt sich selbst nicht wieder. Wird sie Jenny etwa immer ähnlicher?


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Inhalt

Cover

Das Fremde in mir

Vorschau

Impressum

Das Fremde in mir

Als eine Patientin sich selbst nicht mehr wiedererkannte

Von Katrin Kastell

Hochzeitsfotografin Mila König bricht in ihrer Heimatstadt Augsburg die Zelte ab, um sich mit ihrer großen Liebe Darius ein neues Leben in München aufzubauen. Seitdem geht alles Schlag auf Schlag: die Verlobung, der Umzug und Milas Schritt in die Selbstständigkeit. Große Umwälzungen also, die ein einzelnes Leben ganz schön auf den Kopf stellen können. Doch Mila ist überzeugt: Zusammen mit Darius hält sie allen Stürmen des Lebens stand.

Der erste Gegenwind lässt auch nicht lange auf sich warten. Darius' Freunde und Familie sind wenig begeistert von der Verlobung der beiden. Schließlich liegt seine Beziehung zu Ex-Freundin Jenny noch nicht lange zurück. Wäre diese nicht depressiv geworden, hätten die beiden wahrscheinlich geheiratet, glaubt sein Umfeld und hält die neue Liaison für eine Kurzschlussreaktion.

Als es dann auf der Arbeit auch nicht rosig läuft, beginnt Mila, nachts immer öfter von Darius' Ex-Freundin zu träumen. Es sind Albträume, pechschwarz und fratzenhaft. Bald ist von der übersprühenden Energie und Lebenslust der 31-Jährigen kaum noch etwas übrig. Sie erkennt sich selbst nicht wieder. Wird sie Jenny etwa immer ähnlicher?

Helle Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Erkerfenster und erleuchteten das dunkle Wohnzimmerparkett. Liebevoll streiften sie das L-förmige Sofa, den weichen Hochflorteppich und die vielen Fotozeitschriften auf dem verglasten Couchtisch, doch bis zum langen Flur hinter der geöffneten Tür schafften sie es nicht.

Am anderen Ende des Ganges stand eine weitere marmorweiße Tür offen, die ins Treppenhaus führte. Dort sammelte die zierliche Mila ihre ganze Kraft, um den mit Büchern gefüllten Karton über die verbliebenen Stufen zu hieven. Ächzend stellte sie die Kiste auf dem Boden ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was für eine Odyssee sie hinter sich hatten!

Sie lehnte sich über das schwarze Stahlgeländer und sah hinunter ins Erdgeschoss, in dem kein einziger Umzugskarton mehr zu sehen war. Auch Darius entzog sich ihrem Blickfeld, doch seine schweren Schritte hallten durch das ganze Gebäude.

Mila lächelte. »Du hast es fast geschafft!«, rief sie hinunter. Dann knotete sie ihr dichtes Haar zu einem festeren Dutt und betrat mit Schmetterlingen im Bauch die Wohnung. Sie stellte den Karton zu den anderen, atmete einmal tief aus und ließ sich auf das Sofa fallen. Glücksgefühle durchströmten ihren gesamten Körper. Sie streckte ihre Hand dem Licht entgegen und betrachtete verträumt ihren Verlobungsring. So fühlte es sich also an, nach Hause zu kommen.

»Das heißt dann wohl, dass ich den Leihwagen allein zurückfahre?«, hörte sie Darius mit sanfter Stimme hinter sich sagen. Mila richtete sich auf und blickte ihn amüsiert an.

»Auf keinen Fall. Du hast einen fürchterlichen Orientierungssinn. Ich komme mit.«

Sein empörtes Gesicht brachte sie fast zum Lachen.

»Nur, weil ich mich in Augsburg ein einziges Mal ...«

»Drei Mal.«

»... zwei Mal verfahren habe!«, rief Darius aus.

»München ist meine Heimatstadt, da brauche ich meist nicht einmal ein Navi.«

Das bezweifelte Mila, doch sie sagte nichts. Darius hatte viele Qualitäten, die sie gleichermaßen bewunderte und liebte, doch die Fähigkeit, von A nach B zu kommen, gehörte nicht dazu.

Sie stand auf und sah auf die vielen Kisten, die sich in einer Ecke des Wohnzimmers stapelten.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass wir nun wirklich zusammenleben. Wir zwei in dieser schönen Stadt, in dieser herrlichen Wohnung! Sieh dir nur diesen Erker an!«

Sie stand auf und suchte nach ihrer Spiegelreflexkamera. Die Lichtverhältnisse waren fantastisch. Frühlingsstrahlen brachen und tanzten durch die Baumkronen hinein in die Wohnung und erleuchteten den Sofabereich wie auf einer Theaterbühne.

Kaum hatte sie ihre Kamera in der Hand, umschlangen sie Darius' starke Arme von hinten. Sie spürte seine warmen Lippen auf ihrer Halsbeuge.

»Unter solchen Bedingungen kann ich nicht arbeiten«, witzelte sie, doch sie bemerkte gleich, dass ihr Liebster in ernsterer Stimmung war.

»Du kannst es nicht fassen, dass wir zusammenleben? Ich kann es nicht fassen, dass du meinen Antrag angenommen hast. Weißt du, worauf du dich da einlässt?«

»Natürlich«, erwiderte Mila sanft und drehte sich zu ihm um. Sie strich ihm eine braune Strähne aus dem Gesicht.

»Ich weiß, das ist unglaublich, aber schon als wir uns zum ersten Mal im Fotolabor begegnet sind, wusste ich, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen will.«

Sie ahnte, wie kitschig das klang. Ihre Freunde in Augsburg freuten sich zwar sehr für ihr gefundenes Liebesglück, doch niemand kaufte ihr die schicksalhaften Gefühle ab, die sie bei diesem ersten Kennenlernen gespürt hatte.

»Geht das nicht alles sehr schnell, mein Kind?«, hatte ihre Mutter gefragt, als sie von ihrer Verlobung erzählt hatte, nicht einmal drei Monate, nachdem sie dem verträumten Fotolaboranten mit den strahlend blauen Augen die vielen Filmrollen zum Entwickeln gebracht hatte.

Darius hatte ihr einmal eine ganz ähnliche Frage gestellt, gleich nach ihrem ersten Date.

»Es ist so schön mit dir. Darf ich dich morgen in Augsburg besuchen kommen, oder geht dir das zu schnell?«

Normalerweise wäre es so gewesen. Sie hatte die Zweifel verstanden, sowohl die von Darius als auch die ihrer Mutter. Doch es war anders gewesen: Nichts ging ihr zu schnell. Weder das baldige Wiedersehen nach ihrer ersten Begegnung noch der kurz darauffolgende Antrag. Was ihn betraf, wollte sie zu allem Ja sagen. Sie spürte keine Angst, keine Unsicherheit. Von Anfang an war es leicht mit ihm gewesen. Es gab es keine Komplikationen.

Sie dachte an ihre Freundin Lisbeth, die einmal mit ihrer zweijährigen Tochter auf dem Arm zu ihr gesagt hatte: »Keine Frau versteht die Liebe zu einem Kind, bis sie nicht selbst Mutter geworden ist.«

Für Mila galt das genauso auf Beziehungsebene: Kein Mensch konnte wahre Liebe wirklich verstehen, bis ihm diese nicht selbst über den Weg gelaufen war. Ihr war das geschehen. Sie hatte keine Beweise dafür. Sie spürte es einfach.

Darius küsste sie glücklich. Lange verharrten sie in ihrer verschlungenen Position, dann löste sich Mila von ihm.

Ihre Schläfe pochte schmerzhaft. In letzter Zeit plagten sie öfters Kopfschmerzen, doch zumindest heute machten sie Sinn: In all der Aufregung hatte sie viel zu wenig getrunken und gegessen.

»Komm, mein Schatz. Lass uns das Auto zurückbringen und dann endlich zu Mittag essen. Ich habe einen Bärenhunger«, sagte sie also und gab Darius einen Kuss auf die Nasenspitze.

Dann schnappte sie sich Handtasche und Kamera und warf einen letzten Blick zurück. Ihre Augen huschten über den Couchtisch und die darauf verstreuten Zeitschriften. Neben dem neusten Hochglanzmagazin sah sie auf weißem, gewelltem Papier in schnörkeliger Schrift die Einladung zu einem ihrer nächsten Aufträge. Ein glückliches Paar lächelte unter der dick gedruckten Aufschrift: »Katharina und Tom geben sich das Jawort.«

Was für einen schönen Job sie doch hatte!

***

»Ach, wie nett.«

Die Einladung, die mit einem Magnet an der Kühlschranktür befestigt war, stach Julia Holl sofort ins Auge. In schnörkeliger Schrift verkündete das glückliche Paar auf dem weißen, gewellten Papier ihre baldige Hochzeit. Die ehemalige Kinderärztin nahm die Karte zwischen ihre Finger und klappte sie auf.

»Sag einmal, Stefan. Sind das ehemalige Patienten von dir?«

Ihr Mann blickte von seiner Zeitung auf und sah schließlich die Karte in ihrer Hand. Er lächelte.

»Ja. Katharina Selig wurde wegen einer Herzmuskelentzündung bei uns behandelt. Und Tom Baier lernte ich vor vielen Jahren nicht als Patient, sondern als Angehörigen näher kennen. Seine erste Frau verbrachte ihre letzten Wochen bei uns auf der Palliativstation.«

Stefan Holl war zwar in erster Linie Chefarzt der Gynäkologie, doch als ärztlicher Direktor der Berling-Klinik beriet und behandelte er auf allen Stationen in Kooperation mit den jeweiligen Fachärzten. Mit Tom Baier fühlte er sich nach wie vor freundschaftlich verbunden und hatte auch nach dem Tod seiner Frau lose Kontakt gehalten.

»Was für ein Zufall, dass die beiden sich gefunden haben«, staunte Julia.

Stefan nickte. »Tom hat eine kleine Tochter, Josefine heißt sie. Sie geht in dieselbe Schule, in der Frau Selig Sport unterrichtet.«

Julia pinnte mit dem Magnet die Karte wieder zurück an den Kühlschrank.

»Wie klein die Welt doch ist«, kommentierte sie nachdenklich. Dann setzte sie sich zu ihrem Mann, der sich wieder der Zeitung gewidmet hatte, und kuschelte sich an ihn.

»Und wie nett, dass sie dich eingeladen haben.«

»Uns«, verbesserte Stefan.

»Die ganze Familie ist eingeladen. Würdest du gerne hingehen?«

»Natürlich«, rief Julia, und ihre bergseeblauen Augen leuchteten auf.

»Wir waren schon so lange nicht mehr auf einer Hochzeit. Es ist immer wieder schön, daran teilzuhaben, wenn zwei Menschen sich ewige Liebe schwören.«

Gedankenverloren betrachtete sie ihren eigenen Ehering.

Sie dachte zurück an das erste Date mit Stefan. Sie hatten sich am Marienplatz in der Altstadt getroffen, gleich neben dem Fischbrunnen, und beide waren sie so schüchtern gewesen, dass sie es kaum gewagt hatten, miteinander zu sprechen. Wie lange das schon her war! Die Schmetterlinge im Bauch waren einer gewissen Vertrautheit gewichen, doch ihre Liebesgefühle waren noch so frisch wie am ersten Tag. Sie wusste, dass das nicht selbstverständlich war, umso dankbarer war sie für dieses Glück.

»Ich könnte doch auch Marc und Dani fragen, ob sie mit uns mitgehen wollen. Es wäre schön, mal wieder als ganze Familie aus dem Haus zu kommen«, brachte sie nun ihren nächsten Gedanken zur Sprache.

Stefan faltete die Zeitung und legte sie zur Seite.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du sie dafür begeistern kannst, aber einen Versuch ist es wert.«

Julia verstand die Andeutung; die lebhaften Holl-Zwillinge hatten ihnen bei ihrem letzten Besuch zu verstehen gegeben, wie anstrengend ihr aktuelles Semester war und dass sie neben dem Büffeln kaum mehr zu Unternehmungen kamen. Ihre wenige freie Zeit wollten sie vermutlich mit anderen Dingen füllen.

»Es ist ja noch ein paar Monate hin«, gab sie zu bedenken, »bis dahin legt sich der Prüfungsstress vielleicht.«

»Ich komme ganz sicher nicht mit«, meldete sich da ihr 15-jähriger Sohn Chris zu Wort, der bisher still am anderen Ende der Couch gesessen und mit seinem Handy gespielt hatte. »Und wenn Juju noch länger braucht, gehen wir auch erst in ein paar Monaten essen«, fügte er trocken hinzu.

»Chris«, mahnte Stefan seinen Sohn sanft, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.

»Ist doch so. Wie lange müssen wir noch warten? Ich habe einen Bärenhunger!«

Chris hatte nicht unrecht – Juju brauchte ungewöhnlich lange, um sich fertig zu machen. Da Cäcilie, die Haushälterin der Holls, mit einer Erkältung das Bett hütete, hatte sich die Familie für einen abendlichen Restaurantbesuch entschieden. Sie hatten es mit dem Auto zwar nicht weit, doch bis alle bestellt hatten und die Gerichte wirklich auf dem Tisch standen, brauchte es auch seine Zeit.

Julia wollte schon aufstehen, doch Stefan kam ihr zuvor.

»Ich hole sie. Vermutlich sitzt sie wieder vor ihrem Fotobuch und ist mit ihrem Kopf ganz woanders«, sagte er und drückte seiner Frau einen schnellen Kuss auf die Wange.

Diesen Gedanken teilte Julia mit ihrem Mann. Juju verfolgte immer wieder neue Leidenschaften, aktuell war es die Fotografie. Deshalb hatte sie sich in der Schulbücherei einen Band über die Grundlagen der Fotografie ausgeborgt, den sie derzeit mit derselben Begeisterung las wie einst ihre Mädchenromane. Dass sich eine noch nicht einmal 13-Jährige für so komplexe Themen interessierte, faszinierte die fürsorgliche Mutter immer wieder aufs Neue.

In Gedanken versunken, sah sie ihrem Mann nach, der die Stufen hinauf ins Kinderzimmer ging. Dann wanderte ihr Blick hinüber zum Kühlschrank, wo die Einladung strahlend weiß zwischen Einkaufslisten und Bildern prangte. Juju würde sicherlich Lust auf die Hochzeit haben, sie verbrachte gerne Zeit mit ihren Eltern und liebte romantische Ereignisse dieser Art.

Das würde ein wunderbares Fest werden!

***

In der Bar dröhnte der schnelle, hämmernde Beat über Hocker und Tische bis hinein in den letzten versteckten Winkel.

In der gemütlichen Sitznische zwischen Toilette und Bartresen saß ein breitschultriger, kantiger Mann mit enganliegendem Hemd und nahm einen großzügigen Schluck von seinem Bier.

»Ich sag dir, das wird nichts.«

Mit Nachdruck knallte er den leeren Krug auf den klebrigen Holztisch.

»Ach so?«

Natürlich entging ihm nicht, wie Jos pechschwarze Wimpern zu flattern begannen, doch ihm war nicht nach Flirten zumute.

Er wischte sich über den Mund und sah sie grimmig an.

»Ich rieche, dass da was faul ist. Von Anfang an hab ich ihm gesagt, er soll sich erstmal auf sich selbst konzentrieren, sich nach der letzten Geschichte nur auf lockere Sachen einlassen. Aber jetzt ist die tatsächlich schon seine Verlobte und lebt seit gestern bei ihm. Bei ihm! In der alten Wohnung! Nicht einmal was Neues haben sie sich gesucht. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ich kann mir auf jeden Fall vorstellen, was sie gestern zur Feier des Tages noch getrieben haben.«

Die platinblonde Frau ihm gegenüber leckte sich über die Lippen und zuckte dabei vielsagend mit den Brauen.

Andy rollte mit den Augen. »Jo, ich mein's ernst!«

Er wollte erneut einen Schluck aus seinem Krug nehmen, bis ihm wieder einfiel, dass dieser leer war. Er sah kurz nach einem Kellner, doch niemand war in Reichweite, also wandte er sich abermals seiner Gesprächspartnerin zu.

»Ich trau dieser Frau nicht! Seit Darius sie kennengelernt hat, benimmt er sich ganz merkwürdig, er ist wie ausgewechselt. Irgendwas führt sie doch im Schilde ...«

Jo, die bei seiner Ermahnung noch gelacht hatte, wurde nun ernst.

»Du hast recht. Und ich weiß auch was«, sagte sie gewichtig und beugte sich vor. Mit dem lockenden Finger deutete sie ihm, näherzukommen, also beugte sich auch Andy über den Tisch. Er spürte ihre Lippen nah an seinem Ohr und erinnerte sich, wie sie zuvor mit ihrer Zunge über diese gefahren war. Ein Kribbeln lief ihm über den Nacken.

»Frauen wie sie wollen einen Ring an ihrem Finger haben. Aber das ist noch nicht alles. Nachts stehlen sie den Samen des Mannes, um nach nur neun Monaten ein Kind zur Welt zu bringen. Es ist ein grausames, jahrtausendealtes Ritual, auch Familie genannt. Schrecklich, nicht wahr?«

Genervt stieß Andy die vor Lachen bebende Jo von sich.

»Du bist wie alle anderen Frauen auch, mit dir kann man nicht reden!«

Jo rümpfte die Nase und sah ihn missbilligend an.

»Ich bin nicht wie alle anderen Frauen. Das hast du mir selbst mehr als einmal ins Ohr geflüstert. Oder war das gelogen?«

Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, und Andy schluckte. Was sollte er darauf antworten? Natürlich hatte er nicht gelogen. Sie war anders als all die Frauen, die er bisher kennengelernt hatte. Von allen Models, die er je fotografiert hatte, besaß sie die interessanteste Ausstrahlung. Sie wirkte zart und stark zugleich, hatte keine Allüren und wusste selbst, wie manipulativ und oberflächlich Frauen in Wahrheit waren.

Auf diesem Wissen hatte ihre Freundschaft aufgebaut: Immer öfter trafen sie sich nach Feierabend auf mehrere Gläser Wein, um über Frauen zu lästern, die einem das Leben unnötig schwermachten. Jo beschwerte sich über die ständigen Zickereien in ihrer Branche, Andy über die »Gold Digger«, die den netten Kerlen das Herz brachen, um sie für wohlhabendere Männer zu verlassen.

»Alles, was diese Frauen interessiert, sind sozialer Aufstieg und finanzielle Absicherung. Da werden die Männer wie Kühe gemolken, bis sie leer sind. Und dann geht's ohne Skrupel weiter. Mit Liebe hat das nichts zu tun«, hatte Andy damals gelallt, und Jo hatte zugestimmt und ihre Hand auf seine Schultern gelegt.

»Amen, Bruder! Die kennen Liebe ja nicht einmal untereinander. Bei Männern weiß man zumindest gleich, woran man ist. Aber die Biester in meiner Branche, die lächeln dich nett an, und hinter deinem Rücken stehlen sie dir den nächsten Auftrag weg.«

Andy hatte sich in dem Moment so verstanden wie noch nie gefühlt – ausgerechnet von einem Menschen mit schlanker Taille und einladendem Dekolleté.

»Du bist anders«, hatte er ihr daraufhin in einem Moment der Klarheit gesagt. Und später, als sie in seinem Schlafzimmer gelandet waren, hatte er es wiederholt, wieder und wieder. Zwischen Laken und nackter Haut hatte er geflüstert: »Du bist anders, Jo. Du bist so anders.«

Doch das war lange her. Das war gewesen, noch bevor er sie immer wieder mit irgendwelchen Männern in feinen Anzügen gesehen hatte – oder in schicken Autos, die noch größer waren als die aktuelle Klimakrise.

Seitdem wusste Andy, dass es nur eine Sache gab, die sie von anderen Frauen abhob: Nur bei ihr wünschte er sich, sie würde sich von den anderen unterscheiden. Doch da hatte er sich getäuscht.