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Ein Leben im Zentrum der Macht Bill Clintons eindrucksvolle Memoiren über sein Leben nach dem Weißen Haus – und ein Gegenentwurf zu dem von Kulturkämpfen geprägten Amerika der Gegenwart. Bill Clinton ist eine politische Ikone. Die dramatischen Entwicklungen in den USA und auf der Welt hat er aus nächster Nähe erlebt: als Ex-Präsident und Stiftungsgründer, als Ehemann der Trump-Gegnerin Hillary Clinton, als Privatmann und Großvater. Seine Memoiren liefern einen detailreichen Insiderblick auf die Ereignisse nach seiner Amtszeit: von 9/11 über den Aufstieg von Trump und die Anschläge vom 7. Oktober in Israel.
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Seitenzahl: 887
Veröffentlichungsjahr: 2024
Bill Clinton verlässt das Weiße Haus 2001 als einer der beliebtesten Präsidenten der USA. Heute ist er der große Elder Statesman der amerikanischen Politik und Symbol eines verantwortungsvollen Amerikas aus vergangenen Zeiten.
In seinem neuen Buch beschreibt er die bewegenden Ereignisse, die auf seine Amtszeit folgten: 9/11, der Irakkrieg, der Wirbelsturm Katrina, die Präsidentschaftskandidatur seiner Frau Hillary, Corona, die Attacke auf das Kapitol, der Anschlag vom 7. Oktober und dessen Folgen. Aus nächster Nähe hat Bill Clinton diese Zeit verfolgt und schildert die dramatische Entwicklung seines Landes aus erster Reihe.
Bill Clintons Memoiren liefern einen faszinierend aufrichtigen Einblick in das Leben dieses einflussreichen Ex-Präsidenten und Familienmenschen.
Bill Clinton
Mein Leben nach dem Weißen Haus
Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer, Monika Köpfer, Stefanie Römer, Karl Heinz Siber und Karsten Singelmann
Am 21. Januar 2001 war ich, nach 25 Jahren als Politiker und gewählter Amtsträger, acht Jahre davon als Präsident, plötzlich wieder Privatmensch. Im Scherz behauptete ich, dass ich in der ersten Zeit immer verwirrt gewesen sei, wenn ich einen Raum betrat und zu meinem Auftritt keine Musik gespielt wurde. »Hail to the Chief« war jetzt der offizielle Salut für meinen Nachfolger. Ich war gern Präsident gewesen, befürwortete jedoch die Begrenzung auf zwei Amtszeiten und war fest entschlossen, nicht einen Tag mit dem Wunsch zu vergeuden, in dem Job bleiben zu können. Ich wollte in der Gegenwart und für die Zukunft leben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bin ich diesem Vorsatz treu geblieben, obwohl es mir nach der Wahl 2016 verdammt schwerfiel und noch schwerer nach dem Ausbruch der Coronapandemie, der Tötung von George Floyd, dem Angriff vom 6. Januar 2021 auf unser Kapitol und den einfallsreichen Versuchen der rechten Kulturkrieger, immer neuen Unmut zu schüren, ohne vernünftige Pläne vorzulegen, wie man die Lage für sie selbst und uns alle verbessern könnte.
Die Zeit nach dem Weißen Haus fühlt sich für jeden Ex-Präsidenten anders an. 2001 war ich erst 54, voller Energie, als langjähriger Politiker hatte ich jede Menge nützlicher Erfahrungen und Kontakte gesammelt, die ich einsetzen konnte, um auch als Privatperson dem Gemeinwesen zu dienen.
Wie aber macht man das als Ex-Präsident? Mehreren meiner Vorgänger war es in dieser Rolle gelungen, wirklich etwas zu bewegen und so John Quincy Adams’ berühmtes Diktum zu widerlegen, wonach es »im Leben nichts Kläglicheres [gebe] als einen ehemaligen Präsidenten«. Adams selbst diente 16 Jahre lang als Kongressabgeordneter, zwei davon zusammen mit Abraham Lincoln, und er führte im Plenum des Repräsentantenhauses den Kampf gegen die Sklaverei an. Als Anwalt vertrat er zudem die aufständischen Afrikaner des spanischen Sklavenschiffs Amistad vor dem Supreme Court und erreichte ihre Freilassung, bevor sie in die Sklaverei verkauft werden konnten. Theodore Roosevelt gründete eine neue Partei und kandidierte 1912 erneut für die Präsidentschaft. Bei der Wahl wurde er immerhin Zweiter, was keinem anderen Kandidaten einer dritten Partei je gelang. William Howard Taft wurde zum Obersten Richter des Supreme Courts ernannt. Herbert Hoover war unter Präsident Harry Truman damit befasst, den öffentlichen Dienst auf Bundesebene zu modernisieren und umzustrukturieren. Und Jimmy Carter erwarb sich große Verdienste mit seiner Stiftung, bekämpfte die Medinawurmplage in Afrika, beaufsichtigte Wahlen in Krisengebieten und wurde, zusammen mit seiner Frau Rosalynn, zum Gesicht der Hilfsorganisation Habitat for Humanity.
Hillary war inzwischen zwar Senatorin, aber schon vorher hatte mich immer beeindruckt, was sie durch ihre Arbeit mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erreicht hatte, angefangen mit dem Children’s Defense Fund. Und während unserer Jahre im Weißen Haus konnte ich dadurch, dass ich ihren Einsatz für zivilgesellschaftliche Initiativen in Afrika, Nordirland, Indien und anderswo beobachtete, viel lernen.
Daher entschloss ich mich, eine Stiftung mit einer flexiblen, aber klaren Mission zu gründen: die Chancen, die das neue Jahrhundert versprach, in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt zu maximieren und seine Lasten zu minimieren. Ich war begeistert von den sich bietenden Möglichkeiten und hoffte, meinen Erwartungen gerecht werden zu können.
Zunächst aber stellte sich eine vordringlichere Aufgabe. Ich wollte Hillary, frischgebackene Senatorin für den Staat New York, und Chelsea, demnächst Absolventin der Stanford University, in die Lage versetzen, sofern sie es wünschten, weiter im Dienst der Öffentlichkeit aktiv sein zu können, und ich wollte, dass sie finanziell versorgt wären für den Fall, dass mir kein langes Leben beschieden sein würde, womit in Anbetracht familiärer Vorbelastungen durchaus zu rechnen war. Zu diesem Zweck und auch, um die beträchtlichen Anwaltskosten begleichen zu können, die infolge der Whitewater-Untersuchungen und des Amtsenthebungsverfahrens aufgelaufen waren, musste ich jetzt erst einmal richtig Geld verdienen, und das war etwas, das mich bis dahin nie sonderlich interessiert hatte. Als Gouverneur von Arkansas hatte ich bestenfalls 35000 Dollar erhalten, bis die Wähler, wenige Monate bevor ich aus dem Amt schied, das Gehalt auf 60000 Dollar erhöhten. Als Präsident bekam ich 200000 Dollar und bestritt damit den Großteil des Familienunterhalts, begünstigt dadurch, dass mit dem Job eine kostenlose und dazu noch erstklassige Unterbringung verbunden war!
Als ich das Weiße Haus verließ, hatte ich mich bereits ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie man die Chancen, die aus der globalen wechselseitigen Abhängigkeit resultierten, nutzen und gleichzeitig die daraus erwachsenden Probleme entschärfen konnte. Wir mussten Wohlstand schaffen, ihn aber gerechter verteilen, Verantwortlichkeiten stärker gemeinsam schultern und Gesellschaften fördern, in denen unsere Unterschiede respektiert und unser aller Gemeinsamkeiten betont würden.
Doch das Amerika, mit dem ich mich jetzt konfrontiert sah, hatte sich in vielerlei Hinsicht seit den 1970er Jahren verändert, als ich in die Politik gegangen war und sogar auch in der kurzen Zeit, seit ich das Weiße Haus verlassen hatte. Zwei Amerikas schälten sich heraus, die auf ganz unterschiedlichen Geschichten begründet schienen. Die eine handelt davon, dass Diversität uns stärker macht und es uns ermöglicht, Wohlstand für alle zu schaffen – durch Chancengleichheit, gemeinsame Verpflichtungen und strikte Gleichbehandlung auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene. Das andere Amerika glaubt, dass es sich im Kampf um all das befindet, was durch um sich greifende Diversität und ökonomischen Stillstand verloren gegangen ist, vor allem auf dem Land. Dort hat man das Gefühl, wir hätten die Kontrolle über unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaftsordnung und unsere Kultur verloren. Und dieser Teil Amerikas ist entschlossen, nicht auch noch die Kontrolle über unsere Politik zu verlieren, sondern die Politik vielmehr zu nutzen, um die Kontrolle über die anderen drei Bereiche zurückzuerlangen.
Ich glaube nach wie vor, dass es uns allen besser geht, wenn wir zusammenarbeiten. In einem dermaßen polarisierten Umfeld heißt das, dass man bereit sein muss, auch mit Leuten zu kooperieren, die nicht so denken wie man selbst. Fast immer bringt Kooperation mehr als Konflikt, und wenn man mal auf seinem Standpunkt beharren muss, ist es klug, eine Hintertür zur Versöhnung offen zu lassen. Die Fähigkeit, das zu tun, zeichnet große Führungspersönlichkeiten aus. Man denke an Nelson Mandela, der die Repräsentanten derjenigen Parteien, die ihn 27 Jahre im Gefängnis hatten schmoren lassen, in sein Kabinett holte, oder an Jitzchak Rabin, der am Friedensprozess festhielt, obwohl gleichzeitig Terroranschläge das Leben unschuldiger Menschen forderten; schließlich wurde er selbst Opfer eines Anschlags.
Diesen Weg zu gehen, ist selbst in weniger gewaltsamen Zeiten eine Herausforderung. Meine Familie kennt sich gut aus mit Angriffen unter der Gürtellinie, die nicht nur uns verletzten, sondern auch dem Land schadeten, weil sie von der eigentlichen Frage ablenkten: wie wir den uns alle betreffenden Herausforderungen begegnen sollten. Wenn es besonders unangenehm wurde, stellte ich mir vor, ich wäre eine von diesen aufblasbaren Spielzeugfiguren – äußerst populär unter Kindern, als ich noch zur Grundschule ging –, die sich immer wieder aufrichteten, so oft und so heftig man sie auch umstieß. Um in der Politik zu überleben, muss man genau das tun, immer wieder. Vielleicht sollten wir diese Stehaufmännchen wieder in Massen produzieren, als Sinnbild für jene Unerschrockenen, die den Abgrund zwischen den Parteien zu überbrücken versuchen. Die Leute könnten sie zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz aufstellen, jeden Tag damit beginnen, sie umzustoßen, und mit einem Lächeln beobachten, wie sie wieder aufstehen. Vielleicht werden dann die Gedanken klarer, und wir können uns wieder ans Aufbauen und Zusammenarbeiten machen.
Ein Leben im öffentlichen Dienst kann äußerst bereichernd sein, wenn man die Tatsache akzeptiert, dass es im steten Auf und Ab der Geschichte keine permanenten Siege oder Niederlagen gibt. Und man darf nie vergessen, dass ein jedes Leben eine eigene Geschichte hat, die es, unabhängig von Zeit und Umständen, verdient, gesehen und gehört zu werden.
Als ich in dieses neue Lebenskapitel eintrat, war klar, dass dafür die Messlatte gilt, die ich seit eh und je anwende: Geht es den Leuten besser, wenn du aufhörst, als zu dem Zeitpunkt, als du angefangen hast? Sehen unsere Kinder einer strahlenderen Zukunft entgegen? Kommen wir zusammen, anstatt uns weiter zu entzweien?
Dieses Buch rekapituliert die gut 23 Jahre, seit ich das Weiße Haus verlassen habe, zum großen Teil, indem es die Geschichten derer erzählt, die mein Leben verändert haben, als ich helfen wollte, ihre zu verändern, derer, die mich unterstützten, darunter auch die, die ich geliebt und verloren habe, und es erzählt die Geschichte meiner Irrtümer und Fehler.
Ich bin sehr dankbar, dass ich mithilfe meiner Familie, alter und neuer Freunde, großartiger Mitarbeiter und dank meiner anhaltenden Neugier, Energie und Arbeitsfähigkeit in der glücklichen Lage war, viele neue Erfahrungen zu machen und auch als Privatperson neue Möglichkeiten zu finden, anderen Menschen zu helfen und sie zu stärken, während ich gleichzeitig großes Glück in unserer kleinen, aber wachsenden Familie fand. Es hat mir viel Freude gemacht, Hillary in ihren Aufgaben als Senatorin, Außenministerin und Präsidentschaftskandidatin 2008 und 2016 zu unterstützen und mit Staunen zu beobachten, wie Chelsea ihren Weg gemacht hat in der Privatwirtschaft, im akademischen Bereich, in der Clinton Foundation und der Clinton Health Access Initiative, mit den Büchern, die sie verfasst hat, und der Familie, die sie zusammen mit Marc gegründet hat, den ich liebe und bewundere. Chelsea sagt, sie und Marc erzögen ihre Kinder dazu, »mutig und gutherzig zu sein«. Das merkt man. Ich bin ein begeisterter Großvater und so froh, dass Chelsea und Marc mir und Hillary erlauben, an ihrem Leben teilzunehmen.
Wenn dieses Buch erscheint, werde ich 78 sein – die älteste Person in unserer Familie, seit meine Urgroßeltern mütterlicherseits (sie könnten für Grant Woods Gemälde »American Gothic« Modell gestanden haben) es bis hoch in die 70er geschafft haben. Aber mich fasziniert noch immer die Frage, wie Menschen besser miteinander leben können, und ich möchte noch immer einen Beitrag dazu leisten. Ich kann nicht still sitzen und zurückgehen kann ich auch nicht. Daher mache ich einfach weiter, so wie es viele Leute Tag für Tag tun. Das ist die wahre amerikanische Art.
Jemand aus dem Silicon Valley beschrieb die Entwicklung von Software einmal als »das Flugzeug bauen, während man damit fliegt«. So ähnlich fühlte sich die Zeit nach der Präsidentschaft anfangs für mich an – Neustart in quasi voller Fahrt.
Das Jahr nach meinem Ausscheiden aus dem Amt war voll: die ersten Projekte der Clinton Foundation und meine ersten Auftritte als Ex-Präsident; bezahlte und unbezahlte Reden; Gedenkfeiern und Festakte, die mich oft ins Ausland führten; Spendensammeln und die Planung meiner Präsidentenbibliothek; der Umzug von meinem Übergangsbüro in Washington in meine neuen Räumlichkeiten in Harlem; und nicht zuletzt gemeinsame Wochenenden mit Hillary, soweit Senatssitzungen und die Verpflichtungen gegenüber ihrer Wählerschaft es erlaubten.
Nur sechs Tage nach Ende meiner Amtszeit ergab sich eine erste Gelegenheit für einen postpräsidentialen Einsatz, als ein schweres Erdbeben den indischen Bundesstaat Gujarat erschütterte, bei dem 20000 Menschen zu Tode kamen und Tausende Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Gesundheitskliniken und sonstige Gebäude in den Städten und auf dem Land zerstört wurden.
Da ich als Gouverneur und als Präsident mit zahlreichen Naturkatastrophen zu tun gehabt hatte, kontaktierte ich Premierminister Atal Bihari Vajpayee und bot meine Hilfe an. Ich schätzte Vajpayee sehr, weil wir uns gemeinsam bemüht hatten, die Beziehungen zwischen unseren Ländern, die in den Jahrzehnten des Kalten Krieges arg gelitten hatten, auf eine neue, vertrauensvolle Grundlage zu stellen. Er war ein selbstloser, asketischer, zeitlebens unverheirateter Mann, dem es gelang, die destruktivsten Tendenzen seiner hindu-nationalistischen Partei im Zaum zu halten, und der den Wachstumsboom der indischen Hightechzentren beförderte. Vajpayee hatte einen klaren Blick für das, was zu tun war. Er habe die Mittel, sagte er, um die größten Städte zu sanieren, doch fehlten die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen, um die kleineren Städte und Dörfer wiederaufzubauen, in denen vielfach kein Stein mehr auf dem anderen stand. Ich sollte ihm helfen, die indisch-amerikanische Gemeinde für diese Aufgabe zu gewinnen.
Zu der Zeit verfügten die indischstämmigen Amerikaner über den höchsten Bildungsgrad und das höchste Pro-Kopf-Einkommen unter den vielen Einwanderergruppen. Sie waren erfolgreich in allen Berufsfeldern, insbesondere in der Medizin, der Hochtechnologie und den Finanzen. Auch gab es eine große Anzahl von selbstständigen Inhabern großer und kleiner Geschäfte; ein Drittel aller Hotelzimmer in den Vereinigten Staaten beispielsweise war im Besitz indischstämmiger Amerikaner.
Viele von ihnen hatten sich bereits in ihren Heimatgemeinden engagiert, aber es gab keine übergreifende Initiative, die hätte umsetzen können, was dem Premierminister vorschwebte. Und so sprachen wir Hilfswillige im ganzen Land an. Bald schon entstand die American India Foundation (AIF), die sich aus prominenten Figuren der indischen Diaspora zusammensetzte. Lata Krishnan, eine IT-Unternehmerin aus Nordkalifornien, kam als Präsidentin an Bord. In kurzer Zeit sammelte die Stiftung vier Millionen Dollar ein, von Spendern aus New York, Kalifornien und Chicago, dazu Schenkungen von Einzelpersonen und Organisationen landesweit. Alsdann ging sie Partnerschaften mit schlagkräftigen indischen NGOs ein und machte sich an die Arbeit. Im April flog ich mit anderen AIF-Vorstandsmitgliedern nach Indien, um einige der am schwersten betroffenen Orte zu besichtigen, wo wir mithilfe der NGOs bereits eine Erstversorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Notunterkünften und Rollstühlen für die Versehrten organisiert hatten. Gleichzeitig wollten wir herausfinden, was als Nächstes zu tun war.
In Bhuj, einer Stadt mit damals über 100000 Einwohnern, waren nahezu alle Gebäude aus Stein eingestürzt, die Trümmer lagen überall herum. Schulkinder waren im Rahmen eines Umzugs durch eine enge, von Gebäuden dicht bestandene Straße marschiert, als das Erdbeben ausbrach. Durch herabstürzende Steine waren zweihundert von ihnen zu Tode gekommen. Noch immer lebten Leute zwischen den Trümmern, ohne sauberes Wasser, ohne die geringste Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Um ihnen zu helfen, war offensichtlich eine Menge Geld nötig.
Mit Unterstützung einiger Pharmaunternehmen hatten wir bereits eine Gruppe von Ärzten und Krankenschwestern von der Stanford Medical Group einfliegen lassen, die Notoperationen durchführten. Wir besuchten sie und die Menschen, denen sie halfen, in einem großen, vom Beben verschonten Gebäude, das vom Roten Kreuz zu einem Krankenhaus umfunktioniert worden war. Wir bekamen einen Bericht des medizinischen Personals, bedankten uns für ihre Arbeit und wandten uns dann den Patienten und ihren Angehörigen zu, die uns erzählen wollten, was ihnen zugestoßen war.
Während ich umherschlenderte, bemerkte ich am anderen, nur schwach beleuchteten Ende des Raums einen Mann. Er saß auf seinem Bett und unterhielt sich mit einer Frau, vermutlich seiner Ehefrau. Ich blickte wiederholt in seine Richtung und fragte mich, warum er nicht zu unserer Begrüßung nach vorn gekommen war. Als der Mann sich schließlich doch dem Geschehen zuwandte, begriff ich, warum.
Er hatte kein Gesicht. Ein herabstürzender Stein hatte es abrasiert. Seine Augenbrauen, die Nase und die Lippen waren weg. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er sich fühlen mochte nach dem Verlust von Teilen seiner selbst, die so wesentlich waren für seine Gesundheit, für seine Fähigkeit, sich zu anderen zu verhalten, für seine gesamte Identität. Dennoch war sein Blick fest und einnehmend. Ob er aus Verlegenheit, wegen Schmerzen oder beidem in seiner Ecke blieb, konnte ich nicht ausmachen. Ich erkannte aber unter dem beschädigten Äußeren den noch immer ganzen Menschen. Ich verneigte mich leicht und kehrte dann zu den anderen zurück. Bevor ich den Raum verließ, blickte ich noch einmal zu ihm hin. Diesmal hob er langsam die Hand zum Gruß. Ich winkte zurück, tief bewegt von der Würde und dem Mut eines Menschen, der sich nicht unterkriegen ließ.
Das Bild dieses Mannes ließ mich nicht los auf meiner Weiterreise nach Ahmedabad, wo ich Mahatma Gandhis Ashram besuchte und mit jungen indischen Führungspersonen diskutierte, ob Gandhis Vision, Indien zu einer Oase des Friedens für alle seine Bewohner zu machen, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft und ihres religiösen Erbes, noch immer Wirklichkeit werden könnte. Heutzutage erfreut sich Indien eines rasanten Wachstums und ist zum bevölkerungsreichsten Land der Welt geworden, doch vor dem Hintergrund andauernder innerer Spannungen, vor allem zwischen Hindus und Muslimen, erscheint Gandhis Wunschtraum zusehends unrealistisch.
Nach einem Zwischenstopp in Mumbai, wo ich mit führenden Vertretern aus Politik und Wirtschaft zusammentraf, reiste ich weiter nach Kalkutta – oder Kolkata, wie es mittlerweile genannt wird –, um ein Versprechen einzulösen, das ich Mutter Teresa vor ihrem Tod 1997 gegeben hatte, nämlich ihr dortiges Kinderhaus Shishu Bhavan zu besuchen. Während ihre Nachfolgerin mich durch die Einrichtung führte, sah ich viele Kinder mit Behinderungen und solche mit offenbar ethnisch gemischter Herkunft, alle entweder elternlos oder aus Familien, die zu arm waren, um sie zu versorgen. Sie hatten ein liebevolles Zuhause gefunden.
Letzte Station meiner Rundreise war ein 90 Minuten nördlich von Neu-Delhi gelegenes Dorf, in dem mein Freund Vin Gupta aufgewachsen war und wo sein Vater noch immer als Dorfarzt praktizierte. Vin hatte in Amerika ein erfolgreiches Massenversandunternehmen aufgebaut und war fest entschlossen, der Bevölkerung seiner Heimatregion bessere Bildungs- und Jobchancen zu verschaffen. Wir weihten eine neue Krankenpflegeschule ein, die nach Hillary benannt wurde, und Vin verkündete, er werde die unzulänglich ausgerüsteten 57 Jahre alten Chemieräume der weiterführenden Schule vor Ort durch ein modernes Wissenschafts- und Techniklabor ersetzen. Und er hielt Wort. Die schulischen Leistungen in den MINT-Fächern – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – schossen nach oben, und die Absolventen der Krankenpflegeschule finden sämtlich gut bezahlte Jobs.
Es gab zahlreiche indischstämmige Amerikaner und andere Indienfreunde, die bereits ähnliche Projekte im Land angestoßen hatten, daher war ich bei meiner Rückkehr voller Zuversicht, dass wir Premierminister Vajpayees Bitte umsetzen könnten. Die AIF sammelte binnen Kurzem weitere 30 Millionen Dollar an Spendengeldern und baute in den folgenden Jahren mehr als 1350 Häuser, Dutzende von Schulen, drei Krankenhäuser und ein Zentrum für medizinische Grundversorgung. Zudem veranstaltete sie Seminare, in denen Tausende von Teilnehmern in Metallbildhauerei, Holzbearbeitung und im Schneidern geschult wurden. Die Stiftung erleichterte außerdem den Zugang zu Mikrokrediten, förderte Schulungen für weibliche Unternehmer und unterstützte Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, den Salzminen und in verarmten Ballungszentren. In Zusammenarbeit mit sechzig indischen NGOs stellte die AIF Informationstechnologie für über 200000 Studenten und Schüler bereit, half den Kunsthandwerkern, ihre Produkte besser zu vermarkten, und begann junge Amerikaner, überwiegend indischer Herkunft, zur Mitarbeit bei den NGO-Partnern ins Land zu schicken.
Die AIF ist nach wie vor sehr aktiv. Lata Krishnan ist immer noch an Bord und seit mehreren Jahren Co-Vorsitzende des Aufsichtsrats. Die Stiftung wurde von der Non-Profit-Organisation Charity Navigator positiv bewertet und bekommt weiterhin starke Unterstützung. Latas Kinder waren acht und elf Jahre alt, als sie bei der AIF anfing. Am Beispiel ihrer Mutter und des sie stets unterstützenden Vaters AJ konnten sie beobachten, dass man Gutes tun und das Leben anderer Leute erleichtern kann. Ich hatte am Anfang keine Ahnung, wozu das führen würde. Doch jetzt bin ich dankbar, dass ich Gelegenheit hatte, ihnen bei der Organisation zu helfen, sie zu ermuntern, mit engagierten NGOs vor Ort zusammenzuarbeiten, dem Mann ohne Gesicht zu begegnen, und ich bin dankbar für seinen würdevollen Gruß. In mancher Hinsicht war die AIF ein Wegbereiter für die Arbeit, die ich noch leisten würde, nicht nur bei weiteren Naturkatastrophen, sondern auch bei anderen Aktivitäten der Clinton Foundation sowie im Rahmen der Clinton Global Initiative.
Wenn man das Weiße Haus verlässt, läuft man zwar fortan ohne Musikbegleitung durch die Gegend, immerhin aber gewährt der Staat Unterstützung bei der Umgewöhnung – ein Übergangsbüro in Washington für sechs Monate, Miete, Mitarbeitergehälter und Krankenversicherung für das feste Büropersonal. Mein Büro befand sich in einem kleinen Gebäude am Jackson Place, gleich gegenüber dem Weißen Haus, personell besetzt mit früheren Mitarbeitern aus dem Weißen Haus unter der Leitung von Karen Tramontano, meiner letzten stellvertretenden Stabschefin. Die ersten Wochen waren getrübt durch Negativschlagzeilen, an denen Teile der Presse sich berauschten. Angeblich hatte ich beim Auszug zwei große Nachttische aus dem großen Schlafzimmer des Weißen Hauses mitgehen lassen; die »W«-Taste sei von den Computern und Schreibmaschinen im West Wing entfernt worden; und nach Präsident George W. Bushs Amtseinführung hätten Personen meiner Begleitung auf dem Rückflug nach New York in der ehemaligen Air Force One staatseigene Teller und andere Gegenstände zerdeppert. Nun, die Belegschaft des Weißen Hauses hatte mich gebeten, die Tische mitzunehmen, da sie diese weder behalten noch einlagern wollte, und in der Air Force One wurde keinerlei Geschirr zerstört. Von der angeblichen Entfernung der »W«-Taste war mir nichts bekannt, trotzdem ärgerte mich die ganze Angelegenheit, weil ich angekündigt hatte, den Übergang möglichst reibungslos über die Bühne bringen zu wollen, und genau das hatten wir auch getan. Nach ein paar Tagen wurde schließlich von verschiedenen Seiten zu Protokoll gegeben, dass keine Schäden verursacht worden seien, beziehungsweise dass die »W«-Vorwürfe stark übertrieben seien.
Die schärfsten Angriffe gegen mich bezogen sich darauf, dass ich Marc Rich und seinen Geschäftspartner Pincus Green begnadigt hatte. Rich war ein reicher republikanischer Ölhändler, der enge Verbindungen zu Israel und anderen Ländern des Nahen Ostens unterhielt. Er wurde beschuldigt, falsche Angaben über sein Geschäftseinkommen gemacht und so die USA um 50 Millionen Dollar Steuerzahlungen betrogen zu haben. Dies waren die Gründe für meine Entscheidung: Erstens war Rich mit Bezug auf ein RICO-Gesetz (Korruption, mafiöse Verbindungen etc.) angeklagt worden, das vom Justizministerium kurze Zeit nach Anklageerhebung für in solchen Fällen als nicht anwendbar erklärt worden war. Zweitens hatte er sich mit den zuständigen Behörden darauf geeinigt, dass sein Unternehmen im Rahmen eines abschließenden Vergleichs, der ihm die weitere geschäftliche Tätigkeit erlaubte, Steuernachzahlungen und Strafzahlungen im Umfang von 200 Millionen Dollar (viermal so viel, wie er laut Behörde schuldig war) leisten würde. Drittens hatten sich führende israelische Politiker, von der Arbeiterpartei wie vom Likud, wegen seiner Verdienste im Konflikt mit den Palästinensern für ihn eingesetzt.
Warum also war die Begnadigung umstritten? Zunächst einmal, weil der sehr wohlhabende Rich sich in sein Schweizer Wohnhaus zurückzog und seine Reisen auf Länder beschränkte, die ihn nicht an die Vereinigten Staaten ausliefern würden. Und weil seine Ex-Frau Denise, eine Freundin und Unterstützerin von mir, die mehr als ein Jahr zuvor 450000 Dollar für die Clinton Library gespendet hatte, mir in einem Brief zur Begnadigung riet. Ich wünschte, sie hätte auf dieses Schreiben verzichtet, um ihret- und meinetwillen. Mir war bekannt, dass sie selbst viel Geld verdient hatte, sich mit ihrem Ex-Mann nicht gut verstand und zu der Zeit, als sie das Geld für die Bibliothek spendete, nicht wusste, dass er ein Gnadengesuch stellen würde. Ich vermutete – zu Recht, wie ich später feststellte –, dass sie sich für ihn verwendete, weil er nach dem Krebstod ihrer geliebten gemeinsamen Tochter aus begründeter Angst vor seiner Verhaftung nicht an der Beerdigung hatte teilnehmen können. Er wollte, bevor er starb, wenigstens noch ihr Grab besuchen.
Dann schaltete sich auch Israel ein, Vertreter beider großer Parteien, darunter der Ministerpräsident, drängten auf eine Begnadigung, da Rich dazu beigetragen hatte, Israel vor Bedrohungen zu schützen und Abmachungen mit der palästinensischen Seite zu schließen. Eric Holder, stellvertretender Justizminister und später Generalstaatsanwalt und Justizminister unter Präsident Obama, erklärte, er sei zwar grundsätzlich neutral, würde jedoch aus außenpolitischen Erwägungen heraus einer Befürwortung der Begnadigung zuneigen – trotz des fortdauernden Widerstands des U.S. Attorneys, der sich vorwiegend auf Richs Weigerung gründete, in die USA zurückzukehren.
Ich beschloss, dem Gnadengesuch zu entsprechen, weil ich es aus den genannten Gründen für das Richtige hielt: Er hatte einen viermal höheren Betrag bezahlt, als er ihn offiziell schuldete, das Justizministerium hatte das Gesetz, nach dem er angeklagt worden war, für nicht anwendbar erklärt, und israelische Amtsträger, Rechte wie Linke, erklärten, er habe dazu beigetragen, Leben zu retten und den Friedensprozess aufrechtzuerhalten. Die Pressereaktionen waren erwartbar negativ. Eine Anhörung vor dem Kongress wurde anberaumt, und die Bundesstaatsanwaltschaft befragte mich. Ich begrüßte die Gelegenheit, alle ihre Fragen zu beantworten, und tat das rückhaltlos. Die Untersuchung starb einen stillen Tod, und die Presse interessierte sich fortan mehr für den neuen Präsidenten. Als Bedingung für die Begnadigung hatte ich Rich verpflichtet, sich, wie andere auch, einer zivilrechtlichen Klage zu stellen. Trotz der geringeren Beweislast in zivilrechtlichen Fällen kam es letzten Endes aber nicht zu einer Anklage. Ich bin ihm nie begegnet, er starb 2013 nach einem Schlaganfall, ohne das Grab seiner Tochter besucht zu haben.
Eine dritte Kontroverse entzündete sich an der Größe meiner Büroräume. Nach Prüfung verschiedener Optionen hatte mein Team das Hochhaus an der Carnegie Hall empfohlen. Ich hatte Bedenken wegen der Kosten und der vielleicht protzig anmutenden Adresse, doch der Eigentümer bot uns einen für Manhattaner Verhältnisse günstigen Mietpreis an. Der Abgeordnete Ernest Istook (ein Republikaner aus Oklahoma) erklärte ihn dennoch für zu hoch, und der Abgeordnete Darrell Issa (ein Republikaner aus Kalifornien) forderte eine umfassende Untersuchung, sollte der Mietvertrag nicht gekündigt werden. Als der Streit hochkochte, schlug mir der New Yorker Demokrat Charlie Rangel vor, nach Harlem zu kommen.
Ich dachte einige Tage darüber nach und kam zu dem Schluss, dass ich ohnehin viel lieber in Harlem wäre als irgendwo sonst. 30 Jahre zuvor, als ich in Oxford studierte und in den Ferien auf dem Weg ins heimatliche Arkansas in New York zwischenlandete, machte ich einen Abstecher nach Harlem, schlenderte durch die Straßen und stellte mir vor, wie es wohl im Goldenen Zeitalter der Harlem Renaissance ausgesehen hatte. Harlem gehörte zu den ersten »Empowerment Zones« im Rahmen meines 1993 initiierten Stadtentwicklungsprogramms. Im Laufe meiner Amtszeit sank die dortige Arbeitslosenquote von über 20 auf 8 Prozent. Ich rief Charlie an und fragte: »Glaubst du, du findest ein Büro für mich in Harlem?« Er erwiderte: »Nicht vor morgen früh.«
Wir konnten aus dem Carnegie-Hall-Mietvertrag aussteigen. Der Eigentümer war vermutlich froh, dass ihm unangenehme Schlagzeilen erspart blieben, zumal er uns sehr entgegengekommen war und von einem anderen Mieter sicherlich mehr verlangen konnte. Bald schon hatten wir Räumlichkeiten gemietet im Obergeschoss von 55 West 125th Street, auch Dr. Martin Luther King Boulevard genannt, unweit der Kreuzung mit dem Malcolm X Boulevard. Karen machte einen örtlichen Architekten, Navid Maqami, ausfindig und auch Sheila Bridges, eine talentierte junge Innenausstatterin, die meinen persönlichen Büroraum so gestaltete, wie er sich noch heute präsentiert. Das Studio Museum, ein Stück die Straße runter, erklärte sich bereit, Werke ihrer Künstler im Turnus bei uns auszustellen, das verschönt nicht nur unsere Räumlichkeiten, sondern rückt auch die Kunst ins Blickfeld von Gästen aus aller Welt.
Am 30. Juli 2001 feierten wir endlich Eröffnung mit einem großen »Willkommen in Harlem«-Fest, organisiert vom Kongressabgeordneten Rangel und moderiert von der wunderbaren Cicely Tyson. Ich war seit Langem ein Fan von ihr – verzaubert von ihrem Spiel im Film Das Jahr ohne Vater und schwer beeindruckt, dass sie fast zehn Jahre Ehe mit dem brillanten, aber schwierigen Miles Davis durchgehalten hatte. Ein paar Tausend Personen tummelten sich auf den Straßen, es gab jede Menge Musik, allerlei Begrüßungsreden und sogar die großherzige Ausrufung eines William-J.-Clinton-Tages in Harlem durch den republikanischen Gouverneur George Pataki. Ich erzählte in einer kurzen Rede, wie ich bereits als junger Mann die 125th Street entlangspaziert war, dass ich schon immer mal im nahe gelegenen Apollo Theater hatte spielen wollen und dass ich versuchen wollte, ein guter Nachbar zu sein. Die fröhliche Veranstaltung endete damit, dass wir alle gemeinsam zur Begleitung einer Jazzband »Stand by Me« sangen. Ich hatte das Gefühl, zu Hause zu sein. Und das habe ich heute noch.
Ich war begeistert von der Einrichtung meines Büros – viel Holz, jede Menge Regale, die ich mit Büchern über andere Präsidenten und Schlüsselmomente der amerikanischen Geschichte bestückte, mit einer Abteilung zur Geschichte der Bürgerrechte und zu deren Heldenfiguren sowie zum hartnäckigen Rassismus in unserem Land, das gleichzeitig immer diverser wird. Im Konferenzraum brachte ich Bücher über Harlem unter, Biografien von Politikern, die ich persönlich kannte und bewunderte, und Bücher über Irland und Nordirland, wo ich mein Möglichstes für den Frieden getan hatte. Es machte mir großen Spaß, an diesem Ort zu arbeiten, Gäste zu empfangen und sie mit dem guten Essen aus den umliegenden Restaurants zu bewirten.
2005 zog die Clinton Foundation in den 12. Stock, übernahm 2008 weitere Räume im 10. Stock und blieb bis 2011. Die Clinton Global Initiative (CGI), die zur Stiftung gehört, wuchs dermaßen schnell, dass sie eigene Räumlichkeiten benötigte, die ihr zwischen 2005 und 2013 von der französischen Hausverwaltungsgesellschaft Calyon gratis zur Verfügung gestellt wurden. Die Stiftung und die CGI wechselten in den folgenden Jahren mehrfach ihre Adresse, je nachdem, wie der Bedarf wuchs und wo Räumlichkeiten verfügbar waren. Ende 2023 bezogen sie beide ihren gegenwärtigen Standort im NoMad-Viertel nördlich des Madison Square Parks.
Mein Ex-Präsidenten-Büro in Harlem betrieb ich währenddessen durchgehend weiter, empfing Gäste aller Art, seien es kranke, von der Make-a-Wish-Stiftung betreute Kinder, Schüler- und Studentengruppen oder einflussreiche Politiker, Wirtschaftsführer und NGO-Chefs, national wie international. Gern lasse ich andere an unserem Ausblick auf Harlems Hauptstraße und Umgebung teilhaben, auf den Marcus Garvey Park gegenüber, wo auf hohem Niveau der Baseball der Youth League gespielt wird, auf die noch nicht fertig renovierte Cathedral of St. John the Divine, die größte (neu)gotische Kirche der Welt, auf das nördliche Ende des Central Parks und das dahinterliegende Manhattan. Ich liebe Harlem noch immer, mehr als 50 Jahre, nachdem ich erstmals über die 125. Straße spaziert bin.
Im November 1999, Hillarys Bewerbung um einen Senatssitz war gerade in den Startlöchern, hatten wir unser neues Zuhause in Chappaqua, New York, gekauft, ein altes, Ende der 1890er Jahre gebautes und in den 1980ern erweitertes Bauernhaus. Ich fand es großartig, aber es war einiges an Arbeit hineinzustecken. Die Zimmer im alten Teil des Hauses waren klein, und es fehlte Stauraum, also entfernten wir die dekorativen Türen und Fenster zwischen dem Wohnzimmer und der verglasten Veranda, um einen großzügigeren, helleren Raum zu schaffen, und wir vergrößerten den Abstellraum im ersten Stock. Die bislang umgitterte Veranda mit Zugang zur Küche ließen wir verglasen, damit wir ein ganzjährig nutzbares Frühstückszimmer hatten. Im zweiten Stock gab es eine Sauna, die wir herausnahmen, um Platz zu schaffen für ein anständiges Arbeitszimmer für Hillary, einen gemütlichen Rückzugsort mit Fernseher und Büchern und für zwei kleinere Nebenzimmer, von denen eins der Musik gewidmet ist. Da sind meine Saxphone untergebracht, zwei davon noch von Adolphe Sax in den 1860ern gefertigt, und es ist auch noch Platz für mich zum Spielen, für jede Menge Bilder meiner Lieblingsmusiker und andere Memorabilien, so auch ein mit Autogramm versehener Schal, den Elvis Presley bei einem Konzert in Kalifornien getragen hat, ein von Mick Fleetwood signiertes Trommelfell und ein Album von John Coltrane mit Autogramm. Der Erweiterungsbau besteht hauptsächlich aus zwei großen Zimmern – eine Bibliothek im Erdgeschoss mit gut gefüllten Regalen, darunter viele alte Ausgaben, die ich im Laufe der Jahrzehnte gesammelt habe, und ein geräumiges Schlafzimmer im ersten Stock, mit großen Fenstern auf drei Seiten und Fenstertüren, die sich zum Balkon auf der Rückseite des Hauses öffnen.
In der Nähe des Hauses stand außerdem eine alte rote Scheune, die vom Vorbesitzer zu einer Wohnung für seine Eltern umgewandelt worden war, mit einer Außentreppe, die zu einem im ersten Stock ausgebauten Loft führte. Den Secret-Service-Leuten gefiel das Loft als Standort für ihr Büro, und im Erdgeschoss richtete ich ein Arbeitszimmer für mich und einen Fitnessraum ein. Mir war klar, dass das Alter des Hauses, die Klärgrube und andere Details Probleme verursachen würden, aber nachdem ich einen Blick ins Schlafzimmer geworfen hatte, wollte ich das Haus unbedingt kaufen: Es war in Licht getaucht. Ich sagte Hillary, dieses Haus könne ihr bei der Erringung des Senatssitzes helfen, denn sie würde jeden Morgen in fröhlicher Stimmung aufwachen, selbst an bedeckten Tagen, weil auch dann noch genügend Licht durch die Fenster hereinströmte. Außerdem dachte ich, es würde uns viel Spaß bereiten, das Haus für uns einzurichten. Und das tun wir seit mittlerweile über 20 Jahren, wir restaurieren, bauen um, stabilisieren das Haus, kümmern uns um das Grundstück, pflanzen Bäume, Sträucher und Blumen, legen einen Gemüsegarten an, stellen Außenskulpturen auf, reparieren die Rohrleitung, was immer Sie wollen. Inzwischen wohnen wir dort länger als an jedem anderen Ort. Unser Heim ist offensichtlich kein Designobjekt. Dafür steckt es voller Fotos, alter Bücher, Kunst und Kunsthandwerk, erworben auf unseren Reisen, und an allem entzünden sich Erinnerungen an unser Leben in der Öffentlichkeit, an Privates, an unsere Familien und Freunde.
Hillary und ich leben gerne in Chappaqua, und wir schätzen uns glücklich, in einem Land zu leben, in dem jede Stadt, egal welcher Größe, eine eigene öffentliche Bibliothek mit freiem WLAN hat, wo die Schulen wirklich gut sind und die Parks und Naturschutzgebiete auch denjenigen, die sich keine großen Reisen leisten können, die Chance bieten, am Reichtum der Natur teilzuhaben. All diese öffentlichen Räume, dazu unser örtlicher Buchladen, gute neue und alte etablierte Läden und Restaurants, der Wochenmarkt und »Lange’s Delicatessen« haben mir die Gelegenheit verschafft, meine Nachbarn, ihre Kinder und viele andere Leute kennenzulernen, ihnen zuzuhören und ihre Fragen zu beantworten. Oft zeigen mir diese Nachbarn Fotos, die sie von mir und ihren Kindern vor 15 oder 20 Jahren aufgenommen haben, und erzählen mir dann, was aus ihnen geworden ist.
Es macht mir Freude, an Veranstaltungen teilzunehmen, die den Leuten in Chappaqua wichtig sind, daher marschieren Hillary und ich in der alljährlichen Parade zum Memorial Day mit, wir unterstützen Edward und Maya Manleys Stiftung »Making Headway«, die Familien unter die Arme greift, die es mit Gehirn- und Rückenmarkstumoren oder anderen Hirnschädigungen zu tun haben, und wir treffen mit Kindern aus New York City zusammen, die in den Sommerferien einen Ausflug zu uns nach Westchester County machen – wo es mehr Grünflächen gibt als in irgendeinem anderen vorstädtischen Bezirk in den USA.
Im ersten Halbjahr 2001, während das Büro in Harlem eingerichtet und die anfallende Arbeit noch vom Übergangshauptquartier in Washington aus erledigt wurde, war ich gut damit beschäftigt, unser neues Zuhause bewohnbar zu machen, meine ersten bezahlten Reden zu halten und mit dem inzwischen verstorbenen Sonny Mehta vom Knopf-Verlag einen Vertrag für meine Autobiografie auszuhandeln, die redaktionell vom legendären, inzwischen ebenfalls verstorbenen Bob Gottlieb betreut wurde. Außerdem vertraute ich mich der Harry Walker Agency in New York an, damit sie sich um meine kommerziellen Reden kümmerte.
Da Knopf mir einen üppigen Vorschuss anbot und zahlreiche Anfragen für Reden eingingen, war ich schon erheblich zuversichtlicher, dass ich meine Rechnungen würde bezahlen können. Ich wollte die Millionen von Dollar an Anwaltshonoraren so schnell wie möglich begleichen. Es war mir peinlich gewesen, als Präsident auf einen Rechtskostenfonds zurückgreifen zu müssen und meinen Freund Terry McAuliffe zu bitten, meinen ersten Hypothekenvertrag mitzuunterzeichnen. Glücklicherweise konnten wir uns jetzt sogar einen Zweitwohnsitz in D.C. leisten.
Hillary hatte für die Sitzungswochen des Senats ein wunderbares Wohnhaus in Washington gefunden. Es liegt am Ende der Whitehaven Street, einer Seitenstraße der Massachusetts Avenue, die ein Stück weit hügelaufwärts führt und am Dumbarton Oaks Park in einer Sackgasse ausläuft. Man kann aus der Haustür direkt in den Park treten, was wir seit über 20 Jahren mit großer Freude tun.
Das dreigeschossige Gebäude aus rotem Backstein, erbaut um 1950 herum, liegt direkt an der Straße, hat aber nach hinten raus einen wunderschönen Garten, auf der rechten Seite einen Swimmingpool, auf der linken einen Fischteich und dahinter mehrere Bäume. Der Garten grenzt an die Grundstücke der britischen und neuseeländischen Botschaften. Auf der anderen Straßenseite befinden sich die dänische Botschaft, das Hellenic Institute und die italienische Botschaft, und weiter unten an der Straße schließen sich polnische, brasilianische und sri-lankische Einrichtungen an. Das Haus war ein Geschenk des Himmels für Hillary in ihrer Zeit als Senatorin und Außenministerin und auch für ihre Mutter Dorothy in deren letzten Lebensjahren.
Normalerweise blieb Hillary, wenn der Senat tagte, von Montag bis Donnerstag in Washington, fuhr donnerstags abends per Shuttleservice oder mit der Bahn nach Chappaqua, blieb dort übers Wochenende, sofern sie keine Verpflichtungen als Senatorin des Bundesstaats wahrnehmen musste, und kehrte am Montagmorgen wieder nach D.C. zurück. Natürlich gab es auch Zeiten, wo einer von uns oder beide außerhalb New Yorks oder der USA zu tun hatten, dann sprachen wir am Telefon miteinander, während wir in unsere neuen Rollen hineinwuchsen. Seit Jahren hatte ich beobachtet, wie sie als Bürgeraktivistin Dinge zum Besseren wenden konnte, während ich das Gleiche in der großen Politik versuchte. Eines Tages ging mir beim morgendlichen Rasieren auf, dass wir im Grunde die Plätze getauscht hatten. Ich starrte in den Spiegel und platzte heraus: »Meine Güte, ich bin zu einer NGO geworden! Und was jetzt?«
Sobald ich mir sicher war, dass ich meine Schulden bezahlen und auch die Kosten für unsere beiden Häuser in Chappaqua und Washington tragen konnte, ging ich dazu über, etwa zehn Prozent meiner jährlichen Einkünfte als Redner der Clinton Foundation sowie auch zehn Prozent unserer Gesamteinnahmen der Familienstiftung zukommen zu lassen, um sie auszubauen und um unsere sonstigen wohltätigen Aktivitäten zu finanzieren.
Mit der Hilfe von Don Walker und der Harry Walker Agency sowie dank einer gewissen Nachfrage begann ich in den USA und auf der ganzen Welt Reden zu halten. Besonders willkommen waren mir anfangs Anfragen von jüdischen Organisationen im ganzen Land, später auch aus Lateinamerika und Europa. Die Leute honorierten mein Engagement für Israel und den Frieden im Nahen Osten. In den folgenden Jahren erreichten mich die meisten der ausländischen Anfragen aus Kanada, wo ich eine Menge Freunde und Unterstützer habe. Ich habe Reden in Europa, in Asien, Lateinamerika, Australien sowie in Nigeria und Südafrika gehalten.
Mir hat das viel Spaß gemacht, ich habe auch eine Menge gelernt von den Leuten, auf die ich dort getroffen bin und die mich oft mit bemerkenswert scharfsinnigen Anmerkungen und Fragen überraschten. Ich erzähle fast nie »Kriegsgeschichten« aus meiner Zeit im Weißen Haus, es sei denn, ich werde in der Fragerunde oder in Interviews darauf angesprochen, wenn die Sponsoren dieses Format bevorzugen. Stattdessen stelle ich erst einmal überblicksartig meine Sicht der Welt dar.
Ich führe dann aus, dass wir in eine neue Ära wechselseitiger globaler Abhängigkeiten eingetreten sind, die sowohl von positiven als auch von negativen Kräften bestimmt wird. Zu den positiven gehören der wissenschaftliche Fortschritt, insbesondere die Sequenzierung des menschlichen Genoms, wodurch wir das Leben verlängern und die Lebensqualität verbessern können; die explosionsartige Entwicklung der Informationstechnologie, die Kosten reduziert, den Zugang zu Informationen erleichtert und unbegrenzt neue Nutzungsmöglichkeiten schafft; die Zunahme von Reisen, Handel und Migration, was zu mehr Diversität führen, das Wirtschaftswachstum fördern und religiöse wie auch ethnische Konflikte entschärfen kann; neue Bildungs- und Berufschancen für Mädchen und Frauen; schließlich ein deutlicher Rückgang der extremen Armut.
Das Problem mit dieser neuen Welt, in der Grenzen eher wie Netze als wie Mauern wirken, besteht darin, dass wir auch den negativen Aspekten der Interdependenz ausgesetzt sind: Es gibt zu große Unterschiede beim Einkommen, bei dem Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wohnraum und zu Kapital, das nötig ist, um Wohlstand zu schaffen. Zwischen einzelnen Ländern bestehen massive Ungleichgewichte, was Regierungsfähigkeit, Korruption und den politischen Willen angeht, denen zu helfen, die unter wirtschaftlichen Wechselfällen, unter Rassismus oder unter ethnischen und religiösen Konflikten leiden. Unser aller Zukunft ist gefährdet durch den Klimawandel, dem wir gemeinsam ausgesetzt sind, durch Terror, Massenvernichtungswaffen, neue Pandemien, die Opioidkrise und andere Probleme auf dem Gesundheitssektor, durch destabilisierende Cyberangriffe, polarisierende soziale Medien-Kanäle, in denen oft Lügen verbreitet werden, und die Schattenseiten der künstlichen Intelligenz.
Die Vereinigten Staaten haben ausgezeichnete Voraussetzungen, die Welt in eine neue Ära von Frieden und allgemeinem Wohlstand zu führen: ihre relative Jugend, ihre Diversität, ihre Universitäten, Community Colleges und andere Ausbildungsstätten, ihre Errungenschaften in Wissenschaft und Technologie, das starke Netzwerk von kleinen und großen Unternehmen, die hoch produktive, flexible Arbeitnehmerschaft, schließlich ihr großes Potenzial zur Effizienzsteigerung und Produktion von sauberer Energie. Doch um das Beste aus diesen Vorzügen zu machen, ist es unabdingbar, unsere eigenen Probleme anzugehen: Ungleichheit, Instabilität, mangelnde Nachhaltigkeit, innere Konflikte, ein rapides Sinken der Geburtenrate und der Lebenserwartung für Personen unter 65 sowie ein starker Widerstand dagegen, bessere Kriterien für die Entscheidung zu entwickeln, ob Migranten, zumal solche, die an der südlichen Grenze ankommen, hereingelassen oder zurückgewiesen werden sollten. Wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen, anderen helfen, das Gleiche zu tun, und immer neue Netzwerke der Zusammenarbeit knüpfen.
Das ist, kurz skizziert, der Inhalt meiner Vorträge. Zudem habe ich dem Publikum immer erklärt, dass ich Fragen, die mir gestellt werden oder die ich mir selber stelle, nach einem ganz einfachen Prinzip bedenke: Wird diese oder jene Handlung die positiven Effekte unserer gegenseitigen Abhängigkeit stärken und die negativen verringern – oder trifft das Gegenteil zu? Sobald ich darauf eine Antwort hätte, könnte ich festlegen, wofür und wogegen ich bin. Ich fordere meine Zuhörer auf, ein eigenes Beurteilungsmuster für sich zu entwickeln, damit sie im Tumult der sich gegenseitig überbietenden und widersprechenden Schlagzeilen nicht die Orientierung verlieren, sondern in der Lage sind, derartige Schlagzeilen mit längerfristigen Trendlinien zu vergleichen, die oft etwas ganz anderes aussagen.
Nach dem 11. September erklärte ich außerdem, ob daheim oder im Ausland, dass wir für eine Welt mit mehr Freunden und weniger Feinden kämpfen müssten, denn wir könnten ja wohl schlecht alle unsere Widersacher umbringen, ins Gefängnis stecken, ihre Länder besetzen oder aber uns von allen anderen abschotten. Wir müssen den Terror bekämpfen, aber auf eine Weise, die nicht den Charakter unserer Nation kompromittiert oder die Zukunft unserer Kinder gefährdet.
Leichter gesagt als getan, wie uns die amerikanische Behandlung von Gefangenen in Abu Ghraib, Putins Krieg gegen die Ukraine, das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und die darauffolgenden israelischen Angriffe auf Gaza gezeigt haben. Und das ist nur die denkbar stark gekürzte Liste der Gewaltakte, mit denen unsere Welt in den vergangenen 25 Jahren konfrontiert wurde.
Vielfach wurden Menschen aufgrund solcher Gewaltakte aus ihrer Heimat vertrieben, und so ist die größte Migrationswelle über nationale Grenzen hinweg seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Kriege, wirtschaftlicher Zusammenbruch, ethnische und religiöse Unterdrückung, vom Klimawandel verstärkte Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände und Unwetter sowie schroffe kulturelle Konflikte hindern uns daran, eine bessere Welt für alle zu schaffen. All das war auch vor dem globalen Aufstieg eines polarisierenden populistischen Nationalismus schon zu erkennen. Trotz der Bedrohung durch eine extreme Rechte nach Ende der Reconstruction-Ära in den 1870er Jahren und im Grunde in der gesamten Zeit seither hätten die Vereinigten Staaten von allen großen Nationen eigentlich am besten gerüstet sein müssen, dem Gift des Populismus zu widerstehen. Dennoch fielen wir ihm im Jahr 2016 zum Opfer, aus Gründen, die in unserer gespaltenen politischen Kultur zu suchen sind, in unserem ungleich verteilten Wohlstand, unserem pervertierten Informationskreislauf und unserem Wahlsystem, das in den bevölkerungsärmeren Bundesstaaten ein spalterisches Stammesdenken begünstigt.
In meinen Reden versuchte ich stets, die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft aufzunehmen, auf überzeugende Argumente in aktuellen Büchern hinzuweisen und zu erläutern, warum Kooperation einfach besser funktioniert als Konflikt, aus ökonomischen, sozialen und aus Sicherheitsgründen. So hoffte ich, meine Zuhörer von einer inklusiveren Sicht der Dinge zu überzeugen. Nachdem die Sequenzierung des Humangenoms bewiesen hatte, dass die Menschen genetisch zu 99,5 Prozent gleich sind, forderte ich zum Beispiel das Publikum auf, zumal wenn es besonders divers zusammengesetzt war, einander anzublicken und sich klarzumachen, dass alle nicht altersbezogenen Unterschiede, die sie wahrnehmen, auf lediglich einem halben Prozent unserer biologischen Ausstattung beruhten. Und dann fragte ich, warum wir 99,5 Prozent unserer Zeit damit verbringen, uns auf dieses halbe Prozent zu kaprizieren. Sollten wir uns nicht lieber mit den 99,5 Prozent befassen, die wir mit unseren Mitmenschen teilen? Das bleibt nie ohne Wirkung.
Ich begann Bücher zu empfehlen, die ich interessant und wertvoll fand, etwa Nonzero von Robert Wright oder Die Biologie der Tugend von Matt Ridley, ferner Die soziale Eroberung der Erde von dem großen verstorbenen Biologen und Insektenkundler E.O. Wilson und, noch recht aktuell, Aufstieg und Fall der Dinosaurier von Steve Brusatte. Wilson führt aus, dass seit dem Untergang der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren die langlebigste Spezies unseres Planeten Ameisen, Termiten, Bienen und Menschen seien, weil sie sich am besten an potenziell bedrohliche Veränderungen der Lebensbedingungen angepasst haben. Das haben sie erreicht, schreibt Wilson, indem sie lebensrettende und lebensverbessernde, auf Kooperation beruhende Verhaltensweisen entwickelten. Wir Menschen haben uns obendrein deshalb gut geschlagen, weil wir über Bewusstsein wie auch über ein Gewissen verfügen.
Unser Problem ist, dass wir unsere Intelligenz und den Fortschritt für selbstverständlich nehmen, was uns arrogant macht und eine selbstzerstörerische Dynamik in Gang setzt. Bisher hat unser Gewissen dieser Entwicklung noch immer gewisse Grenzen gesetzt. Aber darauf können wir uns nicht verlassen, mahnt Wilson, daher müssen wir den Kreis derer, die zu »uns« gehören, erweitern und den Kreis derer, die wir als »die anderen« bezeichnen, verkleinern. Wilson stellte diese Überlegungen schon an, bevor Amerika 2014 aus dem Gleis geriet, tatsächlich hatte es allerdings bereits in den 1990ern, in jedem Fall aber seit den Zwischenwahlen 2010, Hinweise darauf gegeben, dass wir wieder einmal auf den Abgrund zusteuerten.
Ich begann mich für Teilchenphysik zu interessieren, für die Entdeckung des Higgs-Boson, des sogenannten Gottesteilchens, das Atome zusammenhält, die ansonsten auseinanderfliegen würden. Ich bemühte mich auch, ein bisschen Astrophysik zu begreifen, die jüngsten Theorien darüber, wie das Universum entstand, warum es stetig weiter expandiert, wie das Leben auf unserem Planeten begann und wie alles darauf hindeutet, dass unser Planet, das Sonnensystem, die Milchstraße und schließlich das gesamte Universum irgendwann untergehen werden, wenn auch niemand weiß, wann das sein wird. Fasziniert betrachtete ich die ersten Fotos eines gewaltigen schwarzen Lochs in 55 Millionen Lichtjahren Entfernung, identifizierbar nur, weil es von einem Feuerring begrenzt wurde. Der Artikel dazu erläuterte, dieses Loch sei so riesig und seine Gravitationskraft so gewaltig, dass unser Sonnensystem, sollte es nahe genug vorbeiziehen, im Ganzen eingesaugt und augenblicklich zu einem Haufen Staub zermahlen würde, der in einen Fingerhut passe.
Wenn ich dem Publikum davon berichte, komme ich auch auf die bereits im Buch Mein Leben erwähnte Geschichte von dem Stein zu sprechen, den Neil Armstrong bei seinem ersten Mondspaziergang aufsammelte. Laut Kohlenstoffdatierung ist er 3,6 Milliarden Jahre alt und wurde luftdicht in einem durchsichtigen Kasten eingeschlossen. Als Armstrong ihn 1994 anlässlich des 25. Jahrestags der Mondlandung zu einer Veranstaltung im Weißen Haus mitbrachte, bat ich darum, ihn für den Rest meiner Amtszeit ausleihen zu dürfen. Ich platzierte ihn mitten auf dem Tisch zwischen den sich gegenüberstehenden Sofas im Oval Office. Immer wenn die Diskussionen so hitzig wurden, dass keine Verständigung mehr möglich schien, unterbrach ich den Redeschwall: »Einen Moment mal, Leute. Sehr ihr den Mondstein dort? Der ist 3,6 Milliarden Jahre alt. Wir sind hier alle nur auf Stippvisite. Also beruhigen wir uns erst mal und sehen wir zu, dass wir hier was zustande bringen.« Oft klappte es, sogar in der Zeit der erbitterten parteipolitischen Kämpfe mit dem Kongress unter Newt Gingrich.
Ich erzählte diese und ähnliche Geschichten, um die Mauern zu durchdringen, die wir alle um uns errichten, wenn wir mit »den anderen« konfrontiert sind, und ich erzählte sie in der Hoffnung, meine Zuhörer würden sich auch gegenseitig zuhören, würden wirklich zur Kenntnis nehmen, was gesagt wurde, und dadurch aufgeschlossener und vorurteilsfreier werden. Manchmal funktionierte es, manchmal auch nicht, jedenfalls blieb ich am Ball, versuchte immer wieder, Reaktionen wie »Ach, so hab ich das ja noch nie gesehen« zu provozieren, Leute zu animieren, sich selbst aus etwas mehr Distanz und in einem größeren Zusammenhang zu betrachten, das Blickfeld über ihre eigene »Kaste«, wie die Journalistin und Autorin Isabel Wilkerson es nennt, hinaus zu öffnen, um das zu entdecken und zu akzeptieren, was sie mit den angeblich »anderen« gemeinsam haben. Fast ein ganzes Leben lang hatte ich versucht, die Kluft zwischen »uns« und »denen« zu überbrücken. Jetzt, da ich kein politisches Amt mehr bekleidete und noch immer überall Alarmleuchten flackerten, schienen meine Reden ein geeignetes Mittel, damit weiterzumachen.
Schwer zu sagen, welche Vortragsveranstaltungen mir am meisten Spaß machen, aber meine Auftritte an Colleges oder anderen Ausbildungsstätten, ob klein oder groß, ob in republikanischen oder demokratischen Bundesstaaten, führen eigentlich immer dazu, dass ich optimistisch in die Zukunft blicke. Ich könnte ein ganzes Buch schreiben über die Studenten und Lehrkräfte, die ich getroffen habe, über ihr einzigartiges intellektuelles Milieu, ihre Errungenschaften und ihre Anforderungen. Auf die meisten passen die Stereotype gar nicht, durch die sie in die Kulturkriege hineingezogen wurden. Auf jeweils eigene Weise hoffen fast alle, ihren Beitrag leisten zu können zur Schaffung einer Nation und einer Welt, die für uns alle offen ist, die Chancen für alle eröffnet, die Freiheit erweitert und das Gemeinschaftsgefühl stärkt.
Ich hatte auch viele großartige Begegnungen. Auf meinem ersten Flug als Ex-Präsident vom Flughafen LaGuardia aus erzählte mir die Flugbegleiterin, eine junge Schwarze, ihr Mann sei Musiklehrer und Jazzmusiker in D.C. und Clinton-Anhänger der ersten Stunde. Wirklich wichtig sei für sie aber das Arbeitnehmerschutzgesetz Family and Medical Leave Act gewesen. Ihre Eltern waren beide erkrankt, und niemand konnte sich um sie kümmern, nur sie und ihre Schwester. Ohne das Recht auf Familienurlaub wäre es ihnen nicht möglich gewesen, die Eltern zu pflegen, sie hätten sonst ihren Job verloren. Von der Vorgängerregierung war der Gesetzentwurf zweimal zurückgewiesen worden, und ich hatte 1992 versprochen, ihn zu unterzeichnen, falls ich gewählt würde. Das tat ich im Februar 1993. Es war mein allererstes Gesetz und vielleicht das populärste von allen, wegen der Auswirkung auf das Leben so vieler Bürger. Nie werde ich die abschließende Bemerkung der Flugbegleiterin an jenem Tag vergessen: »Wissen Sie, viele Politiker reden ständig über Familie und ihre Werte, aber wie die eigenen Eltern sterben, das ist meiner Meinung nach ein sehr wichtiger Familienwert.«
2023 wurde ich von Präsident Biden ins Weiße Haus eingeladen, um den 30. Jahrestag des Family and Medical Leave Act zu begehen. Das Gesetz ist mittlerweile über 460 Millionen Mal in Anspruch genommen worden und wird kaum noch infrage gestellt. Es ist und bleibt ein guter Ansatzpunkt, um Amerika von den verrückten – leider aber oft wirkmächtigen – Kulturkriegen zu befreien und zurückzukehren zu unserem Gründungsauftrag: der Schaffung einer vollkommeneren Gemeinschaft.
Am 6. September 2001 brach ich zu einer Vortragsreise nach Australien auf. Ich mag das Land sehr. Hillary und ich hatten es im Jahr 1996 kurz nach meiner Wiederwahl besucht. Nachdem ich in Sydney und Melbourne Reden gehalten hatte, flog ich nach Port Douglas weiter. Diese hübsche kleine Küstenstadt ist nicht weit vom Great Barrier Reef und vom Daintree-Regenwald entfernt.
Am Abend des 11. September saßen wir bei einem späten Abendessen, als von der amerikanischen Ostküste, wo der Tag erst begonnen hatte, die Nachricht eintraf, dass ein Flugzeug das World Trade Center getroffen hatte. Ich eilte in mein Hotelzimmer und schaltete den Fernseher ein. Hillary war in Washington und versuchte verzweifelt, unsere Tochter anzurufen, die bei einer Freundin in Manhattan zu Besuch war und sich in diesem Moment gemeinsam mit Tausenden Menschen in Richtung Norden bewegte, um sich vom Ort der Katastrophe zu entfernen. Schließlich gelang es Hillary, Chelsea zu erreichen, und wir konnten aufatmen.
Als das zweite Flugzeug in den Südturm raste, war ich gerade am Telefon mit Bruce Lindsey, meinem alten Freund und Berater, der unsere Stiftung leitete, und mit Cheryl Mills, die mich seinerzeit als Anwältin des Weißen Hauses im Amtsenthebungsverfahren so brillant verteidigt hatte. Die beiden hielten sich in Cheryls Büro in Manhattan auf und verfolgten die schreckliche Szene aus nächster Nähe. Als das Flugzeug den Turm traf, sagte ich: »Das war Bin Laden.« Sie wollten wissen, warum ich so sicher war. Ich antwortete, dieser Terrorangriff sei offenkundig über Monate hinweg sorgfältig geplant worden. Für einen logistisch derart komplexen Anschlag musste man die Täter gut ausbilden und vorbereiten. Nur Iran und al-Qaida waren in der Lage, so etwas zu planen. Ich war sicher, dass Iran nicht dahintersteckte, weil unser Vergeltungsschlag das Regime in Teheran ausgelöscht hätte. Aber Bin Laden versteckte sich in Afghanistan in einer Höhle auf von den Taliban kontrolliertem Gebiet, und es war schwierig, ihn und sein Terrornetz zu treffen.
Es war ein furchtbarer Tag für die Vereinigten Staaten und die freie Welt. Aber besonders schrecklich war der Anschlag für New York, eine Stadt, die stolz auf ihre ethnische und religiöse Vielfalt und ihre Weltoffenheit war. Die New Yorker wussten, dass unter den Opfern dieses schlimmsten Angriffs auf amerikanischem Gebiet seit Pearl Harbor Menschen sein würden, die sie kannten und liebten.
Ich wollte rasch zurück nach Hause. Ich war Präsident Bush dankbar dafür, dass er alle ehemaligen Präsidenten und Vizepräsidenten an seiner Seite haben wollte: Er wollte ihre Sicherheit garantieren und ein Zeichen der Einheit setzen. Am folgenden Morgen brachte ein C130-Transportflugzeug unsere kleine Gruppe zum amerikanischen Stützpunkt auf Guam, von wo aus wir in einem weiteren Flugzeug nach New York flogen und in Stewart landeten, einem Stützpunkt der Nationalgarde. Auf dem Weg zum Flughafen in Australien hatten wir am Straßenrand zahlreiche Schilder gesehen, auf denen die Bevölkerung ihre Solidarität mit den Vereinigten Staaten bekundete. Bis zum Irakkrieg stand der Großteil der Welt auf unserer Seite. Die französische Zeitung Le Monde fasste die universelle Gemütslage so zusammen: »Wir sind alle Amerikaner.«
Als ich in Chappaqua eintraf, erfuhr ich, dass Al Gore heimzukehren versucht hatte, jedoch in Kanada aufgehalten worden war, weil dort keine Privatflugzeuge abheben durften. Also hatte er sich im Auto auf den Weg nach Washington gemacht. Ich lud ihn ein, einen Zwischenstopp einzulegen und in unserem Haus zu übernachten. Er traf nach zwei Uhr morgens ein. Ich nahm ihn auf der Veranda unseres alten Holzhauses in Empfang. Wir renovierten gerade die Küche, weshalb der Kühlschrank auf der Veranda stand. Bei der Begrüßung deutete Al lachend auf das Gerät und sagte: »Ich wusste, dass du die Provinz-Kultur des Südens nach New York bringen wolltest, aber das geht zu weit.« Nach den schlimmen zwei Tagen war es schön, einmal lachen zu können. Seit der gemeinsamen Zeit im Weißen Haus sah ich Al seltener und vermisste seinen schrägen Humor. Er hatte einen großen Investmentfonds aufgelegt, der sich auf saubere Energie spezialisierte, und er kämpfte weiter für Maßnahmen, die notwendig sind, um die Klimakatastrophe noch abzuwenden. Ich bin dankbar für seine Teilnahme an den Veranstaltungen unserer Clinton Global Initiative, bei denen er stets viel Anerkennung für seine überzeugenden Auftritte erhalten hat.
Hillary organisierte in Washington als Mitglied der New Yorker Kongressdelegation gemeinsam mit dem Weißen Haus die Unterstützung für die Aufräumarbeiten und die Hilfe für die Familien der Opfer. 412 Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte aus New York und New Jersey waren zu Tode gekommen, und viele andere Helfer hatten bleibende körperliche und seelische Schäden erlitten.
Chelsea und ich wollten den Betroffenen beistehen und fuhren zur Vermisstenmeldestelle im 69th Regiment Armory in Manhattan, wo die New Yorker Hunderte Fotos von geliebten Menschen aufgehängt hatten. Sie hofften, ihre Angehörigen lebend wiederzusehen, und beteten für ein Wunder. Das taten wir alle.
Der Anblick der mit Fotos übersäten Wand, nur wenige Straßenzüge von dem rauchenden Trümmerfeld entfernt, war schwer zu ertragen. Neben mir stand ein groß gewachsener Mann mit dunklem Teint und ergrauendem Haarschopf. Über seine Wangen liefen Tränen. Ich fragte ihn, ob er einen Angehörigen verloren habe. »Nein«, antwortete er mit brüchiger Stimme, »aber ich bin ein muslimischer Amerikaner aus Ägypten. Ich verabscheue die Täter. Und ich fürchte, dass mir meine amerikanischen Landsleute nie wieder trauen werden.«
Die Wut, Trauer und Furcht des Mannes waren Ausdruck der neuen Wirklichkeit: Wir mussten uns um die Familien der Getöteten und Verwundeten kümmern, die Stadt wieder aufbauen und mehr tun, um Terroranschläge zu verhindern und zu ahnden. Gleichzeitig mussten wir vermeiden, die Vielfalt unseres Landes und die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel zu setzen, indem wir uns zusätzliche Feinde machten und unsere Freunde verlören.
Präsident Bush schlug den richtigen Weg ein und hielt eine ermutigende Rede vor den Aufräumtrupps, die in den Trümmern nach Überresten suchten, die eine Identifizierung der Toten erleichtern konnten. Sechs Tage nach dem Terrorangriff rief der Präsident den Amerikanern bei einem Besuch im Islamic Center of Washington in Erinnerung, dass unser Feind nicht der Islam, sondern der Terror war. Die Terroristen waren Muslime gewesen, aber dasselbe galt für mehrere Dutzend ihrer Opfer. Senator Schumer und Hillary trafen sich mit dem Präsidenten, und sie bat ihn sofort um 20 Milliarden Dollar Nothilfe für New York. Präsident Bush sagte der Stadt Unterstützung zu, und er hielt Wort.
Seit dem 11. September habe ich jede Gelegenheit genutzt, um Polizisten und Feuerwehrleuten zu danken und die Erinnerung an ihren selbstlosen Einsatz an jenem schicksalhaften Tag wachzuhalten. Nicht lange nach den Anschlägen bekam ich die Chance, noch etwas mehr zu tun. Der Tech-Unternehmer Andy McKelvey, der mittlerweile verstorben ist, bat mich, ihm dabei zu helfen, die Hochschulausbildung von Kindern und Ehepartnern der Menschen zu finanzieren, die bei den Anschlägen gestorben oder arbeitsunfähig geworden waren. All die Angehörigen der Opfer im World Trade Center und im Pentagon, der Passagiere und Besatzungsmitglieder der in New York, Washington und Pennsylvania abgestürzten Flugzeuge und der Menschen, die verfrüht starben oder ihr Leben lang behindert blieben, weil sie während der Rettungsarbeiten Schadstoffen ausgesetzt gewesen waren, brauchten unsere Unterstützung.
McKelvey wollte, dass es überparteilich organisiert wurde, und jemand – ich erinnere mich nicht, wer es war – schlug vor, ich sollte gemeinsam mit Bob Dole, meinem republikanischen Gegenkandidaten aus dem Jahr 1996, die Leitung eines Fonds zur Finanzierung dieses Programms übernehmen. Die Idee gefiel mir. Ich war oft genug mit Dole aneinandergeraten, aber ich respektierte ihn und bewunderte die Unbeugsamkeit, die er in seiner politischen Karriere an den Tag gelegt hatte: Er hatte im Zweiten Weltkrieg eine schwere Verletzung am Arm erlitten und brauchte jeden Morgen allein fünfzig Minuten, um sich anzuziehen. Dole würde ein glaubwürdiger, überzeugender Partner bei diesem guten Vorhaben sein, da war ich mir sicher. Am 29. September gaben wir gemeinsam die Einrichtung des Families of Freedom Scholarship Fund bekannt und forderten die Amerikaner auf, dafür zu spenden.
Innerhalb kürzester Zeit spendeten mehr als 20000 Privatpersonen, Unternehmen, Universitäten und gemeinnützige Einrichtungen 100 Millionen Dollar. In den folgenden 17 Jahren förderte der Fonds 3500 Studenten mit insgesamt 152 Millionen Dollar. Anfangs konnten 65 Prozent der Studienkosten übernommen werden, aber im Lauf der Zeit mussten wir den Anteil verringern, was vor allem daran lag, dass der verfrühte Tod zahlreicher Rettungskräfte vom 11. September die Zahl der anspruchsberechtigten Angehörigen um etwa 3000 Personen erhöhte. Der Families of Freedom Scholarship Fund bemüht sich derzeit, noch einige Millionen Dollar mehr aufzutreiben, um all jenen helfen zu können, die für Unterstützung infrage kommen, und um einen höheren Anteil der Ausbildungskosten decken zu können. Ich hoffe, das wird gelingen. Ich werde den engagierten Menschen, die im Leitungsgremium des Fonds gearbeitet haben, immer dankbar sein. Viele von ihnen setzten sich für das Programm ein, um das Andenken verlorener Angehöriger zu ehren. Dank schulde ich auch Scholarship America, der Einrichtung, die den Fonds in all den Jahren kostenlos verwaltet hat und dies auch bis zum Ende seiner Aktivität im Jahr 2030 übernehmen wird.
Während ich alles tat, was in meiner Kraft stand, fuhr Hillary unentwegt zwischen New York und Washington hin und her, traf sich mit Überlebenden, mit Familien, die Angehörige und ihre Lebensgrundlage verloren hatten, und besuchte Polizei- und Feuerwachen, die viele Opfer zu beklagen hatten. Wir nahmen an Trauerfeiern und Spendenaktionen teil und drückten Rettungskräften unseren Dank aus. Hillary war nach den Begegnungen mit all den trauernden und hilfsbedürftigen Menschen, die immer mehr wurden, wochenlang körperlich und emotional erschöpft. Ihre Stimmung schwankte zwischen Leid und Wut, aber sie war entschlossen, alles zu tun, um den Betroffenen dabei zu helfen, sich von ihrem Trauma zu erholen und ein neues Leben zu beginnen. Hillary war von Anfang an klar, dass die Menschen, die an den Aufräumarbeiten teilgenommen hatten, unter gesundheitlichen Problemen leiden würden. Also entwarf sie eine Gesetzesvorlage, um ihnen zu helfen. Nach all den gemeinsamen Jahren erfüllte mich Hillarys »überausgeprägtes Verantwortungsgen«, wie sie es nannte, immer noch mit Ehrfurcht. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen um sie und versuchte, sie zu überzeugen, sich an den Wochenenden auszuruhen und die Energiereserven aufzufüllen, damit sie ihre zahlreichen Aufgaben bewältigen konnte.
Viele Betroffene waren in schlechter Verfassung. Zwei Finanzfirmen, Cantor Fitzgerald und Sandler O’Neill, waren schwer getroffen worden. Cantor Fitzgerald, eine große, weltweit tätige Investmentfirma, hatte 658 ihrer 960 Mitarbeiter in New York verloren. Der Firmenchef Howard Lutnick sorgte dafür, dass die Familien die benötigte Unterstützung erhielten, und rief im Jahr 2002