Condorcets Irrtum - Per Molander - E-Book

Condorcets Irrtum E-Book

Per Molander

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Per Molander ist ein außergewöhnlicher Intellektueller und kennt die Spitzenpolitik aus eigener Praxis. Die Auseinandersetzung mit den Thesen des Marquis Nicolas de Condorcet (1743-1794) führt Molander zu einem glühenden Angriff auf die herrschende Lehre von heute, bei dem er die immer engere Verflechtung von Markt und Staat als ernsthafte Gefahr für Demokratie scharf kritisiert. Condorcet ist einer der Vordenker und Väter der modernen Demokratie und war als Mathematiker und Philosoph der Aufklärung Mitglied der Nationalversammlung während der Französischen Revolution. Diese ideengeschichtliche Verankerung seiner Gedanken zur heutigen Gesellschaft macht Molanders Buch zu einem lesenswerten Erkenntnisgewinn.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 492

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Per Molander

Condorcets Irrtum

Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann

Aus dem Schwedischen von Kristina Maidt-Zinke

Die Kosten für diese Übersetzung wurden durch einen Zuschuss des Swedish Arts Council gedeckt, was dankbar anerkannt wird.

Die schwedische Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel »Condorcets ­misstag – Hoten mot staten och demokratin« erschienen. © Per Molander and Weyler förlag 2017, Sweden.

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit agentur literatur Gudrun Hebel, Berlin

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-682-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe
1. Der Traum
2. Wahrheit und Freiheit
Die Aufklärung in Raum und Zeit
Geistige Freiheit
Religiöse Freiheit
Politische Freiheit
Moralische und ökonomische Freiheit
Condorcets Bedeutung
Links und rechts
3. Die außereuropäische Welt
Warum Europa?
Das Gegenbild
Das globale System
Lehren
4. Die Segnungen der Aufklärung
Der sich entwickelnde Mensch
Der private Wert
Kollektive Werte
Condorcets Modernität
5. Die unvollendete Moderne
Religiöse Befreiung
Archaische und moderne Politik
Ökonomische Freiheit
Welche Freiheit?
6. Innere Hindernisse
Grenzen der Wahrnehmung
Wenn die Erinnerung trügt
Entscheidung und Handlung
Die unnatürliche Wissenschaft
Die Natur des gesunden Menschenverstandes
7. Äußere Feinde
Die Großmächte: Frankreich, Großbritannien, Deutschland
Die Rhetorik der Reaktion
Deutschland – ein Sonderfall?
Postmoderne Ideen
Aufklärung versus Radikalismus
8. Die Schützlinge des Hermes
Hermes – Alleskönner und Dieb
Von Amos bis zur Neuzeit
Die unsichtbare Hand
Persona ficta und die abgegebene Verantwortung
Homo oeconomicus im Labor
Homo oeconomicus im wirklichen Leben
Bedrohte Wahrheitssuche
Hohe Ideale: Forschung, Wohltätigkeit und Kultur
Ökonomische und politische Freiheit
Eine neue Kulturform
9. Dimensionen und Grenzen des Eigennutzes
Das Evangelium nach Arrow und Debreu
Die Big Five der politischen Ökonomie
Odysseus und die Sirenen
Finsternis und Akrasie
Kein Mensch ist eine Insel
Verteilung von Einkommen und Vermögen
Im Maschinenraum der Marktwirtschaft
Wenn Eigennutz nicht genügt
10. Die Zivilgesellschaft
Was ist die Zivilgesellschaft?
Zivilgesellschaft und Demokratie
Langfristiges Denken
Unwissenheit und Autonomieverlust
Gemeingut verwalten
Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Was die Zivilgesellschaft vermag
11. Der Staat
Die lange Sicht
Informationsmangel und schwindende Autonomie
Kollektiver Nutzen
Verteilung
Marktaufsicht und Stabilisierung
Der demokratische Staat
Groß und stark oder klein und bissig?
Individuum, Zivilgesellschaft und Staat
12. Im Schatten des Mont Pèlerin
Der Plan
Der gemeinsame Feind
Die Stimme der Prophetin
Von den Ideen zur politischen Praxis
Schweden: Machtwechsel und politische Kontinuität
Vox populi
Die Diagnose
13. Die Rehabilitierung des Staates
Die neue Große Erzählung
Das natürliche Regime
Das Gegenbild
Der attackierte Staat
Der ausgehöhlte Staat
Die einzige funktionierende Einheit
Wissen, Freiheit und Populismus
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anmerkungen
Namens- und Sachregister

Während Rieux den Freudeschreien lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, daß diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wußte, was dieser frohen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.

Albert Camus, Die Pest. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Karl Rauch Verlag, Bad Sulzig und Boppard am Rhein 1949.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Ideale der Aufklärung werden oft in der Parole der französischen Revolution, »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, zusammengefasst. Dieser Wortlaut kommt uns heute ein wenig unzeitgemäß vor. »Freiheit« ist von der politischen Rechten beschlagnahmt und wird in diesen Kreisen zumeist auf »ökonomische Freiheit« reduziert. »Brüderlichkeit« schließt die weibliche Hälfte der Bevölkerung aus. Eine modernisierte Version der Parole wäre »Rationalität, Gleichheit, Demokratie«. »Rationalität« bezeichnet das Recht, im Prinzip alles in Frage zu stellen – philosophische und religiöse Dogmen, gesellschaftliche Institutionen –, und bewahrt damit die breitere Bedeutung des Freiheitsbegriffes. »Demokratie« umfasst im weiteren Sinne allgemeine und gleiche Wahlen, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Freiheit der Presse und andere Aspekte der liberalen Demokratie. Wenn wir diese Definition als Ausgangspunkt nehmen, wie steht es dann heute um die Ideale der Aufklärung?

Unsere Rationalität ist naturgemäß begrenzt. Moderne und archaische Denkweisen existieren in unseren Gesellschaften Seite an Seite. Aus allen Teilen der Welt bekommen wir täglich Nachrichten über religiös oder politisch begründeten Fanatismus, und es ist unmöglich, eine deutliche Bewegung in Richtung fortschreitender Modernität zu erkennen. In den Vereinigten Staaten wurde gerade ein demokratischer Kandidat als Gewinner der Präsidentschaftswahlen bestätigt, aber nur mit einer schwachen Mehrheit. Bei einem großen Teil der amerikanischen Bevölkerung scheint ein tiefes Misstrauen gegenüber Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie langfristiger und nachhaltiger Sozial- und Umweltpolitik zu bestehen.

Um die Demokratie ist es Jahr für Jahr schlimmer bestellt. Die jährlichen Berichte der Organisation »Freedom House« zeigen seit mehreren Jahren eine deutliche Schwächung der demokratischen Institutionen auf allen Kontinenten, auch in Europa. Rein quantitativ ist die Anzahl der Länder, in denen die Demokratie schwächer wird, inzwischen größer als die der Länder mit sich festigenden Demokratien. Autokratische Tendenzen werden immer deutlicher – sowohl in neuen Demokratien, wie Ungarn, Polen, als auch in den alten, wie den USA. Während der letzten vier Jahre sind die leitenden Politiker der Republikanischen Partei mit wenigen Ausnahmen durch einen totalen Mangel an Integrität aufgefallen. Ebenso müssen wir feststellen, dass ökonomisches Wachstum und eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen, wie die Beispiele China und Singapur zeigen.

Was die Ungleichheit betrifft, ist das allgemeine Bild durchaus gemischt. Wenn man die Weltbevölkerung als Ganzes betrachtet, hat vor allem das Wirtschaftswachstum in China und Indien zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse beigetragen. Innerhalb der meisten Länder gibt es allerdings eine gegenläufige Entwicklung, was darauf zurückzuführen ist, dass das Wachstum nicht allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zugutekommt. Aus diesem Grund sind Organisationen wie der IWF und die OECD bestrebt, sowohl starkes als auch inklusives Wachstum zu schaffen.

Die schwedische Ausgabe dieses Buches wurde im Herbst 2017 veröffentlicht. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Welt verändert, und doch wieder nicht. Die Pandemie hat viele traditionelle Standpunkte auf den Kopf gestellt. In politischen Kreisen, in denen man sich häufig gegen einen starken Staat ausspricht, befürwortet man jetzt freigiebige Konjunkturpakete, um den Konsum nach dem Vorbild von Keynes wieder anzukurbeln. Die noch bis vor Kurzem beschworene finanzielle Disziplin scheint im aktuellen politischen Umfeld nicht mehr besonders wichtig zu sein. Sollte die Erfahrungen der Pandemie und ihrer Bekämpfung letztlich zu einer Rehabilitierung des Staates beitragen, könnten wir am Ende vielleicht sogar davon profitieren – wenngleich zu sehr hohen Kosten.

Zusammenfassend kann man – wie immer – das Glas als halb voll oder halb leer beschreiben. Die Hypothese von Condorcet, dem dieses Buch gewidmet ist, war, dass die Ideale der Aufklärung sich mehr oder minder automatisch verwirklichen würden, wenn die Bevölkerung erst einmal das Joch des Ancien Régime abgeschüttelt hätte. Zweihundert Jahre später müssen wir feststellen, dass diese Hypothese allzu optimistisch war. Ein Automatismus ist definitiv nicht eingetreten, und vielerorts lässt sich nicht einmal eine klare Tendenz in Richtung einer aufgeklärteren gesellschaftlichen Grundordnung feststellen.

Jedes Land hat seine eigene Geschichte, aber die grundsätzlichen Werte der Aufklärung sind universell, und jedes Land kann von den geschichtlichen Erfahrungen anderer Länder lernen. Teile der deutschen Geschichte spielen in diesem Buch eine wichtige Rolle, als Beispiel eines Zusammenbruches der Demokratie und der Wertegemeinschaft der Aufklärung. Einigen deutschen Lesern mag es anmaßend vorkommen, dass ein Ausländer solch ausgiebigen Gebrauch von der deutschen Geschichte macht, aber das deutsche Beispiel ist für andere Länder und andere Zeiten doppelt wichtig. Erstens wird in der folgenden Diskussion deutlich, dass der deutsche Weg zum Zusammenbruch kein außergewöhnlicher Sonderweg war; ähnliche Voraussetzungen und Tendenzen waren auch in anderen Ländern sichtbar. Zweitens ist die deutsche Aufarbeitung dieser Vergangenheit vorbildlich, und das gesellschaftliche Klima in vielen anderen Ländern wäre besser geworden, wenn man ähnliche Anstrengungen unternommen hätte. Viele Probleme der heutigen US-amerikanischen Gesellschaft gehen auf eine mangelhafte Aufarbeitung der Geschichte der Sklaverei zurück.

Im Geiste ist Condorcet unser Zeitgenosse. Bei keinem anderen Philosophen der Aufklärung lässt sich ein derart entwickeltes Bild der modernen Gesellschaft finden und seine Forderungen waren seiner Zeit weit voraus: Ein allgemeines und obligatorisches Bildungssystem, Gleichstellung von Frauen und Männern, sozio-ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse und sogar der Entwurf einer Sozialversicherung sind in seinem Katalog enthalten. Umso wichtiger ist es, Condorcets Irrtum genau in den Blick zu nehmen, denn er erlaubt einen tieferen Einblick in die Mechanismen unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Eine wichtige Schlussfolgerung aus jenem Irrtum ist – so viel können wir hier schon vorwegnehmen –, dass die Ideale der Aufklärung sich nie endgültig realisieren lassen: Jede Generation muss sie aufs Neue verteidigen und weiterentwickeln.

Uppsala, im November 2020

Per Molander

1.Der Traum

Seinen Optimismus bewahrte er sich bis zum Schluss. Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet, war die personifizierte Aufklärung – ein brillanter Mathematiker, ein Demokrat mit unbeirrbarem Glauben an die Befreiung des Menschen von der Herrschaft angemaßter Autoritäten. Doch sein eigenes Leben endete in der Finsternis.

1789 hatte Condorcet sich der Französischen Revolution angeschlossen. Im Frühjahr 1792 trat sein Bruch mit Robespierre und der radikalen Bergpartei, den Montagnards, offen zutage. Noch war in der Gesetzgebenden Nationalversammlung, die im Herbst des Vorjahres gewählt worden war, der Einfluss der gemäßigten Girondisten vorherrschend. Die Bedrohung von außen spitzte sich zu: Österreich-Ungarn, Preußen und Russland fürchteten, dass die Idee der Revolution sich über ganz Europa verbreiten würde, und bereiteten die Besetzung Frankreichs vor, um die Ordnung wiederherzustellen.

Die Debatten in der Versammlung konzentrierten sich zunehmend darauf, was mit dem König geschehen solle. Die Mehrheit hatte mit dem Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie gerechnet, aber nach seinem missglückten Fluchtversuch im Frühjahr 1791 verdächtigte man Ludwig XVI. der Konspiration mit den ausländischen Mächten. Die Regierung der Girondisten wurde nun sowohl von der nationalistischen Rechten als auch von der radikalen Linken angegriffen, und Condorcet und seine Gefährten versuchten sich zu verteidigen, indem sie den Mitgliedern der Bergpartei vorwarfen, die bürgerliche Freiheit zu bedrohen und, abwegig genug, im Sold des Königs zu stehen – einer der wenigen Fälle, in denen der Marquis die Situation falsch einschätzte.

Im Sommer 1792 war die Forderung, den König zu stürzen, immer lauter geworden. Die Girondisten erkannten, dass sie nichts mehr daran ändern konnten, versuchten jedoch Zeit zu gewinnen. Am 9. August hielt Condorcet vor der Versammlung eine Rede, in der er klarsichtig feststellte, dass die Lösung, für die man sich jetzt entschied, nicht nur das Schicksal der Zeitgenossen, sondern auch das der Nachwelt bestimmen würde. Aber nun wurde nicht einmal mehr der Kompromiss erwogen, den König vorübergehend seines Amtes zu entheben. Am folgenden Tag stürmte eine Volksmenge die Tuilerien, der König wurde verhaftet, und die Revolution trat in eine neue Phase ein. Die neue Richtung war nicht mehr im Sinne Condorcets; er war ein Gelehrter, kein Realpolitiker, noch nicht einmal ein Rhetoriker.

Er wurde in den Nationalkonvent gewählt, der sich im Herbst 1792 formierte, und erhielt einen der sechs Sekretärposten, aber nachträglich wurde sein Einfluss geschwächt. Bis zuletzt hielt er dagegen, mit Forderungen nach einer ausgearbeiteten Verfassung für die Republik, nach einem Gesetzbuch, das sich auf die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz gründete, und nach einer allgemeinen Grundbildung. Er sprach sich auch gegen die Hinrichtung des Königs aus, weil er die Todesstrafe prinzipiell ablehnte, aber im Konvent stand die Entscheidung schon fest, und im Januar 1793 wurde das Urteil vollstreckt. Im Juni wurden die Girondisten entmachtet. Condorcet galt als einer von ihnen, obwohl er inzwischen eine völlig eigenständige Position vertrat, und am 8. Juli erließ man Haftbefehl gegen ihn. Er erhielt eine Warnung und konnte sich in Sicherheit bringen. Von Juli 1793 bis Ende März des folgenden Jahres fand er Unterkunft und Schutz bei Rose Marie Vernet, der Witwe des Bildhauers Louis François Vernet, in der Rue des Fossoyeurs 21 in Paris. Das Haus gibt es bis heute, die Adresse lautet jetzt Rue Servandoni 15. Während jener Monate bei Madame Vernet verfasste er sein intellektuelles Testament, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (deutsch: Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes). In neun Kapiteln schilderte er die Geschichte der Menschheit von der Jäger- und Sammlerkultur bis zur Ausrufung der Französischen Republik und schloss mit einer moderat optimistischen Zukunftsvision: Der Zuwachs an Wissen und die verbesserte Bildung der Menschen würden die Früchte der Aufklärung mehr oder minder von selbst reifen lassen. Er fasste die Vorschläge, die er der Nationalversammlung unterbreitet hatte, noch einmal zusammen – unter anderem zur Grundbildung für alle, zur Sozialversicherung und zur Gleichstellung der Frau – und beschrieb, wie die Menschheit in einer relativ nahen Zukunft ins Elysium eintreten würde, das Land des Glücks und des ewigen Frühlings.

Am 13. März 1794 verabschiedete der Konvent ein Dekret, demzufolge jeder, dem nachgewiesen wurde, dass er Feinde der Republik schützte, als mitschuldig gelten und entsprechend verurteilt werden sollte. Für Madame Vernet hätte es den Tod durch die Guillotine bedeutet, wäre Condorcet bei ihr entdeckt worden. So bereitete er abermals seine Flucht vor, noch ohne ein bestimmtes Ziel. Einige der sogenannten Republikfeinde hatten Zuflucht in der Schweiz gefunden, aber Condorcets erste Anlaufstation war Fontenay-aux-Roses, wo alte Freunde von ihm wohnten, das Ehepaar Suard. Zwar hatten sie mit ihm gebrochen, nachdem er aus ihrer Sicht zu radikal geworden war, aber er hoffte, dass sie ihm zumindest vorübergehend Unterschlupf gewähren würden. Am 25. März verließ er das Haus in der Rue des Fossoyeurs gemeinsam mit seinem Freund Jean-Baptiste Sarret, der ebenfalls Mathematiker war und bei Madame Vernet zur Miete wohnte. Nach einem halben Jahr erzwungenen Stillsitzens war Condorcet in schlechter Verfassung, und so brauchten die beiden vier Stunden für die zehn Kilometer bis Fontenay, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Im Haus der Suards erfuhr Condorcet vom Dienstmädchen, dass die Eheleute sich in Paris befanden. Er verbrachte die Märznacht und weitere 24 Stunden im Freien, bevor das Paar nach Hause kam. Doch Suard wollte das Risiko, einen gesuchten Flüchtling bei sich aufzunehmen, nicht eingehen. Er forderte Condorcet auf, nach Einbruch der Dunkelheit wiederzukommen; inzwischen würde er versuchen, ihm einen Pass zu beschaffen.

Condorcet kam nicht mehr zurück. Er wanderte weiter bis Clamart, wo er in einem Gasthaus einkehrte, um etwas zu essen. Aber seine Erscheinung weckte Verdacht beim Wirt, der zufällig der Anführer der örtlichen Landwehr war, und bei zwei Gästen. Als man Condorcet verhörte, gab er sich als Pierre Simon aus und antwortete ausweichend auf alle Fragen. Er wurde festgenommen und ins wenige Kilometer entfernte Bourg-la-Reine gebracht. Zu diesem Zeitpunkt war er schon so geschwächt, dass er nicht mehr gehen konnte, sondern in einem Karren transportiert werden musste. Zwei Tage später, am 29. März, fand ihn der Gefängniswärter tot auf dem Fußboden der Zelle – vornübergefallen, die Arme seitlich an den Körper gelegt. Er wurde anonym in einem Massengrab auf dem kommunalen Friedhof bestattet.

Was wurde aus Condorcets Traum vom Elysium? Eine allgemeine, obligatorische und kostenfreie Grundbildung ist inzwischen praktisch überall auf der Welt die Norm, und zumindest in einem Teil der reicheren Länder ist auch die Sozialversicherung verwirklicht. Die Sklavenhaltung wurde im Prinzip abgeschafft, aber in vielen Gegenden der Welt arbeiten Menschen weiterhin unter Bedingungen, die der Sklaverei ähneln. Die tatsächliche Gleichstellung der Frau liegt noch in weiter Ferne. Vorurteile und Aberglauben prägen vielerorts noch immer das Denken. Vor allem aber herrscht eine große Unsicherheit über die Zukunft der Aufklärung und die Zukunft der Demokratie. Woran lag es, dass Condorcet nicht recht behielt? Worin bestand sein Irrtum?

2.Wahrheit und Freiheit

Die Wahrheit wird euch frei machen, steht über dem Haupteingang der Bildungsanstalt, in welcher der Autor dieses Buches acht Jahre seines Lebens verbrachte: das Gymnasium in der schwedischen Stadt Kalmar, »Kalmar Högre Allmänna Läroverk« – 1933 erbaut und 1966 umbenannt in »Stagneliusskolan«. Schwer zu sagen, was denen, die sich einst für diese Inschrift entschieden, im Kopf herumging. Das Zitat stammt aus dem achten Kapitel des Johannesevangeliums, und dort wird das Wort Wahrheit in einer anderen Bedeutung verwendet, als es heute allgemein der Fall ist. Aber es gibt keine Devise, in der sich die Idee der Aufklärung besser zusammenfassen ließe.1

Die Aufklärung in Raum und Zeit

»Aufklärung: eine intellektuelle Strömung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ihr Zentrum in Frankreich hatte«, heißt es in der Schwedischen Nationalenzyklopädie.2 Diese Darstellung ist fragwürdig. Man überlege einmal, wer den folgenden Satz geschrieben haben könnte: »Wenn es etwas gibt, das ein Individuum im Naturzustand sich nicht aneignen und zu seinem Eigentum machen kann, ist es der Grund und Boden mit allem, was dazugehört.« Naturzustand, Kritik am Grundbesitz – das muss Rousseau sein, werden die meisten denken, und wer ein gutes Gedächtnis hat, tippt vielleicht auf die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 oder die 1762 veröffentlichte Schrift Vom Gesellschaftsvertrag. Tatsächlich aber stammt das Zitat aus dem Tractatus Politicus von Baruch de Spinoza, entstanden in den Siebzigerjahren des 17. Jahrhunderts und posthum veröffentlicht.

Nicht nur in Schweden neigt man traditionsgemäß dazu, den Schwerpunkt der Aufklärung in Frankreich anzusiedeln. Eine andere Sichtweise, die den Anteil englischer Philosophen hervorhebt, findet man, kaum überraschend, in der angelsächsischen Literatur. Eine dritte Version besagt, dass die Aufklärung in Wirklichkeit aus mehreren disparaten »Aufklärungen« bestand, die sich in verschiedenen Ländern ereigneten und zwischen denen nur in begrenztem Maße ein intellektueller Austausch stattfand. Der britische Historiker Jonathan Israel behauptet in seiner fundierten Analyse der Aufklärung als eines sozialen und ideengeschichtlichen Phänomens, dass keine dieser Versionen richtig sei.3 Er sieht die Aufklärung als eine zusammenhängende Bewegung, die sich vorwiegend im nordwestlichen Europa vollzog, und zwar mit intensivem Austausch über die Ländergrenzen hinweg. Wollte man ein einzelnes Land als Zentrum dieser geistigen Strömung bezeichnen, so wäre es laut Jonathan Israel weder Frankreich noch England, es wären vielmehr die Niederlande.

Das hat einen konkreten politischen Hintergrund. Die Republik der Vereinigten Niederlande, hervorgegangen aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien nach der Rebellion der nördlichen Provinzen im Jahr 1581, bildete als Staatswesen einen auffallenden Kontrast zu den absolutistischen Monarchien, die damals Europas Landkarte prägten. Es handelte sich nicht um eine Demokratie im modernen Sinne, aber die Macht war gleichmäßiger verteilt als in den meisten anderen Ländern, und die bürgerliche Klasse, die für den ökonomischen Aufschwung sorgte, hatte maßgeblichen Einfluss. Zwar dominierte die protestantische Religion, aber die Katholiken waren akzeptiert. Das Prinzip der Toleranz, längst durch die Verfassung geschützt, gilt bis heute und führte zu einer Dreiteilung des niederländischen Bildungssystems, vom Kindergarten bis zur Universität, in eine protestantische, eine katholische und eine konfessionslose Sektion. Das Land wurde zum Zufluchtsort für Intellektuelle aus allen Gegenden Europas, die in ihren Heimatstaaten Schwierigkeiten bekommen hatten oder die ganz einfach flüchten mussten, um ihr Leben zu retten. Frankreichs Protestanten waren in dieser Zuwanderungswelle stark vertreten, aber auch Katholiken oder Skeptiker wie René Descartes, Pierre Bayle und Antoine Arnauld entschieden sich für die Niederlande. Und neben Spinoza gab es eine Reihe weniger bekannter niederländischer Denker, die zur Aufklärung in ihrer frühen, radikalen Ausprägung wichtige Beiträge lieferten: Frans van den Enden, die Brüder Koerbagh, Lodewijk Meyer und andere.

Die Niederlande boten jedoch nicht nur eine intellektuelle Freistatt. Das Land diente außerdem als Modell in der Verfassungsdebatte, die im 17. Jahrhundert, vor dem Hintergrund extremer kriegerischer ­Gewalt, zum Teil im Verborgenen geführt wurde. Für das Verfas­sungsthema war der Dreißigjährige Krieg von eher untergeordneter Bedeutung. Umso wichtiger war die englische Revolution, die in der Geschichtsschreibung Englands wie auch anderer Nationen bemerkenswert unterbelichtet bleibt: In England wurde im Jahr 1649 ein König hingerichtet, fast eineinhalb Jahrhunderte, bevor das Gleiche in Frankreich geschah. Zwischen 1648 und 1653 wüteten in weiten Teilen Frankreichs die Bürgerkriege der Fronde, in der Beamte und Hochadel sich gegen die absolutistische Herrschaft des Königs verbündet hatten. Die Niederlande galten dabei als positives, wenn auch nach Meinung vieler reichlich radikales Vorbild. 1672 erklärten England und Frankreich der Republik den Krieg. Es war dann wiederum kein Zufall, dass die sogenannte Glorreiche Revolution des Jahres 1689 in England (die weder eine Revolution noch sonderlich glorreich war) ihren Ursprung in den Niederlanden hatte.

Auch wenn der Schwerpunkt der Aufklärung demnach in den Niederlanden verortet werden kann, verbreitete sich die Bewegung über ganz Europa. Zusammengehalten wurde sie von der intellektuellen Infrastruktur, die inzwischen entstanden war: Die Techniken der Verbreitung des gedruckten Wortes hatten sich weiterentwickelt, wissenschaftliche Zeitschriften erblickten das Licht der Welt, die Bibliotheken wuchsen und waren immer besser organisiert. Zwischen den letzten Jahrzehnten des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgte man das Konzept einer Universalbibliothek, doch dann wurde die Bücherflut so übermächtig, dass das Projekt nicht einmal mehr an Fürstenhöfen oder Universitäten, die über entsprechende Ressourcen verfügten, realisierbar erschien.

Die zweite wichtige Perspektivverschiebung, die sich aus Jonathan Israels Geschichtsverständnis ergibt, betrifft die zeitliche Einordnung der Aufklärung. Wie der oben zitierte Satz von Spinoza belegt, hatten sich schon lange vor der Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidende Dinge ereignet; die interessante Phase beginnt also fast ein Jahrhundert früher. Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme wurde 1632 veröffentlicht, Descartes’ Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen erschien 1637 und Hobbes’ Leviathan 1651. Auch Spinoza und Bayle publizierten im 17. Jahrhundert. Als Rousseau, Voltaire und die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert die Szene betraten, war ein großes Stück Arbeit bereits getan. Dass schon in den Jahrzehnten um 1600 eine Revolution der Naturwissenschaften eingeleitet wurde, ist nichts Neues – Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno und Galileo Galilei sind berühmte Namen. Aber das berührte eben nur das naturwissenschaftliche Weltbild. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis die alte Weltordnung auf breiterer Ebene infrage gestellt wurde. Als das geschah, wurden die philosophischen, religiösen und politischen Fundamente der Gesellschaft erschüttert.

Geistige Freiheit

Das Grundstürzende an der Aufklärung waren vermutlich weniger die konkreten Entdeckungen der Epoche als der neue Denkansatz. Er war universell, das heißt, er ging davon aus, dass übereinstimmende Annahmen zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen führen, unabhängig von Zeit und Raum. Er nahm nichts als selbstverständlich hin: Jede Annahme musste offen bleiben für ihre Widerlegung. Und, vielleicht das Wichtigste: Dieser analytisch forschende Denkansatz wandte sich nicht nur der Natur zu, sondern auch den Hervorbringungen des Menschen – den Institutionen der Gesellschaft, der Religion, der Geschichtsschreibung. Damit lag die Beweislast plötzlich nicht mehr bei denen, die Veränderungen befürworteten, sondern bei denen, die den Status quo erhalten wollten.

Bei der Aufklärung ging es also in erster Linie um eine geistige Befreiung – ein freies Streben nach Wissen und Erkenntnis, ausschließlich mit den Mitteln der Vernunft. Diese Forderung wurde nicht zum ersten Mal in der Geschichte erhoben; schon die Griechen hatten Fragen nach der Beschaffenheit der Welt gestellt, ohne sich dabei auf religiöse Konzepte zu stützen. Euripides schrieb in einem Dramenfragment aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung:4

»Wohl dem, der lernt, die Dinge zu erforschen, ohne die Absicht, seinen Mitmenschen zu schaden oder bösartige Handlungen zu begehen, und der allein danach strebt, die ewige und unsterbliche Ordnung der Natur zu begreifen – und wie sie aufgebaut ist.«

Den Römern fiel die Verwaltung dieses Erbes zu, aber sie interessierten sich mehr für Administration und Rechtsprechung als für Philosophie und Wissenschaft. Mit der Hegemonie des Christentums verwandelte sich die höfliche Pflege des griechischen Erbes in eine unmittelbar feindselige Haltung. Vierhundert Jahre nach dem Beginn unserer Zeitrechnung schrieb der Kirchenvater Augustinus in seinen Bekenntnissen:5

»Es gibt eine andere, noch gefährlichere Versuchung: Das ist die Krankheit der Neugier […] Sie ist es, die uns dazu antreibt, die Geheimnisse der Natur aufzudecken, die Geheimnisse, die jenseits unserer Vernunft liegen, die nirgendwo hinführen können und nach denen der Mensch nicht suchen soll.«

Die griechischen Philosophen wurden also aus einem mehr als tausendjährigen Halbschlaf erweckt, als die Männer und Frauen der frühen Aufklärung begannen, sich für den systematischen Zweifel als Denkmethode zu interessieren. Und für jene Philosophen, die Fragen gestellt hatten – Xenophanes, Pyrrhos, Straton, Epikur. Die Galionsfigur der neuen Zeit war Descartes, der Mann, der es sich zur Aufgabe machte, an allem zu zweifeln, sogar an seiner eigenen Existenz, und der doch festen Boden unter seinen Füßen zu finden glaubte, weil er sich beim Denken beobachtete – ein denkendes Wesen muss ja existieren. Sein Beitrag bestand vor allem darin, die Forderung nach Stringenz in der philosophischen Beweisführung zu etablieren. Aber der radikale Zweifel, für den er berühmt wurde, war nicht echt: Es war in erster Linie ein intellektuelles Spiel, das er inszenierte, um zu zeigen, dass das von der Religion bestimmte Weltbild mit der Naturphilosophie keineswegs unvereinbar war. Um nicht als ketzerischer Zweifler an einer göttlichen Macht verdächtigt zu werden, beeilte er sich außerdem, einen Gottesbeweis in seine Abhandlung einzubauen, der jedoch nur teilweise überzeugen konnte.

Am Anfang standen das systematische Zweifeln und Fragen, aber auch an die Antworten wurden nun neue Ansprüche gestellt. Zwei Forderungen unterschieden die Aufklärung vom alten Denkregime: Die erste war die nach Logik und innerer Konsistenz. Die Geometrie wurde als ideales Vorbild für eine Theorie betrachtet; Spinoza wählte für eine seiner Abhandlungen den Titel Die Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt. Der Maßstab der inneren Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit ermöglichte es außerdem, andere philosophische und religiöse Konzepte kritisch zu überprüfen, worin ebenso viel Sprengkraft lag wie in der Forderung nach neuen Theorien.

Der zweite Maßstab – den vor allem Galilei durchsetzte – war der Wirklichkeitsbezug: Beobachtungen im Alltagsleben oder im kontrollierten Experiment sollten über die Stichhaltigkeit einer Beschreibung oder einer Theorie entscheiden, nicht ihre Übereinstimmung mit einem von der religiösen Obrigkeit autorisierten Dogma.

Die Fortschritte der Optik – Teleskop und Mikroskop – steigerten die Reichweite des menschlichen Auges enorm, wodurch sich auch das Risiko der Konfrontation zwischen einer erfahrungsbasierten Erkenntnissuche und dem etablierten Weltbild erhöhte. In einem Brief an Kepler klagte Galilei über die Vertreter der Kirche, die sich weigerten, durch das Teleskop zu schauen, weil sie fürchteten, den Beweis für die Unhaltbarkeit ihrer Vorstellungen zu sehen – und er fragte sich, ob man darüber lachen oder weinen solle.

Religiöse Freiheit

Ein weiterer Baustein der Aufklärung war die religiöse Befreiung. Glaubenskriege sind ein uraltes Phänomen; sie sind in jede institutionalisierte Religion mehr oder minder eingebaut. Die katholische Kirche hatte eine sehr lange Liste von Abweichlern, die um der ekklesiastischen Einheit willen nicht toleriert werden konnten – Marcioniten, Gnostiker, Monophysiten, Bogomilen, um nur einige zu nennen. Auch im Islam entwickelte sich im Laufe der Zeit ein breites Spektrum unterschiedlicher Richtungen, die einander ebenso erbittert bekämpften, wie sie die Ungläubigen außerhalb der muslimischen Gemeinschaft (Umma al-islamiya) befehdeten. In Europa verhärteten sich die Konflikte bis zum Hochmittelalter, und Papst Innozenz III. leitete ein neues Kapitel in der Geschichte der christlichen Kirche ein, als er im Jahr 1209 den ersten Kreuzzug von Katholiken gegen andere Christen initiierte – gegen die Katharer, auch Albigenser genannt, im südfranzösischen Languedoc.

Gemeinsam war den meisten dieser christlichen Abweichlergruppen, dass sie sich auf die Bibel als bedeutendste religiöse Urkunde des Christentums beriefen. Sie kritisierten die katholische Kirche dafür, dass sie sich in ihrem Regelwerk und in ihrer Praxis von den eigenen Grundprinzipien entfernt hatte. Lange wurde nur der Kirche selbst die Autorität zugebilligt, darüber zu entscheiden, wann das der Fall war. Martin Luther behauptete sowohl in seinen 95 Thesen, die er der Legende nach an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll, als auch in seinem Brief an Papst Leo X., dass die Kirche gegen ihre eigenen Verfahrensregeln verstoßen und für gefasste Beschlüsse fehlerhafte Begründungen vorgelegt habe. Er ging noch einen großen Schritt weiter, als er wenige Jahre später, in der Leipziger Disputation und in seiner Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, sich direkt auf die Bibel berief. Das bedeutete, dass er der Kirche das Monopol der Bibelauslegung absprach.

Die Heilige Schrift selbst zog Luther nicht in Zweifel. Den eigentlich radikalen Schritt vollzog erst Spinoza, als er sich in seinem 1670 veröffentlichten Tractatus Theologico-Politicus daran wagte, die Bibel zu analysieren.6 Natürlich lassen sich die Aussagen der Bibel empirisch kaum überprüfen; man kann aber sehr wohl die innere Konsistenz des Textes untersuchen. Spinoza begründete die moderne Tradition der Bibeltextkritik, und er bediente sich dazu keiner anderen Werkzeuge als der Bibel selbst und der einfachen Logik. So wies er nach, dass das, was die christliche Tradition »die fünf Bücher Mose« nennt, nicht von Moses geschrieben worden sein kann. Er fand Belege dafür, dass alle historischen Bücher der Bibel von einer einzigen Person geschrieben worden sein müssen und dass dieser Autor vermutlich Esra ist. Er wies außerdem auf Widersprüche und offenkundige Fehler hin.

In den vergangenen Jahrhunderten ist die textkritische Tradition stark angewachsen. Heute gibt es eine Liste von 20 000 bis 30 000 Textstellen, an denen verschiedene Bibelversionen mehr oder weniger signifikant voneinander abweichen. Teilweise gehen die Differenzen auf Irrtümer zurück, die durch falsche Abschriften oder Übersetzungen unabsichtlich zustande kamen. In anderen Fällen sind Fehler vorsätzlich eingefügt worden, um die Position einer bestimmten Glaubensrichtung auf Kosten einer anderen zu stärken.7

Spinozas epochale Leistung bestand darin zu zeigen, dass die Bibel, wie alle religiösen Texte, deutliche Kennzeichen trägt, die sie als Menschenwerk ausweisen, geprägt durch menschliche Unvollkommenheit. Und dass diese Texte, von Menschen für Menschen geschrieben, nicht selten dem Zweck dienten, Menschen zu lenken oder zu manipulieren. Doch Spinoza begnügte sich nicht mit einer textkritischen Untersuchung der Bibel: Er attackierte auch das Konzept des Wunders als Beweis für die Existenz einer höheren Macht. Hier fand er Unterstützung bei einem anderen Philosophen der frühen Aufklärung, Pierre Bayle, dessen Historisches und kritisches Wörterbuch kurz vor der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erschien. Der Gott, den Spinoza anerkannte, wirkt durch die Naturgesetze, und jedes in der Bibel geschilderte Ereignis, das im Widerspruch zu diesen Gesetzen steht, betrachtete der Philosoph als eine von unredlichen Menschen in den Text eingeschleuste Erfindung.

Der dritte wichtige Beitrag Spinozas im religiösen Kontext betrifft die Grundlagen der Moral. Die Idee eines Gottes, der die Menschen überwacht, böse Taten bestraft und gute belohnt, erschien ihm geradezu lachhaft. Nach seiner Auffassung musste sich die Moral auf die Vernunft gründen, und das galt auch für die einfachen moralischen Grundprinzipien, die sich in der Bibel wiederfinden. Folgerichtig ergab sich daraus seine Argumentation für die Trennung von Kirche und Staat. Das war vielleicht der radikalste Schritt. Oder, wie es Jonathan Israel formuliert:

»Ob demokratischer Republikaner oder nicht – jemand, der eine göttliche Vorsehung, eine im Göttlichen begründete Moral und den Glauben an die Erschaffung der Welt durch Gott ablehnte, war zugleich auch ein weitblickender Revolutionär.«

Natürlich traf Spinozas Philosophie auf erbitterten Widerstand. Die Reaktionen waren so heftig wie nachhaltig, bei gleichzeitigem Unvermögen oder Desinteresse, diesen analytischen Denkansatz mit Argumenten zu widerlegen. Die Kirche sollte schon bald ihre Haltung zu den Naturwissenschaften ändern: Newton wurde ein ganz anderer Empfang zuteil als Kopernikus und Galilei, obwohl seine Mechanik eine Weiterentwicklung des kopernikanischen Modells darstellte. Aber auf den Gebieten, auf denen sich Spinozas Denken bewegte, blieb man unversöhnlich, denn sie betrafen das weltliche Machtpotenzial der Kirche. Wunder, Reliquienschreine und heilige Stätten waren wichtige Instrumente, um einfache Menschen von der Gegenwart des Göttlichen zu überzeugen – und dabei handelte es sich in Wahrheit um Relikte einer Epoche, in der das menschliche Leben viel eher von Magie als von Religion bestimmt worden war. Dass Spinozas Idee einer auf Vernunft gegründeten Moral Anstoß erregte, lässt sich leicht nachvollziehen: Für das Selbstverständnis jeder institutionalisierten Religion ist es von zentraler Bedeutung, das Monopol auf die Grundlagen der Ethik zu besitzen, mit deren Hilfe sich der Alltag der Menschen reglementieren lässt.

Politische Freiheit

Politische Befreiung war die dritte wichtige Komponente im Gebäude der Aufklärung. Auch sie wurde natürlich nicht zum ersten Mal eingefordert. Machtmissbrauch hat es in allen Gesellschaften gegeben, und Machtmissbrauch schürt das Verlangen nach Veränderung. Im Hochmittelalter folgten die Bauernaufstände immer dichter aufeinander. Zu den bedeutenderen gehörten die Grande Jacquerie in Frankreich 1358 und die Peasants’ Revolt in England 1381. Das Neue an der politischen Befreiung, die von der Aufklärung ausging, bestand darin, dass für die Alternative zum Status quo, den das alte Regime repräsentierte, ein intellektuell fundiertes Lehrsystem geschaffen wurde. Theorien zu Gesellschaftsverträgen, die sich auf wechselseitige Verpflichtungen zwischen Machthabern und Regierten gründeten, hatte es in rudimentärer Form schon in der Antike gegeben; im Mittelalter waren sie unter anderem von Marsilius von Padua und Nicolaus Cusanus weiterentwickelt worden. Aber das waren noch sehr vorsichtige Konstruktionen, gedacht als Antwort auf die Frage, ob und gegebenenfalls wann man einen Herrscher absetzen darf, der sich als Tyrann aufführt. Denn Paulus hatte ja im Römerbrief festgestellt, dass alle Obrigkeit von Gott gegeben sei.8

Thomas Hobbes gilt in den Augen der Nachwelt als Verteidiger der absoluten Monarchie und einer von oben verordneten religiösen Einheit. Doch dieses Bild ist nicht stimmig. Nach der Restauration des Königtums im Jahr 1660 sah sich Hobbes einem Hagel von Anschuldigungen wegen Ketzerei, Atheismus und Verrat ausgesetzt. Die Personen in royalistischen und klerikalen Kreisen, die sehr wohl in der Lage waren, seine Texte richtig zu verstehen, schreckten vor seinem Denkansatz dennoch zurück. Denn in Hobbes’ Lehre wird mit dem Status quo aufgeräumt: Alle Individuen werden als gleich betrachtet, und alle stehen vor demselben Problem – eine Gesellschaft zu erschaffen, die jedem Einzelnen eine Grundsicherheit als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben bietet.

Dieser Ansatz ist universell und egalitär. Zwar führte Hobbes im Weiteren aus, dass ein beträchtliches Maß an Ungleichheit durchaus zweckmäßig sein könne und dass das, was im religiösen Bereich als erlaubt gelte, an die Tradition angepasst werden müsse, aber das konnte die herrschende Schicht nicht beruhigen: Man ahnte – zu Recht –, dass seine Lehre sich auch dazu benutzen lassen würde, ganz andere Schlussfolgerungen zu ziehen.

Spinoza sprach sich in seinem Tractatus für eine Gesellschaft aus, die von der Vernunft regiert wird und von Gleichheit und Toleranz geprägt ist. Die Vernunftforderung besagt ganz einfach, dass gesellschaftliche Institutionen und Strukturen genau wie Naturphänomene untersucht und diskutiert werden können. Die Konsequenzen verschiedener Alternativen können dann nach den Maßstäben, die man jeweils für wichtig erachtet, beurteilt und gegeneinander abgewogen werden. Dadurch wird die Entscheidung für eine gesellschaftliche Organisationsform entmystifiziert. Spinoza lehnt die Monarchie ab und weist zugleich darauf hin, dass es diese Staatsform nie wirklich gegeben habe, da alle Monarchien in Wahrheit Oligarchien seien.

Eine Konsequenz aus der Vernunftforderung ist die Trennung zwischen religiösen und staatlichen Angelegenheiten. Religiöse Urkunden dunkler Herkunft und deren ebenso obskure Auslegungen durch eine theokratische Elite haben in einem modernen Gemeinwesen keinen Platz. In Spinozas idealer Gesellschaft herrscht außerdem Gleichheit. Der einzige Einwand, den man heute gegen seinen Entwurf erheben könnte, betrifft die Frauen: Ihnen wollte er nicht den Status einer vollwertigen Staatsbürgerschaft zuerkennen, weil er der Ansicht war, sie seien zu sehr abhängig von den Männern, um selbstständige Entscheidungen zu treffen. Diese Einschätzung, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts sachlich richtig gewesen sein mag, kann heute natürlich nicht mehr als Ausgangspunkt einer normativen Diskussion akzeptiert werden. Doch etwa gleichzeitig mit Spinozas Tractatus, im Jahr 1673, erschien in Paris ein leidenschaftliches Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau, De l’ Égalité des deux sexes (Über die Gleichheit der beiden Geschlechter) von François Poullain de la Barre. Der Verfasser war Cartesianer, und sein Hauptargument für die Gleich­stellung von Mann und Frau war, dass alles, was dagegen vorgebracht werde, sich auf äußerliche Eigenschaften der Frauen beziehe – physische Schwäche, eine abhängige Position in der Ehe und in anderen Zusammenhängen. Diese Einwände könnten aber nicht gelten, wenn man Descartes’ Annahme folge, dass Körper und Seele völlig getrennte Einheiten seien. L’âme n’a point de sexe – die Seele hat kein Geschlecht, lautete die Formel, mit der Poullain de La Barre seiner Beweisführung Nachdruck verlieh. Sein Beitrag fand viel zu wenig Beachtung in der Geschichte des Feminismus, die in den meisten Versionen erst ein gutes Jahrhundert später beginnt, bei Mary Wollstonecraft und John Stuart Mill, und damit auch wichtige Kommentare von Mandeville, Diderot und Condorcet unberücksichtigt lässt.

Im späten 17. Jahrhundert ist außerdem eine zunehmende Kritik am Kolonialismus zu beobachten. Pierre Bayles Zielscheibe war vor allem die Mission, in den Schriften Frans van den Endens lag der Fokus auf dem weltweiten Sklavenhandel. Aber es gab auch eine innereuropäische Perspektive: Der irische Protestant, Naturphilosoph und Politiker William Molyneux kritisierte den britischen Imperialismus gegenüber Irland in seiner 1698 veröffentlichten Abhandlung The Case of Ireland (Der Fall Irland) mit Formulierungen, die das Parlament veranlassten, die Verbrennung der Schrift anzuordnen. Der Text ist weniger bekannt als Jonathan Swifts Aufsatz A Modest Proposal (Ein bescheidener Vorschlag), der einige Jahrzehnte später erschien, aber er beeinflusste das Denken sowohl Thomas Jeffersons als auch James Madisons, was die Selbstständigkeit der amerikanischen Nation betraf.

Für Spinoza stellt Toleranz einen zentralen Wert dar. Das ist der Punkt, in dem er am stärksten von Hobbes abweicht. Ein weiterer Unterschied: Nach Hobbes’ Auffassung verzichtet der Mensch auf seine Naturrechte, sobald er den Gesellschaftsvertrag unterzeichnet; Spinoza behauptet, dass diese Rechte auch dann noch ihre Gültigkeit behalten. Hobbes schrieb vor dem Hintergrund eines von Religionskriegen zerrissenen Englands, Spinoza dagegen in den ziemlich toleranten und gut funktionierenden Niederlanden. Das dürfte die Differenzen zum Teil erklären.

Moralische und ökonomische Freiheit

Von ganz anderer Art als die übrigen Freiheiten ist die ökonomische Freiheit: Sie setzt die Befreiung sowohl von inneren Beschränkungen – moralischen Normen – als auch von äußeren Restriktionen voraus.9 Wer überlieferte Normen außer Kraft setzen wollte, riskierte den Konflikt mit den Vorschriften der Kirche, was rechtens und richtig sei. So gab es etwa eine langwierige Debatte über das Recht, ­Zinsen für verliehenes Kapital zu verlangen. Die Kirche hatte zum Geldverleih prinzipiell eine kritische Einstellung, aber die meisten amtlichen Institutionen akzeptierten einen Zins, und deshalb ging es in der Diskussion vorwiegend darum, wo die Grenze zwischen angemessener Rendite und Wucher verläuft. Christliche Geldverleiher agierten oft über jüdische Bevollmächtigte, um ihre Tätigkeit zu verheimlichen, und so galt das Kreditwesen bald als eine Angelegenheit der jüdischen Minorität. In den Vierzigerjahren des 12. Jahrhunderts verwendete Bernhard von Clairvaux für das Verleihen von Geld den Begriff judaizare. Ironischerweise bediente man sich jüdischer Repräsentanten manchmal auch bei Projekten in religiösem Kontext, etwa beim Bau von Klöstern und bei der Finanzierung von Kreuzzügen.10 Aber nach und nach wurden diverse Methoden ersonnen, das Zinsverbot zu umgehen, und damit verringerte sich der Anteil der jüdischen Financiers.11

Moralische Restriktionen zu lockern, birgt natürlich gewisse Risiken, und so entwickelte man im Laufe der Geschichte eine Reihe von Begründungen dafür, dass größere Freiheiten die soziale Ordnung nicht stören würden. Eine frühe Argumentation setzte auf den Mechanismus der Selbstkontrolle. Der Gedanke findet sich schon bei den spätantiken Stoikern, verbreitete sich aber erst in neuerer Zeit. David Hume schrieb 1739 in seinem Traktat über die menschliche Natur:12

»Es gibt also keinen Affekt, der fähig ist, die eigennützige Neigung im Zaum zu halten, außer dieser Neigung selbst, wenn man ihr nämlich eine neue Richtung gibt. Diese Richtungsänderung aber muß bei geringstem Nachdenken notwendig eintreten, denn offenbar wird dieser Affekt durch seine Einschränkung weit besser befriedigt, als solange er frei ist.«

Ein Klassiker zu diesem Thema wurde Bernard Mandevilles Bienenfabel, die in einer ersten Fassung in Versen schon 1705 veröffentlicht wurde und 1714 noch einmal erweitert und in Prosaform erschien, mit dem Untertitel Private Laster, öffentliche Vorteile. Mandeville, ein niederländischer Arzt und Sozialtheoretiker, war ein unerschrockener Autor, der in anderen Publikationen dadurch Anstoß erregte, dass er über lesbische Beziehungen schrieb und sich für staatlich betriebene Bordelle aussprach. In der Bienenfabel schildert er, wie negativ es sich auf eine Gesellschaft auswirken würde, wenn alle sich plötzlich so tugendhaft verhielten, wie es die Kirche vorschreibt. Der Text wurde zunächst als eine allgemeine Attacke gegen die christliche Moral verstanden. Aber unter der ironischen Oberfläche verbirgt sich ein Gedanke, der dann zur wichtigsten Argumentationslinie für Freiheit auf ökonomischem Gebiet werden sollte: dass die Handlungsweise eines einzelnen Menschen auf gesellschaftlicher Ebene ein anderes Resultat hervorbringt als – tatsächlich oder vermeintlich – für ihn als Individuum. Wir haben es hier mit einer frühen Variante dessen zu tun, was man später die Doktrin von den unbeabsichtigten Folgen menschlichen Handelns nannte.13 Das Konzept wurde ungefähr zur selben Zeit in Frankreich von Montesquieu und in Italien von Giambattista Vico vorgelegt und später von so grundverschiedenen Denkern wie Adam Smith, Friedrich Hegel, Karl Marx sowie, im 20. Jahrhundert, Friedrich von Hayek und Karl Popper weiterentwickelt.

Die Frage, welchen äußeren Beschränkungen das Wirtschaftsleben unterworfen sein sollte, betrifft in hohem Maße die Rolle des Staates. Mandeville begnügte sich mit dem Hinweis, dass politische Eingriffe und Gesetze notwendig seien, um die erwünschte Harmonie zwischen individuellen Trieben und gesellschaftlichem Nutzen zu er­reichen: »Private Laster können unter dem klug ausgeübten Einfluss eines geschickten Politikers zum allgemeinen Vorteil gewendet werden.«14 Ganz allmählich zeichnete sich nun eine Trennlinie ab zwischen denen, die ein gezieltes staatliches Eingreifen für unabdingbar hielten, und jenen, die glaubten, dass die Gesellschaft auf sozusagen automatische Weise die erforderlichen Mechanismen selbst hervorbringen würde. Für diese stille Dynamik fand man verschiedene Begrifflichkeiten: Vico sprach von der Vorsehung (providentia) und Hegel von der List der Vernunft in der Geschichte, während von Hayek und Popper Parallelen aus der Evolutionstheorie entlehnten.

In praktischer Hinsicht ging es um Wirtschaftspolitik und die Freiheit des Marktes. Hier und dort in Europa wurden vorsichtige Libe­ralisierungsversuche unternommen, mit gemischten Ergebnissen. Jacques Turgot, Ökonom und eine Zeit lang französischer Finanzminister, verfasste 1770 einen Brief über den freien Getreidehandel und konnte als Minister seine Ideen in die Praxis umsetzen. Aber der Versuch nahm kein gutes Ende. Wechselnde Ernteerträge führen zu Angebotsschwankungen, die sich sofort auf den Preis auswirken, wenn man nicht Getreide einlagert, um Ausfälle zu kompensieren. Der Brotpreis ist von entscheidender Bedeutung für eine Bevölkerung, die nahe am Existenzminimum lebt, und die schlechte Ernte des Jahres 1788 bereitete den Nährboden für die Revolution, die ein Jahr später ausbrach.

Adam Smiths 1776 veröffentlichtes Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen war ein entschiedenes Plädoyer für die Erweiterung der ökonomischen Freiheit, auch wenn es im Zusammenhang mit seiner früheren moralphilosophischen Schrift Theorie der ethischen Gefühle gelesen werden muss. Smith setzte eine moralische Einhegung wirtschaftlicher Entscheidungen voraus, die heute nicht mehr die gleiche sein kann wie im 18. Jahrhundert. Auch wer Smiths Analyse der Bewegungsmuster des Marktes für richtig hält, muss also einräumen, dass die Ansprüche an die Rolle des Staates sich seitdem verändert haben könnten.

Condorcets Bedeutung

Condorcet repräsentiert die Aufklärung in all ihren Dimensionen – philosophische und religiöse Befreiung, politischer Radikalismus und entfaltete ökonomische Freiheit.15 Im Jahr 1743 geboren, schloss er sich der aufklärerischen Bewegung erst spät an. Man hat ihn den letzten Enzyklopädisten genannt, und er war eher ein Vollender als ein Wegbereiter, vergleichbar etwa mit Bach in der Barockmusik. Der Gebrauch der Vernunft und eine kritische Grundhaltung waren für ihn selbstverständlich. Die menschliche Gesellschaft und ihre Institutionen mussten entmystifiziert werden. »Wir nehmen uns heraus, das Zusammenleben der Biber zu untersuchen – warum sollte dann nicht die menschliche Gesellschaft dem gleichen analytischen Blick unterworfen werden?«, fragte er in seiner Antrittsvorlesung an der Französischen Akademie im Februar 1782. Er verwirklichte diese Idee in der Begründung einer Lehre, die er selbst soziale Mathematik nannte und an der vor allem die Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf gesellschaftliche Phänomene bahnbrechend war.

Er positionierte sich gegen Rousseau, indem er behauptete, die gesellschaftliche Entwicklung werde durch die Vernunft, nicht durch die herrschende Meinung vorangetrieben. In jungen Jahren hatte er ein Jesuitenkolleg besucht, was bei ihm den Grundstein zu einer religionskritischen Einstellung legte, die er sein Leben lang behielt. Ungeachtet dessen verteidigte er die Rechte der religiösen Minderheiten, sowohl der Protestanten als auch der Juden. In seinen bildungspolitischen Schriften forderte er, die allgemeine Grundbildung zu säkularisieren. Politischen Radikalismus betrachtete er als etwas Natürliches. Während einiger intensiver Wochen, die er im Herbst 1770 mit Voltaire und dessen Freund und Mentor d’Alembert auf Voltaires Gut Ferney verbrachte, hatte er begonnen, über die reine Mathematik hinauszublicken und sich ernsthaft für gesellschaftliche Fragen zu interessieren. Aber der Radikalismus war für ihn kein Grund, die fundamentale Forderung der Gesetzestreue aufzugeben. Während der dramatischen Jahre der Revolution drängte er unablässig darauf, dass die Hauptaufgabe der vom Volk gewählten Versammlung darin bestehe, eine Verfassung für die neue Republik zu schreiben, und er selbst arbeitete einen umfassenden Entwurf aus. Er wurde nicht angenommen; stattdessen lancierten die Jakobiner eine in aller Eile zusammengeschusterte Alternative, die in der Versammlung ohne Debatte akzeptiert wurde. Lange rechnete er damit, dass das Königreich durch den Übergang von der Autokratie zu einer konstitutionellen Monarchie gerettet werden könne. Aber nachdem Ludwig XVI. im Juni 1791 versucht hatte, mit Hilfe des schwedischen Adligen Axel von Fersen aus der Hauptstadt zu fliehen, kam Condorcet wie viele andere Beobachter zu dem Schluss, dass der König plante, mit Unterstützung ausländischer Mächte das alte Regime wiederherzustellen. Die logische Antwort darauf war der Übergang zur Republik.

Nach der Ablehnung seines Verfassungsentwurfs führte Condorcet einen hartnäckigen Kampf für die Rechte der Frauen und zeigte sich dabei konsequenter als etliche der zeitgenössischen Aufklärungsphilosophen, die nach dem frühen Beitrag Poullain de La Barres ein eindeutiges Engagement vermissen ließen. Der Artikel Sur l’admission des femmes au droit de cité (Warum man den Frauen das Bürgerrecht gewähren muss) erschien 1790, also noch vor Olympe de Gouges Déclaration des Droits de la femme et de la citoyenne (Erklärung zu den Rechten der Frau und der Staatsbürgerin) und Mary Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Woman (Verteidigung der Rechte der Frau). Condorcet widerlegt darin nachdrücklich die traditionellen Argumente gegen die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im öffentlichen Leben. Unterstützt wurde er bei dieser Arbeit von seiner Frau Sophie, geborene de Grouchy, die in Paris einen Salon unterhielt, in dem führende Intellektuelle Europas und der Vereinigten Staaten verkehrten – unter anderem der Rechtsphilosoph Cesare Beccaria sowie Benjamin Franklin und Thomas Paine.

Auf dem Gebiet der Ökonomie interessierte er sich für den Gedanken der erweiterten wirtschaftlichen Freiheit. Er war beeindruckt von Turgots Initiative für den inländischen Freihandel mit Getreide und Mehl und arbeitete unter seiner Ägide an einer Verbesserung der Infrastruktur zur Erleichterung des Handels. Er untersuchte unter anderem die Rentabilität verschiedener Kanalprojekte und wendete dabei das an, was wir heute eine sozioökonomische Kosten-Nutzen-Analyse nennen würden. Er prüfte auch die Spätfolgen diverser öffentlicher Projekte, praktizierte also eine Form der sozialen Konsequenzanalyse. Da er einer der führenden Mathematiker des Landes war, entwickelte er außerdem ein mathematisches Modell für den hydrodynamischen Widerstand in Kanälen, um den Gütertransport effizienter zu machen. Auch die öffentliche Wirtschaft gehörte zu seinen Interessengebieten: Er erörterte Grundlagen der Steuerbemessung und engagierte sich während seiner Mitgliedschaft in der Nationalversammlung für die Schaffung eines Ausgleichs in den öffentlichen Finanzen.

Links und rechts

Die Kategorien links und rechts bezeichnen nicht nur die Orientierung im Raum, sondern sind in vielen Kulturen der Welt mit Assoziationen und Nebenbedeutungen aufgeladen. Das lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass die Rechtshändigkeit eine dominante menschliche Eigenschaft ist und dass Linkshänder in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten mit Skepsis betrachtet wurden. Einen deutlichen Niederschlag findet dieser Sachverhalt in den indoeuropäischen Sprachen, wo das Wort für rechts auf verschiedene Weisen verknüpft ist mit Eigenschaften wie Stärke, Gesundheit, Redlichkeit und Gesetzmäßigkeit.16 Das lateinische dexter bedeutet sowohl »rechts« als auch »geschickt«, »günstig« und »Glück bringend«. Im Französischen steht droit für »rechts«, doch ebenso für »gerade«, »anständig«, »aufrecht« und »Recht«, so wie das englische right neben »rechts« auch »richtig«, »passend«, »genau«, »gerade«, »gerecht« und »Recht« heißen kann und damit im Bedeutungsspektrum dem deutschen recht entspricht. Im italienischen destro hat sich aus dem Lateinischen neben der Richtungsbezeichnung der Nebensinn »geschickt, gewandt, findig« erhalten. Das schwedische höger und seine nordischen Verwandten (dänisch højre, norwegisch høyre, isländisch hægri) hatten ursprünglich die Nebenbedeutung »bequem«. Umgekehrt sind Wörter für »links« mit Schwäche, Krummheit und Falschheit assoziiert: Das lateinische sinister bedeutet zugleich »ungünstig« oder »unheilvoll«, das italienische »sinistro« auch »unheimlich« und »düster«. Im Französischen steht gauche für »links« ebenso wie für »ungeschickt« und »ungelenk«, die deutschen Adjektive link (für »betrügerisch«, »dubios«) und linkisch sprechen für sich.

Politisch etablierte sich der Unterschied zwischen »links« und »rechts« während der Französischen Revolution.17 In der Nationalversammlung saßen die Royalisten und die Verteidiger des alten Regimes vom Präsidenten aus gesehen rechts, während die Reformisten und Revolutionäre ihre Plätze auf der linken Seite hatten. Diese Kategorien verbreiteten sich auch in anderen Ländern, unabhängig von der Sitzordnung in den Parlamenten, und bestimmen noch heute die wichtigste Dimension in der Politik, obwohl es Versuche gab, sie aufzuweichen oder abzubauen. Aus dieser Perspektive sind die unterschwelligen Assoziationen zu den Begriffen »links« und »rechts« besonders interessant. Möglicherweise sähe die politische Landkarte Europas und der Welt heute anders aus, wenn die Royalisten an jenem Augusttag des Jahres 1789, als über das königliche Veto gegen die Gesetzgebende Versammlung abgestimmt wurde, auf der anderen Seite des Saals Platz genommen hätten.

Zwischen den verschiedenen Freiheiten, die unter dem Banner der Aufklärung versammelt wurden, bestehen gewisse Spannungen. Philosophische und religiöse Freiheit gehen Hand in Hand, aber sobald man zur politischen Freiheit übergeht, zeigen sich fundamentale Unterschiede zwischen den Denkern. Wir haben es, vereinfacht ausgedrückt, mit zwei Aufklärungen zu tun – einer radikalen, die ihren Schwerpunkt im 17. Jahrhundert und in den Niederlanden hatte, und einer eher konservativen, repräsentiert durch Philosophen wie Locke, Leibniz und – vielleicht am deutlichsten – Hume. Es fällt geradezu ins Auge, dass Hume in politischer Hinsicht innerlich blockiert war. Auf wissenschaftstheoretischem Gebiet war er bereit, fast alles anzuzweifeln, und er machte kein Geheimnis daraus, dass er einer göttlichen Autorität als Basis seiner Weltanschauung nicht bedurfte. Aber die entscheidende Frage nach den Voraussetzungen für den Aufbau einer Gesellschaft beantwortete er, indem er den Status quo zur Norm erhob. In seinem Traktat über die menschliche Natur findet sich folgender Gedankengang zur Verteilung der Besitztümer unter den Bürgern eines Gemeinwesens:18

»[…] es wird ihnen sofort als natürlichster Ausweg erscheinen, daß jeder fortfahre dasjenige zu genießen, dessen Besitzer er augenblicklich ist, daß also das Eigentumsrecht oder der dauernde Besitz auf den augenblicklichen Besitz sich gründe. Die Macht der Gewohnheit ist so groß, daß sie uns nicht nur mit dem, was wir längere Zeit genossen haben, aussöhnt, sondern auch eine Zuneigung zu diesem Besitz in uns erweckt, so daß wir ihn anderen Dingen vorziehen, die vielleicht mehr Wert haben, uns aber nicht so vertraut sind. Von dem, was uns lange Zeit unter Augen war, und von uns oft zu unserem Vorteil gebraucht wurde, trennen wir uns immer am schwersten, während wir leicht ohne solche Besitztümer leben können, die wir niemals genossen haben und an die wir demgemäß nicht gewöhnt sind. Deshalb liegt es auf der Hand, daß die Menschen dem Auskunftsmittel, daß jedermann fortfahren solle, das zu genießen, was er im gegenwärtigen Augenblick besitzt, leicht zustimmen mußten; und so kamen sie natürlicherweise überein, dies Auskunftsmittel zu wählen.«

Abgesehen davon, dass Humes optimistische Hypothese einer allgemeinen Akzeptanz des Status quo sich im historischen Verlauf nicht bestätigte, enthalten seine Ausführungen einen auffallenden Widerspruch. Legt man den Maßstab der Unvoreingenommenheit sowohl in philosophischer als auch in religiöser und politischer Hinsicht an, ist es fraglich, ob Hume überhaupt zu den Aufklärungsphilosophen gezählt werden kann. Jonathan Israels Behauptung, dass jemand, der den Glauben an eine göttliche Vorsehung ablehnt, schon ein potenzieller Revolutionär sei, sollte relativiert werden: Aufklärung im genuinen Sinn muss so radikal sein, dass sie auch gesellschaftliche Institutionen analysiert und infrage stellt.

Noch deutlicher treten die Trennlinien im Verhältnis zu den ökonomischen Freiheiten hervor, die im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, der Gründung von Aktiengesellschaften und anderen Neuerungen in der institutionellen Infrastruktur immer größere Bedeutung erlangten. Für einen Autor wie Friedrich von Hayek, der politisch weit rechts stand, war Freiheit fast völlig gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Befreiung. In seinem Schlüsselwerk Die Verfassung der Freiheit wird der freien Meinungsäußerung, der Religionsfreiheit und anderen klassischen Aspekten jenes Erbes, das der Liberalismus der Aufklärung verdankt, nur wenig Raum gewidmet.19

Es ist aber nicht nur so, dass die verschiedenen Freiheiten zum Teil unabhängig voneinander existieren können: Es gibt Konflikte zwischen ihnen, und in manchen Fällen wird eine bestimmte Freiheit zur Bedrohung für eine andere.

3.Die außereuropäische Welt

Zwischen 1405 und 1433 unternahm der chinesische Admiral Zheng He sieben Seereisen über das Südchinesische Meer und den Indischen Ozean. Auf seinen Reisen in die westliche Welt segelte er in den Golf von Hormuz und den Golf von Aden und an der afrikanischen Ostküste entlang, mindestens bis nach Malindi (im heutigen Kenia). Seine Flotte umfasste mehr als 300 Schiffe, einige davon mit Kanonen bestückt, mit einer Besatzung von insgesamt 28 000 Mann, die meisten davon Soldaten. Sein eigenes Schiff war 134 Meter lang und damit drei- bis viermal so groß wie die Santa Maria von Christoph Columbus.1

Zheng Hes Expeditionen waren kein Ausnahmefall. Die im Jahr 1368 gegründete Ming-Dynastie sandte etliche Flotteneinheiten aus, die Ziele im heutigen Indochina und Indonesien ansteuerten, aber die von Zheng He kamen am weitesten. Deshalb fragt man sich, warum er nicht auch noch Afrika umrundete und das Mittelmeer befuhr oder vielleicht, was einfacher gewesen wäre, durch das Rote Meer segelte und einen Brückenkopf in der Landenge von Suez errichtete. Das Osmanische Reich stand erst am Anfang seiner Expansion. Auf der anderen Seite des Mittelmeers wartete ein Europa, das noch unter den Folgen des Schwarzen Todes litt. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der europäischen Bevölkerung waren in den Jahren um 1350 an der Pest gestorben, in manchen Regionen, wie in der Toskana, zwischen 60 und 80 Prozent.2

Die politische Zersplitterung Europas hatte sich schon vor dem Ausbruch der Pest durch Revolten bemerkbar gemacht und verschärfte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit Bauernaufständen in England, Frankreich und Italien. Die Christenheit war seit dem 11. Jahrhundert in einen katholischen und einen orthodoxen Teil gespalten, und nun begann auch die Einheit der Katholiken zu bröckeln. Teile Spaniens waren immer noch muslimisch, und Zheng He war als Muslim erzogen worden. Es ist keine abwegige Vorstellung, dass ein chinesischer Vorstoß unter diesen Umständen erfolgreich gewesen wäre, aber Kaiser Zhu Di, der die Order zu den Expeditionen gegeben hatte, starb im Jahr 1424, und als die Fahrten einige Jahre später wieder aufgenommen wurden, richtete sich das Interesse des amtierenden Herrschers auf Malakka und Thailand und die Bedrohungen, die von dort ausgingen. Zheng He starb wahrscheinlich 1433 auf der Heimreise von einer Expedition im Indischen Ozean.

Warum Europa?

Am Anfang des 15. Jahrhunderts wäre China in der Lage gewesen, ferne Länder zu kolonisieren – ökonomisch, militärisch und logistisch auf den Gebieten von Schiffbau und Navigation war die Kapazität dieses Landes dafür ausreichend. Es ist eine interessante Frage, wie die Welt sich entwickelt hätte, wenn China und vielleicht Japan die dominierende Rolle auf dem Globus übernommen hätten, mit dem Chinesischen als Hauptsprache und der chinesischen Kultur als Norm. So ist es nicht gekommen. Europäische Mächte ergriffen nach und nach die Initiative – zuerst Portugal, auf das der transatlantische Sklavenhandel zurückgeht, der sich in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts entwickelte,3 dann Spanien, England, Frankreich und die Niederlande. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war mehr als die Hälfte der Welt in Gebiete aufgeteilt, die von den europäischen Kolonialmächten beherrscht wurden.

Die Frage, warum es Europa war, das die Weltherrschaft erlangte, und nicht China oder die arabischen Länder, beschäftigt Philosophen und Sozialwissenschaftler seit Jahrhunderten.4 Die Erklärungen erinnern oft an Rudyard Kiplings Genau-so-Geschichten für Kinder, in denen erzählt wird, wie der Elefant zu seinem Rüssel kam, wie der Leopard seine Flecken kriegte, und so weiter. Man hat einen einzigartigen historischen Sachverhalt vor sich – die Dominanz der westlichen Welt in der Neuzeit – und versucht, ihn mit diversen Faktoren aus Umwelt, Kultur, Ökonomie oder anderen Gebieten zu begründen. Die Theorien sagen oft mehr über die Weltanschauung des jeweiligen Autors aus als über das Problem an sich, aber das muss nicht bedeuten, dass die Diskussion uninteressant wäre. Aus Vergleichen zwischen verschiedenen Ländern und ihrer Interaktion in der welthistorischen Arena lässt sich eine Menge lernen.5

Wichtig ist dabei zu präzisieren, auf welche Frage man eine Antwort sucht. Ein Ziel kann sein zu verstehen, welche Faktoren für die Entwicklung einer Gesellschaft im weitesten Sinne, sozial und politisch, entscheidend sind. Ein anderes Ziel, das naturgemäß von Ökonomen und Wirtschaftshistorikern verfolgt wird, ist die Untersuchung der Gründe für materielles Wachstum. Es handelt sich hier um zwei verschiedene Perspektiven, denn auch Jäger-und-Sammler-Kulturen, die lange Zeit am Existenzminimum oder knapp darüber lebten, haben ja ein Wachstum ihres angesammelten Wissens und eine Entwicklung in ihren sozialen Beziehungen erfahren. Weitere Fragen beziehen sich darauf, welche Bedingungen die Entstehung von Märkten und die kapitalistische Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft begünstigten – das sind wiederum verschiedene Themen, da es sowohl Märkte ohne Kapitalismus gegeben hat als auch Kapitalakkumulation in Volkswirtschaften, die nicht marktbasiert waren. Die Frage, warum das kapitalistisch organisierte Gesellschaftssystem der westlichen Welt die globale Vorherrschaft eroberte, hängt zwar mit den übrigen Fragestellungen zusammen, betrifft aber einen historisch einzigartigen Vorgang.

Die europäische und amerikanische Literatur, aus der Sicht der Sieger geschrieben, folgte lange der These, dass die Überlegenheit des Westens auf der Ebene der Ideen und Haltungen zu suchen sei. Manche sprechen vom rationalistischen, neugierigen und rastlosen Charakter der griechischen Kultur,6 der nach verbreiteter Auffassung die Entwicklung Europas geprägt hat, während andere behaupten, dass der entscheidende kulturelle Einfluss vom Christentum ausgegangen sei.7 Schon hier stößt man auf einen Widerspruch: Das Christentum verwaltete, wie wir gesehen haben, nicht das griechische Erbe, sondern diffamierte das freie Streben nach Wissen und Erkenntnis lange als gefährliche Versuchung.8 Auch Max Weber konzentrierte sich in seiner klassischen Analyse von Protestantismus und Kapitalismus auf die religiöse Dimension, sah aber den Wendepunkt am Anfang des 16. Jahrhunderts, in der Zeit der Reformation. Alan Macfarlanes Studie über den englischen Individualismus und Emmanuel Le Roy Laduries Untersuchung der Lebens- und Vorstellungswelt französischer Dorfbewohner im 13. Jahrhundert liefern jedoch Hinweise darauf, dass der Individualismus, wenn er denn als etwas spezifisch Europäisches gelten soll, sich schon vor der Reformation ausbildete.9 Andere Autoren verlegen die Beweggründe für eine Veränderung des Wertesystems in die Epoche, in der die aufsteigende Bourgeoisie ein neues Selbstbewusstsein entwickelte.10

Einige Wirtschaftshistoriker haben stattdessen die Bedeutung der Technik hervorgehoben. Lynn White Jr. meinte, zwar seien technische Erfindungen wie der Steigbügel, der Kompass, das Schießpulver, das Papier und der Buchdruck in anderen Weltgegenden gemacht worden, doch hätten erst die Europäer es verstanden, sie in vollem Ausmaß zu nutzen.11 Besonders wichtig wurden mit dem Fortgang der Geschichte die Entwicklung von Waffentechniken und die Kombination von Schiff- und Waffenbau. 12

Das eurozentrische Weltbild erhielt Ende des 20. Jahrhunderts neuen Nährboden durch David S. Landes’ Buch Wohlstand und Armut der Nationen, dessen Titel auf Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen anspielt. Landes behauptet, dass die Grundlage für Europas Fortschritte schon im Hochmittelalter durch technische, finanzielle und administrative Erfindungen von gewöhnlichen Menschen wie Handwerkern und Kaufleuten bereitet worden sei.13 So seien die Voraussetzungen für Arbeitsteilung und hohe Produktivität geschaffen worden – nicht durch große Sprünge in der technischen Entwicklung, sondern durch eine stetige Akkumulation über die Jahrhunderte hinweg. Der Ursprung, meint er, sei in der jüdisch-christlichen Tradition zu finden, wobei er die Spaltung der Christenheit durch die Reformation als Bereicherung sieht. Sie habe die Alphabetisierung gefördert, aber auch eine politische und religiöse Zersplitterung bewirkt, die ein Klima des Wettbewerbs begünstigt habe. Die Universitäten als unabhängige Wissenszentren und verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der Seefahrt, hätten zur Beschleunigung des Prozesses beigetragen.

Im späten Mittelalter und in der Neuzeit nahmen europäische Staaten über eine aktive Wirtschaftspolitik oft großen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung. Bestimmte Branchen wurden gezielt unterstützt, für Schlüsselprodukte konnten Import- oder Exportverbote erlassen werden, und auf manche Waren behielt oder gewährte der Staat selbst das Monopol. Nach modernen Maßstäben nahm der Staat zwar noch keinen breiten Raum ein, dennoch war er deutlich präsent, und der Aufbau des Militärs, der sich parallel zur Gründung der Nationalstaaten vollzog, erzeugte eine stabile Nachfrage nach Waffen, Schiffen, Textilien und anderen Rüstungsgütern.

Einige Wirtschaftshistoriker sehen den Schlüssel zum Erfolg Europas wiederum in der frühzeitigen Schaffung leistungsfähiger Institutionen.14