Eine Welt aus Wellen - Per Molander - E-Book

Eine Welt aus Wellen E-Book

Per Molander

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Beschreibung

Als Virginia Woolf 1931 ihren Roman The Waves veröffentlichte, stellte sie die bestehende (literarische) Ordnung ebenso in Frage wie Albert Einstein mit seiner ein Jahrzehnt zuvor veröffentlichten Relativitätstheorie die klassische Physik. "Die Parallelen zwischen der Verwendung von Metaphern in der Literatur und in der Wissenschaft sind zahlreich und keineswegs trivial", schreibt Per Molander in diesem Essay, in dem er faszinierende Analogien zwischen Romanexperimenten des frühen 20. Jahrhunderts und der modernen Physik aufzeigt. Sein Buch bewegt sich zwischen Virginia Woolfs zielstrebigem Streben nach einer Wirklichkeit, die den ganzen Menschen umfasst, und den Bemühungen der Physiker um eine Wirklichkeitsdarstellung, die der Komplexität der äußeren Welt Rechnung trägt. In beiden Fällen war das Ergebnis paradoxerweise ein verstärktes Gefühl der Unsicherheit in einer Welt ohne Halt.

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Seitenzahl: 207

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Ebook Edition

Per Molander

Eine Welt aus Wellen

Virginia Woolf und die moderne Physik

Aus dem Schwedischen übersetzt von Kristina Maidt-Zinke

Die schwedische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Allt är vågor – Virginia Woolf och den moderna fysiken

The cost of this translation was supported by a subsidy from the Swedish Arts Council, gratefully acknowledged

© Per Molander and Weyler förlag, 2016 Sweden

Published by agreement with agentur literatur Gudrun Hebel, Berlin

Mehr über unsere Autor:innen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-878-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt / Main 2023

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, Cover-Foto © picture alliance / Heritage Images | Fine Art Images

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel

Hinweis der Übersetzerin

Vorwort

1 Die Flosse

2 Leben und Dichtung

3 Bloomsbury

4 Die Wellen

5 Die Metaphern der Physik

6 Das Licht

7 Ereignisse im Wasser

8 Der Schatten des Schalls

9 Maître Fouriers Analyse

10 Felder, Flüsse, Ströme

11 Die soziale Textur

12 Keynes und der Kampf gegen die Wellen

13 In den Sand geschrieben

14 Alles Feste und Beständige verdampft

15 Der Strom der Zeit

16 Wellen im Meer der Unendlichkeit

17 Widerstand

18 Der Symmetriebruch

19 Das, was verbindet

Chronologie

Anmerkungen

Die Flosse

Leben und Dichtung

Bloomsbury

Die Wellen

Die Metaphern der Physik

Das Licht

Ereignisse im Wasser

Der Schatten des Schalls

Maître Fouriers Analyse

Felder, Flüsse, Ströme

Die soziale Textur

Keynes und der Kampf gegen die Wellen

In den Sand geschrieben

Alles Feste und Beständige verdampft

Der Strom der Zeit

Wellen im Meer der Unendlichkeit

Widerstand

Der Symmetriebruch

Das, was verbindet

Bibliografie

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Hinweis der Übersetzerin

Die Zitate aus Virginia Woolfs Roman Die Wellen entstammen der 1991 im S. Fischer Verlag erschienenen Übersetzung von Maria Bosse-Sporleder. Zitate aus anderen Werken folgen den im Literaturverzeichnis angegebenen Übersetzungen, mit Ausnahme der in den »Anmerkungen« gesondert ausgewiesenen Stellen.

Vorwort

Wir sind überall von Metaphern umgeben – in der Alltagssprache, in der Literatur, in den Naturwissenschaften. Manche sind alt und schon vor langer Zeit verblasst. Andere haben ihre Farbe behalten und damit auch ihr schöpferisches Potenzial. Dieses Buch handelt von literarischen und naturwissenschaftlichen Metaphern, ausgehend von einem der bedeutendsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts – Virginia Woolfs Roman The Waves (Die Wellen). Woolf ist heute vor allem für ihr feministisches Engagement berühmt; ihr Essay A Room of One’s Own (Ein Zimmer für sich allein) wurde zu einem Klassiker der Frauenbewegung. Unter ihren Romanen könnte To the Lighthouse (Die Fahrt zum Leuchtturm) der meistgelesene sein, möglicherweise ranggleich mit Mrs. Dalloway, seit Michael Cunningham sich davon zu seinem Buch The Hours (Die Stunden) inspirieren ließ, das von Stephen Daldry verfilmt wurde, mit der kongenialen Musik von Philip Glass. Doch sowohl unter ästhetischem als auch unter philosophischem Blickwinkel ist Woolfs originellstes Werk sicherlich der Roman Die Wellen.

Großen Dank schulde ich Claes Fransson, Professor für Astrophysik, der mir zahlreiche Anregungen zur Verbesserung des Textes gab. Meine Frau Kajsa hat pädagogische Gesichtspunkte eingebracht, und mein Verleger Svante Weyler hat mit der ihm eigenen, glücklichen Kombination von Enthusiasmus und kritischem Blick ebenfalls dazu beigetragen, die Lesbarkeit zu erhöhen. Für verbleibende Unvollkommenheiten übernimmt, wie immer, der Autor die Verantwortung.

Die Parallelen zwischen der Verwendung von Metaphern in der Literatur einerseits und in den Naturwissenschaften andererseits sind mannigfaltig und alles andere als trivial. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch den Dialog über die Grenzen der Disziplinen hinweg beleben und vielleicht sogar den wechselseitigen Respekt steigern kann.

Als Folge der Entdeckung der Gravitationswellen im Jahr 2015 wurde das Buch für die deutsche Fassung aktualisiert.

Uppsala, im Dezember 2021

Per Molander

1 Die Flosse

In weiter Ferne durchschnitt eine Flosse das Wasser. Aus dem Nirgendwo war sie aufgetaucht, und rasch war sie wieder verschwunden. Der Tagebucheintrag vom 30. September 1926 lautet:

Ich wollte dazu ein paar Bemerkungen hinzufügen, über die mystische Seite dieser Einsamkeit; daß das, womit man allein bleibt, nicht man selbst ist, sondern etwas im Universum. Das ist es, was beängstigend & aufregend ist, mitten in meiner tiefen Schwermut, Depression, Geistesabwesenheit, was es auch sei: Man sieht eine Flosse weit draußen vorbeiziehen. Was für ein Bild kann ich herbeiholen, um zu vermitteln, was ich meine? Es gibt wirklich keines, glaube ich. Das Interessante ist, daß ich in all meinen Gefühlen & Gedanken noch nie mit so was konfrontiert worden bin. Das Leben ist, nüchtern & genau besehen, die sonderbarste Angelegenheit; enthält die Essenz von Wirklichkeit. Ich habe das manchmal als Kind gefühlt – konnte einmal nicht einen Schritt über eine Pfütze machen, erinnere ich mich, vor lauter Sinnieren, wie merkwürdig – was bin ich? &c. Aber durchs Schreiben komme ich an nichts heran. Ich habe nur die Absicht, einen merkwürdigen Geisteszustand festzuhalten. Ich wage die Vermutung, es könnte der Impuls zu einem neuen Buch sein.

Das Buch, das Virginia Woolf an jenem Septembertag des Jahres 1926 in ihrer Tagebuchnotiz ankündigte, war der Roman Die Wellen. Aber der Weg bis zu dessen Vollendung war noch weit. Das Manuskript wurde etliche Male umgestaltet – über längere Zeit lautete der Titel The Moths (Die Nachtfalter) – und ging erst im Oktober 1931 in Druck.

Das Bild der Flosse kommt im Text wiederholt vor. So notiert Bernard, eine der Hauptfiguren:

Über diese Brüstung gelehnt, erblicke ich in weiter Ferne eine Wasserwüste. Eine Flosse schwenkt. Dieser bloße visuelle Eindruck ist mit keinem Gedankengang verbunden, er taucht auf, wie man die Flosse eines Tümmlers am Horizont sehen würde. So übermitteln visuelle Eindrücke oft ganz kurze Aussagen, die wir erst im Lauf der Zeit entdecken und den Worten anbequemen werden. Ich notiere mir deshalb unter F., »Flosse in einer Wasserwüste«. Ich, der ich ständig auf den Rand meines Geistes Notizen für eine endgültige Aussage mache, vermerke dieses in Erwartung eines Winterabends.

Später im Buch, in einer Szene aus dem Schulmilieu, nimmt die Flosse eine tiefere Bedeutung an:

Und die langen Röcke der Frauen unserer Lehrer wogten an uns vorbei, wie Gebirge, bedrohlich; und unsere Hände flogen an die Mützen. Und eine überwältigende Dumpfheit senkte sich nieder, ununterbrochen, monoton. Nichts, nichts, nichts durchschnitt mit seiner Flosse jene bleierne Wasserwüste. Nichts passierte, was diese Last unerträglicher Langeweile gehoben hätte.

Noch mehrmals wird die Flosse im Text auftauchen, als ein Leitmotiv, das in Verbindung mit einigen anderen Metaphern die gesamte Struktur des Werkes trägt.

2 Leben und Dichtung

Virginia Stephen kam 1882 zur Welt, im selben Jahr wie James Joyce und Igor Strawinsky, zwei andere hochbedeutende Künstler der Moderne. Zu ihrem Jahrgang gehörte auch die Mathematikerin Emmy Noether, die in diesem Buch später noch eine Rolle spielen wird.

Julia Duckworth, 1846 als Julia Prinsep Jackson geboren, hatte 1870 ihren Mann verloren, wenige Monate vor der Geburt ihres dritten Kindes. Leslie Stephen, vierzehn Jahre älter, war verwitwet, nachdem seine Frau und das neugeborene zweite Kind im Wochenbett gestorben waren. Julia und Leslie begegneten einander, heirateten 1878 und bekamen gemeinsam vier Kinder: Vanessa, Thoby, Virginia und Adrian. Zusammen mit Julias älteren Kindern, George, Gerald und Stella, bildeten sie eine große Familie. Leslies erste Tochter war psychisch behindert und verbrachte ihr Leben in einer Anstalt.

Die Eheleute Stephen waren bekannte Figuren der britischen Kulturszene. Julia hatte als junges Mädchen für einige Künstler der Präraffaeliten-Gruppe Modell gestanden. Leslie, dessen erste Frau die Tochter des Schriftstellers William Thackeray gewesen war, hatte in den 1870er-Jahren als Redakteur für die Kulturzeitschrift Cornhill Magazine gearbeitet und dort literarische Größen wie Robert Louis Stevenson, Thomas Hardy und Henry James kennengelernt. Später wurde er Chefredakteur des Dictionary of National Biography, einer Art Who’s Who der Geschichte Großbritanniens. Er verfasste mehrere Bücher zu Themen der Ideengeschichte und Philosophie sowie Biografien von Samuel Johnson und Jonathan Swift.

Julia Stephen starb 1895. Virginia war damals gerade dreizehn Jahre alt und erlebte ihre erste seelische Krise. Leslie Stephen verfiel in einen Zustand tiefer Melancholie, und Virginias Halbschwester Stella Duckworth übernahm die Verantwortung für den Haushalt, doch im Jahr darauf starb auch sie, was die Familie in eine neue Krise stürzte. Von nun an war es die ältere Schwester Vanessa, die den Haushalt führte. 1899 begann Thoby ein Studium in Cambridge, und sein jüngerer Bruder Adrian schloss sich ihm nach einigen Jahren an.

Als Leslie Stephen 1904 einer mehrjährigen Krankheit erlag, erlitt Virginia ihren zweiten psychischen Zusammenbruch. Die Überlebenden der Familie hatten sich mit der Zeit in zwei Lager gespalten: Virginias Halbbrüder, George und Gerald Duckworth, blieben in der viktorianischen Kultur fest verwurzelt, während Vanessa und Virginia aufrührerische Tendenzen zeigten. Hinzu kam, dass die Brüder in jungen Jahren wohl in irgendeiner Form sexuelle Übergriffe gegen Virginia verübt hatten, einer der beiden schon sehr früh, was sie erst viel später in ihrem autobiografischen Werk Moments of Being offenbarte. Dennoch blieben die Beziehungen zwischen den Halbgeschwistern intakt. Gerald wurde Verleger und half Virginia bei der Veröffentlichung ihrer ersten Romane.

Im Lauf des Jahres 1904 begann eine neue Phase im Leben der Geschwister. Vanessa verließ das düstere Haus am Hyde Park Gate, wo sie alle aufgewachsen waren, und zog nach 46 Gordon Square im Stadtteil Bloomsbury. Im Dezember zog auch Virginia dort ein. Thoby studierte jetzt Jura in London, und als Ersatz für den akademischen Zirkel, dem er in Cambridge angehört hatte, gründete er einen Debattierklub, der sich an Donnerstagabenden traf – die Keimzelle der Bloomsbury-Gruppe. Zu ihrem Kern gehörten der Schriftsteller Lytton Strachey, der Kunstkritiker Clive Bell und der Journalist Desmond MacCarthy. Auch der politisch engagierte Publizist Leonard Woolf war Mitglied des Freundeskreises, aber er verließ England, um auf Ceylon ein Amt in der Kolonialverwaltung zu übernehmen. Durch Clive Bell wurde der Künstler Roger Fry in die Gruppe eingeführt.

Virginia hatte sich früh zum Ziel gesetzt, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und schon 1904 begann sie, Buchrezensionen für The Guardian zu schreiben, im Jahr darauf auch für das Times Literary Supplement. Sie arbeitete ihr Leben lang als Literaturkritikerin, publizierte aber immer seltener in diesem Genre, als sie nach und nach Einkünfte aus ihren Büchern erzielte. Außerdem nahm sie eine Tätigkeit als ehrenamtliche Lehrerin an einem Abendgymnasium auf.

Im November 1906 wurde die Familie von einem weiteren Todesfall heimgesucht. Die Geschwister hatten schon mehrmals gemeinsam Ferien im Ausland gemacht, und im Spätsommer jenes Jahres unternahmen sie eine lange Reise nach Griechenland. Thoby fuhr früher als die anderen nach London zurück; als sie heimkehrten, hatte er Fieber und Diarrhoe. Er erhielt eine Malaria-Diagnose, doch in Wirklichkeit litt er an Typhus. Er starb wenige Wochen später. Thoby hinterließ deutliche Spuren in Virginias Werk, zuerst in Jacob’s Room (Jacobs Zimmer), später als Percival in The Waves.

Vanessa heiratete kurz darauf Clive Bell, und die beiden anderen Geschwister, Virginia und Adrian, zogen in die Nachbarschaft, an den ebenfalls in Bloomsbury gelegenen Fitzroy Square. In diese Periode fällt, einige Jahre später, der bizarre »Dreadnought-Streich«: Adrian, Virginia und ein paar ihrer Freunde verkleideten sich als der Kaiser von Abessinien samt Entourage und brachten so die britische Flotte dazu, den vornehmen Gästen eines ihrer Prachtstücke, die MS Dreadnought, vorzuführen. Der Bluff wurde nach wenigen Tagen aufgedeckt und gab das militärische Establishment der Lächerlichkeit preis. Im Laufe der Zeit sollten die Mitglieder der Bloomsbury-Gruppe sich mit noch radikaleren Angriffen auf die herrschende Ordnung hervortun.

Nach einem weiteren Umzug im folgenden Jahr schlossen sich der Künstler Duncan Grant und der Ökonom John Maynard Keynes der Gruppe an. Leonard Woolf gab sein Amt in Ceylon auf und kehrte nach London zurück. Vor seiner Abreise im Jahr 1904 war er Virginia flüchtig begegnet, und als er sie nun wiedertraf, verliebten sie sich ineinander. Im Januar 1912 machte er ihr einen Heiratsantrag, aber sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Im August jenes Jahres wagte Virginia Stephen schließlich den Schritt, Virginia Woolf zu werden.

Sie litt unter wiederkehrenden Kopfschmerzen und psychischen Problemen; heute würde man bei ihr vermutlich eine bipolare Störung diagnostizieren. Im September 1913 unternahm Virginia einen Selbstmordversuch mit einer Überdosis Schlafmitteln, doch John Maynard Keynes’ Bruder, der Arzt war, pumpte ihr den Magen aus und rettete ihr so das Leben. Sie wurde auch weiterhin phasenweise von ihrer psychischen Krankheit gequält, konnte aber trotzdem schreiben. Leonards Fürsorge trug wesentlich dazu bei, dass sie sich immer wieder zu regenerieren vermochte. In Hogarth House in Richmond fand das Paar eine ruhige, für die schöpferische Arbeit günstige Umgebung.

Virginias erster Roman, The Voyage Out (Die Fahrt hinaus), wurde im Verlag ihres Halbbruders Gerald Duckworth im März 1915 veröffentlicht. Die Eheleute Woolf verfolgten unterdessen eigene Pläne für verlegerische Aktivitäten. Sie kauften sich eine einfache Handpresse, und 1917 erschien bei Hogarth Press ihre erste gemeinsame Publikation unter dem Titel Two Stories. Sie enthielt Virginias Kurzgeschichte The Mark on the Wall(Das Mal an der Wand) und Leonards Erzählung Three Jews. Nachdem sie außerdem eine Novelle von Katherine Mansfield gedruckt hatten, nahmen sie Kontakt mit T. S. Eliot auf, der sein Gedicht The Love Song of J. Alfred Prufrock(Das Liebeslied von J. Alfred Prufrock) bei einem anderen Verlag publiziert hatte. Eliots Antwort war positiv, und so brachte Hogarth Press 1919 seinen Gedichtband Poems heraus und 1923 das berühmte Langgedicht The Waste Land (Das wüste Land). Danach wurde das Verlagsprogramm erweitert; es erschienen unter anderem Dostojewskis Dämonen in Virginias Übersetzung und Sigmund Freuds Gesammelte Werke.

Virginia war inzwischen eine etablierte Autorin. 1919 kam Night and Day (Nacht und Tag) heraus, und in Abständen von einigen Jahren folgten Jacob’s Room, Mrs. Dalloway und To the Lighthouse. Ende 1922 begegnete Virginia der zehn Jahre jüngeren Vita Sackville-West, die schon mehrere Bücher veröffentlicht hatte. Sie war mit dem Diplomaten Harold Nicolson verheiratet, aber da beide Partner eine homosexuelle Neigung hatten, war die Ehe eher auf Freundschaft als auf Leidenschaft gegründet. Ende 1925 begannen Virginia und Vita eine sexuelle Beziehung, die sich jedoch in eine eher konventionelle Freundschaft wandelte, als Vita andere Verbindungen einging. Vitas Porträt findet sich in Orlando, jener halb humoristischen Romangestalt, die vier Jahrhunderte durchlebt und unterwegs das Geschlecht wechselt. Das Buch erschien 1928 und wurde Virginias erster kommerzieller Erfolg.

Sie war nun bekannt und gefragt als Dozentin und Diskutantin. Ihre Vorlesungen über die Rolle der Frau in Literatur und Gesellschaft mündeten in den Essay A Room of One’s Own (Ein Zimmer für sich allein), der zu einem Meilenstein der feministischen Literatur des 20. Jahrhunderts werden sollte – geistreich, bissig und bis heute aktuell. Aber da arbeitete sie schon an dem Roman The Waves (Die Wellen), den sie selbst als ihr erstes stilistisch vollkommen eigenständiges Werk betrachtete und der als ihr Opus magnum gilt. Er wurde im Herbst 1931 vollendet.

Mehrere Todesfälle überschatteten jene Lebensphase. Lytton Strachey starb im Januar 1932, und seine Freundin Dora Carrington beging kurz darauf Selbstmord. Einige Jahre danach verstarb Roger Fry. Virginias Neffe Julian, der Sohn ihrer Schwester Vanessa, nahm als Krankenpfleger am Spanischen Bürgerkrieg teil und wurde nach wenigen Wochen durch einen Granatsplitter getötet. Die Arbeit an dem großen Roman The Years (Die Jahre) zog sich in die Länge; er war schon 1932 begonnen worden, erschien aber erst fünf Jahre später.

Der Kriegsausbruch im Jahr 1939 brachte neue Bedrohungen mit sich. Leonard war Jude, und die Position der Eheleute Woolf unter den führenden Linksintellektuellen des Landes sicherte ihnen einen Platz auf der Liste jener Personen, die unter besonderer Beobachtung standen, nachdem die anscheinend unbesiegbare deutsche Armee auch Großbritannien besetzt hatte. Im Jahr 1941 gelang es Virginia noch, den Roman Between the Acts (Zwischen den Akten) abzuschließen, aber ihre psychischen Probleme machten ihr immer stärker zu schaffen. In einem Brief an Vanessa schrieb sie, dass sie die Belastungen diesmal nicht verkraften würde. Am 28. März hinterließ sie einen Abschiedsbrief für Leonard und ging in den Fluss Ouse. Ihr Leichnam wurde erst drei Wochen später gefunden.

In jenem Abschiedsbrief hatte sie Leonard gebeten, alles zu verbrennen, was sie an Manuskripten und Dokumenten hinterlassen würde. Er hielt sich nicht daran, sondern widmete sich über Jahrzehnte der Pflege ihres Nachlasses und der Herausgabe von Essaysammlungen, Tagebüchern und Briefwechseln. Leonard starb 1969.

3 Bloomsbury

Der Umzug der Geschwister Stephen von Hyde Park Gate, Kensington, nach Bloomsbury war mehr als nur ein Wohnungswechsel. Er markierte den Beginn einer intellektuellen Revolte, die in der Kulturdebatte bis heute kontrovers bewertet wird.

Ein Aufstand gegen die bürgerliche Gesellschaft konnte damals sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zur selben Zeit, als die Bloomsbury-Gruppe sich formierte, verfasste der Futurist Filippo Tommaso Marinetti ein Manifest, das am 20. Februar 1909 auf der Titelseite der Pariser Zeitung Le Figaro erstmals erschien. Darin wurde für die Rebellion gegen das Bestehende unter anderem die folgende Parole ausgegeben:

Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

Im Gegensatz dazu entschied sich die Bloomsbury-Gruppe für die linke Seite des politischen Spektrums. Sie setzte sich für Internationalismus, in manchen Fällen auch für Pazifismus, als Reaktion auf den Nationalismus ein. Sie bezog Stellung gegen eine kolonialistische und imperialistische Politik, als das britische Weltreich sich auf der Höhe seiner Macht befand. Sie propagierte die Gleichstellung der Frau zu einem Zeitpunkt, als Frauen noch kein Wahlrecht besaßen und nur unter bestimmten Voraussetzungen einen Zugang zu höherer Bildung erhielten. Solche Ziele waren damals nicht selbstverständlich.

Von einem eindeutigen Programm nahm man Abstand. Diejenigen, die zum Kern der Gruppe gehörten, zogen es vor, sich als Freundeskreis zu bezeichnen, geeint durch die gemeinsame Begeisterung für Diskussionen über Politik, Kultur, Ästhetik und alle anderen Themen, die junge Intellektuelle bewegten.

Zu den wichtigsten Ressourcen der Gruppe gehörte die Vielfalt der Interessen. Schon die Geschwister Stephen, die das Zentrum bildeten, strebten in verschiedene Richtungen. Thoby studierte Jura. Vanessa und Virginia hatten als Frauen noch kaum Möglichkeiten, einen akademischen Ausbildungsweg einzuschlagen, aber sie konnten das solide Fundament der kulturellen Bildung, die sie im Elternhaus genossen hatten, weiter ausbauen – Virginia auf dem Gebiet der Literatur, Vanessa im Bereich von Kunst und Innenarchitektur. Adrian, der Jüngste, interessierte sich nach dem Jura- und Geschichtsstudium für Psychologie und ließ sich im klinischen Kontext zum Psychoanalytiker ausbilden. Kunst und Ästhetik waren in der Gruppe außerdem durch die Maler Duncan Grant und Roger Fry sowie den Kritiker und Theoretiker Clive Bell repräsentiert, die Literatur durch Lytton Strachey und Edward Morgan Forster. Auch Virginias späterer Ehemann Leonard Woolf verfasste literarische Texte, trat aber als Autor vor allem in der politischen Debatte und im Kulturjournalismus hervor. Letzteres hatte er mit Desmond MacCarthy gemeinsam. John Maynard Keynes stieg zu einem der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts auf und spielte außerdem eine zentrale Rolle in der britischen Verwaltung, sowohl innenpolitisch als auch bei internationalen Verhandlungen. Eher an der Peripherie der Gruppe befanden sich die Philosophen George Edward Moore und Bertrand Russell, die dennoch den intellektuellen Austausch unter den Mitgliedern wesentlich prägten.

Wenn sich für den Bloomsbury-Kreis überhaupt so etwas wie ein philosophisches Programm ausmachen lässt, dann sind es G. E. Moores Principia Ethica, veröffentlicht im Jahr 1903. Von Moore blieb der Nachwelt vor allem die These in Erinnerung, dass der Begriff »gut« sich nicht aus Eigenschaften ableiten lässt, die man dem gegebenenfalls Guten zuordnet, sondern selbst eine letztgültige Eigenschaft darstellt. Die entgegengesetzte Annahme – dass man sich über die Charakterisierung des Guten auf der Grundlage anderer Eigenschaften einigen könne – nannte er einen »naturalistischen Fehlschluss«. Einen stärkeren und unmittelbareren Effekt auf die Lebenspraxis hatte jedoch seine Forderung, dass bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen die moralische Integrität und die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen den Ausschlag geben müssten. Die Konfrontation mit der viktorianischen Gesellschaft, in der alle Mitglieder der Gruppe aufgewachsen waren, bestärkte sie in diesen Anschauungen.

Der Bloomsbury-Kreis war politisch radikal, auch wenn es Unterschiede innerhalb der Gruppe gab. Eine internationalistische Haltung verstand sich von selbst, wie auch die Kritik am Nationalismus als deren natürliche Begleiterscheinung. Mehrere Gruppenmitglieder verweigerten den Dienst mit der Waffe. Bertrand Russell wurde als Kriegsgegner zu Geldbußen verurteilt und verbrachte sogar einige Zeit im Gefängnis. Sein Pazifismus war jedoch nicht bedingungslos; genau wie Albert Einstein plädierte er später für den Krieg gegen Nazi-Deutschland als kleineres Übel.

Keynes vertrat radikale Ideen, die zu einem Hauptinstrument für die Wirtschaftspolitik der Linken werden sollten. Auch war er, anders als die Mehrheit seiner Fachkollegen, davon überzeugt, dass moralische Werte auch innerhalb der Politik zu gelten hätten: Diese Einstellung hatte er aus den philosophischen Abenddebatten in Bloomsbury mitgenommen. Gleichzeitig distanzierte er sich von extremeren Positionen: »Ich lasse mich von dem beeindrucken, was mir gerecht und vernünftig erscheint, aber im Klassenkampf stehe ich auf der Seite der intellektuellen Bourgeoisie.«

Virginia Woolfs politischer Standpunkt blieb lange ziemlich uneindeutig. Aus ihrem viktorianischen Elternhaus hatte sie eine beträchtliche Erblast an großbürgerlich und kolonialistisch geprägten Wertvorstellungen mitgebracht, die in ihren Tagebüchern hier und da verräterische Spuren hinterließen. Es war Leonard, der mit seiner kompromissloseren Haltung zum British Empire dazu beitrug, dass auch sie sich radikalisierte. Sein Roman The Village in the Jungle (Das Dorf im Dschungel), der 1923 erschien, basierte auf seinen Erfahrungen in Ceylon und beschrieb, zu jener Zeit sehr ungewöhnlich, die Begegnung zwischen Kolonisatoren und Ureinwohnern aus der Perspektive des kolonisierten Volkes. Er engagierte sich außerdem aktiv als Wegbereiter des Völkerbundes, der Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen.

In der Frauenfrage äußerten sich beide explizit, und Virginia hatte, was das betraf, innerhalb der Gruppe bald den Status einer Ikone. Unter dem Einfluss der zunehmend militant auftretenden Frauenbewegung radikalisierte sie sich allmählich auch in dieser Hinsicht. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Frauen wurde in Großbritannien erst 1928 eingeführt.

Eng an die Frauenfrage gekoppelt war der freizügige Umgang der Gruppe mit sexuellen Konventionen. Außereheliche Affären gehörten dabei zu den harmloseren Abweichungen; die größere Provokation lag im ständigen Überschreiten der etablierten Geschlechtergrenzen. Homosexualität war damals in Großbritannien noch illegal. Als der Bloomsbury-Kreis sich formierte, war erst ein Jahrzehnt vergangen, seit Oscar Wilde wegen eines homosexuellen Verhältnisses zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Lytton Strachey, der sich eher zu Männern hingezogen fühlte, unterhielt gleichwohl eine lebenslange Beziehung mit Dora Carrington, die ihrerseits männliche und weibliche Geliebte hatte. John Maynard Keynes war in jungen Jahren homosexuell aktiv, heiratete aber 1925 die russische Ballerina Lydia Lopokova. In seinem späteren Leben musste er zuweilen befürchten, dass politische Gegner seinen frühen Regelverstoß öffentlich machen würden. Virginias Schwester Vanessa war mit Clive Bell verheiratet, zog jedoch 1915 mit Duncan Grant und seinem Liebhaber David Garnett zusammen. Die Ehe blieb unterdessen bestehen, und Clive übernahm die Vaterschaft für Vanessas und Duncans gemeinsame Tochter. Virginia ging trotz ihrer intakten Ehe mit Leonard Woolf eine Beziehung mit Vita Sackville-West ein. Und so fort; die Entscheidungen der Gruppenmitglieder auf sexuellem Gebiet waren, genau wie ihre politischen und künstlerischen Standpunkte, der Ausdruck eines starken Bedürfnisses nach persönlicher Integrität und Unabhängigkeit von Konventionen.

Im kulturellen Kampf ließen sich vermutlich die leichtesten Siege erringen. Der Dreadnought-Streich war eine effektvolle Spitze gegen den pompösen Militarismus des Königreichs. Gründlicher zur Sache ging Lytton Stracheys Abrechnung mit einigen Ikonen der viktorianischen Ära: In der 1918 veröffentlichten Textsammlung Eminent Victorians sezierte er sakrosankte Figuren wie den Generalmajor Gordon, der das Scheitern eines britischen Vorstoßes im Sudan ausbaden musste, oder auch Florence Nightingale.

Beim Thema Religion war der Boden in gewissem Maße schon beackert. Charles Darwin und Alfred Russel Wallace hatten mit ihrer evolutionstheoretischen Sicht auf die Schöpfung den göttlichen Kräften eine eher unbedeutende Rolle im Weltgeschehen zugewiesen, und im späteren 19. Jahrhundert konnte sich der Skeptizismus immer stärker verbreiten. Sogar Leslie Stephen, der Vater der Geschwister, hatte sich in seinem 1893 publizierten Text An Agnostic’s Apology als Ungläubiger offenbart. Im Bloomsbury-Kreis erlegte man sich dann kaum noch Hemmungen auf: Bertrand Russell erläuterte 1927 mit pädagogischer Akribie in einer Streitschrift, warum er kein Christ sei, und Virginia Woolf verkündete in ihrem Essay A Sketch of the Past (Skizze der Vergangenheit), der gegen Ende ihres Lebens erschien, ohne Umschweife die Nichtexistenz Gottes.

Ein Naturwissenschaftler von Rang fehlte in Bloomsbury. Zwar hatte Roger Fry, bevor er Maler wurde, naturwissenschaftliche Exa­mina abgelegt, aber weder er noch irgendeiner der anderen betätigte sich in einer entsprechenden Disziplin. Alle zeigten jedoch ein intensives Interesse an den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende formuliert wurden und die für die Weltanschauung der Gruppe im Allgemeinen, besonders aber für ihre künstlerischen Aktivitäten, große Bedeutung erlangten. Bertrand Russell trug mit populärwissenschaftlichen Büchern und Vorlesungen zur Verbreitung der neuen Einsichten bei.