Die Anatomie der Ungleichheit - Per Molander - E-Book

Die Anatomie der Ungleichheit E-Book

Per Molander

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Beschreibung

Sprengstoff Ungleichheit Ungleiche Verhältnisse entwickeln sich in jeder Gesellschaft, unabhängig von den Fähigkeiten und dem Arbeitswillen der Menschen, sagt der Mathematiker Per Molander. Ungleichheit ist natürlich – aber sie ist kein Naturgesetz und kann mit den richtigen politischen Maßnahmen überwunden werden. Wissenschaftlich fundiert und mit vielen anschaulichen Beispielen eröffnet Molander eine ganz neue Perspektive auf eines der weltweit größten Probleme und zeigt auch Lösungswege. Denn handeln wir nicht, geht die Schere zwischen Arm und Reich zwangsläufig immer weiter auseinander, was schließlich zum Verlust jeglichen Vertrauens innerhalb der Gesellschaft führt – zum Schaden aller.

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Ebook Edition

Per Molander

Die Anatomie der Ungleichheit

Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

aus dem Schwedischen vonJörg Scherzer

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-682-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Zitat
1 Die Ungleichheit und ihr Schatten
2 Murmeln spielen
Verhandeln ist notwendig
Eine lange Geschichte
3 Die Archäologie der Ungleichheit
Unsere nächsten Verwandten
Jäger, Sammler und Bauern
Frühe historische und klassische Zeit
Mittelalter
Moderne Beispiele
Theoretische und tatsächliche Ungleichheit35
Zusammenfassung
4 Das Ende des Märchens
Die Elementarverhandlung
Verhandlungen nach Nash2
Die langsichtige Dynamik des Verhandlungsspiels5
Modell und Wirklichkeit
Die Brücke zwischen Sein und Soll7
5 Die Kunst des Fliegens
Stabilität in einer unsicheren Welt
6 Zurück zum Sozialkontrakt
Klassisches und mittelalterliches Denken
Moderne Theorien
Die liberale Antwort
Rousseaus Sozialkontrakt10
Das Individuum und das Kollektiv13
Moderne analytische Versionen15
Der Gesellschaftsvertrag – und dann?
7 Liberalismus und Ungleichheit
Konturen des Liberalismus1
Das Fehlen eines stabilen Gleichgewichts
Legitimitätsfragen
Der Liberalismus und die Verteilungspolitik
Der Wert der Ungleichheit
8 Der Konservatismus: Ungleichheit als Notwendigkeit und Ressource
Das Fehlen eines stabilen Gleichgewichts
Legitimitätsprobleme
Religiöse Grundlage: der Hinduismus7
Religiöse Grundlage: das Christentum
Religiöse Grundlagen: der Islam20
Säkulare Grundlagen
Die Umverteilung von Einkommen und Vermögen
9 Die Sozialdemokratie und die Ungleichheit
Das Fehlen eines stabilen egalitären Gleichgewichts
Strategien der Umverteilung
Warum sich engagieren?
Was sollte getan werden?
10 Bilanz
Literatur
Anmerkungen

Zu erleben, wie ihre Rechte den Aktiven zumOpfer fallen, ist das übliche Schicksal der Passiven,Gott hat dem Menschen die Freiheit unter der Bedingungständiger Wachsamkeit geschenkt.1

John Philpot Curran,irischer Jurist und Politiker, 1790

1 Die Ungleichheit und ihr Schatten

Die Ungleichheit hat den Menschen vom Beginn seiner Existenz an begleitet. Überall hat sie Spuren hinterlassen, die von Archäologen freigelegt und erforscht wurden.

Eine sumerische Hymne aus Nippur, in Keilschrift geschrieben und 1951 übersetzt, preist die Göttin Nansche:

»Sie, welche die Waise kennt, welche die Witwe kennt,die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen kennt,Mutter der Waise ist.Nansche, welche für die Witwe sorgt, die Gerechtigkeit für die Ärmsten verlangt.Die Königin nimmt den Flüchtling in ihren Schoß,Gibt dem Schwachen Schutz.«1

Das Fragment ist viertausend Jahre alt und damit eines der ältesten uns bekannten Dokumente. Es berichtet von Unterdrückung und von Waisen und Witwen, die die Gruppen der Unterdrückten repräsentieren. Auch ein verhaltener Zorn angesichts des Stands der Dinge lässt sich erkennen – der Text hat einen moralischen Resonanzboden. Vollkommen einzigartig ist er jedoch nicht. Der folgende Text auf einer Stele, die zu Beginn des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung errichtet wurde, preist dieselben Tugenden:

Ich war mildtätig und freigebigEin lobenswerter hoher Beamter

Ich war ein Freund der Kleinen,Milde zu den Mittellosen

Ich sorgte für die Hungrigen ohne BesitzFreigebig gegenüber den Armen2

Ein weiteres Zeugnis für Ungleichheit und für die ethische Norm, sie auszugleichen.

Im Verlauf der Geschichte blieb die Situation lange unverändert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben wir begonnen, uns einem Ideal angemessener Gleichheit anzunähern – allgemeines Wahlrecht, prinzipielle Gleichheit vor dem Gesetz, Achtung vor der Integrität des Individuums und grundsätzliche materielle Sicherheit – wenn auch nur in einigen Teilen der Welt, und selbst in der westlichen Welt mit gelegentlichen Rückfällen in den Despotismus. In allen wesentlichen Punkten ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Ungleichheit.

Eine solche Unveränderlichkeit im Zeitverlauf verlangt nach einer Erklärung. Nicht nur die Ungleichheit an sich, sondern auch die Normen der Gleichheit, die ihr wie ein Schatten gefolgt sind, verdienen eine Untersuchung. Wer immer die oben zitierten Zeugnisse niederschrieb, er reagierte offenbar auf die Verhältnisse und hatte eine Vision von einer anderen Gesellschaft.

Politische Philosophie beschäftigt sich mit der Frage, was man unter einer guten Gesellschaft versteht. Im Wesentlichen gibt es drei Arten des Philosophierens. Die eine setzt – relativ bequem – beim Status quo an und diskutiert die Frage, wie man am besten und vorzugsweise mit marginalen Veränderungen von der aktuellen Situation ausgeht. Vertreter dieser philosophischen Methode sind Machiavelli und Hume.

Eine zweite Tradition, wie Platons Politeia oder die Manu­smriti, der Entwurf einer indischen Kastengesellschaft, erstellt die Skizze einer Gesellschaft, ohne Argumente für oder gegen unterschiedliche Möglichkeiten. Hierbei handelt es sich nicht um politische Philosophie im eigentlichen Sinn, da man der Frage aus dem Weg geht, wie die empfohlene Lösung Legitimität erlangen solle und sich mit dem Verweis auf historisch Dunkles und Mystisches begnügt. Aus neuerer Zeit sind Beispiele hierfür die Utopia des Thomas Morus, Tommaso Campanellas Der Sonnenstaat und die Visionen von Robert Owen und den utopischen Sozialisten. Ein gemeinsamer Zug dieser Entwürfe, bei deren Lektüre man sich mitunter eines Lächelns nicht erwehren kann, ist der Detailreichtum. Nicht nur Regeln und Vorschriften für alle Lebenslagen gehören zu diesem Paket, sondern auch Ausführungen zur Städteplanung.

Eine dritte, ursprünglichere philosophische Tradition versucht, Rechte und Freiheiten zu bestimmen, um auf dieser Grundlage eine legitime Basis der politischen Macht zu definieren. Eine der wichtigsten Traditionen versteht den Bau der Gesellschaft als Sozialvertrag, dem zufolge eine Gruppe von Individuen einen Teil ihrer naturgegebenen Freiheit aufgeben, um zugleich der Früchte einer sozialen Gemeinschaft teilhaftig zu werden. Hier beschäftigt sich die philosophische Erörterung mit den Vertragsbedingungen.

Eine tatsächliche historische Situation wird mit diesem Denkmodell natürlich nicht beschrieben, selbst wenn man dem mitunter recht nahekam. Der Vorzug liegt vielmehr darin, dass historische Hinterlassenschaften und andere Zufälligkeiten außer Acht gelassen werden. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein egalitärer Zustand; eine Garantie für ein egalitäres Ergebnis gibt es jedoch keineswegs. Intellektuell ist dieser Ansatz ansprechend; Vertragstheorien wurden in gleichbleibender Häufigkeit von der klassischen bis in die moderne Zeit publiziert. Erste Ansätze finden sich bei griechischen Philosophen, bei Epikureern, Zynikern und Stoikern, Versuche, die von Lukrez im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in seinem Werk Von der Natur der Dinge systematisiert wurden. Im Mittelalter wurde die Idee innerhalb eines christlichen Rahmens von Manegold von Lautenbach und Nikolaus von Kues aufgegriffen. Marsilius von Padua ist so kühn, den Vertrag auf nichtreligiöser Grundlage zu diskutieren, und war damit seiner Zeit weit voraus. Noch im 17. Jahrhundert schrieben Hugo Grotius und Thomas Hobbes innerhalb eines religiösen Rahmens, obwohl deutlich zu erkennen ist, dass keiner von ihnen Gott als Hypothese benötigte. Rousseaus Analyse des Sozialkontraktes kündigte die Französische Revolution an.

Hobbes und Rousseau provozierten liberale Antworten, die zum klassischen Liberalismus überleiteten. Wer in dieser Tradition schrieb – Mandeville, Smith, Mill und andere – bediente sich nicht der Terminologie von Sozialkontrakten. Späte Autoren wie von Hayek haben gar ihren Widerwillen gegen die ganze Idee geäußert. Gleichwohl kreisen die Arbeiten dieser Autorengruppe häufig um eine Art Idealverfassung – ein populäres Werk von Hayeks trägt den Titel The Constitution of Liberty (1960, dt. 1991, Die Verfassung der Freiheit) – der Ansatz in der Sache ist also vorhanden, auch wenn er nicht erwähnt wird.

Obwohl die Idee von einem Sozialkontrakt vor allem unter dem Druck konservativer und rechtsliberaler Kritik ein wenig von ihrer Attraktion eingebüßt hat, wurde sie in den 1970er-Jahren mit John Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit neu belebt, und als Robert Nozick einige Jahre später mit Anarchie-Staat-Utopia zum Gegenangriff überging, bediente auch er sich der Kontraktterminologie, mochte der Kontrakt selbstverständlich auch einen anderen Inhalt haben.3 Der Sozialkontrakt als Denkfigur hat uns seit zweitausend Jahren begleitet und offenbar wird das auch noch weiter der Fall sein.

Recht bemerkenswert ist, dass auffallend viele politisch-philosophische Arbeiten offensichtlich ohne jeden Kontakt zu den Sozialwissenschaften entstanden sind. Will man diskutieren, wie menschliche Beziehungen im politischen Bereich geregelt werden sollten, sei es in der Form eines Sozialkontrakts oder einer idealen Verfassung, sollte das Wissen darum, wie Menschen in unterschiedlichen Situationen reagieren, selbstverständlich zu den Grundlagen gehören. Da Politik sich größtenteils mit der Verteilung sowohl der materiellen wie der nichtmateriellen Ressourcen einer Gesellschaft beschäftigt und da die ungleiche Verteilung dieser Ressourcen bei einem Überblick über die Geschichte der Menschheit dominiert, ist der angemessene Ausgangspunkt eine Analyse der Mechanismen der Ungleichheit. Die dominierende Frage lautet: Warum sind alle Gesellschaften ungleich? – und die natürliche Anschlussfrage: Kann Ungleichheit politisch beeinflusst werden? Wenn die Ungleichheit ein durchgehender Zug in praktisch allen Gesellschaften ist, sollte man womöglich darauf verzichten, dies zu beeinflussen – ein Gedanke, der regelmäßig von konservativer Seite vorgetragen wurde und wird. Jedoch handelt es sich hier um eine voreilige Schlussfolgerung. Selbst wenn man die Ungleichheit nicht beseitigen kann, lässt sie sich nach Grad und Struktur womöglich jedoch beeinflussen und auf diese Weise innerhalb natürlicher Grenzen halten.

Die dritte Frage lautet, wie die klassischen ideologischen Hauptentwürfe – der Liberalismus, der Konservatismus, der Sozialismus – sich als Phänomene zur Ungleichheit verhalten. Schließlich sollen die Ideologien als eine Art Landkarte dienen, mit deren Hilfe wir uns auf dem Terrain der Politik orientieren. Ist die Ungleichheit ein fundamentales Problem der Politik, besitzt eine kritische Überprüfung, wie sie innerhalb jener ideologischen Hauptentwürfe beschrieben und bearbeitet wird, zentrale Bedeutung für deren Geltungsanspruch.

2 Murmeln spielen

Die landläufige Erklärung für die andauernde Ungleichheit lautet, dass Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und ihrer Arbeitsleistungen verschieden sind. Jedoch genügt dies auch nicht annähernd zur Erklärung der Einkommens- und Besitzunterschiede, die wir heute konstatieren. Die britische Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat errechnet, dass die 85 reichsten Menschen der Welt ebenso viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung, gut 3,5 Milliarden.1 Dieses Missverhältnis – mit einem Faktor zwischen 10 und 100 Millionen – mit Unterschieden in Produktivität und Arbeitsleistung erklären zu wollen ist physisch unsinnig. Der Tag besteht für uns alle schließlich nur aus 24 Stunden, und zum ärmeren Teil der Menschheit gehören recht viele gut Ausgebildete in Ländern mit mittleren Einkommensverhältnissen.

Eine weitere Erklärung lautet, die Unterschiede würden durch Gewalt hervorgerufen und aufrechterhalten. Gewiss waren viele Zusammenstöße zwischen unterschiedlichen Gesellschaften von Gewalt, und in einigen Fällen von hemmungsloser Gewalt gekennzeichnet. Jedoch bestehen in der Regel bereits vor der Auseinandersetzung Ungleichheiten zwischen den beiden Konfliktparteien. Abgesehen davon ist Gewalt eine kostspielige Methode zur Aufrechterhaltung sozialer Strukturen. Betrachtet man die Geschichte der Menschheit in ihrer Gesamtheit, sind Zeitabschnitte aktiver Gewaltausübung trotz allem relativ kurz. Androhung von Gewalt kann mitunter recht weit gehen, dann aber hat man es bereits mit einem anderen Typ von Regime zu tun.

Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, waren ältere Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit von größerer Gleichheit geprägt, selbst wenn sie nicht den idealen Urzustand der sozialen Kontrakttheorien erreichen. Zur Erklärung, warum Ungleichheit im Zeitverlauf wächst und sich verstärkt, bedarf es eines geeigneten Mechanismus.

Wir spielten mit Murmeln auf dem Markt eines Tagsein kleiner Volksschulbub und ich.

Ich hatte wohl fünfzig, er hatte fünf.Wir spielten. Und er verlor alle an mich.

Er schluchzte auf und sah mir nach, als ich überlegen pfeifend abzog.

Doch es tat mir leid, als ich nach Hause kam,und ich dachte, da hast du was Hässliches gemacht.

Ich rannte zurück. Aber nirgends konnte mir einer sagen, wo dieser Junge war.

Ich schämte mich. Ich glaube, ich schäme mich noch, wenn ich welche sehe, die mit Murmeln spielen.

Und was würde ich geben, ich weiß nicht was, um diesen Jungen froh zu sehen.

Aber heute ist er bestimmt ein großer, grober Kerl,der schuftet und ackert – ich weiß nicht wo.

Und wüsste ich es, was würde es helfen.Was man Häßliches getan hat, kann man niemals ändern.

Man kann keine Murmeln zurückgeben und Jungen trösten, die zu Männern erstarrt sind.

Sten Selander, Murmelspiel2

Fast jeder von uns hat in der Kindheit vermutlich eine Situation erlebt, wie sie in Selanders Gedicht beschrieben wird, entweder in der Rolle des Icherzählers dieses Gedichts oder in der des unterlegenen Volksschülers: Man fühlt sich wieder in jenen Augenblick versetzt und erinnert sich an das Siegesgefühl oder an die Bitterkeit des Verlustes. Selbst wenn der Sieger das unbefriedigende Gefühl hat, dass hier vor allem das Glück entschieden hatte, klingt das rasch ab. Für den Verlierer ist es eine Lektion in der Fähigkeit, die Enttäuschungen des heranrückenden Lebens des Erwachsenen bewältigen zu können.

Wir wollen von den Gefühlen der mit Murmeln spielenden Jungen absehen und die Frage stellen: Hat der richtige Spieler gewonnen? Selbstverständlich. Weil er gewonnen hat, muss es sich bei ihm um den Geschickteren der beiden handeln. Jedoch gibt es hier ein Problem, da die Voraussetzungen bei Spielbeginn nicht gleich waren: »Ich hatte wohl fünfzig, er hatte fünf«. Wie die meisten anderen Tätigkeiten, denen wir uns im Leben widmen, ist das Murmelspiel von einem Moment des Zufalls geprägt. Wenn zwei gleich gute Spieler aufeinandertreffen und der eine fünfzig Murmeln hat und der andere fünf, wer hat dann die größte Gewinnchance? Die Regel lautet, dass das Spiel beendet ist, wenn einer von beiden keine Murmeln mehr hat.

Die Frage ist einfach, die Analyse komplizierter – sie erfordert ein mathematisches Hilfsmittel, das man als Markow-Ketten bezeichnet – trotzdem kann man die Antwort auf einfache Weise formulieren. Hat der eine zehnmal so viele Murmeln wie der andere, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er gewinnt, auch zehnmal so hoch, falls sie gleich geschickt sind. Das bedeutet, dass er durchschnittlich in mehr als neun von zehn Fällen gewinnen wird. Mit Geschicklichkeit hat das nichts zu tun: Der mit den meisten Murmeln bei Spielbeginn wird mit großer Wahrscheinlichkeit einfach deshalb gewinnen, weil er die meisten Murmeln hat.3

Hier handelt es sich um ein Beispiel für einen sich selbst verstärkenden Effekt, vor denen es im Leben wimmelt. Man kann sich unschwer vorstellen, wie der gut Gestellte bei einem Rundgang durch die Stadt seinen Murmelbestand ständig vergrößert. Falls er nicht das Pech hat, auf einen zu treffen, der hundert Murmeln besitzt, während er selbst nur sechzig oder siebzig sammeln konnte.

Man kann das Problem auch umkehren und die Frage stellen, um wie viel geschickter der Ärmere sein muss, damit er eine ebenso große Gewinnchance hat wie derjenige, der reichlich Murmeln besitzt. Die Antwort lautet, dass er um ungefähr 15 Prozent geschickter sein muss.

Das Beispiel mit den Murmelspielern enthält in all seiner Schlichtheit Elemente einer Erklärung, wie selbst in einer Gesellschaft, in der Fähigkeiten, Fleiß und äußere materielle Voraussetzungen gleichmäßig verteilt sind, Ungleichheit entstehen kann. Kleine Abweichungen von der perfekten Gleichheit werden sich im Zeitverlauf verstärken. Wird Eigentum vererbt, wird auch die Ungleichheit in der Generationenabfolge verstärkt.

In der Murmelspiel-Szene sind nur zwei Personen betroffen, die Situation lässt sich aber auf eine moderne Marktwirtschaft übertragen, in der hinsichtlich Fähigkeiten und Bemühung identische Individuen leben. Angenommen, das Spielfeld ist der Finanzmarkt, auf dem die Spieler den von ihnen nicht konsumierten Überschuss reinvestieren. Ebenso wie beim Spiel mit Murmeln enthält der Gewinn auf den Finanzmärkten einen Zufallsfaktor. Bei gleichen Voraussetzungen werden sich die gesellschaftlichen Aktiva im Zeitverlauf zwangsläufig auf sehr wenige Individuen konzentrieren.

Man kann das Murmelspiel auch zum Ausgangspunkt einer politischen Diskussion machen und fragen, ob das Spiel nach gerade diesen Regeln ablaufen muss. Die Antwort lautet natürlich Nein! Man könnte das Spiel etwa so beschränken, dass man sich lediglich mit fünf Murmeln beteiligen darf, falls der Ärmere nicht mehr besitzt. In diesem Fall hätte er, bei gleichen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die gleiche Gewinnchance. Außerdem könnte man vereinbaren, dass es bei dem Spiel lediglich um die Entwicklung der Spielfähigkeit gehen solle und dass bei Spielende jeder die gleiche Zahl von Murmeln wie bei Spielbeginn besitzen soll. Die Zahl der Möglichkeiten ist groß.

Man mag einwenden, dass der mit den meisten Murmeln vielleicht tatsächlich geschickter ist und dass er deshalb die meisten Murmeln besitzt. Es wäre anzunehmen, dass dieser Einwand vor allem von denen kommt, die viele Murmeln besitzen. Auch wenn das in manchen Situationen zutreffen mag, zeigt bereits eine rasche Betrachtung der tatsächlich vorkommenden Ungleichheiten, dass das als alleinige Erklärung völlig unzureichend ist. Auch in der wirklichen Welt stehen weder historische noch aktuelle Unterschiede in Einkünften und Vermögen im angemessenen Verhältnis zu Unterschieden in Fertigkeit oder Arbeitsleistung. Ein weiterer Aspekt ist, dass die soziale Interaktion, die entscheidet, wer was bekommt, in gewisser Hinsicht Eigenschaften begünstigt, die wir aus prinzipiellen Gründen nicht fördern wollen – zum Beispiel Rücksichtslosigkeit, Aggressivität, Verlogenheit und anderes Unerwünschte.

Dass Erfolg in Konkurrenzsituationen nicht immer von Eigenschaften oder Verhaltensmustern abhängt, die wir mit Erfolg verbinden möchten, ist eine Einsicht, der sich viele zu entziehen suchen. Nicht selten hört man in der öffentlichen Gesellschaftsdebatte Argumente, die eine auffällige Ähnlichkeit mit der Vorstellung des Doktor Pangloss in Voltaires Candide oder der Optimismus aufweisen, wir lebten in der besten aller denkbaren Welten.4 Was sich auf einem Markt befindet, muss demnach einem guten Zweck dienen, andernfalls wäre es dort nicht vorhanden. Aus allgemeiner Sicht betrachtet, ist das tatsächliche Geschehen jedoch nicht immer das Beste, noch nicht einmal in einem Umfeld, in dem ethische Aspekte des Handelns außer Acht gelassen werden. Der Wirtschaftswissenschaftler Martin Shubik stellte einmal die Frage: »Überleben stets die am besten Geeigneten?«5 und verneinte sie mit einem Beispiel: Treffen zwei Gangster in einem Duell aufeinander, wird derjenige, der besser schießen kann, das Duell höchstwahrscheinlich auch gewinnen. Erweitert man die Zahl jedoch auf drei Männer, muss dies nicht mehr zutreffen. Treffen drei Männer in einem Duell jeder gegen jeden aufeinander und zwei von ihnen verfügen über eine höhere Treffsicherheit als der dritte, ist es die beste Strategie für diese beiden, einander zu bekämpfen, und der Dritte – der am wenigsten Geschickte – hat die besten Überlebenschancen.

Selbst in der Tier- und Pflanzenwelt, dem Bereich, aus dem die meisten Beispiele des Doktor Pangloss stammen, trifft es nicht unbedingt zu, dass das, was geschieht, irgendeinem allgemeinen Nutzen dient oder Ausdruck dessen ist, von dem wir annehmen, dass es letztlich entscheidend ist – zum Beispiel die Fähigkeit, Nahrung zu finden, Schnelligkeit, Kraft und Ähnliches. Letztlich wird die sexuelle Reproduktion von einer Vielzahl unerwarteter Elemente bestimmt. Ein Verhaltensmuster, das Shubiks Beispiel von den Duellanten recht nahe kommt, ist etwa das von den sneaky fuckers, das von dem englischen Ökologen John Maynard Smith stammt – untergebene Männchen, die sich mit einem weiblichen Tier paaren, während gleichzeitig zwei größere und stärkere männliche Tiere in einen Kampf um eben dieses Weibchen verwickelt sind.

Tatsächlich werden bei manchen Arten die Weibchen von einer kleinen Anzahl Männchen gedeckt, deren Dominanz bei der Paarung in keinerlei Verhältnis zu ihrer Kraft steht. In einer Kolonie von See-Elefanten haben im Verlauf einer Saison weniger als ein Drittel der männlichen Tiere die Gelegenheit zur Paarung und viele Männchen hinterlassen im Verlauf ihres Lebens keine oder fast keine Nachkommen, weil sie sterben, bevor sie geschlechtsreif werden oder von Konkurrenten aus dem Feld geschlagen werden.6 Mehr noch als Kraft zählt also Aggressivität im Paarungsverhalten – ein Umstand, der nicht unbedingt die Herde oder die Art begünstigt und ganz sicher auch nicht jene Männchen, die niemals eine Möglichkeit zur Reproduktion bekommen werden.

Zu betrügen oder zu lügen sind andere Verhaltensmuster, die in Natur und Gesellschaft erfolgreich sein können. Harmlose Arten behelfen sich mitunter, indem sie gefährlichere Arten imitieren, was man in der Biologie als Mimikry bezeichnet. In menschlichen Gesellschaften sind Lüge und Betrug permanente Bedrohungen der wechselseitigen Beziehung von Individuen, trotz umfangreicher Gegenmaßnahmen wie Beglaubigungen, Zeugnisse und Echtheitszertifikate, Beispiele gibt es viele.

Verhandeln ist notwendig

Das Leben besteht nicht nur aus Murmelspielen, Schießduellen und Sex. Für jedes Zusammenwirken von Menschen ist Austausch in unterschiedlichen Formen grundlegend und ein zentrales Element des sozialen Zusammenspiels ist die Verhandlung. Einige Denker sehen in diesem Austausch eine soziale Entsprechung zu chemischen Bindungen – grundlegende Beziehungen, auf denen komplexere soziale Strukturen aufbauen.7 Der Soziologe Émile Durkheim sah im Austausch die Basis gesellschaftlicher Demokratie.

Zwischen Eltern und Kindern gibt es einen Austausch, der ebenso alt ist, wie der Mensch als Art. Kinder lernen gehen, sprechen, ihren Stuhlgang zu kontrollieren und mithilfe der Eltern in Gruppen zu leben. Werden die Kinder älter, machen sie Bekanntschaft mit der Arbeitsteilung – zwischen Jüngeren und Älteren, zwischen Frauen und Männern und so weiter. Jede Form der Arbeitsteilung erfordert offene oder stillschweigende Verhandlungen. Tut der eine etwas und der andere tut etwas anderes, muss man auf irgendeine Art festlegen, wie viel man angemessen von jedem verlangen kann. Zu allen Zeiten haben Eltern während der Jugendjahre für ihre Kinder gesorgt, von den Kindern erwartete man im Gegenzug, dass sie sich um die Eltern kümmern, wenn sie zu alt geworden sind, um das selbst zu tun. Wie viel können die Eltern verlangen? Auf ähnliche Weise haben Frauen und Männer in den meisten Gesellschaften Tätigkeiten unter sich aufgeteilt, wenn auch diese Verteilung in unterschiedlichen Gesellschaften sehr verschieden ausgeprägt ist. Welche Verteilung kann als angemessen gelten? Zur Beantwortung von Fragen dieser Art sind Verhandlungen erforderlich.

Im Alltag benutzen wir das Wort Verhandlung in Situationen, in denen ausdrücklich über Preise, Löhne und andere Bedingungen diskutiert wird. In einer typischen Situation kommen Verkäufer und potenzieller Käufer auf dem klassischen Marktplatz oder zum Beispiel in einem Antiquitätenladen zusammen. Der Verkäufer versucht, seinen Kunden davon zu überzeugen, dass er ohne die betreffende Ware nicht leben kann, und der potenzielle Käufer spielt den hinreichend Uninteressierten, um den Preis zu drücken. Auch in der Politik sind solche Verhandlungssituationen üblich, beispielsweise wenn Regierungen gebildet oder internationale Handelsabkommen abgeschlossen werden sollen.8

Der Tourist, der in einem fremden Land auf einem Basar feilscht, mag sich über den Vorgang amüsieren9, und politische Verhandlungen können für die Meinungsbildung Symbolwert besitzen. In den meisten Fällen erlebt man den Aufwand von Zeit und Energie, den man in einer Verhandlung aufbringen muss, aber als Belastung. Verkäufer und Käufer mögen nach Faustregeln vorgehen, mit deren Hilfe sie schließlich zu einem Ergebnis kommen – der Preis im vorangegangenen Monat, die Preise auf einem anderen Markt in der Nähe, eventuell ergänzt um die Information über gewisse Veränderungen in der Umgebung. Ohne solche Informationen fällt das Ergebnis meist so aus, dass jeder Partner nur den halben Weg geht und man sich in der Mitte trifft.

Auf vielen modernen Märkten ist die Verhandlung völlig verschwunden. Niemand verhandelt mit dem Lebensmittelhändler über den Preis für einen Laib Brot; entweder man akzeptiert den Preis und tätigt den Kauf oder man verzichtet darauf und geht in einen anderen Laden. Innerhalb der Familie sind Eltern und Kinder häufig unterschiedlicher Meinung, wie Verantwortung und Pflichten aufgeteilt werden sollen, jedoch kommt es nicht zu Verhandlungen, da beiden Seiten das zu erwartende Ergebnis ungefähr bekannt ist. Im Arbeitsleben gibt es zahlreiche Beispiele für die Verteilung von Aufgaben ohne längere Diskussionen, auch wenn die betroffenen Mitarbeiter insgeheim andere Vorstellungen von dieser Verteilung haben mögen.

Auch wenn offene Verhandlungen heute von vielen Märkten verschwunden sind, trifft das nicht auf alle zu. Man spricht vom Immobilienmarkt, die Preise für einzelne Objekte auf diesem Markt werden häufig erst nach langwierigen Verhandlungen zwischen Verkäufer und Käufer festgelegt. Sogar der Preis für in Massenproduktion hergestellte Waren wie Autos ist häufig Verhandlungssache, vor allem dann, wenn der Verkäufer auf unverkauften Exemplaren des vorigen Jahresmodells sitzt und der Zeitpunkt der Präsentation des neuesten Modells näher rückt. Wie interessant offene Verhandlungen sind, hängt selbstverständlich davon ab, welche Werte auf dem Spiel stehen und wie groß der Aufwand von Zeit und Mühe für die eigentliche Verhandlung ist.

Unabhängig davon, wie viele offene Verhandlungen es noch gibt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass das Tauschverhältnis, gleichgültig ob es sich um den Preis für eine Ware oder die Verantwortungsbereiche in einer Familie handelt, das dahinterstehende Kräfteverhältnis widerspiegelt. Dass der formale Prozess nicht sichtbar ist, bedeutet nicht, dass ein völliger Ausgleich der Interessen vorliegt.

Eine lange Geschichte

Adam Smith leitet das zweite Kapitel von Wohlstand der Nationen (1776) mit der folgenden Betrachtung über Arbeitsverteilung und Verhandlungen ein:

»Diese Teilung der Arbeit, aus der so viele Vorteile gezogen werden, ist ursprünglich nicht das Werk menschlicher Weisheit, welche die allgemeine Wohlhabenheit, zu der es führt, vorhergesehen und bezweckt hätte. Sie ist die notwendige, obwohl sehr langsame und allmähliche Folge eines gewissen Hanges der menschlichen Natur, der keinen so ausgebreiteten Nutzen erstrebt: des Hanges zu tauschen, sich gegenseitig auszuhelfen und ein Ding gegen ein anderes zu verhandeln.«10

Man kann Smith zustimmen, dass sich der Ursprung von Verhandlungen in einer unbekannten Vorgeschichte verliert. Dennoch erscheint es angebracht, Verhandlungen als notwendige Konsequenz der Arbeitsteilung zu verstehen statt umgekehrt. Der Tauschhandel hat den Menschen so lange begleitet, wie unsere archäologischen Zeugnisse zurückreichen – Metallwerkzeuge gegen Pelze, Lebensmittel gegen Schmuck und so weiter. Mit der Landwirtschaft und der sozialen Schichtung, die sie mit sich brachte, kam es zu neuen, asymmetrischen Verhandlungssituationen – zwischen Landbesitzern und Landarbeitern, zwischen Landbesitzern und Pächtern und nach und nach zwischen Häuptlingen mit stärker oder schwächer bewaffneten Kräften.

Verhandlungen waren nicht auf den Austausch von Waren und Dienstleistungen beschränkt.11 Ehen wurden typischerweise nach umfassenden Verhandlungen geschlossen, die entweder den Brautkauf oder die Mitgift betrafen. Die Anthropologie hat untersucht, welche Formen bei unterschiedlichen Voraussetzungen dominierten. Brautkäufe überwogen in kleinen, von Männern dominierten Gesellschaften mit Vielehe.

Geschenke sind eine weitere Form des Austauschs, die das Interesse vieler Anthropologen gefunden haben12 – von Marcel Mauss, Bronislaw Malinowski und anderen. Mauss leitet seine klassische Monografie Die Gabe mit der Feststellung ein, dass Geschenke in vielen Gesellschaften nur in der Theorie freiwillig sind und in der Realität als Pflichten erfolgen und erwidert werden. Er merkt außerdem an, dass es zu Austausch, Vereinbarungen und Verpflichtungen eher unter Gruppen als unter Individuen kommt. Kein Geschenk zu überreichen, wenn ein solches erwartet wurde, eine Einladung zu unterlassen oder abzulehnen war in den Gesellschaften des Südpazifik, die Mauss studierte, gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung. Geschenke und Einladungen dienten also dem Zweck, die Gesellschaft zusammenzuhalten und Konflikten vorzubauen.

Der Kula-Ring ist ein hoch entwickeltes Tauschsystem auf den Trobriand-Inseln in Melanesien, die Malinowski erforschte. Es war aufgebaut auf zwei Tauscheinheiten, Armreifen und Halsketten, die in zwei Umläufen zirkulierten, im Uhrzeigersinn und gegen den Uhrzeigersinn. Der Austausch beruhte auf Gegenseitigkeit und es war wichtig, dass Geschenke und Gegengeschenke denselben Wert besaßen. Außerdem mussten die Gegengeschenke mit einer gewissen Verzögerung überreicht werden, sodass es zu einem Forderungssystem kam, das zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts beitrug. Jedem Tausch ging eine Verhandlung voraus.

Moderne Geschenk-Systeme wie Weihnachtsgeschenke im christlichen Teil der Welt oder Diwali-Geschenke in der indischen Gesellschaft, Rituale wie Konfirmation, Eheschließung und Geburtstagsfeiern haben mit den prämodernen Institutionen viele Gemeinsamkeiten. Auch wenn die formellen Restriktionen in vielen Fällen aufgegeben wurden, existiert eine allgemeine Kenntnis der dahinterstehenden Regeln und ein Verstoß gegen solche Regeln führt zu Misstrauen oder sogar zu Konflikten.

Verhandlungen haben den Menschen also so lange begleitet, wie es ihn als Art gibt. Durkheim, Mauss und anderen klassischen Denkern ist zuzustimmen, wenn sie im sozialen Austausch ein fundamentales Bindemittel der Gesellschaftsstrukturen sahen. Die Verhandlungen waren nicht beschränkt auf die wirtschaftliche Sphäre, wie man sie in modernen Gesellschaften kennt, sie kommen vielmehr in allen Lebensbereichen vor und haben sich in älterer Form in Bereichen erhalten, die von Kräften des Marktes noch relativ unberührt sind. Mehr oder weniger stillschweigende, selbstverständliche Verhandlungen machen die Lebenskraft der wirtschaftlichen Sphäre aus, wobei die Kräfte des Marktes in die feinsten Kapillargefäße eingedrungen sind. Verhandlungen definieren auch die Arbeitsbedingungen im politischen Bereich. Will man die Mechanismen verstehen, die auf unterschiedlichen Bereichen zur Ursache von Ungleichheit werden, ist man gezwungen, die Dynamik von Verhandlungen offenzulegen. Zunächst ist jedoch ein historischer und globaler Überblick über die Topografie der Ungleichheit erforderlich.

3 Die Archäologie der Ungleichheit

Will man zu einer historischen Perspektive auf die Ungleichheit gelangen, sind eine Karte des Geländes und am besten auch ein entsprechender Maßstab erforderlich. Die Verteilung menschlicher Ressourcen kann auf zahlreichen Gebieten höchst unterschiedlich sein – nach Einkommen, Vermögen, intellektuellen Fähigkeiten, sozialem Status, sexuellen Privilegien – und es ist keineswegs selbstverständlich, dass eine hervorgehobene Position auf einem Bereich mit derselben hohen Position auf einem anderen einhergeht.