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Wenn der Magier Calvino mit seinem Zauberstab lunares Magma aufwirbelt und seismische Wellen in Schwung bringt, wenn ausgewachsene Dinosaurier der Weltschmerz packt und sie am nächsten Bahnhof mit dem Zug das Weite suchen, wenn Galaxien wie Omeletts in der Pfanne brutzeln, handfeste Mondtöchter und schlüpfrige Mollusken ihr Unwesen treiben und wenn Urgroßmütter den Andromeda-Nebel bewohnen, dann ist wieder eines dieser literarischen Minenfelder gelegt, in denen die wunderbarsten und überraschendsten Gefahren lauern.
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wenn der Magier Calvino mit seinem Zauberstab lunares Magma aufwirbelt und seismische Wellen in Schwung bringt, wenn ausgewachsene Dinosaurier der Weltschmerz packt und sie am nächsten Bahnhof mit dem Zug das Weite suchen, wenn Galaxien wie Omeletts in der Pfanne brutzeln, handfeste Mondtöchter und schlüpfrige Mollusken ihr Unwesen treiben und wenn Urgroßmütter den Andromeda-Nebel bewohnen, dann ist wieder eines dieser literarischen Minenfelder gelegt, in denen die wunderbarsten und überraschendsten Gefahren lauern.
Italo Calvino
Cosmicomics
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber
Carl Hanser Verlag
Erster Teil
Die ersten Wirbeltiere, die im Karbon das Leben im Wasser mit dem auf dem Lande vertauschten, stammten von Knochenfischen mit Lungen ab, deren Flossen sich unter dem Körper drehen und somit auf dem Land als Füße benutzen ließen.
Mittlerweile war klar, daß die Zeiten des Wassers vorbei waren — erinnerte sich der alte Qfwfq —, die Zahl derjenigen, die sich entschlossen, den großen Schritt zu tun, wurde immer größer, es gab kaum noch eine Familie, die nicht einen ihrer Lieben auf dem Trockenen hatte, und alle erzählten sich Wunderdinge vom Leben dort und holten ihre Verwandten nach. Die jungen Fische waren nicht mehr zu halten, sie klatschten die Flossen aufs schlammige Ufer, um zu sehen, ob sie auch als Füße taugten, wie die Begabteren es schon entdeckt hatten. Doch zur selben Zeit verschärften sich auch die Unterschiede zwischen uns: es gab Familien, die schon seit mehreren Generationen auf dem Lande lebten und deren Sprößlinge sich in einer Weise aufführten, die nicht einmal mehr amphibisch, sondern fast schon reptilienhaft war, während andere sich noch immer als Fische gebärdeten, ja noch fischiger wurden, als man es früher zu sein pflegte.
Unsere Familie, ich muß es sagen, stelzte freilich, Großeltern vorneweg, schon vollzählig auf dem Strande herum, als hätten wir nie etwas andres getan. Wäre da nicht der Eigensinn unseres Großonkels N’ba N’ga gewesen, wir hätten den Kontakt mit der Wasserwelt schon seit einiger Zeit verloren.
Jawohl, wir hatten einen Großonkel Fisch, von meiner Großmutter väterlicherseits her, um genau zu sein, aus dem Zweig der Coelacanthiden des Devon (denen von der Süßwasser-Linie, die demnach Vettern der anderen wären — aber ich will hier nicht weiter auf die Verwandtschaftsverhältnisse eingehen, die kann ohnehin keiner genau aufdröseln). Dieser Großonkel also hauste in schlammigen seichten Gewässern, zwischen den Wurzeln von Protokoniferen, in jenem Seitenarm der Lagune, wo alle unsre Altvorderen geboren waren. Er verließ den Ort nie; ganz gleich zu welcher Jahreszeit, wir brauchten uns bloß auf die weicheren Vegetationsschichten vorzuwagen, bis wir spürten, daß wir im Nassen versanken, und schon konnten wir vor uns, nur ein paar Handbreit vom Ufer entfernt, die Säule der kleinen Luftbläschen sehen, die er schnaufend aufsteigen ließ, wie es alte Leute tun, oder auch die kleine Schlammwolke, die er mit seinem spitzen Maul aufwühlte, denn er war immer am Wühlen, mehr aus Gewohnheit als um etwas Bestimmtes zu suchen.
»Onkel N’ba N’ga! Wir sind Sie besuchen gekommen! Haben Sie uns schon erwartet?« riefen wir dann und patschten mit Füßen und Schwänzen ins Wasser, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Wir haben Ihnen neue Insekten mitgebracht, die es jetzt bei uns gibt! Onkel N’ba N’ga! Haben Sie schon mal sowas gesehen, so große Schaben? Probieren Sie mal, ob Ihnen das schmeckt!«
»Mit euren stinkigen Schaben könnt ihr euch die ekligen Warzen abschaben, die ihr am Leibe habt!« Solch eine Antwort oder gar eine noch rüdere hatte der Großonkel immer parat, er begrüßte uns jedesmal so, aber wir machten uns nichts daraus, da wir wußten, daß er nach einer Weile freundlicher werden, sich über die Mitbringsel freuen und in netterem Ton mit uns plaudern würde.
»Was denn für Warzen, Onkel N’ba N’ga? Wann hätten Sie je eine Warze an uns gesehen?«
Das mit den Warzen war ein verbreitetes Vorurteil bei den alten Fischen: sie meinten, durch das Leben auf dem Trockenen kriegten wir überall Warzen am Leib, wässrig-glibbrige Schwären; das stimmte zwar, aber nur bei den Kröten, die nicht das geringste mit uns zu tun hatten; im Gegenteil, unsere Haut war so glatt und schlüpfrig, wie sie kein Fisch je gehabt hatte, und der Großonkel wußte das gut, doch er konnte es eben nicht lassen, seine Reden mit all den Vorurteilen und Verleumdungen zu spicken, mit denen er aufgewachsen war.
Wir gingen ihn einmal im Jahr besuchen, die ganze Familie gemeinsam. Es war zugleich eine Gelegenheit, uns alle wiederzusehen, wir lebten ja über das ganze Festland verstreut, um dann Neuigkeiten und eßbare Insekten auszutauschen und über alte Fragen zu diskutieren, die das letzte Mal offengeblieben waren.
Der Großonkel mischte sich überall ein, auch in Dinge, von denen ihn Kilometer und Kilometer trockenen Landes trennten, etwa die Aufteilung der Reviere bei der Libellenjagd, und dann gab er mal dem einen und mal dem anderen recht, wobei seine Kriterien immer die eines Wasserbewohners waren: »Weißt du denn nicht, daß man am Grund immer besser jagt als an der Oberfläche? Also was regst du dich hier so auf?«
»Aber Onkel, verstehen Sie doch, es geht nicht um Grund oder Oberfläche. Ich sitze am Fuße des Hügels und er auf halber Höhe … Die Hügel, das wissen Sie doch, lieber Onkel …«
Und er: »Am Fuße der Klippen findet man immer die besten Krebse.« Es war nichts zu machen, er ließ keine andre Realität als die seine gelten.
Trotzdem gaben wir alle weiterhin viel auf sein Urteil; am Ende baten wir ihn auch um Rat über Dinge, von denen er nicht das geringste verstand, obgleich wir wußten, daß er krotzenfalsch liegen konnte. Vielleicht kam seine Autorität gerade daher, daß er ein Überbleibsel der Vergangenheit war, daß er so altmodische Redensarten gebrauchte wie: »Häng mal die Flossen ein bißchen tiefer, junger Spund!«, deren Sinn wir gar nicht mehr recht verstanden.
Versuche, ihn mit aufs Land zu nehmen, hatten wir schon eine ganze Reihe gemacht und machten sie weiter; ja, in diesem Punkt war die Rivalität zwischen den verschiedenen Zweigen der Familie nie ganz erloschen, denn wer es geschafft hätte, den Großonkel mit zu sich nach Hause zu nehmen, der hätte sich gegenüber der ganzen Verwandtschaft in, sagen wir, einer Vorrangstellung befunden. Aber es war eine sinnlose Rivalität, denn der Großonkel dachte gar nicht daran, die Lagune zu verlassen.
»Onkel, wenn Sie nur wüßten, wie unangenehm es uns ist, Sie immer so allein zu lassen, in Ihrem Alter, mitten im Nassen … Wissen Sie was, uns ist da eine wunderbare Idee gekommen …«, fingen wir an.
»Dacht’ ich mir doch, daß ihr’s eines Tages einsehen würdet!« unterbrach uns der alte Fisch. »Endlich ist euch die Lust vergangen, auf dem Trockenen rumzukrabbeln, wird ja auch Zeit, daß ihr zurückkommt, um wieder wie normale Wesen zu leben. Hier ist Wasser genug für alle, und was die Nahrung betrifft, noch nie war die Würmer-Saison so gut. Ihr braucht nur reinzuspringen, und wir reden nicht mehr davon.«
»Nein, nein, Onkel N’ba N’ga, Sie haben uns falsch verstanden, wir wollten Sie mit zu uns nehmen, auf eine grüne Wiese … Sie werden sehen, da lebt sich’s gut, wir graben Ihnen ein schönes Wasserloch, da können Sie sich drin tummeln, genau wie hier. Sie können auch mal ein paar Schritte ringsum versuchen, Sie werden sehen, es geht. Und außerdem, in Ihrem Alter ist doch das Landklima viel gesünder. Also, wie wär’s, Onkel N’ba N’ga, lassen Sie sich nicht lange bitten! Kommen Sie mit?«
»Nein!« war die schroffe Antwort des Großonkels, und mit einem Nasenstüber ins Wasser entzog er sich unseren Blicken.
»Aber warum denn nicht, Onkel, was haben Sie nur dagegen, wir verstehen Sie einfach nicht, Sie mit Ihrer Weltoffenheit, und dann solche Vorurteile …«
Aus einem Schnauben knapp über dem Wasser, bevor er mit einem immer noch eleganten Schwanzschlag wegtauchte, kam des Großonkels letzte Antwort: »Wer Flöhe zwischen den Schuppen hat, der schwimmt mit dem Bauch im Schlamm!« — was eine Redensart aus seiner Jugend gewesen sein mußte (etwa entsprechend unserem neuen und viel konziseren Sprichwort: »Wen’s juckt, der soll sich kratzen«), mit jenem Wort »Schlamm«, das er hartnäckig weiter bei allen Gelegenheiten benutzte, wo wir »Erde« sagten.
Zu jener Zeit nun geschah es, daß ich mich verliebte. Lll und ich verbrachten die Tage damit, um die Wette einander zu jagen, doch niemand war je so behende gewesen wie sie: Auf die Farne, die damals so hoch wie Bäume waren, kletterte sie im Nu bis zu den Spitzen hinauf, und die Spitzen beugten sich nieder bis fast auf den Boden, und mit einem Sprung war sie unten und lief sofort weiter, während ich ihr langsamer und ein bißchen schwerfällig folgte. Wir wagten uns in Gebiete des Landesinneren vor, wo noch nie eine Fußspur den trockenen und verkrusteten Boden gezeichnet hatte; manchmal hielt ich erschrocken inne, weil ich mich so weit vom Rand der Lagune entfernt hatte. Doch nichts schien dem Wasserleben so fern wie Lll: die Sand- und Steinwüsten, die Prärien, die dichten Wälder, die Felsenhöhen und Quarzgebirge, das war ihre Welt — eine Welt, die eigens dazu geschaffen schien, von ihren länglichen Augen erkundet und von ihrem blitzschnellen Lauf durchmessen zu werden. Und wenn man ihre glatte Haut betrachtete, konnte man meinen, es hätte nie Schalen und Schuppen gegeben.
Ihre Familie verursachte mir ein bißchen Minderwertigkeitsgefühle. Es war eine jener Familien, die sich schon so früh auf dem Festland etabliert hatten, daß sie inzwischen glaubten, schon immer da gewesen zu sein; eine jener Familien, in denen man sogar schon die Eier aufs Trockene legte, geschützt durch eine widerstandsfähige Schale; und Lll, wenn man sie so umherflitzen sah mit ihren Zickzacksprüngen, war offensichtlich schon ganz so zur Welt gekommen, fertig ausgeschlüpft aus einem dieser von Sand und Sonne gewärmten Eier, mit einem Satz hinweggesprungen über die Schwimm- und Torkelphase der Kaulquappe, die in unseren minder entwickelten Sippen noch obligatorisch war.
Es wurde allmählich Zeit, daß Lll meine Angehörigen kennenlernte, und da das älteste und angesehenste Mitglied meiner Familie eben der Großonkel N’ba N’ga war, mußte ich ihm nun wohl oder übel einen Besuch abstatten, um ihm meine Verlobte vorzustellen. Doch jedesmal, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergab, verschob ich die Sache verlegen auf später — ich kannte schließlich die Vorurteile, mit denen Lll aufgewachsen war, und hatte mich daher noch nicht getraut, ihr zu sagen, daß mein Großonkel ein Fisch war.
Eines Tages hatten wir uns auf eine von jenen sumpfigen Landzungen vorgewagt, die sich rings um die Lagune erstreckten, wo der Boden weniger aus Sand als aus einem Geflecht von Wurzeln und fauliger Vegetation bestand. Lll schlug mir eine ihrer üblichen Wetten oder Mutproben vor: »Qfwfq, mal sehen, wie lange du die Balance hältst. Probieren wir, wer von uns beiden weiter zum Rand vorlaufen kann!« — und schon flitzte sie los mit ihren kurzen Festlandssprüngen, wenn auch ein bißchen zögernd.
Diesmal fühlte ich mich in der Lage, nicht nur mit ihr Schritt zu halten, sondern sie sogar zu besiegen, denn auf feuchtem Grund fanden meine Füße mehr Halt. »Bis zum äußersten Rand, wenn du willst!« rief ich. »Und vielleicht sogar darüber hinaus!«
»Red keinen Unsinn!« erwiderte sie. »Über den Rand hinaus, wie soll man da laufen können? Da ist doch Wasser!«
Vielleicht war dies der richtige Augenblick, um das Gespräch auf den Großonkel zu bringen. »Na und?« sagte ich. »Es gibt eben so’ne und solche, manche laufen jenseits des Randes und manche diesseits.«
»Du sagst Sachen ohne Hand und Fuß!«
»Ich sage nur, daß mein Großonkel N’ba N’ga im Wasser lebt wie wir auf dem Land, und er ist nie herausgekommen!«
»Donnerwetter! Den würd’ ich gern mal kennenlernen, diesen N’ba N’ga!«
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da zerplatzten schon Luftbläschen auf der trüben Wasserfläche, es bildete sich ein kleiner Strudel und es erschien ein ganz mit stachligen Schuppen bedecktes Maul.
»Da bin ich, was gibt’s?« sagte der Großonkel und fixierte Lll mit runden Augen, die ausdruckslos glotzten wie Steine, während die Kiemen rechts und links an der enormen Kehle auf- und zuklappten. Nie war mein Großonkel mir so fremd vorgekommen, so ganz anders als wir: ein richtiges Ungeheuer!
»Onkel, wenn Sie gestatten, dies ist … ich würde Ihnen gern … meine Verlobte Lll vorstellen«, stammelte ich und deutete auf meine Braut, die sich unterdessen, weiß der Himmel wieso, auf die Hinterfüße erhoben hatte, in einer ihrer geziertesten Posen, die dem alten Grobian sicher besonders mißfiel.
»Ei, ei, schönes Fräulein, sind Sie gekommen, sich ein bißchen den Schwanz naßzumachen?« sagte der Großonkel — ein Satz, der zu seiner Zeit vielleicht eine Galanterie gewesen sein mochte, aber in unseren Ohren geradezu anzüglich klang.
Ich blickte zu Lll, überzeugt, sie mit einem empörten Quieken kehrtmachen und davonlaufen zu sehen. Aber ich hatte nicht bedacht, wie gut sie erzogen war und wie tief daher der Reflex in ihr saß, jede Vulgarität in ihrer Umgebung zu überhören. »Sagen Sie, diese Pflänzchen da«, fragte sie zwanglos und zeigte auf einige Riesenschilfrohre, die mitten in der Lagune wuchsen, »wo senken die eigentlich ihre Wurzeln rein?«
Es war bloß so eine Frage, wie man sie stellt, um die Konversation in Gang zu halten, denn was bedeuteten ihr schon die Schilfrohre! Doch der Großonkel schien nur darauf gewartet zu haben, ihr das Wie und Warum der Wurzeln jener im Wasser treibenden Bäume zu erklären und wie schön man zwischen ihnen herumschwimmen konnte und daß gerade dort unten die besten Jagdgründe waren. Er hörte gar nicht mehr auf. Ich schnaubte und wollte ihn unterbrechen. Aber Lll, was tat dieses impertinente Ding? Sie feuerte ihn auch noch an: »Ach nein! Sie jagen da zwischen den schwimmenden Wurzeln? Interessant!«
Ich verging fast vor Scham.
Und er: »Aber ja doch! Die Würmer, die es da gibt, das ist was zum sich den Bauch vollschlagen!« Und ohne lange zu überlegen, tauchte er weg. Tauchte jedoch mit einem so eleganten Schwung, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte, mit einem richtigen Luftsprung: schnellte hoch aus dem Wasser, so lang er war, über und über schuppengesprenkelt, spreizte die stachligen Flossen, beschrieb in der Luft einen prächtigen Halbkreis, zischte dann senkrecht kopfüber ins Wasser und war gleich darauf mit einer Art Schraubendrehung seines geteilten Schwanzes verschwunden.
Bei diesem Anblick blieb mir die kleine Rede, die ich mir zurechtgelegt hatte, um mich während der Abwesenheit des Onkels rasch bei Lll zu entschuldigen (»Du mußt das verstehen, weißt du, mit seiner fixen Idee, wie ein Fisch zu leben, ist er am Ende wirklich fast wie ein Fisch geworden …«), im Halse stecken. Mir selbst war bisher nicht ganz klar gewesen, in welchem Grade der Bruder meiner Großmutter wirklich ein Fisch war. Ich sagte nur: »Lll, es ist spät, laß uns gehen …«, da tauchte er schon wieder auf, zwischen den Haifischlippen ein Festmahl von Würmern und schlammigen Algen.
Es schien mir kaum wahr zu sein, als wir uns endlich verabschiedeten; doch als ich dann stumm hinter Lll hertrottete, dachte ich, jetzt würde sie gleich mit ihren bissigen Kommentaren beginnen und so würde das Schlimmste für mich noch kommen. Da drehte sie sich halb zu mir um, ohne stehenzubleiben, und sagte bloß: »Netter Kerl, dein Onkel!« Sonst nichts. Schon mehr als einmal hatte mich ihre Ironie entwaffnet, aber die Eiseskälte, die mich bei diesen Worten überlief, war so fürchterlich, daß ich lieber darauf verzichtet hätte, sie jemals wiederzusehen, als noch einmal auf das peinliche Thema zurückzukommen.
Indessen, wir sahen uns wieder und gingen weiter miteinander, und über den Vorfall an der Lagune wurde nicht mehr gesprochen. Ich blieb im ungewissen. Vergebens suchte ich mir einzureden, daß sie die Sache vergessen hätte, immer wieder kam mir der Verdacht, daß sie bloß schwieg, um mich irgendwann um so gründlicher zu blamieren, vor ihren Verwandten, oder daß sie — und diese Hypothese war für mich noch viel schlimmer — sich nur aus Mitleid bemühte, von etwas anderem zu sprechen. Bis sie dann eines schönen Morgens aus heiterem Himmel sagte: »Hör mal, willst du mich eigentlich nicht mal wieder zu deinem Onkel bringen?«
Mit fast versagender Stimme fragte ich: »Machst du Witze?«
Von wegen! Sie meinte es ernst, sie konnte es gar nicht erwarten, mal wieder ein Schwätzchen mit dem alten N’ba N’ga zu halten. Ich verstand überhaupt nichts mehr.
Diesmal dauerte der Besuch an der Lagune länger. Wir legten uns alle drei auf die schräge Uferböschung, der Großonkel mehr zum Wasser hin, aber auch wir halb eingetaucht, so daß man, hätte man uns von weitem da nebeneinanderliegen sehen, nicht hätte sagen können, wer von uns nun ein Land- und wer ein Wasserbewohner war.
Der Fisch begann eine seiner gewohnten Tiraden — die Überlegenheit der Wasser- über die Luftatmung, das ganze Repertoire seiner Diffamierungen. »Gleich wird Lll aufspringen und ihm die Meinung sagen«, dachte ich. Doch offenbar benutzte sie an jenem Tag eine andere Taktik: sie diskutierte mit Hingabe und verteidigte unsere Standpunkte, aber so, als ob sie die des alten N’ba N’ga sehr ernst nähme.
Die aus dem Meer aufgetauchten Landstriche seien, meinte er, nur ein vorübergehendes Phänomen; sie würden verschwinden, wie sie aufgetaucht waren, oder zumindest würden sie permanenten Veränderungen unterworfen sein — durch Vulkanausbrüche, Eiszeiten, Erdbeben, Verwerfungen, Wechsel in Klima und Vegetation. Infolgedessen würde unser Leben dort ständigen Wandlungen trotzen müssen, ganze Populationen würden verschwinden, und überleben würde nur, wer die Grundlagen seines Daseins derart zu ändern bereit wäre, daß die Gründe, die das Leben lebenswert machten, ganz und gar auf den Kopf gestellt und vergessen sein würden.
Eine Perspektive, die dem Optimismus, mit dem wir Kinder der Küste aufgewachsen waren, voll ins Gesicht schlug und die ich daher empört zurückwies. Doch die wahre, die lebendige Widerlegung all jener Argumente war für mich Lll. In ihr sah ich die vollkommene, endgültige Form, entsprungen aus der Eroberung des aus dem Meer aufgetauchten Landes, die Summe der neuen unbegrenzten Möglichkeiten, die sich uns auftaten. Wie konnte der Großonkel sich nur anmaßen, die in Lll fleischgewordene Wirklichkeit einfach zu ignorieren? Ich glühte vor polemischer Leidenschaft, und mir schien, daß meine Verlobte sich viel zu geduldig und verständnisvoll mit unserem Widersacher einließ.
Gewiß, auch für mich — der ich aus dem Munde des Großonkels immer nur Grobheiten und Granteleien zu hören gewohnt war — klang dieses sein so geschliffenes Argumentieren wie etwas ganz Neues, wenn auch gewürzt mit altmodischen und emphatischen Wendungen und durch seinen eigentümlichen Tonfall ein bißchen komisch. Auch war ich erstaunt zu hören, wie gut informiert er — wenn auch nur rein theoretisch — über das Festland zu sprechen wußte.
Doch Lll bemühte sich mit ihren Fragen, soviel wie möglich über das Leben im Wasser von ihm zu erfahren — und dies war ohne Zweifel das Thema, bei dem die Worte des Großonkels eindringlicher, ja zuweilen bewegend wurden. Verglichen mit den Ungewißheiten des Festlandes und der Luft, meinte er, böten die Lagunen und Meere und Ozeane eine sichere Zukunft. Dort würden die Veränderungen minimal sein, die Räume und Ressourcen unbegrenzt, die Temperatur stets ausgeglichen — kurzum, das Leben würde so bleiben, wie es sich bisher entwickelt hatte, in seinen prallen und vollkommenen Formen, ohne Metamorphosen oder Erweiterungen mit zweifelhaftem Ergebnis, und jeder würde die eigene Natur vertiefen, würde zum eigenen Wesen und zur Essenz aller Dinge vordringen können. Der Großonkel sprach ohne Beschönigungen oder Illusionen über die Zukunft im Wasser, er verhehlte auch nicht die schwerwiegenden Probleme, die sich stellen würden (am bedenklichsten von allen die Zunahme des Salzgehalts), aber das seien Probleme, die nicht die Werte und Proportionen umstülpen würden, an die er glaubte.
»Wir aber sprengen jetzt munter durch Täler und Höhen, Onkel!« rief ich, in meinem Namen und mehr noch in dem von Lll, die jedoch schwieg.
»Ach geh schon, Kaulquappe, kaum kommst du wieder ins Nasse, kommst du nach Hause!« raunzte er in dem Ton, den er uns gegenüber stets angeschlagen hatte.
»Meinen Sie aber nicht, Onkel, daß es ein bißchen zu spät wäre, wenn wir jetzt wieder lernen wollten, unter Wasser zu atmen?« fragte ihn Lll ganz ernsthaft, und ich wußte nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen sollte, weil sie meinen alten Verwandten Onkel genannt hatte, oder irritiert, weil sich gewisse Fragen (so jedenfalls war ich zu denken gewohnt) gar nicht mehr stellten.
»Wenn du willst, schönes Kind«, sagte der Fisch, »lehre ich’s dich sofort.«
Lll brach in ein seltsames Lachen aus, dann lief sie auf einmal los und lief so schnell davon, daß ich ihr nicht folgen konnte.
Ich suchte nach ihr durch Täler und Höhen, ich kletterte auf die Spitze einer hohen Basaltzinne, die das von Wasser umgebene Wüsten- und Waldland beherrschte. Dort fand ich sie. Das mußte es gewesen sein, nun begriff ich es, was sie mir hatte sagen wollen, als sie erst N’ba N’ga zuhörte und dann auf einmal davonlief, um sich hier oben zu verstecken: daß wir in unserer Welt mit der gleichen Entschiedenheit leben sollten wie der alte Fisch in der seinen.
»Ich werde hier so sein wie der Onkel dort«, rief ich ein bißchen stotternd, dann korrigierte ich mich: »Wir beide, wir beide zusammen!« — denn es stimmte ja, ohne sie fühlte ich mich nicht sicher.
Was aber antwortete mir da Lll? Noch heute, nach so vielen Erdzeitaltern, werde ich schamrot, wenn ich daran denke. Sie antwortete: »Ach geh schon, Kaulquappe, da müssen erst andre kommen!« — und ich wußte nicht, ob sie damit den Großonkel nachäffen wollte, um sich über ihn und mich gemeinsam zu mokieren, oder ob sie sich wirklich die Haltung des alten Grantlers mir gegenüber zu eigen gemacht hatte, und beide Möglichkeiten waren gleichermaßen niederschmetternd, denn beide bedeuteten, daß sie mich als einen Halbentwickelten ansah, als einen, der weder in der einen noch in der anderen Welt zu Hause war.
Hatte ich sie verloren? Ich fürchtete es und tat alles, um sie zurückzuerobern. Ich vollbrachte wahre Heldentaten: bei der Jagd auf fliegende Insekten, beim Springen, beim Graben unterirdischer Höhlen, beim Kampf mit den Stärksten unserer Sippe. Ich war stolz auf mich, aber jedesmal, wenn ich gerade etwas ganz Tolles machte, war sie leider gerade nicht da, um es zu sehen, denn immer wieder verschwand sie, und niemand wußte, wohin sie sich verstecken ging.
Schließlich begriff ich: Sie ging zur Lagune, wo ihr der Großonkel beibrachte, unter Wasser zu schwimmen. Ich sah die beiden zusammen auftauchen, sie schwammen gleich schnell dahin, als wären sie Bruder und Schwester.
»Weißt du was?« rief sie fröhlich, als sie mich sah. »Die Füße taugen sehr gut als Flossen!«
»Na bravo, was für ein toller Fortschritt!« konnte ich mir nicht verkneifen, sarkastisch zu kommentieren.
Es war ein Spiel für sie, ich kapierte. Aber ein Spiel, das mir nicht gefiel. Ich mußte sie in die Wirklichkeit zurückholen, in die Zukunft, die uns erwartete.
Eines Tages paßte ich sie in einem hohen Farnwald ab, der sich bis zum Wasser hinzog.
»Lll, ich muß mit dir reden«, sagte ich, kaum daß sie erschien, »du hast dich jetzt genug amüsiert. Wir haben Wichtigeres zu tun. Ich habe einen Paß über die Berge entdeckt; dahinter erstreckt sich eine riesige Steinebene, die erst vor kurzem aus dem Wasser aufgetaucht ist. Wir werden die ersten sein, die sich dort niederlassen, wir werden grenzenlose Gebiete bevölkern, wir und unsere Kinder.«
»Grenzenlos ist das Meer«, sagte Lll.
»Hör endlich auf, den Unsinn dieses kindischen Alten nachzuplappern. Die Welt gehört denen, die Beine haben, nicht den Fischen, das weißt du doch.«
»Ich weiß, daß er jemand ist, der jemand ist«, sagte Lll.
»Und ich?«
»Keiner von denen, die Beine haben, ist so wie er.«
»Und deine Familie?«
»Von der hab ich mich losgesagt. Die haben noch nie was kapiert.«
»Du bist ja übergeschnappt! Man kann sich doch nicht zurückentwickeln!«
»Ich schon.«
»Aber was willst du denn machen, du allein mit einem alten Fisch?«
»Ihn heiraten. Wieder Fisch werden wie er. Und andere Fische zur Welt bringen. Leb wohl.«
Und wie um ein letztes Mal ihre Kletterkunst zu beweisen, lief sie ein hohes Farnblatt hinauf, bog es zur Lagune hinunter und sprang kopfüber ins Wasser. Dann tauchte sie wieder auf, aber nicht allein: Großonkel N’ba N’gas kräftiger zweigeteilter Schwanz erschien neben ihrem, und gemeinsam durchpflügten sie beide die Fluten.
Es war ein harter Schlag für mich. Aber was konnte ich da noch tun? Ich ging weiter meinen Weg, mitten durch die Veränderungen der Welt, und veränderte mich dabei selbst. Hin und wieder begegnete ich unter den vielen Formen des Lebens einem Wesen, das mehr als ich »jemand war«: jemand, der die Zukunft ankündigte — ein Schnabeltier, das sein soeben aus dem Ei geschlüpftes Junges säugte, eine hochaufgeschossene Giraffe inmitten der noch niedrigen Vegetation; oder auch jemand, der eine unwiederbringliche Vergangenheit bezeugte — ein Dinosaurier, der den Anbruch des Zänozoikums überlebt hatte; oder jemand, der — wie das Krokodil — Zeuge einer Vergangenheit war, die es verstanden hatte, sich unverändert über die Zeiten hin zu erhalten. Sie alle hatten etwas, ich weiß es, das sie mir irgendwie überlegen machte, hoch über mich erhaben, so daß ich im Vergleich zu ihnen nur mittelmäßig erschien. Und doch hätte ich mit keinem von ihnen tauschen mögen.
Mysteriös bleiben die Gründe für das rasche Aussterben der Dinosaurier, die sich während der ganzen Trias- und Jurazeit entwickelt und ständig vergrößert hatten und 150 Millionen Jahre lang die unangefochtenen Herrscher der Kontinente gewesen waren. Vielleicht waren sie unfähig, sich den großen Klima- und Vegetationsveränderungen anzupassen, die in der Kreidezeit eintraten. Am Ende dieser Epoche waren sie alle tot.
Alle außer mir — präzisierte Qfwfq —, denn auch ich bin eine Zeitlang Dinosaurier gewesen, so an die fünfzig Millionen Jahre lang, und ich bereue es nicht. Wer damals Dinosaurier war, der konnte sicher sein, daß er im Recht war, und wußte sich Respekt zu verschaffen.
Dann änderte sich die Lage, ich brauche euch die Einzelheiten nicht zu erzählen. Unglück aller Art brach über uns herein, Niederlagen, Fehlschläge, Zweifel, Verrat und Seuchen. Eine neue Erdbevölkerung wuchs heran, die uns feindlich gesonnen war. Sie fielen von allen Seiten über uns her, wir wußten nicht mehr wohin. Heute behaupten manche, die Lust am Untergang, der heimliche Wunsch, vernichtet zu werden, hätte schon immer zur Mentalität von uns Dinosauriern gehört. Ich weiß nicht, ich habe dieses Gefühl nie gehabt; wenn andre es hatten, dann sicher nur, weil sie sich schon verloren fühlten.
Ich denke ungern zurück an das große Sterben, ich hätte nie geglaubt, ihm entrinnen zu können. Die lange Wanderung, die mich in Sicherheit brachte, führte mich über ein Totenfeld nackter Gebeine, auf dem nur hin und wieder ein Rückenkamm oder ein Horn, eine Panzerplatte oder ein Fetzen schuppiger Haut an die einstige Pracht des lebendigen Wesens erinnerte. Und an diesen kläglichen Resten taten sich nun die Schnäbel, die Zähne, die Krallen, die Saugnäpfe der neuen Herren des Planeten gütlich. Erst als ich nirgendwo mehr eine Spur von Lebenden und von Toten fand, machte ich halt.
Ich verbrachte viele, sehr viele Jahre auf jenen verlassenen Höhen. Ich hatte Überschwemmungen, Seuchen, Hungersnöte und eisigen Frost überlebt, doch ich war allein. Ich konnte nicht ewig dort oben bleiben. So machte ich mich an den Abstieg.
Die Welt hatte sich verändert, ich erkannte weder die Berge wieder noch die Flüsse oder die Pflanzen. Als ich das erste Mal auf lebende Wesen stieß, versteckte ich mich. Es war eine Horde der Neuen: kleinwüchsige, aber kräftige Exemplare.
»He, du!« Sie hatten mich erblickt, und sofort verblüffte mich ihre vertrauliche Art, mich anzusprechen. Ich lief davon, sie liefen mir nach. Seit Jahrtausenden war ich gewohnt, Schrecken um mich her zu verbreiten und selbst zu erschrecken über die Reaktion der anderen auf den Schrecken, den ich hervorrief. Jetzt nichts davon, nur dieses »He, du!« Sie kamen näher, als ob nichts wäre, weder feindselig noch erschrocken.
»Wieso läufst du weg? Was hast du denn?« Sie wollten mich nur nach dem Weg fragen, keine Ahnung, wohin. Ich stammelte, daß ich nicht aus der Gegend sei. »Was ist denn in dich gefahren, daß du so plötzlich Reißaus nehmen wolltest«, fragte einer. »Es war ja fast, als hättest du … einen Dinosaurier gesehen!« Die anderen lachten. Aber in diesem Lachen vernahm ich zum ersten Mal eine Spur von Angst. Sie lachten ein bißchen gezwungen. Dann wurde einer von ihnen ernst und ermahnte den, der gesprochen hatte: »Sag sowas nicht mal im Scherz! Du weißt ja nicht, wie die waren …«
Demnach wirkte also der Schrecken vor den Dinosauriern auch bei den Neuen immer noch fort, aber sie hatten vielleicht schon seit etlichen Generationen keine mehr zu Gesicht bekommen und wußten nicht, wie sie aussahen. Ich zog weiter, mit der gebotenen Vorsicht, aber auch voller Ungeduld, das Experiment zu wiederholen. An einer Quelle trank ein junges Weibchen der Neuen; sie war allein. Ich näherte mich ganz leise und reckte den Hals, um neben ihr zu trinken; schon hörte ich im Geiste ihren Entsetzensschrei, kaum daß sie mich erblicken würde, ihre keuchende Flucht. Gleich würde sie Alarm schlagen, die Neuen würden in Scharen herbeigeströmt kommen, um mich zu jagen … Im selben Moment bereute ich meinen Schritt. Wenn ich mein Leben retten wollte, mußte ich sie auf der Stelle zerreißen: wieder von vorn beginnen …
Sie drehte den Kopf zu mir und sagte: »Schön frisch, das Wasser, nicht wahr?« Fing dann eine liebenswürdige Unterhaltung an, so eine mit etwas konventionellen Floskeln, wie man sie Fremden gegenüber benutzt; fragte mich, ob ich von weither käme und ob ich unterwegs Regen oder gutes Wetter gehabt hätte und so weiter. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß man mit Nicht-Dinosauriern so plaudern konnte, ich blieb auf der Hut und fast stumm.
»Ich komme immer zum Trinken hierher«, sagte sie, »zum Dinosaurier …«
Ich zuckte zusammen und riß die Augen auf.
»Ja, ja, so nennen wir hier diese Quelle, die Quelle des Dinosauriers, seit alters her. Es heißt, ein Dinosaurier hätte sich hier einst versteckt gehalten, einer der letzten, und immer wenn jemand zum Trinken herkam, fiel er über ihn her und riß ihn in Stücke, du meine Güte!«
Ich hätte in den Boden versinken können. Gleich wird ihr aufgehen, wer ich bin, dachte ich, gleich wird sie mich genauer ansehen und mich erkennen! Und wie man es macht, wenn man nicht erkannt werden will, schlug ich die Augen nieder und ringelte mir den Schwanz um den Leib, wie um ihn zu verstecken. Es war ein solcher Nervenstreß, daß ich, als sie schließlich mit einem strahlenden Lächeln »Tschüs« sagte und ihrer Wege ging, mich so erschöpft fühlte, wie wenn ich eine Schlacht überstanden hätte, eine aus jener Zeit, als wir uns noch mit Zähnen und Klauen verteidigen mußten. Voller Scham bemerkte ich, daß ich nicht einmal fähig gewesen war, ihren Abschiedsgruß zu erwidern.
Ich gelangte zum Ufer eines Flusses, wo die Neuen ihre Höhlen hatten. Sie lebten anscheinend vom Fischfang. Um eine Ausbuchtung im Fluß zu erzeugen, in der das Wasser langsamer fließen und die Fische zurückhalten würde, bauten sie gerade ein Wehr aus Ästen und Zweigen. Kaum erblickten sie mich, hoben sie die Köpfe von ihrer Arbeit und hielten inne. Sie sahen mich an, sie sahen einander an, schweigend, wie um zu beraten. »Das wär’s dann wohl«, dachte ich, »jetzt bleibt mir nur noch, mein Leben teuer zu verkaufen!« Und ich setzte zum Sprunge an.
Zum Glück konnte ich mich gerade noch rechtzeitig bremsen. Diese Fischer hatten nichts gegen mich. Sie sahen, wie stark ich war, und wollten mich fragen, ob ich nicht bei ihnen bleiben könnte, um ihnen beim Holztransport zu helfen.
»Die Gegend hier ist sicher«, beteuerten sie, als sie meine verblüffte Miene sahen. »Dinosaurier hat man hier seit den Zeiten der Großeltern unserer Großeltern nicht mehr gesehen …«
Keinem von ihnen kam ein Verdacht, was für einer ich war. So blieb ich. Das Klima war gut, das Essen nicht gerade nach unserem Geschmack, aber anständig, und die Arbeit nicht übermäßig schwer für einen mit meiner Kraft. Sie nannten mich mit einem Spitznamen: »Der Häßliche«, aber bloß, weil ich anders als sie war. Diese Neuen — ich weiß ja nicht, wie ihr sie nennt, Pantotherier oder so ähnlich — waren eine noch etwas formlose Spezies; faktisch gingen dann später alle übrigen Arten aus ihnen hervor, aber schon damals gab es zwischen den einzelnen Individuen alle möglichen Ähnlichkeiten und Unterschiede, so daß ich, obwohl vom Typ her ganz anders, mir schließlich doch sagen mußte, daß ich im Grunde eigentlich gar nicht besonders auffiel.
Nicht daß ich mich völlig an den Gedanken gewöhnte. Ich fühlte mich immer noch als ein Dinosaurier unter Feinden, und jeden Abend, wenn sie anfingen, sich ihre von Generation zu Generation überlieferten Dinosauriergeschichten zu erzählen, trat ich nervös zurück in den Schatten.
Es waren schreckliche Geschichten. Die Zuhörer hingen bleich und alle naselang in Entsetzensschreie ausbrechend an den Lippen dessen, der gerade erzählte, wobei seine Stimme eine nicht geringere Erregung verriet. Bald wurde mir klar, daß es Geschichten waren, die alle längst kannten (obwohl sie ein recht umfangreiches Repertoire darstellten), die aber, wenn man sie hörte, ihren Schrecken jedesmal neu verbreiteten. Wir Dinosaurier erschienen darin wie lauter Ungeheuer, ausgestattet mit Zügen, an denen man niemals einen von uns erkannt hätte, und immerzu nur darauf aus, den Neuen zu schaden, als ob diese Neuen von Anfang an die wichtigsten Erdenbewohner gewesen wären und wir nichts andres zu tun gehabt hätten, als ihnen von morgens bis abends nachzustellen. Für mich dagegen hieß das Zurückdenken an uns Dinosaurier, mir eine lange Kette von Nöten, Todeskämpfen und Trauer ins Gedächtnis zu rufen; die Geschichten, die sich diese Neuen von uns erzählten, hatten so wenig mit meiner Erfahrung zu tun, daß sie mich eigentlich hätten kaltlassen müssen, als handelten sie von Fremden, Unbekannten. Doch wenn ich die Neuen erzählen hörte, wurde mir unversehens bewußt, daß ich nie bedacht hatte, wie wir den anderen erschienen waren, ja daß sie bei all dem Unsinn, den sie in ihren Geschichten verzapften, in manchen Details und aus ihrer bestimmten Sicht doch auch etwas Wahres trafen. In meinem Kopf vermischten sich ihre Geschichten von den Greueln, die wir ihnen angetan hatten, mit meinen Erinnerungen an die von uns erlittenen Greuel, und je mehr ich erfuhr, wie sehr die anderen vor uns gezittert hatten, desto heftiger zitterte ich nun selbst.
Sie erzählten jeder reihum so eine Geschichte, und nach einer Weile hieß es dann: »Und was erzählt uns der Häßliche? Weißt du keine Geschichte? Gab es in deiner Familie keine Abenteuer mit Dinosauriern?«
»Dochdoch, aber …«, stammelte ich, »ach, das ist schon so lange her … wenn ihr wüßtet …«
Wer mir in solcher Bedrängnis zu Hilfe kam, war Farnblüte, das Mädchen von der Quelle. »Laßt ihn doch in Ruhe … Er ist fremd hier, er hat sich noch nicht eingewöhnt, er kann unsere Sprache noch nicht so gut …«
Schließlich wechselten sie das Thema. Ich atmete auf.
Zwischen Farnblüte und mir hatte sich eine gewisse Vertrautheit eingestellt. Nichts Intimes, ich hatte sie nie zu berühren gewagt. Aber wir sprachen oft miteinander. Beziehungsweise sie war es, die mir allerlei von ihrem Leben erzählte; ich dagegen, aus Furcht, mich zu verraten, einen Verdacht über meine Identität in ihr zu wecken, hielt mich eher an Allgemeinheiten. Farnblüte erzählte mir ihre Träume: »Heute nacht ist mir ein riesengroßer, schrecklicher Dinosaurier erschienen, so einer, der Feuer aus seinen Nüstern sprüht. Er kam näher, packte mich im Nacken, trug mich fort und wollte mich bei lebendigem Leibe fressen. Es war ein furchtbarer Traum, aber komischerweise hab ich mich gar nicht gefürchtet, ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll, es hat mir gefallen …«
Dieser Traum hätte mir vieles klarmachen müssen, vor allem eins: daß Farnblüte sich nichts sehnlicher wünschte, als attackiert zu werden. Es war der Moment für mich, sie zu umarmen. Doch der Dinosaurier, den sie sich vorstellte, war zu verschieden von dem Dinosaurier, der ich war, und dieser Gedanke machte mich noch verschiedener und noch schüchterner — kurz gesagt, ich versäumte eine gute Gelegenheit. Danach kam Farnblütes Bruder vom Großen Fischzug in der Ebene heim, sie wurde viel mehr überwacht, und unsere Gespräche wurden seltener.
Dieser Bruder, sein Name war Zaahn, betrachtete mich vom ersten Moment an mißtrauisch. »Und wer ist der da? Wo kommt der her?« fragte er die anderen und zeigte auf mich.
»Das ist der Häßliche, ein Fremder, er arbeitet hier im Holz«, antworteten sie. »Wieso, was ist denn so seltsam an ihm.«
»Das will ich ihn gleich mal selber fragen«, knurrte Zaahn mit finsterer Miene. »He, du, was ist eigentlich so seltsam an dir?«
Was sollte ich sagen? »An mir? Nichts.«
»Soso, du meinst also, du wärst nicht irgendwie seltsam, hä?« Er lachte. Für diesmal ließ er’s dabei bewenden, aber ich hatte kein gutes Gefühl.
Dieser Zaahn war einer der resolutesten Burschen im Dorf. Er war viel in der Welt herumgekommen und ließ die anderen spüren, daß er bedeutend mehr wußte als sie. Wenn er das Gerede über die Dinosaurier hörte, packte ihn eine gewisse Unduldsamkeit. »Märchen«, sagte er einmal, »ihr erzählt Märchen. Ich möchte euch sehen, wenn hier mal ein richtiger Dinosaurier käme.«
»Es gibt doch schon lange keine mehr hier«, warf einer der Fischer ein.
»Gar nicht so lange …«, fauchte Zaahn. »Und wer sagt euch, daß nicht hier und da noch ein Rudel die Gegend unsicher macht? Drunten in der Ebene stellen unsere Leute Tag und Nacht Wachtposten auf. Aber dort können sie sich auch aufeinander verlassen, dort nehmen sie keine Typen auf, die sie nicht kennen …«, und er warf einen langen, bedeutsamen Blick auf mich.
Es war zwecklos, die Sache hinauszuzögern; besser, er spuckte es gleich aus. Ich trat einen Schritt vor. »Hast du was gegen mich?«
»Ich hab was gegen Leute, bei denen man weder weiß, wer sie geboren hat noch wo sie herkommen, und die sich anmaßen, bei uns mitzuessen und unseren Schwestern den Hof zu machen …«
Einer der Fischer übernahm meine Verteidigung: »Der Häßliche verdient sich seinen Lebensunterhalt selbst, er arbeitet hart …«
»Stämme schleppen mag er ja können, das will ich gar nicht bestreiten«, beharrte Zaahn, »aber im Augenblick der Gefahr, wenn wir uns mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen, wer garantiert uns dann, daß er sich richtig verhält?«
Ein allgemeines Palaver begann. Das Eigenartige war, daß niemand die Möglichkeit in Betracht zog, ich könnte ein Dinosaurier sein; was man mir vorwarf, war immer nur, daß ich ein Andersartiger war, ein Fremder, also einer, dem man nicht so ganz trauen konnte; und der Streit ging nur um die Frage, inwiefern meine Anwesenheit die Gefahr einer eventuellen Rückkehr der Dinosaurier vergrößern könnte.
»Ich würde ihn gern mal kämpfen sehen, mit seiner komischen Eidechsenschnauze …«, provozierte mich Zaahn.
Ich trat schroff vor ihn hin, Nase an Nase. »Das kannst du gleich haben, wenn du nicht kneifst.«
Das hatte er nicht erwartet. Er sah sich um. Die andern bildeten einen Kreis um uns. Jetzt blieb uns nichts andres mehr übrig, als uns zu schlagen.
Ich stieß vor, wich seinem Biß mit einer Drehung des Halses aus und versetzte ihm einen Prankenhieb, der ihn auf den Rücken warf. Schon war ich über ihm. Das war ein Fehler — als hätte ich’s nicht gewußt, als hätte ich’s nicht so oft gesehen, wie sie starben, die Dinosaurier, wie sie elend verreckten an Bissen und Krallenhieben in Brust und Bauch, während sie glaubten, den Feind schon erledigt zu haben! Immerhin wußte ich noch meinen Schwanz zu gebrauchen, um mich aufrecht zu halten; ich wollte verhindern, daß Zaahn mich nun seinerseits auf den Rücken warf. Ich preßte ihn auf den Boden, spannte all meine Kräfte an, aber ich spürte, wie sie mir langsam schwanden …
Da rief plötzlich einer aus dem Publikum: »Los, gib ihm Saures, Dinosaurier!« Zu hören, daß sie mich entlarvt hatten, und wieder der alte zu werden, war eins: Wenn sowieso alles verloren war, sollten sie wenigstens noch mal richtig den Schrecken von einst wieder spüren! Ich schlug zu, einmal, zweimal, dreimal …
Wir wurden getrennt. »Siehst du, Zaahn«, riefen die andern, »wir haben’s dir ja gesagt, der Häßliche, der hat Muskeln, mit dem Häßlichen ist nicht zu spaßen!« Und sie lachten und gratulierten mir und hieben mir mit den Pfoten auf die Schultern. Ich, der ich mich entdeckt glaubte, konnte es gar nicht fassen; erst später begriff ich, daß der Zuruf »Dinosaurier« bei ihnen bloß so eine Redensart war, um die Gegner in einem Wettkampf anzufeuern, so etwas wie »Los, los, du bist der Größte!«, und es war nicht einmal sicher, ob der Zuruf mir oder Zaahn gegolten hatte.
Seit jenem Tage wurde ich allseits geachtet. Auch Zaahn lief ständig hinter mir her und ermunterte mich, neue Proben meiner Kraft abzulegen. Und ich muß sagen, sogar ihr übliches Gerede über die Dinosaurier klang jetzt ein bißchen anders, wie es geschieht, wenn man es satt hat, die Dinge immer in derselben Weise zu sehen, und die Mode sich ändert. Wenn man jetzt im Dorf etwas kritisieren wollte, sagte man, bei den Dinosauriern wären gewisse Dinge nicht vorgekommen, die Dinosaurier könnten in mancher Hinsicht als Vorbild dienen, am Verhalten der Dinosaurier in dieser oder jener Situation (zum Beispiel im Privatleben) sei nichts auszusetzen, und so weiter. Kurzum, es schien beinahe so etwas wie eine postume Bewunderung für diese Dinosaurier auszubrechen, von denen doch keiner etwas Genaues wußte.
Einmal konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: »Übertreiben wir nicht; was glaubt ihr denn, was so ein Dinosaurier schon Großes war, letzten Endes!«
Sie fielen mir ins Wort: »Sei still, was weißt denn du davon, du hast doch nie einen gesehen!«
Vielleicht war das der richtige Augenblick, um das Kind beim Namen zu nennen. »O doch, hab ich wohl!« rief ich aus. »Und wenn ihr wollt, kann ich euch auch erzählen, wie sie waren.«
Sie glaubten mir nicht; sie dachten, ich wollte sie auf den Arm nehmen. Für mich war ihre neue Art, über uns Dinosaurier zu reden, fast genauso unerträglich wie die alte. Denn schließlich — ungeachtet meines Schmerzes über das grausame Schicksal, das meine Gattung erlitten hatte — kannte ich das Dinosaurierleben von innen; ich wußte, was für eine Engstirnigkeit unter uns geherrscht hatte, voller Vorurteile, unfähig, sich auf neue Situationen einzustellen. Und jetzt mußte ich erleben, wie diese Neuen sich unsere so kleine Welt als Vorbild nahmen, eine Welt, die so rückständig war, so — sagen wir’s ruhig — langweilig! Ausgerechnet von ihnen sah ich mir plötzlich eine Art heiligen Respekt vor meiner Gattung aufgenötigt, den ich selbst nie empfunden hatte! Aber im Grunde war es ganz richtig so: Was hatten sie denn schon den Dinosauriern der großen Zeiten voraus, diese Neuen? Abgekapselt in ihren Dörfern, mit ihren Dämmen und Fischtümpeln, hatten auch sie sich eine gewisse Aufgeblasenheit zugelegt, einen gewissen Dünkel … Manchmal empfand ich ihnen gegenüber den gleichen Widerwillen wie einst gegenüber meinem Milieu, und je mehr ich sie nun die Dinosaurier bewundern hörte, desto mehr verabscheute ich die Dinosaurier und sie allesamt miteinander.
»Weißt du was, heute nacht hab ich geträumt, daß vor meinem Haus ein Dinosaurier vorbeikommen sollte«, erzählte mir Farnblüte, »ein herrlicher Dinosaurier, ein Prinz oder König der Dinosaurier. Ich machte mich schön, schlang mir ein Band um den Kopf und schaute zum Fenster hinaus. Ich versuchte, den Blick des Dinosauriers auf mich zu lenken, verneigte mich vor ihm, aber er schien mich nicht einmal zu bemerken, er würdigte mich keines Blickes …«
Dieser Traum gab mir einen neuen Schlüssel zum Verständnis der Gefühle, die Farnblüte mir gegenüber empfand. Sie mußte meine Schüchternheit für hochmütige Verachtung gehalten haben. Heute, wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar, daß es genügt hätte, nur noch ein Weilchen in jener Haltung zu verharren, eine herablassende Distanz an den Tag zu legen, und ich hätte das Mädchen ganz erobert. Statt dessen rührte mich ihre Eröffnung so sehr, daß ich ihr zu Füßen fiel und sie mit Tränen in den Augen beschwor: »Nein, nein, Farnblüte, es ist nicht so, wie du glaubst, du bist besser als jeder Dinosaurier, hundertmal besser, und ich fühle mich dir tief unterlegen …«
Sie erstarrte und wich einen Schritt zurück. »Was redest du da?«
Nicht das war es, was sie erwartet hatte; sie war verwirrt und fand die Szene ein bißchen peinlich. Ich begriff es zu spät. Rasch stand ich wieder auf, doch von nun an war das Klima zwischen uns etwas getrübt.
Mir blieb jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken, bei allem, was bald darauf geschah. Keuchende Boten erreichten das Dorf: »Die Dinosaurier kehren zurück!« — Eine Horde unbekannter Ungetüme war gesichtet worden, sie galoppierten wild durch die Steppe. Wenn sie im gleichen Tempo näher kamen, würden sie schon am nächsten Morgen in aller Frühe das Dorf überrennen. Man schlug Alarm.
Ihr könnt euch vorstellen, was für einen Gefühlsaufruhr diese Nachricht in meiner Brust auslöste: Also war meine Gattung nicht ausgestorben, ich konnte mich wieder mit meinen Brüdern vereinigen und das Leben von einst wiederaufnehmen! Doch was mir als Erinnerung an das Leben von einst in den Sinn kam, war nur die endlose Kette von Niederlagen, ständiger Flucht und Gefahr; das Leben von einst wiederaufnehmen hieß vielleicht nur, diese Agonie ein kleines Stück zu verlängern, zurückzukehren zu einer Phase, die ich bereits überwunden wähnte. Inzwischen hatte ich hier in dem Dorf zu einer Art neuer Ruhe gefunden, die ich ungern wieder verlor.
Auch die Neuen wurden von gegensätzlichen Gefühlen zerrissen. Zum einen von Panik, zum anderen vom Verlangen, über den alten Feind zu siegen, und schließlich von dem Gedanken, daß, wenn die Dinosaurier überlebt hatten und nun zur Rache schritten, dies nur bedeuten konnte, daß niemand sie aufzuhalten vermochte und daß ihr Sieg, wenn auch gnadenlos, am Ende womöglich ein Segen für alle sein würde. Kurzum, die Neuen wollten gleichzeitig kämpfen, fliehen, den Feind vernichten und sich ihm unterwerfen, und diese Zerrissenheit spiegelte sich im Durcheinander ihrer Verteidigungsvorbereitungen.
»Alle mal herhören!« schrie Zaahn. »Es gibt unter uns nur einen, der das Kommando übernehmen kann, nämlich der Stärkste von allen: der Häßliche!«
»Ja, ja, der Häßliche soll uns führen«, riefen alle im Chor. »Ja, das Kommando dem Häßlichen!« Und sie unterstellten sich meinem Befehl.
»Aber nein, nicht doch, wieso denn grad ich, ein Fremder, ich bin wirklich der letzte …«, wehrte ich ab, doch es half nichts, ich konnte sie nicht davon abbringen.
Was sollte ich tun? In jener Nacht bekam ich kein Auge zu. Die Stimme des Blutes gebot mir zu desertieren und mich mit meinen Brüdern zusammenzutun; zugleich verlangte die Loyalität gegenüber den Neuen, die mich aufgenommen und beköstigt hatten und mir vertrauten, daß ich mich als einen der ihren betrachtete; überdies war mir klar: weder die Dinosaurier noch die Neuen verdienten, daß man auch nur einen Finger für sie rührte. Denn wenn die Dinosaurier nun versuchten, ihre Herrschaft mit Hilfe von Invasionen und Massakern wiederaufzurichten, hatten sie ganz offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt und sozusagen nur aus Versehen überlebt. Und daß die Neuen mir das Kommando anvertraut hatten, war ganz klar einfach nur die bequemste Lösung für sie gewesen — nämlich die ganze Verantwortung auf einen Außenseiter zu schieben, der ebensogut ihr Retter sein konnte wie im Falle der Niederlage ein Sündenbock, den man dem Feind überantworten konnte, um ihn zu besänftigen, oder auch ein Verräter, der, indem er sie dem Feind auslieferte, ihren uneingestandenen Wunsch nach Beherrschung durch die Dinosaurier erfüllte. Kurz gesagt, ich wollte nichts davon wissen, weder von den einen noch von den andern; sollten sie sich doch gegenseitig zerfleischen, mir konnten sie alle egal sein! Ich mußte so schnell wie möglich verschwinden, sie in ihrem eigenen Saft schmoren lassen, ich hatte nichts mehr mit all diesen alten Geschichten zu tun.
Noch in derselben Nacht schlich ich im Schutze der Dunkelheit aus dem Dorf. Mein erster Gedanke war, mich so weit wie möglich vom Schlachtfeld zu entfernen, in meine geheimen Zufluchtsstätten zurückzukehren; doch die Neugier war größer — es drängte mich, meinesgleichen wiederzusehen und zu erfahren, wer den Sieg davontragen würde. So versteckte ich mich auf einem Felsen, der die Flußbiegung überragte, und wartete auf die Morgendämmerung.
Mit dem ersten Licht erschienen am Horizont Gestalten. Sie preschten zum Angriff heran. Noch ehe ich sie genauer sah, konnte ich definitiv ausschließen, daß je ein Dinosaurier sich mit so wenig Anmut bewegen würde. Als ich sie dann erkannte, wußte ich nicht, ob ich lachen oder mich schämen sollte. Nashörner, eine der ersten Herden, große plumpe, ungeschlachte Geschöpfe, gepanzert mit dicken Hornplatten, aber im Grunde harmlos, nur darauf aus, das niedere Steppengras abzuweiden. Und die hatte man mit den einstigen Herren der Erde verwechselt!
Die Herde kam mit Donnergetöse herangaloppiert, hielt inne, um ein paar Grasbüschel abzurupfen, und polterte wieder davon Richtung Horizont, ohne die Verteidigungsbauten der Fischer überhaupt wahrgenommen zu haben.
Ich eilte zurück ins Dorf. »Ihr habt nichts begriffen, das waren gar keine Dinosaurier!« rief ich. »Nashörner waren das! Sie sind schon wieder auf und davon. Keine Gefahr mehr!« Und ich fügte hinzu, um meine nächtliche Exkursion zu rechtfertigen: »Ich war draußen, um zu rekognoszieren … Um die Lage zu erkunden und euch Bericht zu erstatten.«
»Wir haben vielleicht nicht begriffen, daß es keine Dinosaurier waren«, sagte Zaahn kühl, »aber wir haben begriffen, daß du kein Held bist.« Sprach’s und drehte mir den Rücken zu.
Natürlich, sie waren enttäuscht — von den Dinosauriern, von mir. Jetzt wurden ihre Dinosauriergeschichten Witze, in denen die schrecklichen Ungeheuer als lächerliche Figuren erschienen. Ich fühlte mich nicht mehr tangiert von dieser ihrer Kleingeisterei. Jetzt wußte ich die Seelengröße zu schätzen, die uns bewogen hatte, lieber unterzugehen als eine Welt zu bewohnen, die nicht mehr die unsere war. Wenn ich überlebt hatte, so nur, damit wenigstens ein Dinosaurier sich noch als solcher fühlen konnte inmitten all dieser Wichte, die mit banalem Gespött ihre Angst zu bemänteln suchten, von der sie noch immer beherrscht waren. Und welche andere Wahl hätten die Neuen denn auch gehabt als die Wahl zwischen Spott und Angst?
Farnblüte offenbarte mir jedoch eine andere Haltung, als sie mir folgenden Traum erzählte: »Da war so ein komischer Dinosaurier, der war ganz grün, und alle machten sich über ihn lustig und zogen ihn am Schwanz. Da bin ich hingegangen und hab ihn in Schutz genommen, hab ihn weggebracht und gestreichelt. Und auf einmal ist mir klargeworden, daß er in seiner ganzen Lächerlichkeit das traurigste aller Geschöpfe war, und aus seinen gelbroten Augen floß ein Strom von Tränen.«
Was war es, das mich bei diesen Worten überkam? Widerwille, mich mit ihren Traumbildern zu identifizieren, Ablehnung eines Gefühls, das offenbar bloß noch Mitleid war, Ärger über die geringschätzige Meinung, die alle jetzt von der dinosaurischen Würde hatten? In einem Anfall von Hochmut richtete ich mich auf und warf ihr verächtlich hin: »Was ödest du mich dauernd mit deinen Träumen an, die immer kindischer werden! Kannst du nichts anderes träumen als sentimentalen Schwachsinn?«
Farnblüte brach in Tränen aus. Ich zuckte die Achseln und ließ sie stehen.
Die Szene hatte sich auf dem Damm zugetragen, wir waren nicht allein gewesen; die Fischer hatten zwar unser Gespräch nicht gehört, wohl aber meinen Ausbruch und die Tränen des Mädchens gesehen.
Zaahn fühlte sich verpflichtet einzuschreiten. »Für wen hältst du dich eigentlich?« fuhr er mich an. »Wie kannst du es wagen, meine Schwester zu beleidigen!«
Ich blieb stehen und sah ihn schweigend an. Wenn er sich schlagen wollte, bitte sehr, ich war bereit. Doch der Stil des Dorfes hatte sich in der letzten Zeit verändert: man machte sich jetzt einen Jux aus allem. Jemand aus der Gruppe der Fischer rief mit Fistelstimme: »Ach geh schon, geh, Dinosaurier!« Es war, ich wußte es, bloß so eine scherzhafte Redewendung, die neuerdings in Mode gekommen war, sowas wie »Nun mal langsam, plustere deinen Kamm nicht so auf« oder so. Aber mir ließ sie das Blut aufwallen.
»Jawohl, ich bin einer, wenn ihr’s wissen wollt«, schrie ich, »ein Dinosaurier, ganz genau! Wenn ihr noch nie einen Dinosaurier gesehen habt, bitte sehr, seht mich an!«
Ein allgemeines Gelächter brach aus.
»Gestern habe ich einen gesehen«, sagte da plötzlich ein Alter. »Er ist aus dem Schnee gekommen.« Sofort verstummten alle ringsum.
Der Alte kam gerade aus einem Dorf in den Bergen zurück. Das Tauwetter habe einen Gletscher schmelzen lassen, berichtete er, und da sei das Skelett eines Dinosauriers zum Vorschein gekommen.
Die Neuigkeit verbreitete sich im Nu durch das Dorf. »Los, gehn wir den Dinosaurier begucken!« Alle rannten hinauf in die Berge, und ich mit ihnen.
Nachdem wir eine Moräne aus Geröll, entwurzelten Bäumen, Schlamm und toten Vögeln überwunden hatten, tat sich vor uns eine Talmulde auf. Ein erster Schleier von grünen Flechten überzog die vom Eise befreiten Felsen. Mitten in der Mulde, langgestreckt wie im Schlaf, der Hals noch verlängert durch die Leerräume zwischen den Wirbeln, der Schwanz hingestreut in einer langen Schlangenlinie, lag das Skelett eines riesigen Dinosauriers. Der Brustkorb wölbte sich wie ein Segel, und wenn der Wind zwischen die flachen Rippen fuhr, schien es, als schlüge darin noch ein unsichtbares Herz. Der Schädel lag verdreht, das Maul aufgerissen wie zu einem letzten Schrei.
Die Neuen stießen ein Freudengeheul aus und rannten hin; vor dem Schädel angelangt, fühlten sie sich von den leeren Augenhöhlen fixiert und verharrten stumm in ein paar Schritten Entfernung; dann machten sie kehrt und stimmten wieder ihr albernes Freudengeheul an. Hätte nur einer von ihnen den Blick von dem Skelett zu mir gewandt, während ich reglos danebenstand und es betrachtete, er hätte sofort bemerkt, daß wir in allem einander glichen. Doch keiner tat es. Jene Gebeine, jenes Gebiß, jene mörderischen Pranken sprachen nur noch eine tote, längst unverständlich gewordene Sprache, sie sagten keinem mehr etwas — bis auf jenen unklaren alten Namen, den nichts mehr mit den Erfahrungen der Gegenwart verband.
Ich betrachtete weiter das Skelett: den Vater, den Bruder. Meinesgleichen. Mich. Ich erkannte meine vom Fleisch entblößten Glieder, meine in den Fels gegrabenen Züge, all das, was wir einst gewesen waren und nun nicht mehr waren, unsere Majestät, unsere Schuld, unsern Ruin.
Nun würden diese irdischen Reste den neuen, gedankenlosen Eroberern des Planeten als bloßer Markierungspunkt in der Landschaft dienen, sie würden das Schicksal des Namens »Dinosaurier« teilen, der zu einem vagen Klang ohne Sinn geworden war. Das durfte ich nicht zulassen! Alles, was die wahre Natur der Dinosaurier betraf, mußte verborgen bleiben. In der Nacht, während die Neuen um das Skelett herum schliefen, das sie mit kleinen Fähnchen beflaggt hatten, trug ich es Knochen für Knochen fort und begrub meinen Toten.
Am Morgen fanden die Neuen keine Spur mehr von dem Skelett. Sie zerbrachen sich aber nicht lange den Kopf darüber. Ein neues Mysterium eben, eins mehr in der langen Reihe der Geheimnisse, die sich mit den Dinosauriern verknüpften. Sie hatten es bald aus ihren Gedanken verdrängt.
In einer Hinsicht allerdings hatte das Auftauchen des Skeletts eine Spur hinterlassen, denn von nun an blieb ihre Vorstellung von den Dinosauriern mit der eines traurigen Endes verbunden, und in den Geschichten, die sie erzählten, überwog jetzt ein Ton des Bedauerns, des Mitgefühls für unsere Leiden. Ich konnte mit diesem neuen Mitleid nichts anfangen. Wieso Mitleid? Wenn je eine Gattung eine erfüllte und reiche Evolution gehabt hatte, ein langes und glückliches Herrscherleben, dann wir Dinosaurier. Unser Aussterben war ein grandioses Schlußwort gewesen, würdig unserer großen Vergangenheit. Was konnten diese Tröpfe davon schon begreifen! Immer wenn ich sie nun so rührselig über die armen Dinosaurier reden hörte, kam mich die Lust an, sie auf den Arm zu nehmen und ihnen ganz unwahrscheinliche Lügengeschichten zu erzählen. Die Wahrheit über die Dinosaurier würden sie ohnehin nicht mehr verstehen, sie war ein Geheimnis, das ich ganz für mich allein hüten würde.
Eine Truppe von Landstreichern kam ins Dorf. Unter ihnen war auch ein junges Weibchen. Ich stutzte, als ich sie sah. Wenn mich meine Augen nicht täuschten, hatte sie in den Adern nicht nur das Blut der Neuen: Sie war eine Mulattin, eine dinosaurische Mulattin! Ob sie es wußte? Nein, sicher nicht, so unbefangen, wie sie sich bewegte. Vielleicht nicht einer ihrer Eltern, aber einer ihrer Großeltern oder Urgroßeltern oder Ururgroßeltern war bestimmt ein Dinosaurier gewesen, und nun schlugen die charakteristischen Merkmale, die Bewegungen unserer Rasse bei ihr mit einer fast unverschämten Offenheit wieder durch, wenn auch für niemanden mehr erkennbar, nicht einmal für sie selbst. Sie war ein anmutiges, fröhliches Kind; sie hatte sofort einen Schwarm von Verehrern in ihrem Gefolge, und der hartnäckigste und am meisten in sie vernarrte war Zaahn.
Es wurde Sommer. Die Dorfjugend gab ein Fest am Ufer des Flusses. »Komm doch mit!« lud mich Zaahn ein, der nach all den Streitigkeiten jetzt meine Freundschaft suchte; gleich darauf war er schon wieder im Wasser bei der Mulattin.
Ich trat zu Farnblüte. Vielleicht war der Moment gekommen, uns einmal auszusprechen und zu einer Verständigung zu gelangen. »Was hast du letzte Nacht geträumt?« fragte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Sie ließ den Kopf hängen. »Ich hab einen verwundeten Dinosaurier gesehen, der sich im Todeskrampf wand. Er neigte das edle, feine Haupt und litt unsäglich … Ich sah ihm zu, ich konnte die Augen nicht von ihm abwenden, und da merkte ich, daß es mir ein geheimes Vergnügen machte, ihn leiden zu sehen …«
Farnblüte hatte einen harten, bösen Zug um den Mund, wie ich ihn noch nie bei ihr gesehen hatte. Ich wollte ihr lediglich zeigen, daß ich mit ihren zwiespältigen Gefühlen nichts zu tun hatte — ich war einer, der sein Leben genoß, der Erbe einer glücklichen Rasse! So begann ich um sie herumzutänzeln und spritzte sie naß, indem ich mit dem Schwanz ins Wasser schlug.
»Du kannst immer nur Trübsal blasen!« sagte ich leichthin. »Hör endlich auf damit. Komm, laß uns tanzen!«
Sie verstand mich nicht. Sie zog eine Grimasse.
»Wenn du nicht mit mir tanzen willst, tanze ich eben mit einer anderen«, rief ich, schnappte mir die Mulattin an einer Pfote und zog sie davon, direkt vor Zaahns Nase. Der war so sehr damit beschäftigt, sie verliebt anzuhimmeln, daß er zuerst nur blöde hinter uns herglotzte. Dann packte ihn die Eifersucht, aber zu spät: Wir waren schon mitten im Fluß, die Mulattin und ich, wir schwammen ans andere Ufer hinüber und versteckten uns dort im Gebüsch.
Vielleicht wollte ich Farnblüte nur einmal zeigen, wer ich wirklich war, ihr die falschen Vorstellungen austreiben, die sie sich dauernd von mir machte. Und vielleicht war ich auch von einem alten Groll auf Zaahn erfüllt und wollte seine neuen Freundschaftsangebote demonstrativ zurückweisen. Oder es waren vielleicht auch vor allem die vertrauten und doch ungewohnten Formen der Mulattin, die mir den Wunsch nach einer natürlichen, unmittelbaren Beziehung eingaben, ohne Hintergedanken und ohne Erinnerungen.
Die Karawane der Landstreicher wollte am nächsten Morgen weiterziehen. Die Mulattin willigte ein, die Nacht mit mir im Gebüsch zu verbringen. Wir liebten uns bis zum Morgengrauen.
Dies waren jedoch nur flüchtige Episoden eines ansonsten ruhigen und ereignisarmen Lebens. Ich hatte die Wahrheit über mich und über die Ära unserer Herrschaft in Schweigen getaucht. Von den Dinosauriern sprach man inzwischen kaum noch; vielleicht glaubte niemand mehr, daß sie je existiert hatten. Auch Farnblüte hatte aufgehört, von ihnen zu träumen.
Als sie mir eines Tages erzählte: »Ich hab geträumt, daß in einer Höhle einer hockte, der war der einzige Überlebende einer Gattung, deren Namen niemand mehr kannte, und da bin ich hingegangen, um ihn danach zu fragen, und es war dunkel, und ich wußte, daß er da war, aber ich konnte ihn nicht sehen, und ich wußte genau, wer er war und wie er aussah, aber ich hätt’s nicht sagen können, und ich kapierte nicht, ob er es war, der auf meine Fragen antwortete, oder ich auf die seinen …«, da nahm ich’s als Zeichen dafür, daß endlich ein liebendes Einverständnis zwischen uns begonnen hatte, wie ich es mir gewünscht hatte seit dem Tage, als ich das erste Mal an die Quelle getreten war und noch nicht wußte, ob es mir vergönnt sein würde zu überleben.
Seit damals hatte ich vieles gelernt, vor allem jedoch die Art und Weise, wie Dinosaurier siegen. Zuvor hatte ich immer geglaubt, das Verschwinden sei für meine Brüder die großmütige Hinnahme einer Niederlage gewesen; jetzt wußte ich, daß die Dinosaurier, je mehr sie verschwinden, desto mehr ihre Herrschaft erweitern, und zwar über viel grenzenlosere Wälder als jene, welche die Kontinente bedecken: im Gewirr der Gedanken jener, die weiterleben. Aus dem Halbschatten der Ängste und Zweifel unwissender Geschlechter hatten sie weiter die Hälse hervorgereckt und die klauenbewehrten Tatzen erhoben, und noch als der letzte Schatten ihres Bildes verblaßt war, hatte ihr Name weiterhin alle Bedeutungen überlagert und ihre Präsenz in den Beziehungen zwischen den Lebenden fortdauern lassen. Jetzt, da nun auch ihr Name verblaßt war, würden sie eins werden mit den stummen und anonymen Prägemustern des Denkens, durch welche die gedachten Dinge Form und Substanz gewinnen — bei den Neuen und bei denen, die nach den Neuen kommen würden, und bei deren Nachkommen.
