Die unsichtbaren Städte - Italo Calvino - E-Book

Die unsichtbaren Städte E-Book

Italo Calvino

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Beschreibung

Marco Polo berichtet von unerhörten, rätselhaften, von unsichtbaren Städten, in denen sich unendlich viele Wünsche und Ängste verkörpern: von Perinthia, das exakt nach den Berechnungen der Astronomen erbaut wurde, und heute einem Moloch gleicht; von Armilla, der angeblich verlassenen Stadt, die aber doch noch voller junger schöner Frauen ist. Mit ihrer phantastischen Atmosphäre, mit ihren kunstvoll arrangierten Labyrinthen, mit ihren unendlichen Variationsmöglichkeiten zählen "Die unsichtbaren Städte" zu Italo Calvinos größten Werken.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Die unsichtbaren Städte« von Italo Calvino

Über das Buch

Marco Polo berichtet von unerhörten, rätselhaften, von unsichtbaren Städten, in denen sich unendlich viele Wünsche und Ängste verkörpern: von Perinthia, das exakt nach den Berechnungen der Astronomen erbaut wurde, und heute einem Moloch gleicht; von Armilla, der angeblich verlassenen Stadt, die aber doch noch voller junger schöner Frauen ist. Mit ihrer phantastischen Atmosphäre, mit ihren kunstvoll arrangierten Labyrinthen, mit ihren unendlichen Variationsmöglichkeiten zählen »Die unsichtbaren Städte« zu Italo Calvinos größten Werken.

Italo Calvino

Die unsichtbaren Städte

Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber

Carl Hanser Verlag

I

Nicht daß Kublai Khan alles glaubt, was Marco Polo sagt, wenn er ihm die Städte beschreibt, die er auf seinen Inspektionsreisen besucht hat, aber gewiß hört der Tartarenkaiser dem jungen Venezianer mit größerer Neugier und Aufmerksamkeit zu als jedem anderen seiner Gesandten oder Kundschafter. Es gibt im Leben der Kaiser einen Moment, nach dem Stolz auf die endlose Weite der Territorien, die wir erobert haben, nach der Melancholie und dem tröstlichen Wissen, daß wir bald darauf verzichten werden, sie kennenzulernen und zu verstehen; ein Gefühl wie von Leere, das uns eines Abends ergreift, zusammen mit dem Geruch von Elefanten nach dem Regen und von Sandelholzasche, die in den Feuerbecken erkaltet; ein Schwindelanfall, der die gemalten Flüsse und Berge auf dem rotbraunen Rücken der Planisphären erbeben läßt, der die Depeschen durcheinanderwirbelt, die uns das Zusammenbrechen der feindlichen Heere von Niederlage zu Niederlage vermelden, und der die wächsernen Siegel obskurer Könige aufbricht, die um den Schutz unserer vorgerückten Armeen bitten, im Tausch gegen jährliche Tributzahlungen in Edelmetallen, gegerbten Fellen und Schildkrötenpanzern. Es ist der verzweifelte Augenblick, wenn wir entdecken, daß dieses Reich, das uns als die Summe aller Wunder erschienen war, ein einziger Ver- und Zerfall ohne Ende und Form ist, daß seine Verrottung zu tief ansetzt, als daß unser Zepter sie noch aufhalten könnte, daß der Triumph über die feindlichen Herrscher uns zu Erben ihres langen Niederganges gemacht hat. Nur in den Berichten von Marco Polo vermochte Kublai Khan durch die zum Einsturz bestimmten Mauern und Türme hindurch das Filigran eines Musters zu erkennen, so fein, daß es dem Biß der Termiten entging.

Die Städte und die Erinnerung

1

Geht man von dort aus drei Tage gen Morgen, so gelangt man nach Diomira, einer Stadt mit sechzig silbernen Kuppeln, Bronzestatuen aller Götter, zinngepflasterten Straßen, einem kristallenen Theater und einem goldenen Hahn, der jeden Morgen auf einem Turm kräht. All diese Schönheiten kennt der Reisende schon, da er sie auch in anderen Städten gesehen hat. Die Besonderheit dieser Stadt ist jedoch, daß den, der eines Abends im September hier eintrifft, wenn die Tage kürzer werden und die bunten Lampen alle gleichzeitig über den Türen der Garküchen aufleuchten und eine Frauenstimme auf einer Terrasse »Huch!« ruft, unwillkürlich der Neid auf diejenigen überkommt, die nun glauben, sie hätten schon einmal solch einen Abend wie diesen erlebt und seien damals glücklich gewesen.

Die Städte und die Erinnerung

2

Den Mann, der lange durch wilde Gegenden reitet, überkommt die Sehnsucht nach einer Stadt. Endlich gelangt er nach Isidora, wo die Paläste Wendeltreppen mit Meermuschelbesatz haben, wo man kunstgerecht Ferngläser und Geigen herstellt, wo der Fremde, wenn er sich zwischen zwei Frauen nicht entscheiden kann, stets eine dritte trifft und wo die Hahnenkämpfe in blutige Schlägereien zwischen den Wettenden ausarten. An all dies hatte er gedacht, als er sich nach einer Stadt sehnte. Isidora ist also die Stadt seiner Träume — mit einem Unterschied: Die geträumte Stadt enthielt ihn als jungen Mann, nach Isidora gelangt er in fortgeschrittenem Alter. Auf dem Platz ist das Mäuerchen mit den Alten, die der vorübergehenden Jugend nachschauen; er setzt sich zu ihnen. Die Wünsche sind schon Erinnerungen.

Die Städte und der Wunsch

1

Über die Stadt Dorothea kann man auf zweierlei Weise sprechen: Man kann sagen, daß sich vier Türme aus Aluminium auf ihren Mauern erheben, die sieben Tore flankieren, von denen Zugbrücken über den Graben gehen, dessen Wasser vier grüne Kanäle speist, welche die Stadt durchziehen und sie in neun Viertel teilen, deren jedes dreihundert Häuser und siebenhundert Rauchfänge hat; und man kann hinzufügen, daß die heiratsfähigen Mädchen jedes Viertels junge Männer aus anderen Vierteln heiraten und daß ihre Familien die Waren austauschen, die jede von ihnen allein besitzt — Bergamotten, Störrogen, Astrolabien, Amethyste —, und man kann Berechnungen auf der Grundlage dieser Daten anstellen, bis man von der Stadt alles weiß, was man von ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wissen will. Oder man kann sagen, wie der Kameltreiber, der mich hingebracht hatte: »Ich kam in früher Jugend hierher, es war ein Morgen, viele Leute eilten durch die Straßen zum Markt, die Frauen hatten schöne Zähne und sahen einem direkt in die Augen, auf einem Podium spielten drei Soldaten Trompete, überall ringsum drehten sich Räder und flatterten bunte Schriftbänder. Vorher hatte ich nichts als die Wüste und die Karawanenpisten gekannt. An jenem Morgen in Dorothea spürte ich, daß es im Leben nichts Schönes gab, was ich mir nicht erwarten durfte. In späteren Jahren haben meine Augen dann wieder die Weiten der Wüste und die Pisten der Karawanen betrachtet; aber nun weiß ich, daß dies nur einer der vielen Wege ist, die sich mir an jenem Morgen in Dorothea auftaten.«

Die Städte und die Erinnerung

3

Vergeblich, großherziger Kublai, werde ich versuchen, dir die Stadt Zaira mit ihren hohen Bastionen zu beschreiben. Ich könnte dir sagen, wie viele Stufen die treppenförmigen Straßen haben, welche Wölbung die Bögen der Arkaden, mit was für Zinkplatten die Dächer gedeckt sind; aber ich weiß schon, daß es so wäre, als würde ich dir nichts sagen. Nicht daraus besteht die Stadt, sondern aus Beziehungen zwischen den Maßen ihres Raumes und den Ereignissen ihrer Vergangenheit: die Höhe einer Straßenlaterne und der Abstand vom Boden bis zu den baumelnden Füßen eines erhängten Usurpators; der von der Laterne zur gegenüberliegenden Brüstung gespannte Draht und die Girlanden, die den Weg des Hochzeitszuges der Königin schmücken; die Höhe jener Brüstung und der Sprung des Ehebrechers, der sich im Morgengrauen über sie schwingt; die Neigung einer Dachtraufe und die darauf balancierende Katze, die ins selbe Fenster schlüpft; die Schußlinie des plötzlich hinter dem Kap aufgetauchten Kanonenbootes und die Granate, die das Dach zerstört; die Risse in den Fischernetzen und die drei auf der Mole sitzenden Alten, die sich beim Netzeflicken zum hundertsten Mal die Geschichte vom Kanonenboot des Usurpators erzählen, der, wie es heißt, ein uneheliches Kind der Königin gewesen und in Windeln hier auf der Mole ausgesetzt worden sein soll.

Mit dieser Welle, die aus den Erinnerungen zurückfließt, saugt die Stadt sich voll wie ein Schwamm und breitet sich aus. Eine Beschreibung von Zaira, wie es heute ist, müßte die ganze Vergangenheit von Zaira enthalten. Aber die Stadt erzählt ihre Vergangenheit nicht, sie enthält sie wie die Linien einer Hand, eingeschrieben in die Ränder der Straßen, die Gitter der Fenster, die Handläufe der Treppengeländer, die Antennen der Blitzableiter, die Masten der Fahnen, jedes Segment seinerseits schraffiert von Kratzern, Sägespuren, Kerben und Schlägen.

Die Städte und der Wunsch

2

Am Abend des dritten Tages, geht man gen Mittag, gelangt man nach Anastasia, eine Stadt, die von konzentrischen Kanälen durchzogen und von Papierdrachen überflogen wird. Ich müßte nun die Waren aufzählen, die man hier günstig einkaufen kann: Achat, Onyx, Chrysopras und andere Arten von Chalzedon; das Fleisch des Goldfasans loben, der hier auf der Flamme von altem Kirschbaumholz gebraten und mit viel wildem Majoran bestreut wird; von den Frauen sprechen, die ich baden sah im Bassin eines Gartens und die manchmal — so heißt es — den Passanten einladen, sich mit ihnen zu entkleiden und im Wasser nach ihnen zu haschen. Doch mit alledem würde ich dir nichts über das wahre Wesen der Stadt erzählen; denn während die Beschreibung von Anastasia nur die Wünsche einen nach dem anderen weckt und dich damit zwingt, sie zu unterdrücken, kommen dir, wenn du dich eines Morgens mitten in Anastasia befindest, die Wünsche alle auf einmal und umringen dich. Die Stadt erscheint dir als ein Ganzes, in dem kein Wunsch verlorengeht und von dem du selbst ein Teil bist, und da sie über alles verfügt, was dir fehlt, bleibt dir nichts anderes übrig, als diesen Wunsch zu bewohnen und dich damit zu begnügen. Solch eine Macht, die bald böse, bald gut genannt wird, hat Anastasia, die trügerische Stadt: Wenn du acht Stunden am Tag als Achat-, Onyx- und Chrysoprasschneider arbeitest, nimmt deine Mühe, die dem Wunsch Form gibt, selber die Form des Wunsches an, und du glaubst, über ganz Anastasia zu verfügen, während du nichts anderes bist als ihr Sklave.

Die Städte und die Zeichen

1

Man wandert tagelang zwischen Bäumen und Steinen. Selten verweilt das Auge auf etwas und nur, wenn man es als Zeichen für etwas anderes erkannt hat: Ein Abdruck im Sand bezeugt, daß ein Tiger vorbeigekommen ist, eine Pfütze verheißt eine Wasserader, die Hibiskusblüte das Ende des Winters. Alles andere ist stumm und austauschbar; Bäume und Steine sind nur, was sie sind.

Schließlich führt die Reise zur Stadt Tamara. Man betritt sie durch Straßen voller Hinweisschilder, die an den Mauern prangen. Das Auge sieht keine Dinge, sondern Figuren von Dingen, die andere Dinge bedeuten: Die Zange bezeichnet das Haus des Zahnziehers, der Pokal die Taverne, die Hellebarden das Wachkorps, die Handwaage den Gemüseladen. Statuen und Wappenschilde stellen Löwen, Delphine, Türme, Sterne dar: ein Zeichen dafür, daß etwas — wer weiß was? — als sein Wappen einen Löwen oder einen Delphin oder einen Turm oder einen Stern hat. Andere Signale besagen, was an einem bestimmten Ort verboten ist — mit Karren in die Gasse hineinfahren, hinter dem Kiosk urinieren, von der Brücke aus angeln — oder was erlaubt ist — Zebras tränken, Boccia spielen, tote Verwandte verbrennen. Von den Tempeltoren aus sieht man die Statuen der Götter, jeder mit seinem Attribut dargestellt: dem Füllhorn, der Sanduhr, der Medusa, so daß der Gläubige sie erkennen und mit den richtigen Gebeten ansprechen kann. Trägt ein Gebäude keinerlei Hinweisschild oder Figur, so genügen allein seine Form und der Ort, den es im Gefüge der Stadt besetzt, um seine Funktion anzugeben: der Königspalast, das Gefängnis, die Münze, die pythagoreische Schule, das Bordell. Auch die Waren, die an den Ständen feilgeboten werden, haben ihren Wert nicht an sich, sondern als Zeichen für andere Dinge: Das bestickte Stirnband steht für Eleganz, die vergoldete Sänfte für Macht, die Averroes-Ausgabe für Gelehrtheit, das zierliche Fußkettchen für Lust. Der Blick gleitet durch die Straßen wie über beschriebene Seiten: Die Stadt sagt alles, was du denken sollst, und läßt es dich wiederholen, und während du meinst, du besuchtest Tamara, nimmst du bloß die Namen zur Kenntnis, mit denen es sich selbst und jeden seiner Teile definiert.

Wie die Stadt wirklich ist unter dieser dichten Hülle von Zeichen, was sie enthält oder verbirgt — man verläßt Tamara, ohne es je erfahren zu haben. Draußen erstreckt sich das leere Land bis zum Horizont, darüber der weite Himmel, an dem Wolken ziehen. In der Form, die Zufall und Wind den Wolken geben, möchte man schon Figuren erkennen: ein Segelschiff, eine Hand, einen Elefanten …

Die Städte und die Erinnerung

4