Dark Phantoms
Masks don’t hide
Roman
Band 2
Marina Milutinov
Impressum
Marina Milutinov
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
1. Auflage, 2025
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, ist untersagt und kann zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Personen, Handlungen und Ereignisse in diesem Buch sind frei erfunden. Reale Orte und Institutionen, die Erwähnung finden, dienen lediglich als Kulisse. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
© 2025 Marina Milutinov
Grafikdesign: Marina Milutinov
Bildmaterial: Envato und Kunstvision
Korrektorat: Selina Pierstorf
Instagram Autor: @marina.mi.autor
ISBN: 978-3-8194-2682-7
Triggerwarnung
Dieses Buch enthält Themen wie Entführung und Gewalt, die sensible Leser triggern könnten.
Altersempfehlung: ab 16 Jahren
In diesem Buch wird bewusst auf Verhütungsmittel verzichtet. Dies spiegelt jedoch nicht die Empfehlung für das reale Leben wider. Verhütung ist wichtig, um sowohl vor ungewollten Schwangerschaften als auch vor Krankheiten zu schützen.
Es endet nicht, wenn die Masken fallen – damit fängt es erst an!
1
Helena
Das ist nichts für dich, wiederholen sich Ares’ Worte immer wieder in meinen Gedanken. Nach langem Schweigen war das die Antwort auf meine Forderung, mich bei den Phantoms aufzunehmen. Auch wenn ich ihre Gesichter nicht sehen konnte, den Schock habe ich deutlich gespürt. Niemand hat erwartet, dass ich das verlangen werde.
Es fühlt sich an, als wäre ihre Präsenz noch immer im Raum spürbar. Gerade eben standen sie noch hier und verabschiedeten sich mit den Worten: Erpressung? Netter Versuch. Aber wir nehmen uns, was wir brauchen, ohne zu fragen. Sie ließen mich einfach stehen – als hätten sie die Kontrolle weiterhin fest in der Hand. Doch das haben sie nicht. Jetzt bin ich es, die die Regeln bestimmt. Maurices Plan ist aufgegangen: Die Phantoms glauben an die Existenz eines zweiten Diamanten und beginnen, an der Ehrlichkeit der Familie Jawara zu zweifeln. Auch wenn sie mich nicht ins Team aufgenommen haben … das Spiel hat begonnen.
Ich stehe im Wohnzimmer, tief in meinen Gedanken versunken, und starre aus dem Fenster. Plötzlich reißt mich ein hastiges Klopfen aus meiner Trance und lenkt meinen Blick zur Tür. Maurice!
»Ich bin sofort hergefahren, als ich deine Nachricht gelesen habe«, sagt er, als ich die Tür öffne. Er stürmt in die Wohnung und sieht sich hektisch um. Dann bleibt er mitten im Wohnzimmer stehen und sieht mich an. »Wo sind sie?«
»Weg.«
Seine warmen Hände legen sich auf meine Schultern, während seine Augen mich mustern. »Geht es dir gut? Haben sie dich verletzt?«
»Alles bestens. Wir haben nur geredet.«
»Und? Glauben sie an den zweiten Diamanten? Was denken sie über die Familie Jawara? Haben sie dich ins Team aufgenommen? Gehörst du jetzt zu ihnen?«
Ich schüttle den Kopf. »So einfach ist das nicht. Der Plan ist super und die ersten zwei Kriterien haben wir erfüllt: Sie glauben an die Existenz des zweiten Diamanten und sie sind misstrauisch gegenüber der Familie Jawara. Aber ins Team haben sie mich nicht aufgenommen – noch nicht.«
»Hast du Chancen?«
»Im Moment sieht es nicht danach aus, aber das werde ich noch ändern. Ich gebe nicht auf und ich hole den Diamanten zurück. Das ist unser Erbe und niemand wird es uns nehmen.« Diese Worte sind nicht bloß dahergeredet – ich bin davon überzeugt und ziehe es durch. Verlieren kann ich sowieso nichts mehr.
»Der erste Schritt ist getan – wir haben sie am Haken.«
Verschwörerisch lächle ich ihn an. »Jetzt müssen wir den Fisch nur noch an Land ziehen.«
Seine Mundwinkel heben sich kaum merklich, doch in seinen Augen blitzt ein amüsiertes Funkeln auf, das mir seine Zuversicht offenbart. »Das werden wir.«
Ich gehe an ihm vorbei und stelle mich wieder vor das Fenster. Mache da weiter, wo ich aufgehört habe, und mache Pläne. »Hast du den Diamanten gut versteckt?«
Maurice stellt sich neben mich. »Du meinst den Fake-Diamanten?«
»Ja, du weißt, was ich meine.«
»Das Versteck ist perfekt. Ich habe ihn …«
Prompt hebe ich meine Hand und unterbreche ihn. »Sag es mir nicht.«
»Du willst nicht wissen, wo ich ihn versteckt habe?«
Ich schließe für einen Moment die Augen und atme tief durch. »Sie haben schon einmal herausgefunden, wo das Versteck ist, und ich war die Einzige, die es gewusst hat. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber ich will nicht, dass es noch mal passiert. Es ist besser, wenn ich nicht weiß, wo er ist.«
»Okay, wenn du meinst.« Ein Zucken durchläuft seine Mundwinkel, bevor sie sich zu einem schiefen Grinsen formen. »Dann sind wir quitt.«
Meine Stirn legt sich in Falten und ich neige leicht meinen Kopf. »Was meinst du?«
»Du hast mir damals das Versteck deines Diamanten nicht verraten.«
Ich stupse ihn spielerisch mit dem Ellbogen an. »Du Scherzkeks.«
Sein Lächeln verblasst. »Wir müssen schauen, wie wir weitermachen.«
»Auch wenn die Familie Jawara meint, dass es nur einen Diamanten gibt, die Phantoms werden es hinterfragen. Das hast du selbst gesagt – immerhin ist das alles dein Plan. Sie werden wiederkommen.«
»Das weiß ich. Ich meine aber, wie wir es schaffen, dich in ihr Team zu bekommen. Nur so kommst du zum echten Diamanten.«
Zuversichtlich schaue ich ihn an. »Ich schaffe das. Vertrau mir.«
Es ist spät in der Nacht, als ich mit Naias Auto in den Wald fahre. Der Ort, an dem mein Vater den Diamanten damals versteckt hat – nur bin ich dieses Mal besser ausgerüstet. Am Straßenrand halte ich den Wagen an und steige aus. Die Dunkelheit entfaltet ihre ganze Pracht, indem sie die Sterne am Himmel strahlen lässt. Es fühlt sich an, als befände ich mich in einer Schneekugel – doch anstelle von Schnee fällt das glitzernde Licht von oben herab. Einen solchen Ausblick findet man in der Stadt niemals.
Eine sanfte Brise lässt mich den Blick von den Sternen abwenden. Ich öffne die Hintertür des Autos und hole eine dünne Jacke, Taschenlampe, Handschaufel und eine Wasserflasche heraus. Taschenlampe und Handschaufel habe ich mir extra für dieses Ereignis gekauft.
Ich verriegele das Auto und für einen kurzen Moment durchbrechen die Blinker die Dunkelheit. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die finstere Umgebung. Noch stehe ich an Ort und Stelle und versuche, jemanden zu erblicken. Ich weiß, sie beobachten mich. Ich sehe und höre zwar keinen, aber ich weiß, dass sie da sind. Immerhin habe ich etwas, was sie brauchen – jedenfalls denken sie das. Mittlerweile kenne ich sie gut genug – sie geben nie auf.
Nachdem ich niemanden entdecke, drehe ich mich um und gehe in den Wald. Ich habe mir eine bessere Taschenlampe besorgt als letztes Mal und sehe nun den Weg besser. Ich gehe weiter hinein. Nur das Blätterrascheln, Zweigknacken und meine Schritte sind zu hören. Es sieht düster aus, aber ich habe keine Angst – ich bin nicht allein.
Nach ein paar Minuten bleibe ich stehen. It’s showtime! Ich gehe in die Hocke, hole eine Schmuckbox aus meiner Jacke und fange an zu graben. Es dauert nicht lange, da nehme ich schon die erste Bewegung wahr. Jackpot! Ich stehe auf und blicke in die mir vertraute pechschwarze Maske. Sein Anblick, gehüllt in dunkle Kleidung und umgeben von der stillen Düsternis des Waldes, erinnert an eine Szene aus einem Horrorfilm. Würde ich ihm jetzt zum ersten Mal begegnen, hätte ich vermutlich das Gefühl, mein Herz würde vor Schreck stehen bleiben.
»Ich dachte, du wirst es uns nicht so einfach machen, Aphrodite.«
»Ich bin nur eine unerfahrene Postangestellte und kein Profi wie ihr.« Mein Schmunzeln unterdrücke ich.
Er streckt die Hand aus. »Gib ihn mir.«
Die Hand, in der ich die Schmuckbox halte, nehme ich schützend hinter meinen Rücken. »Ich habe euch gesagt, dass ihr den zweiten Diamanten nur bekommt, wenn ihr mich ins Team aufnehmt.«
Er lacht amüsiert auf. »Wie süß, dass du denkst, du könntest von uns etwas fordern. Schachmatt, Aphrodite – mit dem Diamanten kommst du hier nicht mehr raus.«
»Hol ihn dir.« Als er auf mich zukommt, werfe ich die Schmuckbox, so weit ich kann, in die Finsternis des Waldes.
Abrupt bleibt er vor mir stehen und sieht in die Richtung. Zu gern würde ich jetzt seinen schockierten Gesichtsausdruck sehen.
»Warum tust du das?«, fragt er.
Schnell richte ich den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Box und entdecke ein weiteres Phantom, das sie gerade aufhebt. »Erwischt. Wusste ich doch, dass mehrere von euch hier sind.«
»Sie ist leer«, sagt das Phantom, als es die Box öffnet.
»Was wird das?«, fragt mich derjenige, der vor mir steht.
»Tja, ich mache es euch wohl doch nicht so leicht, wie du zuerst gedacht hast.«
»Wo ist er?«
»Nehmt mich in euer Team auf und ich gebe ihn euch.«
Es dauert ein paar Sekunden, bis er spricht. Als würde er nachdenken. »War das eine Falle? Wolltest du uns herlocken?«
»Hat es endlich Klick gemacht, Einstein?«
Er nickt langsam. »Nicht schlecht.«
»Also nehmt ihr mich auf?«
»Nein.«
Ich packe ihn am Kragen und ziehe ihn zu mir, während ich mich auf die Zehenspitzen erhebe. Mein Gesicht vergräbt sich in seiner Halsbeuge. Ein sinnlicher, warmer und erdiger Duft – Moschus! Ein leiser Hauch entweicht meinen Lippen: »Eneas.«
»Hast du mich vermisst, Kleines?«
»Vielleicht.« Verflucht, und wie ich dich vermisst habe. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Und dass du uns hergelockt hast, hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass du mich sehen wolltest?«
»Nein, absolut nicht. Es geht nur um den Diamanten und darum, dass ich ins Team möchte.« Aber natürlich habe ich gehofft, ihn wiederzusehen.
»Warum ist dir das so wichtig?«
»Weil ich dann öfter das hier bekomme.« Ich drehe das Licht ab und wir stehen in kompletter Finsternis. »Küss mich!«
Das brauche ich ihm nicht zweimal sagen und schon versinken wir in einen Kuss. Seine Lippen verschmelzen mit meinen und alles um uns herum verblasst. Die Bäume, der Boden unter unseren Füßen – all das wird bedeutungslos. Hitze durchströmt meinen Körper, während meine Fingerspitzen leicht über seinen Nacken gleiten. Der Duft von Moos und Erde mischt sich mit seinem, doch ich nehme kaum etwas wahr. Es gibt nur den Moment, seine Berührung, seine Nähe – als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Wie kannst du mich nur fragen, ob ich dich vermisst hätte? Siehst du nicht, wie verrückt du mich machst? Dennoch solltest du mir nicht zu sehr vertrauen!
Mein Finger ruht noch immer auf dem Knopf der Taschenlampe. Gerade als ich drücken will, durchdringt eine tiefe, dunkle Stimme die Stille: »Es reicht!«
Verdammt! Wer auch immer das ist, ruiniert meinen Plan! Ich versuche, zu retten, was noch zu retten ist, also schalte ich schnell das Licht ein und leuchte damit auf Eneas Gesicht. So ein Mist! Er war schneller und hat die Maske wieder aufgesetzt.
Derjenige, der uns unterbrochen hat, kommt zu uns. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als zu knutschen!« Eifersucht? Zenon, Kyrill oder Ares? Er tritt nah an mich heran und greift entschlossen nach meinem Kinn, sein Griff fest und bestimmend. »Nicht schlecht, Prinzessin. Du wirst wirklich immer besser. Aber lass solche Spielchen in Zukunft bleiben – sie ziehen Konsequenzen nach sich.« Ares!
»Konsequenzen?«
Er lässt mein Kinn los. Mit einer Hand entreißt er mir die Taschenlampe, mit der anderen greift er in meine Jackentasche und zieht mein Handy heraus. Ich greife danach und möchte es ihm wegnehmen, doch er dreht das Licht ab und entfernt sich von mir. Das ging alles so schnell, dass ich kaum handeln konnte, und da sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnen müssen, sehe ich überhaupt nicht, wo er steht.
»Gib es mir zurück!«
»Böse Mädchen gehören bestraft. Sieh unter deinem Auto nach, wenn du dein Handy nicht überfahren möchtest. Man sieht sich.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst. Ihr könnt mich nicht ohne Licht im Wald zurücklassen.« Mein Atem geht flach, mein Herz schlägt wie ein Trommelwirbel. Die Bäume ragen bedrohlich über mir auf, ihre knorrigen Äste wie Arme, die nach mir greifen. Die Dunkelheit des Waldes scheint lebendig, sie zieht mich hinein, verschlingt mich. Die Stille wird drückend, als hätte sie die Welt verschluckt, und ich stehe da – klein, verloren, allein.
Plötzlich höre ich leise, näherkommende Schritte. Die kalte Oberfläche einer Maske berührt mein Ohr. Eine Stimme flüstert, tief und eindringlich: »Denk nicht, ich hätte nicht geahnt, was du vorhattest. Mein Gesicht wirst du erst sehen, wenn ich das entscheide.« Eneas!
2
Ares
»Ich glaube der ganzen Sache nicht«, sagt Costa. Er verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. »Mein Gefühl sagt mir, dass die Geschichte erfunden ist.«
Wir haben uns in unserem Hauptquartier am Besprechungstisch versammelt, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
»Ich glaube auch nicht an die Existenz des zweiten Diamanten, aber Glauben ist nicht Wissen. Der Diamant soll verdammt echt ausschauen. Wir müssen dem auf den Grund gehen.« Ich stelle mich vor das bodentiefe Fenster und lasse nachdenklich meinen Blick nach draußen schweifen. »Entweder ist das Helenas verzweifelter Versuch, an den echten Diamanten zu kommen oder die Familie Jawara spielt ein falsches Spiel mit uns.«
»Das ist lächerlich«, beginnt Medea. »Beenden wir den Auftrag so, wie er geplant war, und geben den Diamanten, den wir besitzen, der Familie Jawara. Helena verarscht uns.«
»Du bist lange genug dabei, um zu wissen, dass wir nicht so leichtsinnig handeln dürfen«, antwortet Zenon mit einem genervten Unterton. »Auch wenn keiner von uns an die Echtheit des zweiten Diamanten glaubt, müssen wir der Sache auf den Grund gehen, bevor wir handeln.«
Wir sind uns alle einig – bis auf Medea. Obwohl sie Teil unseres Teams ist, fehlt ihr das Verständnis für manche Dinge. Sie sieht die Welt anders als wir – und das ist verständlich, denn ihre Vergangenheit unterscheidet sich grundlegend von unserer.
»Und was eiern wir dann noch herum?«, beginnt Medea. »Holen wir uns den Diamanten. Wir sind Profis und Helena ist ein Niemand. Ein zweites Mal kann sie ihn nicht so gut verstecken.«
»Und wer bist du?«, höre ich Eneas’ zornige Stimme. Es war klar, dass er Medeas Satz nicht unbeantwortet lässt. »Du bist was Besseres als Helena?«
»Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche.« Xeno nimmt sie wie immer in Schutz.
»Ach, jetzt sollen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, aber wenn jemand etwas gegen deine Freundin sagt, dann springst du sofort.«
»Helena ist aber nicht deine Freundin!«
Ich stehe noch immer am Fenster, während ich höre, wie Eneas aufsteht. »Trotzdem werde ich nicht zulassen, dass man so über sie spricht!«
Wenn nicht bald einer von uns einschreitet, dann eskaliert die Situation.
»Es reicht!«, rufe ich bestimmt und drehe mich zu ihnen. »Krieg dich wieder ein, Eneas. Und du, Medea, hör auf, bei jeder Gelegenheit Helena zu beleidigen. Du weißt, wohin das führt.«
Sie macht das nicht nur, weil sie Helena nicht mag, sondern, weil sie damit Eneas provoziert. Ich hasse diese Reibereien in unserem Team. Wir müssen zusammenhalten und uns nicht gegenseitig bekriegen.
Medea kennt ihre Grenzen und verstummt augenblicklich, sobald sie meinen Zorn spürt. Eneas hingegen ist ein unverbesserlicher Sturkopf, der sich von niemandem etwas sagen lässt. Wütend läuft er im Raum auf und ab, die Hände zu Fäusten geballt, seine Atmung schwer. Immerhin bemüht er sich, seinen Mund zu halten – er weiß genau, wie entscheidend unser Zusammenhalt ist.
In solchen Momenten ist es am klügsten, Eneas nicht weiter zu provozieren und ihm die Zeit zu geben, sich zu beruhigen. Also ignoriere ich sein Verhalten und spreche unbeirrt weiter: »Wir werden nach dem zweiten Diamanten suchen, aber ohne uns dabei unnötig aufzuhalten. Er steht nicht im Fokus unserer Mission. Vorrangig müssen wir die Angelegenheit mit der Familie Jawara klären. Gibt es diesen zweiten Diamanten überhaupt? Und wenn ja, warum haben sie uns nichts davon erzählt? Ich habe nicht vor, unsere wertvolle Zeit mit der Suche nach einer Fälschung zu verschwenden.«
»Und wo ist das Problem? Dann fragen wir doch einfach die Familie Jawara. Worauf warten wir noch?«, will Medea wissen.
»Unser Kontaktmann ist nicht erreichbar.«
»Es gab einen Putsch in Sierra Leone«, setzt Costa fort. »Du kennst die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes. Gerade herrscht dort Ausnahmezustand und sie sind von der Außenwelt abgeschottet. Wir können niemanden kontaktieren.«
»Deshalb muss einer von uns hin.« Mein Blick wandert durch die Runde. Niemand wirkt schockiert – außer Medea. War ja klar.
»Aber … aber …«, stottert sie. »Das ist viel zu gefährlich.«
Dass sie trotz unserer Vergangenheit immer noch nicht begreift, dass wir keine Gefahr kennen.
Medeas Panik prallt an uns ab – nur Xeno streicht mit nüchternem Blick über ihren Rücken. Es ist ein klarer Versuch, sie zu beruhigen, doch sein Ausdruck bleibt reglos, denn die Aussicht, dass einer von uns nach Sierra Leone muss, berührt ihn nicht im Geringsten. Er weiß, dass es nicht seine Freundin sein wird, die verreist.
»Was ist der Plan?«, fragt Kyrill, seine Ungeduld kaum verbergend. Untätigkeit macht ihn reizbar und nervös, als bräuchte er dringend etwas, das ihn ablenkt. Es ist wie eine Beruhigung für ihn – nur, dass seine Gedanken ziemlich beunruhigend sind. Aber das ist ein anderes Thema.
Was die Reise nach Sierra Leone angeht, würde ich sie am liebsten selbst übernehmen. Doch angesichts der Spannungen, die derzeit in unserer Gruppe herrschen, kann ich das Team nicht allein lassen. Ich muss hierbleiben, um diesen verrückten Haufen zusammenzuhalten.
Eneas scheidet aus, da er momentan viel zu impulsiv ist und keine Kontrolle über sich hat. Kyrill wäre zwar für die Aufgabe geeignet, aber er hinterlässt jedes Mal ein Chaos, weil er ständig auf der Suche nach seinem nächsten Opfer ist. Zenon brauche ich hier – er ist unser IT-Genie und unverzichtbar. Medea? Kommt gar nicht infrage. Xeno wäre eine Option, doch da er der Einzige von uns ist, der eine Freundin hat, möchte ich ihm das nicht zumuten.
Damit bleibt nur noch Costa. Er ist perfekt für den Job. Als einer der beiden mit einer direkten Verbindung zu unserem Kontaktmann kennt er die Lage vor Ort am besten.
»Costa, du fliegst nach Sierra Leone und regelst das mit der Familie Jawara.«
Er nickt. »Alles klar. Wird gemacht.«
Ruckartige Bewegungen fallen mir im Augenwinkel auf. Ich schaue zu Medea und merke erst jetzt ihre empörte Mimik. »Warum er? Warum soll Costa gehen?«
»Warum nicht?«, frage ich kühl.
Sie zeigt auf Eneas. »Es kann genauso gut er gehen. Warum muss es Costa sein?«
Na toll, das hat mir jetzt noch gefehlt. Sie kann es einfach nicht lassen, Eneas immer wieder ins Visier zu nehmen. An seinem Gesichtsausdruck sehe ich schon, dass es gleich losgeht. Drei … zwei … eins.
»Das hättest du wohl gern – du kannst es nicht erwarten, mich loszuwerden. Aber vergiss nicht, du hast hier nichts zu sagen. Du bist unter uns das letzte Glied. Wir können ohne dich weitermachen, aber du nicht ohne uns. Also achte besser auf dein Benehmen. Und wenn wir schon dabei sind … Du willst, dass jemand anderes anstatt Costa geht? Bitte schön, soll Xeno gehen. Er hat auch eine Verbindung zum Kontaktmann.«
Ich weiß, dass Eneas kein Problem damit hätte, wenn er derjenige ist, der nach Sierra Leone fliegen würde, es geht ihm nur ums Prinzip.
»Was? Nein«, sagt Medea empört. »Xeno bleibt hier!«
»Das hast du nicht zu entscheiden. Schon vergessen?«
Gerade, als ich das Gezanke unterbrechen will, kommt mir Xeno zuvor. »Ich mache es.«
Kurz herrscht Stille im Raum. Ich frage mich, wie es dazu kommen konnte. Niemand hatte ein Problem mit meiner Auswahl – bis auf Medea. Sie wird mir langsam zu einem Dorn im Auge.
Keine Ahnung, warum sich Xeno jetzt dafür entschieden hat. Möglich, dass er keine Lust mehr hat, zwischen den Fronten zu stehen, und einfach eine Pause von dem Scheiß möchte. Verstehe ich.
»Ob Costa oder Xeno, soll mir recht sein«, beginne ich. »Ihr zwei hattet die Verbindung zum Kontaktmann und kennt die Lage am besten.«
»Gut.« Xeno steht auf. »Dann gehe ich packen.«
Medea starrt ihn schockiert an, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
Eneas betrachtet die Situation mit Befriedigung und lehnt sich schmunzelnd zurück. Er hat einen schweren Charakter, aber ich liebe diesen Bastard wie einen Bruder.
3
Helena
Es ist schön, Maria wiedersehen zu können, auch wenn mein heutiger Besuch mit Hintergedanken verbunden ist. Den ganzen Tag verbringe ich hier, weil ich sie enorm vermisst habe. Nebenbei versuche ich, ihre Erinnerung aufzufrischen. Ich weiß nicht, ob sie nützliche Infos hat, mit denen ich weiterkommen kann, aber ich will es wenigstens versuchen.
»Ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Männer es waren, erst recht nicht, wie sie ausgeschaut haben. Meine Erinnerungen verblassen nach ein paar Stunden, wie soll ich da noch wissen, was vor über einer Woche genau passiert ist?«, antwortet sie mir.
Wir sitzen auf der Terrasse, wo uns in der lauen Nacht lediglich eine schwache Glühbirne an der Fassade ein wenig Licht spendet. Der Efeu rankt sich von der Wand über das alte, offene Holzgerüst und verleiht der Szenerie eine gemütliche Atmosphäre. Tagsüber bietet das dichte Grün wohltuenden Schatten.
»Ich weiß, Oma. Dennoch hoffe ich, dass vielleicht etwas von der Erinnerung zurückkommt, wenn wir oft genug darüber reden.«
»Ich bemühe die wenigen Gehirnzellen, die mir noch geblieben sind, aber leider komme ich trotzdem keinen Schritt weiter.«
»Das verstehe ich.« Ich atme einmal tief durch. »Es tut mir leid, dass ich dich damit belästige.«
Maria legt ihre Hand auf meine. »Ach, Schätzchen. Du belästigst mich doch nicht. Ich verstehe deinen Unmut und ich möchte dir helfen.« Sie steht auf. »Ich bin müde und werde jetzt ins Bett gehen. Vielleicht ist morgen ein besserer Tag.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Schläfe und geht ins Haus.
Machtlos lege ich mich auf die Gartenliege und starre in den funkelnden Sternenhimmel. Meine innere Verzweiflung und die Angst, den Diamanten nie wiederzubekommen, verberge ich gekonnt – schließlich würde das nur bestätigen, dass ich keinen zweiten Diamanten besitze. Maurice und ich haben zwar einen Plan, doch wenn er scheitert, stehen wir mit leeren Händen da. Einen Plan B gibt es nicht. Und bisher hat unser Vorhaben alles andere als Erfolg gehabt.
Ich schließe die Augen und rede mir ein, dass alles gut gehen wird. Ich stelle mir sogar bildlich vor, wie ich den echten Diamanten in den Händen halte, um mich noch mehr zu motivieren. Dranbleiben ist das Einzige, was zählt. Mit solchen Strategien versuche ich, die Hoffnung nicht zu verlieren und nicht aufzugeben.
Plötzlich beschleicht mich ein seltsames Gefühl. Es ist, als würde mich jemand beobachten, als wäre ich nicht allein. Doch Maria ist bereits schlafen gegangen und es kann niemand sonst hier sein. Trotzdem will dieses beklemmende Gefühl einfach nicht verschwinden.
Ein Schauder läuft über meinen Rücken und Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut aus. Meine Augen reißen auf und ich starre in die mir nur allzu vertraute, schwarzglänzende Maske. Ich schrecke nicht zusammen – bleibe ruhig liegen und starre ihn nur an. Ein Phantom steht hinter mir, blickt stumm auf mich herab. Wer ist es?, ist immer mein erster Gedanke, wenn ich einen von ihnen sehe.
»Bist du gekommen, um mir zu sagen, dass ihr mich ins Team aufnehmt?«
Er schüttelt den Kopf.
»Dann verschwinde wieder.«
Es ist, als könnte ich sein zynisches Grinsen hinter der Maske fühlen.
»Geh!« Meine Stimme ist fest, obwohl ich weiß, dass er nicht darauf hören wird. Doch es geht mir nicht darum, ihn zu überzeugen, sondern ihm meine Haltung unmissverständlich klarzumachen.
Er beugt sich ein Stück weiter runter und stützt seine Hände links und rechts von mir ab. »Du weißt, warum ich hier bin.«
»Solange es nicht damit zu tun hat, dass ihr mich bei euch aufnehmt, ist mir das so ziemlich egal, warum du hier bist.«
Ich höre ein amüsiertes Glucksen hinter der Maske. »Sag das noch mal, wenn wir den Diamanten haben.«
»Den werdet ihr nicht finden. Ich lerne aus meinen Fehlern.« Ich lege meine Hand auf seinen Nacken und ziehe ihn zu mir hinunter, sodass ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge vergrabe. Ein erdiges, nach Holz und Wald anmutendes Aroma zieht durch meine Nase. »Ares!«
»Da freut sich die Prinzessin, mich zu sehen, nicht wahr?«
Ich lasse ihn los und er entfernt seinen Kopf ein wenig, sodass wir uns anschauen. »Sei mal nicht so eingebildet, Ares.«
»Sei du mal nicht so eine Lügnerin, Aphrodite.«
Ich stehe auf und drehe mich zu ihm. »Nehmt ihr mich ins Team auf?«
»Nein.«
»Dann verschwinde.« Ich hebe meine Hand und weise in Richtung des Seitenausgangs des Gartens.
Er bleibt stur stehen und für eine Weile schauen wir uns schweigend an. Eine kühle Brise streift vorbei und lässt mich erzittern … Oder ist es sein intensiver Blick, der mir unter die Haut geht? Ich sehe zwar nicht viel von seinen Augen, aber ich spüre es. Ich fühle seinen durchdringenden Blick, der mich mustert, als wolle er jeden Zentimeter meines Körpers erfassen.
»Und was, wenn ich nicht gehe?« Er tritt einige Schritte an mich heran. »Was würde die neue Helena dann machen?«
Ich neige meinen Kopf leicht zur Seite. »Neue Helena?«
»Glaubst du wirklich, ich merke nicht, wie du krampfhaft versuchst, die Kontrolle an dich zu reißen? Wie du dich bemühst, deine Dominanz zu demonstrieren und uns deinem Willen zu unterwerfen? Du willst uns zu deinen Marionetten machen, das Spiel nach deinen Regeln spielen … Aber das wird dir nicht gelingen. Was auch immer du planst, Prinzessin, es ist sinnlos. Wir gewinnen immer!«
Ich hebe herausfordernd mein Kinn. »Sei dir da mal nicht zu sicher. Es ist noch nicht vorbei.«
Ares lacht amüsiert. »Mach nur so weiter. Mit der neuen Helena wird das Spiel nur noch spannender.«
Ein Moment des Schweigens liegt zwischen uns und plötzlich schießt mir eine verrückte Idee durch den Kopf. Prompt hebe ich meine Hand und möchte ihm die Maske vom Gesicht reißen. Für einen kurzen Augenblick denke ich, dass ich es schaffe, doch Ares’ schnelle Reaktion hindert mich daran und stoppt meine Bewegung mit seiner Hand.
»Sag ich doch … Wird immer spannender«, sagt er belustigt, während er mein Handgelenk festhält.
»Es wäre nur fair, wenn ich dein Gesicht sehen könnte. Immerhin kennst du meins auch.«
Mit einem Ruck zieht er mich an sich, sodass wir uns berühren. Ich schaue zu ihm hinauf und versuche, mein rasendes Herz zu ignorieren. Es ist die Nähe, nach der ich mich so sehr sehne, auf die mein verräterischer Körper immer reagiert. Ich will nicht preisgeben, wie ich dabei fühle, und hoffe, dass er mein Herzklopfen an seiner Brust nicht wahrnimmt. Es wäre ein Zeichen von Schwäche – Schwäche ist das Letzte, was ich zeigen darf.
Ares fährt mit seinem Daumen über meine Unterlippe und ich verliere mich in diesen Moment.
Nein!, schreit meine innere Stimme. Ich muss die Zügel in die Hand nehmen. Es wird nach meinen Regeln gespielt.
Ich komme wieder zur Besinnung und setze bewusst ein verführerisches Lächeln auf. Mit meinem Finger streiche ich sanft von seinem Hals bis hinunter zur Brust und kreise neckisch über seine Haut. »Du weißt, dass ich den Diamanten nicht wieder hier verstecken würde. Wegen mir bist du hier.« Langsam fährt meine Hand hinunter zu seinem Schritt, wo ich sein Glied über der Hose deutlich spüre, obwohl er nicht einmal erregt ist. Aber diesen Zustand werde ich jetzt ändern. Mit einem leisen Atemzug beuge ich mich vor, meine Lippen suchen die Haut seiner Brust, die durch die geöffneten Hemdknöpfe schimmert. Ich rieche und schmecke ihn – so verboten köstlich. Aber ich verliere mein Ziel nicht aus den Augen. Die Luft vibriert vor unausgesprochener Erotik und er wird mir verfallen, tanzen nach meiner Pfeife, meine gefügige Marionette. Ein leiser Aufruhr meiner inneren Unsicherheiten versucht, an die Oberfläche zu dringen, doch ich zwinge sie zurück. Mit jeder Geste, jedem Blick perfektioniere ich die Rolle der Femme Fatale, ein gefährliches Spiel, das ich mit einer Mischung aus Kalkül und einer tief sitzenden Sehnsucht spiele.
Unerwartet schließt sich seine Hand fest um meine, die sich über seinem Schritt bewegt hatte, und fixiert sie unnachgiebig. »Ich bin kein Idiot, Helena.«
Die tiefen Vibrationen seiner Stimme, gefährlich und rau, durchdringen mich wie ein Schauer und lassen jede Zelle meines Körpers erzittern. Ein eiskalter Schreck fährt mir in die Glieder – ertappt. Die Maske der kühlen Verführung droht zu bröckeln und die nackte Wahrheit meiner Absichten steht plötzlich im Raum.
»Ich weiß, was du versuchst, aber ich lasse mich nicht von meinem Schwanz steuern.«
Verdammter Ares mit seiner Zielstrebigkeit und dem Zwang, die Kontrolle zu behalten. Ist er wirklich so unmanipulierbar? Als wäre er nicht von dieser Welt.
Abrupt lasse ich von ihm los und trete einen Schritt zurück. »Ach, und ich bin eine Idiotin? Vor weniger als einer Minute hast du versucht, mich mit Hintergedanken zu verführen. Du hast genau dasselbe getan und dachtest, ich würde darauf reinfallen.«
Was zwischen uns geschieht, ist ein riskantes Unterfangen. Wir spielen mit dem Feuer und die Konsequenzen könnten verheerend sein. Verliert man sich in dem Augenblick, verliert man alles.
»Tja, da ist uns wohl der Plan der Verführung nicht gelungen«, antwortet er spöttisch.
»Hast du wirklich geglaubt, dass du aus mir mit ein paar schönen Worten und Berührungen das Versteck des Diamanten entlocken kannst?
»Hast du wirklich geglaubt, dass ich dich ins Team aufnehme, weil du mir an den Schwanz greifst?«
»Ein Versuch war es wert.«
Er zuckt mit den Schultern. »Siehst du? Das dachte ich mir auch.«
In diesem Moment dringt es mit voller Wucht in mein Bewusstsein: Er spielt mit mir. Er ist ein Profi in diesem Fach und hat viel bessere Schachzüge drauf als einen Verführungsplan, aber er mag dieses Spiel – diese Jagd. Es ist nicht der Sieg, den er sucht, sondern die Intensität dieser Verfolgung, das Katz-und-Maus-Spiel selbst, das ihn reizt.
»Einen merkwürdigen Fetisch hast du da«, sage ich.
Er neigt seinen Kopf und ich muss sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass er mich gerade verwirrt anschaut.
»Das ist nur ein Spiel für dich.« Warum gibt er sich nicht mehr Mühe, den Diamanten zu bekommen? Ahnt er, dass er ein Fake ist? Ich setze ein süffisantes Lächeln auf, um meine Unsicherheit zu verbergen. »Aber mach nur. Du machst es mir einfacher, indem du mich unterschätzt.«
Mit langsamen Schritten kommt er mir näher, dann die unheimliche Präsenz, als er mich umrundet und hinter mir zum Stehen kommt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als die kühle Maske mein Ohr berührt. Seine Stimme, ein leises Raunen direkt daneben: »Ich, meine schöne Aphrodite, unterschätze nichts und niemanden.«
Es ist nur ein Spiel für ihn, wiederhole ich wie ein Mantra in meinem Kopf. Diese ständige Wiederholung ist mein Anker, die Ruhe, die ich brauche, um seine Nähe und die dunklen Worte nicht die Kontrolle über mich verlieren zu lassen.
Kurz die Augen schließen, einmal tief durchatmen, nicht die Ruhe verlieren. »Dann wirst du wissen, dass ich gut genug bin, um ins Team aufgenommen zu werden.«
»Bist du nicht«, stößt er die Worte hervor wie Geschosse.
»Gib mir wenigstens eine Chance.«
»Auch nur die eine Chance, die du bekommst, könnte verheerend für das gesamte Team sein, wenn du einen Fehler machst. Dieser Job ist kein Kindergarten.«
Er mag stur wie ein Esel sein, und die Lage scheint hoffnungslos, aber ich werde nicht ruhen, bis ich seinen Widerstand gebrochen habe. Ich habe zu viel zu verlieren, um jetzt aufzugeben. »Also hat Medea ihren Platz im Team bekommen, weil sie gut ist und nicht, weil sie Xenos Freundin ist?«
Es kommt nicht sofort eine Antwort von ihm, was mir das Gefühl gibt, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe.
»Sie ist gut genug für den Job. Sehr gut sogar.«
»Aber ihren Platz hat sie trotzdem bekommen, weil sie mit Xeno zusammen ist.« Ich sage es mit einer Überzeugung, welche Wissen vortäuscht, obwohl es nur eine Annahme ist. »Also würde ich auch einen Platz bekommen, wenn ich mit einem von euch zusammen wäre.«
Ares presst sich an mich, seine Wärme durchdringt meinen ganzen Rücken wie ein flüssiges Feuer. Langsam wie eine Schlange kriecht seine Hand von meinem Brustbein aufwärts. Mit einem festen Griff umfasst er meinen Hals und neigt meinen Kopf nach hinten. Sein Daumen streicht sanft über meine Wange, was ein Kontrast zur kühlen Oberfläche der Maske ist, die meine Haut berührt.
»Und wen von uns würdest du wählen?« Seine Stimme ist ein tiefer, vibrierender Laut an meinem Ohr.
Unerwartet und mit einer Klarheit, die mich selbst überrascht, antwortet mein Inneres: Eneas! Ein Gedankenkarussell setzt sich in meinem Kopf in Bewegung, als mein Herz zu pochen beginnt und ein unverkennbares Kribbeln in meiner Magengegend entsteht. Warum beherrscht sein Name augenblicklich meine Gedanken und warum antwortet mein Körper darauf mit einer solchen Heftigkeit? Was löst diese Reaktion in mir aus? Bin ich etwa …? Verliebt? Das ist doch absurd! Ich kenne ihn doch kaum. Nicht einmal sein Gesicht habe ich gesehen. Doch dann erkenne ich: Mein Körper lügt nicht.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, sodass ich beinahe Ares’ Präsenz vergesse. Ich kann es nicht mehr verdrängen – ich habe mich in Eneas verliebt.
»Für keinen von euch würde ich mich entscheiden. Ich will mit meinem Können ins Team aufgenommen werden und nicht, weil ich einem von euch gehöre.« Der erste Satz ist eine Lüge. Der zweite nicht. So sehr ich den Diamanten haben möchte, so sehr lässt mein Ego nicht zu, mich auf dasselbe Niveau wie Medea zu stellen. Ich will besser sein als sie.
»Du willst keinen von uns? Dann sag mir, Prinzessin, was dieses aufgeregte Klopfen in deiner Brust bedeutet. Merkwürdig, wie es genau dann gegen meinen Arm pocht, nachdem ich dir diese Frage gestellt habe.«
Verfluchtes Herz. Warum bist du mein größter Verräter?
»Das hat nichts zu bedeuten. Ich werde dir beweisen, dass ich gut genug für das Team bin.«
»Und wie?«
»Das wirst du schon sehen.«
4
Helena
Ich werde dir beweisen, dass ich gut genug für das Team bin. Das werde ich und ich bin fest entschlossen, dass ich es schaffen werde. Ich werde zu den Phantoms gehören. Ich werde ein Teil davon sein. Doch bevor ich mich dieser äußerst wichtigen und heiklen Aufgabe stelle, muss ich meinen Kopf von einem anderen Problem befreien. Eneas! Seitdem mir gestern bewusst wurde, was ich für ihn empfinde, finde ich keine Ruhe mehr.
Die Nacht bei Maria war, gelinde gesagt, von unruhigem Schlaf geprägt, nachdem Ares gegangen war. Jetzt bin ich wieder in Athen, sitze auf meinem Bett und denke darüber nach, wie ich zu Eneas kommen kann. Ich muss mit ihm reden. Ich muss ihm sagen, was ich empfinde, und ich muss wissen, wie er fühlt, ansonsten platze ich. Meine Gefühle habe ich die ganze Zeit verdrängt, doch jetzt, wo sie an die Oberfläche gekommen sind, ersticken sie mich. Ich will nicht nur mit ihm reden. Ich will ihn sehen, berühren, riechen, küssen. Verdammt noch mal, ich will sein Gesicht sehen! Ich will sehen, wer der Mann ist, der mein Herz gestohlen hat. Scheiße, wie abgefuckt ist das? Ich kenne ihn nicht und bin verliebt? Er wird mich für eine Wahnsinnige halten. Dennoch muss ich ihm alles gestehen. Nur dann kann ich mich so richtig auf den Diamanten konzentrieren. Ich kann nicht mit so einem Gefühlschaos an so eine heikle Sache rangehen. Ich habe nur eine Chance, den Phantoms mein Können zu beweisen, und dafür brauche ich einen klaren Kopf.
Soll ich Maurice meine Gefühle für Eneas anvertrauen? Vielleicht ist das auch ein Weg, diesen erstickenden Druck in mir loszuwerden. Ich schüttle den Kopf. Das ist eine dumme Idee. Damit würde ich nur Maurice einen Teil meiner Last abgeben. Das wird nichts helfen – ich muss mit Eneas reden.
Ich stehe auf, tigere im Zimmer umher und denke nach. Wie komme ich zu Eneas? Kein Name, keine Telefonnummer, keine Adresse. Ich weiß nichts über ihn. Ich strenge meine Gehirnzellen an und denke an all die Ereignisse zurück, die ich mit den Phantoms erlebt habe. Irgendwo darin werde ich eine Lösung für mein Problem finden.
Die Halle! Sie ist der einzige Ort, den ich finden könnte. Es war der Tag, als man mich einfach draußen in der steinigen Wüste abgesetzt hat. Ich fühle sogar jetzt noch die trockene Hitze, wenn ich nur daran denke. An dem Tag hat mich Maurice gefunden. Ich kann mich erinnern, dass ich eine Stadt in der Ferne gesehen habe und dachte, es wäre Athen – war es aber nicht. Der Ort ist etwas weiter entfernt. Bei der Hin- und Rückfahrt war ich zwar bewusstlos, aber Maurice hat mir mal erklärt, wo dieser Ort sich befindet. Diese verlassene Halle in einer trockenen Einöde, aber sie ist mein einziger Anhaltspunkt, um Eneas zu finden. Vielleicht hat es null Sinn, dass ich dort nach ihm suche, aber es ist besser als nichts.
Mein Entschluss steht fest, ich fahre dorthin. Kurze Zeit später bin ich bei Maurice und leihe mir seinen Geländewagen aus. Ich habe ihm gesagt, dass ich versuche, an die Phantoms zu kommen, was ja auch stimmt. Nur habe ich ihm den Teil verschwiegen, dass es mir jetzt um Eneas und meine Gefühle geht.
Eine Stunde später kämpfe ich mich durch die steinige Wüste, als in der Ferne die Umrisse der verlassenen Halle sichtbar werden. Die Tempelruinen, die mir beim letzten Mal entgangen waren, verleihen der Landschaft nun eine faszinierende Note. Hinter den brüchigen Säulen scheint der Sonnenuntergang hindurch. Die Hitze ist um die Uhrzeit erträglicher, dennoch muss ich das Fenster offen halten, da das Auto keine Klimaanlage hat.
Vor der Halle halte ich das Auto an. Ich steige aus und blicke auf das alte Gebäude. Zerbrochene Ziegelsteine und bröckelnder Putz zeigen die Spuren des Verfalls. Risse ziehen sich wie Narben über die Mauern und Glasscherben knistern unter den Füßen. Erst jetzt fällt mir so richtig der schlechte Zustand dieses Baus auf. Ein unheimliches Gefühl umgibt mich, wenn ich daran denke, in das Innere zu gehen. Nicht nur, weil es düster und gespenstisch wirkt, sondern auch, weil ich Angst habe, dass etwas einstürzen könnte.
Ich atme einmal tief durch und gehe hinein. Die Halle wirkt endlos und leer, ein kolossales Knochengerüst, in welchem Staub im spärlichen Licht tanzt, das durch die zerbrochenen Fenster fällt. Graffiti überziehen Teile der Mauern, moderne Narben auf alter Haut. Eine Aura der Verlassenheit und des Vergessens umgibt den Ort. Meine Schritte sind kaum hörbar, dennoch lassen die Stille und das Echo sie laut wirken.
Ob sie mir gefolgt sind? Ich schaue mich um, aber sehe niemanden. Natürlich nicht. Sie würden sich nicht einfach so zeigen, aber falls sie hier sind, fragen sie sich bestimmt, was ich hier mache. Doch dieses Mal will ich nicht das Interesse der Phantoms erwecken, sondern nur von Eneas.
Ich finde eine verrostete Stange am Boden, hebe sie auf und stelle mich vor eine Wand. Darauf hinterlasse ich eine Nachricht, die nur Eneas verstehen kann:
E. – Dort, wo das Wasser heiß war und der Himmel endlos.Morgen 22 Uhr.
H.
Das sollte ausreichen. Es gibt genug Hinweise, damit er den Ort erkennt, aber nicht so viele, dass andere ihn entschlüsseln könnten. Jetzt muss ich nur noch hoffen, dass sie mir gefolgt sind – oder wenigstens einer von ihnen.
Am nächsten Tag stehe ich vor dem Gebäude, wo sich Symeons Penthouse befindet. Ich fühle mich nicht wohl dabei und hoffe, dass ich ihm nicht begegne. Mit meinem langen schwarzen Mantel hülle ich mich in die Dunkelheit. Der Stoff hilft mir, mich zu verbergen. Ich presse mich hinter die Säule des Eingangs, so nah wie möglich, in der Hoffnung, dass der Schatten mich unbemerkt lässt. Jeder Schritt, den ich höre, lässt mein Herz schneller schlagen. Ich bleibe reglos, bereit, mich sofort zurückzuziehen, falls Symeon auftaucht. Das Spiel aus Licht und Dunkelheit ist mein Verbündeter, doch jedes Geräusch lässt die Spannung wachsen.
Ich weiß, das ist nicht der perfekte Treffpunkt, aber um die Nachricht in der Halle so gut es geht geheimzuhalten, brauchte ich einen Ort, den nur Eneas kennt. Aufmerksam beobachte ich jede männliche Gestalt, welche vorbeigeht, um Anzeichen von Symeon oder Eneas zu erkennen. Der eine soll mich nicht entdecken, der andere schon. Die Frage ist, ob Eneas meine Nachricht überhaupt gesehen hat.
Ich schaue auf meine Armbanduhr – 21.57 Uhr. Er könnte jeden Moment kommen. Und wenn nicht? Wie lange soll ich warten? Vielleicht haben sie einen wichtigen Auftrag. Ist Eneas überhaupt im Land? Das ist nur der Anfang meines Gedankenkarussells. Ich zweifle, ob es die richtige Entscheidung ist, was ich hier mache. Ich frage mich, wie er auf meine Worte reagieren wird. Wird er meine Gefühle erwidern? Wird er mir sein Gesicht zeigen? Wird er überhaupt kommen?
Meine Finger spielen am Kragen meines Mantels. Meine Atmung wird immer schneller und unaufhörlich wippe ich mit dem Fuß. Ein unruhiges Flattern breitet sich in meiner Magengegend aus, dabei fühlt sich meine Kehle rau und trocken an.
Ein tiefes Grollen, wie das Knurren einer Bestie, dringt vom Straßenrand zu mir und reißt mich kurz aus meiner Anspannung. Instinktiv wende ich meinen Blick dorthin. Ein pechschwarzes sportliches Motorrad, der Fahrer komplett in Schwarz gehüllt – eine Erscheinung von Mystik, Geheimnis und Gefahr. Das dunkle Visier verbirgt jedes Detail seines Gesichts, doch seine intensive Präsenz löst augenblicklich Gänsehaut aus.
Sein Kopf dreht sich zu mir – als würde er mich ansehen. Ich schaue links und rechts, ob es noch jemanden gibt, dem er seine Aufmerksamkeit schenken könnte, doch ich bin die Einzige, die an Ort und Stelle steht. Die Passanten gehen zwischen uns vorbei und beachten keinen von uns beiden.
Mit einem Nicken deutet er mir, mich aufs Motorrad zu setzen. Zögerlich zeige ich mit dem Finger auf mich, immer noch unsicher, ob er mich meint. Mit einem weiteren Nicken bejaht er meine stumme Frage.
Ist es Eneas oder vielleicht sogar Symeon? So ein Mist, hat er mich entdeckt? Wie konnte ich ihn übersehen, wenn ich doch so gut aufgepasst habe? So schlecht ist meine Camouflage nun auch wieder nicht.
Mit vorsichtigen Schritten nähere ich mich und bleibe vor ihm stehen. Kurz überlege ich, was ich machen soll. Ich kann doch nicht einfach aufs Motorrad steigen, ohne zu wissen, ob es Eneas ist – oder generell wer es ist. Vielleicht ist es ein kranker Psychopath, der mich zufällig gesehen hat und versucht, mich zu ihm zu locken. Und ich leichtes Opfer falle drauf rein, weil ich denke, dass es Eneas ist.
Um sicherzugehen, vergrabe ich meine Nase in seiner Halsbeuge und atme tief ein. Er ist es! Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich erst den zweiten Helm in seiner Hand.
»Du hast meine Nachricht gesehen.«
»Hab ich. Und ich bin verdammt neugierig, was das alles zu bedeuten hat.«
Seine Worte erinnern mich wieder daran, warum wir eigentlich hier sind, und schlagartig kommt die Nervosität zurück – stärker als jemals zuvor, denn jetzt wird mein Plan Realität.
Mit dem Helm auf dem Kopf schwinge ich mich hinter ihn aufs Motorrad. Meine Arme legen sich um seinen Körper und sofort spüre ich mehr als nur Nähe – ein tiefes Gefühl des Angekommenseins, eine Geborgenheit, die wie ein Zuhause wirkt, und eine Sicherheit, die mein Innerstes beruhigt. In diesem Moment ist alles andere unwichtig – der Diamant, mein beschissenes Leben, einfach alles. Nur seine Nähe zählt. Er ist es! Er ist es, den ich wähle. Er ist es, den ich will. Nur ihn! Mein Eneas!
Als wir uns in die Nacht bewegen, spüre ich, wie die frische Luft den Fahrtwind verstärkt. Der heiße Asphalt strahlt noch die Hitze des Tages aus, während der Motor mit tiefem Brummen vibriert und uns durch die Straßen von Athen zieht. Der Duft der warmen Sommernacht mischt sich mit dem metallischen Geruch des Motors. Jede Bewegung, jeder kleine Schlenker des Motorrads fühlt sich an, als würden wir im Einklang mit der Nacht fliegen. Die Straßenlaternen ziehen in blassen Streifen an uns vorbei, werfen flackernde Lichter auf den Boden, während die Dunkelheit uns umhüllt wie ein schwerer Mantel.
Am Hafen der Flisvos Marina parkt Eneas und als wir vom Bike steigen, nehme ich als erstes meinen Helm ab – er tut es nicht. Wieder will er sich mir nicht zeigen, aber vielleicht ändert er seine Meinung, wenn ich ihm meine Gefühle gestehe. Hoffentlich.
Wir gehen einen Pier entlang, um nicht von Menschen umgeben zu sein. Hier sind nur wir beide und die luxuriösen Yachten um uns herum. Die Wellen plätschern leise gegen den Beton, sanft und kaum merkbar. Der salzige Duft des Meeres liegt in der Luft und eine sanfte Brise vom offenen Wasser weht herüber.
Wir erreichen das Ende des Piers und wenden uns einander zu. Ein paar stille Sekunden vergehen zwischen uns. Natürlich wartet er, dass ich anfange, denn immerhin bin ich diejenige, die dieses Treffen gesucht hat. Das Blöde ist aber, dass mein Mut nachlässt. Den ganzen Tag bin ich dieses Gespräch in meinen Gedanken durchgegangen. Immer und immer wieder habe ich die Worte wiederholt, als müsste ich ein Gedicht für die Schule auswendig lernen. Doch jetzt weiß ich nicht einmal mehr, wie ich die Unterhaltung beginnen wollte.
»Es schien dringend zu sein«, fängt Eneas an. »Du bist nicht umsonst diesen langen Weg gefahren, um mir eine Nachricht zu hinterlassen.«
»Seid ihr mir gefolgt oder wie wusstet ihr, wo ich war?«
»Ein Zauberer verrät niemals seine Tricks.«
Mein Nicken ist kaum merklich. War klar, dass so eine Antwort kommt. Ein flüchtiger Blick streift die Dunkelheit des Meeres, bevor ich mich wieder ihm zuwende. »Ich glaube, es wäre einfacher, mit dir darüber zu reden, wenn du den Helm vom Kopf nehmen würdest.«
»So gern ich es machen würde, es geht nicht, Kleines. Warum kommst du nicht zum Punkt, anstatt um den heißen Brei zu reden?«
Es gibt kein Zurück. Jetzt sind wir hier. Er steht vor mir und wartet, dass ich rede. Ich muss es jetzt durchziehen.
Ich trete einen Schritt an ihn heran, lege meine Hände an seine Brust und meide den Blickkontakt – auch wenn ich seine Augen nicht sehe, aber er sieht meine. »Ich … Eneas, ich habe … ich habe mich in dich verliebt.«
5
Helena
Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, wünsche ich, ich könnte sie zurücknehmen. Das ist so bescheuert, was ich hier mache. Er denkt sicher, dass ich eine Verrückte bin. Doch mein Mund scheint ein Eigenleben zu führen, die Worte fließen unkontrolliert weiter.
»Ich wollte es selbst nicht wahrhaben. Ich weiß, es ist verrückt. Total durchgeknallt. Seit meiner letzten Beziehung habe ich Bindungsängste und tiefes Misstrauen in Menschen. Ich habe mich von Männern ferngehalten, gefangen in der Vergangenheit, unfähig, mich für etwas Neues zu öffnen aus Angst vor erneuter Verletzung. Und jetzt stehe ich vor dir und gestehe dir meine Gefühle – einem Mann, dessen Gesicht ich nicht einmal kenne! Das ist so verrückt. Aber ich will dich. Nur dich! Du hast etwas in mir berührt, etwas Grundlegendes verändert. Ich verstehe es selbst kaum. Du hast die Scherben in meinem Inneren aufgesammelt und die tiefen Wunden darunter verbunden. Du hast mir geholfen, wieder ganz zu werden. Du hast mich das Fühlen wieder gelehrt. Du hast mich geheilt.« Verzweifelt lehne ich meine Stirn an seine Brust, Tränen benetzen meine Wangen. »Ich vertraue dir. Mit jeder Zelle meines Körpers und meiner Seele vertraue ich dir und gebe mich in deine schützenden Hände. Mein Herz gehört dir.« Ich atme tief durch und sehe zu ihm auf, die Tränen fließen ungehindert. »Bitte, Eneas … zeig dich.« Ein leiser Schluchzer entfährt mir. »Bitte, ich flehe dich an. Ich muss dich sehen. Und was auch immer du für mich empfindest oder auch nicht, ich werde dich nicht verraten. Niemals würde ich deine Identität preisgeben, aber bitte … zeig dich mir.«
Diese Stille bringt mich um, auch wenn es nur Sekunden sind. Ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf geht oder was er über mich denkt, aber es wirkt, als hätte er mit so einem Geständnis nicht gerechnet – ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Es kam einfach alles aus mir heraus – ungefiltert und echt. Meine Emotionen haben das Reden übernommen.
Mit beiden Daumen wischt er meine Tränen weg. »Das war alles, was ich hören musste. Sogar mehr, als ich erwartet hatte.«
Überrascht reiße ich die Augen auf.
»Hör auf zu weinen, Kleines. Du bekommst alles von mir.«
Ein Stein fällt mir vom Herzen. Seine Worte nehmen mir die riesige Last, die mich erdrückt hat. Es fühlt sich an, als wäre ich kurz vor dem Ersticken gewesen und könnte jetzt wieder atmen. Mir ist heiß und kalt zugleich.
»Ich bekomme alles von dir?«, hauche ich, meine Stimme ist belegt. »Dann will ich, dass du dich zeigst.« Die Ungeduld zehrt an mir, ein fiebriges Kribbeln pulsiert unter meiner Haut.
Eneas nickt. »Nichts lieber als das. Doch vorher will ich dich etwas fragen.«
Ein Stachel der Frustration zuckt in mir auf. »Kann das nicht warten? Ich will dich endlich sehen.«
»Das geht nicht.« Seine Worte sind bestimmt, ohne jeden Raum für Widerspruch.
Ein schwerer Atemzug entfährt mir. »Okay. Was ist so wichtig, dass es nicht warten kann?«
»Du sagst, du vertraust mir.«
»Von ganzem Herzen.«
»Dann würdest du mir auch Fehler verzeihen?«
Ein unangenehmes Kribbeln bildet sich in meiner Magengrube. Die Freude von vorhin erlischt mit jeder Sekunde immer mehr. Warum ist diese Frage gerade jetzt so wichtig?
»Das kann ich nicht einfach so beantworten. Es kommt drauf an, was für ein Fehler es ist. Ich meine, die Fehler, die mein Ex gemacht hat, würde ich nicht verzeihen.«
»Ich würde dir niemals mit Absicht wehtun wollen.«
Vergeblich suche ich nach seinen Augen durch das schwarze Visier. »Eneas, was hat das alles zu bedeuten?«
Er greift auf seinen Helm und will ihn abnehmen. Ich halte meinen Atem an, doch mein Puls rast. Mit großer Erwartung fixieren ihn meine Augen, ohne zu blinzeln. Endlich werde ich sehen, wer der Mann hinter der Maske ist – wer der Mann ist, der mein Herz gestohlen hat.
»Wage es ja nicht!«, unterbricht ihn eine Stimme.
Unsere Köpfe drehen sich zu der Person. Ein Phantom!
»Was machst du hier?«, fragt ihn Eneas.
»Dich vor einem großen Fehler bewahren.«
»Halt die Klappe, Costa. Du solltest nicht hier sein.«
Costa? Woran erkennt er ihn oder kennen sie sich schon so gut, dass es keine Schwierigkeit mehr für ihn ist? Wenn ich nicht an ihnen rieche, kann ich sie nicht unterscheiden. Meine visuellen Fähigkeiten sind hingegen nicht so gut. Ich habe versucht, sie an der Frisur oder der Körpergröße zu unterscheiden, aber das sieht alles so ähnlich aus – als wären sie Zwillinge oder in dem Fall Sechslinge.
»Ares schickt mich. Er hat wohl geahnt, dass du etwas Dummes vorhast.«
Eneas’ Brust hebt und senkt sich in einem ungeduldigen Rhythmus, während er scharf ausatmet. »Verschwinde, Costa. Es ist mir egal, was Ares denkt. Das geht ihn nichts an.«
»Oh, er hat mich nicht nur wegen deiner Dummheiten geschickt, sondern ursprünglich, weil es einen Notfall gibt. Deswegen konnte er nicht persönlich deine Show ruinieren und somit musste ich es tun.«
»Was für ein Notfall?«
»Wir haben Zuhörer.« Er nickt in meine Richtung. »Schon vergessen?«
»Ich fahre Helena nach Hause und komme.«
»Es ist dringend und du sollst sofort zu ihm.« Costa steckt die Hände in die Hosentaschen und blickt in den Nachthimmel hinauf. »Ich soll sie fahren.« In seiner Stimme ist deutlich der Unmut zu hören, weil ihm diese Aufgabe zugeteilt wurde.
Ich habe auch keine Lust, von dem Idioten gefahren zu werden.
»Kommt nicht infrage«, beschwert sich Eneas. »Wieso schickt Ares genau dich dafür?«
»Ging nicht anders. Außerdem habe ich auch keine Lust, Eure Hoheit durch die Stadt zu kutschieren. Du brauchst dir aber keine Sorgen machen, ich habe hoch und heilig versprochen, dass ich brav sein werde.«
»Na, das hört sich ja vielversprechend an«, kontere ich sarkastisch.
Costa sieht mich an und ein leises Knurren entweicht ihm.
Eneas tritt ein paar Schritte heran und hebt den Finger, als wäre er ein Lehrer, der seinen Schüler tadelt. »Wehe du hältst dich nicht an dein Versprechen. Du bringst sie heil nach Hause und gehst ihr nicht auf die Nerven.«
Costa bleibt ruhig. »Du kennst mich, Eneas. Du brauchst mir nicht drohen.«
»Du willst mich wirklich mit ihm allein lassen? Ihm?«
Eneas kommt zu mir und nimmt mein Gesicht in seine Hände. »Niemals würde ich dich mit jemandem allein lassen, wenn ich wüsste, dass er eine Bedrohung für dich ist.«
Fassungslos schaue ich ihn an. »Er war im Einkaufszentrum dabei, als man mich mit Schnittwunden übersät hat.« Ich ziehe ein wenig mein Shirt nach unten. »Siehst du? Eine Narbe ist mir sogar geblieben. Vielleicht war es sogar er, der es getan hat.« Ich weiß bis heute nicht, ob es Costa oder Xeno war.
»Ich weiß, dass er dir nichts antun wird. Vertrau mir.« Sein Daumen streift meine Lippen. »Und wir zwei setzen das hier ein anderes Mal fort.« Er nickt in Costas Richtung und klingt amüsiert. »Der Arsch hier hat gerade den Moment zerstört.«
»Selber Arsch«, kontert Costa.
Es ist ein Moment zwischen ihnen, der mir plötzlich die Augen öffnet: Egal, wie sehr sie sich zanken, es besteht eine besondere Verbindung zwischen ihnen allen. Trotz Meinungsverschiedenheiten gibt es keinen Hass. Im Gegenteil, es ist immer eine Art Respekt und Verbundenheit da – wie eine Familie. Und ich muss gestehen, das gibt mir eine gewisse Sicherheit. Außerdem ist auch das Vertrauen zu Eneas da. Er würde mich nicht in Gefahr bringen.
»Okay«, gebe ich nach. »Ich hoffe, ich muss nicht lange warten, bis ich dich wieder sehe.«
»Wirst du nicht. Versprochen.« Seine warmen Hände lassen mein Gesicht los und er lässt uns allein.
Das Brummen seines Motorrads ertönt und verschwindet in der Ferne.
»Gehen wir«, sagt Costa genervt.
Ich hasse es jetzt schon, dass ich die Heimfahrt mit ihm verbringen werde.
Wir erreichen sein Auto – ein Lamborghini, pechschwarz, aber mit dezenten orangen Details, die ihm einen Hauch von Individualität verleihen.
Ich gehe zur Beifahrertür und als ich hinten vorbeigehe, blicke ich unauffällig zu dem Kennzeichen. Ich bezweifle, dass er so dumm ist und mich mit echtem Nummernschild abholt, aber ein Versuch ist es wert. Bei der Tür bleibe ich stehen, nehme einen Kugelschreiber aus meiner Tasche und schreibe das Kennzeichen in meine Handinnenfläche.
Er öffnet das Fenster. »Steig ein oder willst du bis morgen da stehen?«
Ich kann den Kerl einfach nicht ausstehen.
»Ich komme ja schon«, erwidere ich genervt und öffne die Tür.
»Und klopf die Füße ab, bevor du einsteigst.«
Ich beuge mich hinunter, sodass ich ihn sehen kann. »Dein Ernst jetzt?«
»Ja, mein Ernst. Ich möchte keinen Dreck in meinem Auto haben.«
»Weißt du was? Ich nehme ein Taxi.« Ich schließe die Tür und gehe los.
»Du steigst jetzt sofort ein!«
Die dunkle und bedrohliche Melodie seiner Worte dringt tief in mich ein, ein unangenehmes Vibrieren, das bis in meine Knochen zu spüren ist. Ein kalter Schauer läuft meinen Nacken hinauf und meine Schritte werden plötzlich schwer und bleiben stehen. Costa ist schon immer mürrisch mir gegenüber, aber so habe ich ihn noch nie gehört.
Ich drehe mich zu ihm. Okay … was würde passieren, wenn ich ihm nicht gehorche? Kurz überlege ich.
Ich will es nicht wissen. Also gehe ich zurück und steige ein. Natürlich klopfe ich vorher die Füße ab. Freak!
»Schnall dich an.«
»Hör auf, mir ständig Befehle zu erteilen. Ich mache ja schon. Außerdem … siehst du überhaupt was mit der Maske? Es ist Nacht und du musst damit Auto fahren.«
Costas Brust hebt und senkt sich, sein Blick starr nach vorn gerichtet, als wäre meine bloße Anwesenheit in seinem makellos sauberen Auto eine Zumutung. »Zweifle nicht an meinen Fahrkenntnissen.«
---ENDE DER LESEPROBE---
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