Das Aroma der Rebellion - Philipp Gerber - E-Book

Das Aroma der Rebellion E-Book

Philipp Gerber

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Beschreibung

Preguntando caminamos – »Fragend schreiten wir voran« – das ist das Motto der Zapatistas. Der Autor begleitete die zapatistischen Bauernfamilien ein Stück auf diesem Weg – bei ihrer Arbeit auf den Kaffeefeldern sowie in ihrer Kooperative Mut Vitz. Dabei gewann er Einblick in die Geschichte ihres Kampfes um Land und Würde, in den entbehrungsvollen Alltag der indigenen Gemeinden und in die spannenden Prozesse innerhalb der Kooperative. Auch die Partner der Kooperative, die Käuferorganisationen im alternativen, fairen und biologischen Handel, werden – durchaus kritisch – beleuchtet. Die lebensnahe Betrachtungsweise des Verfassers ermöglicht Einblicke hinter die Fassade der Ideologie: Brüche und Widersprüche im zapatistischen Selbstverständnis werden sichtbar. Aber die Berichte der Tzotzil-Bäuerinnen und -Bauern veranschaulichen auch die Ausdauer, den Mut und den Erfindergeist der zapatistischen Basis. Ausgehend von der Kaffeekooperative Mut Vitz wird der Weg der indigenen Autonomie und somit die bisher kaum bekannte Alltagspraxis dieser Aufstandsbewegung skizziert. Die Zapatistas, die wohl beliebteste Projektionsfläche der Globalisierungsgegner*innen, erhalten in diesem Buch Ecken und Kanten – und gewinnen dabei an Profil.

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Seitenzahl: 302

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Im Bundesstaat Chiapas, im abgelegenen Südosten Mexikos, nahm ein mit Macheten und Jagdflinten bewaffnetes Heer von indigenen Kaffeebauern ganze Städte im Handstreich ein: Der Aufstand der Zapatistenguerilla EZLN von 1994 erschreckte die Mächtigen und entzückte die Linken. Woher kam diese ›Rebellion der Habenichtse‹ – und wo stehen die Zapatistas heute?

»Preguntando caminamos« – »Fragend schreiten wir voran« ist das Motto der Zapatistas. Der Autor begleitete die zapatistischen Bauernfamilien ein Stück auf diesem Weg – bei ihrer Arbeit auf den Kaffeefeldern sowie in ihrer Kooperative Mut Vitz. Dabei gewann er Einblick in die Geschichte ihres Kampfes um Land und Würde, in den entbehrungsvollen Alltag der indigenen Gemeinden und in die spannenden Prozesse innerhalb der Kooperative. Auch werden die Partner der Kooperative, die Käuferorganisationen im alternativen, fairen und biologischen Handel, kritisch beleuchtet.

Die lebensnahe ethnographische Betrachtungsweise des Verfassers ermöglicht Einblicke hinter die Fassade der Ideologie: Brüche und Widersprüche im zapatistischen Selbstverständnis werden sichtbar. Aber die Lebensberichte der Tzotzil-Bauern veranschaulichen auch die Ausdauer, den Mut und den Erfindergeist der zapatistischen Basis. Ausgehend von der Kaffeekooperative Mut Vitz wird der Weg der indigenen Autonomie und somit die bisher kaum bekannte Alltagspraxis dieser Aufstandsbewegung skizziert. Die Zapatistas, die wohl beliebteste Projektionsfläche der Globalisierungsgegnerinnen, erhalten so in diesem Buch Ecken und Kanten – und gewinnen an Profil.

Philipp Gerber

Ethnologe, geb. 1971, ist als Gründungsmitglied der Züricher Gruppe Direkte Solidarität mit Chiapas oft in Mexiko unterwegs. Seit 1999 vertreibt die Direkte Solidarität mit Chiapas den Bio-Kaffee der zapatistischen Kooperative Mut Vitz unter dem Namen Café RebelDía. Mit einer Feldforschung bei den zapatistischen Kaffeebauernfamilien schloss der Autor im Frühjahr 2004 das Ethnologiestudium an der Universität Zürich ab.

DAS AROMA DER REBELLION

Zapatistischer Kaffee, indigener Aufstandund autonome Kooperativen in Chiapas, MexikoPhilipp Gerber

Mit 48 Zeichnungen von Christoph Abbrederis

UNRAST

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Danksagung

Mein Dank gebührt den Weggefährtinnen und Freundinnen, die dieses Buch ermöglichten, allen voran den Zapatistas, bei denen ich wohnen und arbeiten konnte. Eine kontinuierliche Unterstützung während Aufenthalt und Verfassen des Buches boten Elena, Romana und die Freundinnen der Gruppe Direkte Solidarität mit Chiapas. Christoph danke ich für die witzigen Zeichnungen, welche das Buch um eine visuelle Dimension bereichern. Und herzlichen Dank auch an Martin, Andre, Peter, Simone, Isabelle und Urs für Korrektur und typographische Gestaltung. Ich hoffe, das Mitwirken an diesem Buch hat alle Beteiligte Freude bereitet und zur Reflexion über die eigenen Schritte auf dem Weg zur Selbstbestimmung angeregt.

Zürich, April 2005

Philipp Gerber.

Philipp Gerber – Das Aroma der Rebellion

ebook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-010-9

© UNRAST-Verlag, Münster

Fuggerstraße 13a, 48165 Münster – Tel. 02501/9178790

www.unrast-verlag.de – [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Christoph Abbredderis (Illustration) und Urs Gägauf (Gestaltung)

Satz: dieanstalt, atelier für typographische gestaltung und illustration, zürich

www.dieanstalt.ch, mit der PMN Caecilia Roman und Trade Gothic

Vorwort zur Neuauflage als eBook

Das vorliegende Buch beschreibt einen entscheidenden Moment der zapatistischen Bewegung: Im Winter 2002/03 bereiteten die Zapatistas die Geburtsstunde der Caracoles vor, der Zentren ihrer politischen Autonomiebewegung. Just in diesen Monaten des Experimentierens mit einer neuen autonomen Struktur entstand dieses Buch. Es gibt Einblick in den Alltag der Bauernfamilien, die Erfolge und die Widersprüche innerhalb dieser indigenen Bewegung in Südmexiko, die bis heute lebendig und widerspenstig ist.

Steueramt gegen Kaffeekooperativen

Seit der Erstauflage des Buches hat sich in Chiapas einiges dramatisch verändert. So war die im Buch porträtierte, erste zapatistische Kaffee-Kooperative Mut Vitz damals auf ihrem Zenit, wurde jedoch wenige Jahre darauf von den mexikanischen Steuerbehörden einer fehlerhaften Abrechnung bezichtigt. Der externe Buchhalter hatte Kaffee-Exporte fälschlicherweise als Verkäufe im Lande gemeldet. Ein reiner Formfehler, der keine Steuerhinterziehung bedeutete, aber die Buße belief sich aufgrund des hohen Umsatzes der Kooperative dennoch auf einen sechsstelligen Eurobetrag, und Mut Vitz ging Konkurs.

Diesen Schlag gegen die Organisation steckten viele Bauernfamilien nicht leicht weg, einige jedoch näherten sich der Kooperative Yachil Xochobal Chulchan an, die bis heute existiert. Auch andere Kooperativen, innerhalb und außerhalb der zapatistischen Bewegung, haben immer wieder mit ähnlichen Schwierigkeiten mit dem gefürchteten Finanzamt zu kämpfen. Diese bitteren Erfahrungen zeigen, dass letztlich die Autonomie der Kooperativen beschränkt ist und der mexikanische Staat auch mit bürokratischen Mitteln solche Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaft angreifen kann. Bei lokalem Handel ist durch Tausch und Informalität ein Wirtschaften außerhalb der staatlichen Kontrolle möglich, beim Export geht das nicht.

Solch strikte staatliche Kontrollen werden selbstverständlich nur bei den kleinen Fischen angewandt, die großen, marktbeherrschenden, agroindustriellen Konzerne praktizieren nicht nur Steuerhinterziehung im großen Stil, sie erhalten sogar noch Zuschüsse aus staatlichen Kassen, was die mexikanische Regierung dann als »Unterstützung der Landwirtschaft« und »Armutsbekämpfung« verbucht.

Klimawandel auf Kaffeefeldern

In den letzten Jahren haben die zapatistischen Gemeinden trotz dieser Rückschläge viele neue Kenntnisse gewonnen. Dies gilt insbesondere für die Frage der internen Organisierung, der Kontakte mit den Käuferkollektiven und der erwähnten Schnittstelle mit dem Staat bei der Exportabwicklung. Aber auch die Kaffeepflanzungen haben einen massiven Wandel durchgemacht. Nach der katastrophalen Regensaison im Sommer 2013 breitete sich ein Pilz namens Roya in Windeseile auf den Kaffeefeldern ganz Mesoamerikas aus. Diese Krankheit entblättert die Bäumchen und reduziert die Ernte der Kaffeebohnen auf einen Bruchteil.

Die Bauern sind sich einig: Der Klimawandel mit seinen Wetterextrem-Ereignissen begünstigte den massiven Pilzbefall. Ein anderer Grund war die Überalterung der Stauden und allgemein die ungenügende Pflege vieler Plantagen in der Region, eine direkte Folge der im Neoliberalismus gefallenen Kaffeepreise. Die zapatistischen Kooperativen widmeten sich in den letzten Jahren mit Unterstützung der Käuferkollektive intensiv der biologischen Schädlingsbekämpfung und der Aufzucht neuer Kaffeestauden, und dies mit Erfolg, sodass im 2018 erstmals wieder eine gute Ernte ansteht.

Käuferkollektive vernetzen sich

Das 2002 gegründete europäische Netzwerk der Käuferkollektive des zapatistischen Kaffees (Redprozapa) hat ebenfalls eine bewegte Geschichte. Die Absprache zwischen diesen Kollektiven hat das Ziel, gemeinsam und untereinander solidarisch mit den Kooperativen im Dialog zu sein. Alle in diesem Kontext anstehenden Themen wie beispielsweise die gerechte Verteilung der Exportmenge unter den Kollektiven, die Schädlingsbekämpfung, die Kaffeepreise und die unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen der Kollektive in Europa werden dabei diskutiert.

Obwohl diese Zusammenarbeit alles andere als einfach war, hat sich das Redprozapa konsolidiert, heute sind darin Kollektive aus einem Dutzend europäischer Länder, von der Bretagne bis St. Petersburg, von Athen bis Helsinki, organisiert. Dieser Organisierungsprozess der europäischen Solidarität stellt eine ganz eigene Erfahrung dar, insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Kommunikationskulturen innerhalb der europäischen Linken, des unterschiedlichen ideologischen Selbstverständnisses und diverser ökonomischer Praktiken. Aber immer wieder mussten wir uns zusammenraufen, denn wie könnten wir vom kollektiven Arbeiten schwärmen und von der Einigkeit der zapatistischen indigenen Bewegung erzählen, wenn wir das nicht in unserer Praxis mitleben?

Da die zapatistische Kaffeebohne in diesen Jahren auch immer mal wieder Mangelware war, erweiterten die Redprozapa-Kollektive auf der Suche nach Zukaufen ihren Blick, besuchten andere Kooperativen mit emanzipatorischen Ansprüchen in Mexiko, Zentralamerika und Kolumbien und ermöglichten so auch anderen organisierten Bauernfamilien ein gerechteres Einkommen.

Es duftet weiter nach rebellischem Kaffee

Seit 25 Jahren sind die Zapatistas eine globale Referenz für die Rebellion unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung. Doch die gesellschaftliche und politische Großwetterlage im heutigen Mexiko ist katastrophal, und der indigenen Bewegung gelang es bisher nicht, das morsche politische System von unten aufzubrechen, auch wenn die Zapatistas in ihren autonom verwalteten Regionen eine Alternative vorleben.

Auch die internationale Solidarität hat in der Zusammenarbeit mit den Kaffeekooperativen eine Praxis gefunden, in der eine andere Welt erahnt werden kann. Zum Verständnis der Entstehung dieses Gegenentwurfs sind die im Buch beschriebene Geschichte der Region und die Jahre nach der Jahrtausendwende von entscheidender Bedeutung. Bei einer guten Tasse rebellischem Kaffee am WG-Tisch ist diese unsere Geschichte eine unverzichtbare Inspirationsquelle für dringend notwendige gesellschaftliche Veränderungen.

Ich möchte diese Neuauflage zwei Compas widmen, die in diesen Jahren von uns gegangen sind: Urs Gägauf, unerwartet 2017 verstorben, gestaltete dieses Buch und viele Grafiken für die Direkte Solidarität mit Chiapas in Zürich. Und Jyri Jaakkola, finnischer Aktivist des Redprozapa, der am 27. April 2010 zusammen mit Bety Cariño in Oaxaca von Paramilitärs ermordet wurde. La lucha sigue!

Philipp Gerber,

im Mai 2018

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage als eBook

Ein Ethnologe zwischen den Kaffeestauden

Chiapas heute: Rebellion und Aufstandsbekämpfung

Geschichten von Fincas, Landkampf und Bauernorganisierung

Die Kaffee-Fincas und die Beziehungen zwischen Indigenen und den Kaxlanes

Aufstieg, Macht und Niedergang der Finqueros am Beispiel der Pedreros

Die Finca-Vorarbeiter als Bindeglied zwischen Kaxlanes und Tzotziles

Indigene Identität auf der Finca

»Das Land zurückholen«: Die Bauernbewegung verjagt die Finqueros

Kleine Geschichte der Gemeinde San Miguel

Landkampf und Gründung der Gemeinde

Kaffeepflanzungen – von der Finca zur kleinbäuerlichen Produktion

Bauernunion, Beratermacht und das Experiment Kipaltik

Die Unión wird von der Regierung vereinnahmt und spaltet die Gemeinden

Der zapatistische Aufstand: die Antwort auf Repression, Kaffeekrise und Kooptation

El Bosque und Simojovel schließen sich den Zapatistas an

Die Aufstandsbekämpfung fasst Fuß

Die Kooperative Mut Vitz: Ein Pionierprojekt der zapatistischen Autonomie

Eine neue Kooperative entsteht- mitten im Krieg

Der biologische Landbau: Diskurs und Umsetzung auf den Kaffeefeldern

Porträt dreier völlig unterschiedlicher Mut-Vitz-Familien

Die Familie des Mut-Vitz-Präsidenten

Eine Großfamilie unter der Ägide von Don Martin

Bittere Armut in Konoetik

Frauenarbeit und Frauenperspektiven

Frauenbeteiligung in der Kaffeeproduktion

Frauenperspektiven im Wandel

Zwei Geschlechter, zwei Kooperativen: Mut Vitz und Xulu'm Chon

Neid und Solidarität in den Gemeinden

Zapatistas bei der Arbeit: Ämter, Sitzungen, Verkaufsstrategien

Die Arbeitsschritte im Export

Das schwere Cargo des Kooperativenvorstands

Cargos zapatistas – Ideologie und Realität

Problemlösungsprozesse innerhalb von Mut Vitz

Der ungleiche Verkauf der Ernte 2001/02

Korruptionsvorwürfe, Kontrollmechanismen und Know-how-Transfer

Exkurs Kaffeemarkt: Konsum und Handel des wichtigsten Agrarprodukts des Trikonts

Kaffeepreiskrise – reine Marktlogik oder pures Machtkalkül?

Alternativer vs. fairer Handel – Prinzipien und Differenzen

Von der antikapitalistischen Praxis zur ›ethischen Nische‹

Und der alternative Handel existiert doch

Mut Vitz auf dem Markt: Konkurrenz unter Compas

Zwei feindliche Brüder: Mut Vitz und Majomut

Kooperation innerhalb der Kooperativenbewegung

Lokale Konkurrenten von Mut Vitz: Tzotzilotic Tzobolotic und CIRSA

Zapatistische Konkurrenz: Mut Vitz und Nueva Luz del Cielo

Der Kampf um den komparativen Vorteil, zapatistisch zu sein

Zwei grundverschiedene Kooperativenmodelle

Die Beziehungen zu den Käuferinnen von Mut Vitz

Mut Vitz als Teil der zapatistischen Bewegung

Indigene Autonomie: zivile Strategien gegen Marginalisierung und Krieg

Kaffeekooperativen als Organisierungsprozess in der zapatistischen Autonomie

Die bäuerliche Identität der ›Bio-Produzenten im Widerstand‹

Mut Vitz als Referenzrahmen der zapatistischen Identität

»Preguntando Caminamos« – Eine erste Bilanz der zapatistischen Regionalautonomie

Die indigene Autonomie – Rückzug ins Schneckenhaus?

Autonomie in allen Bereichen

(Sich) Regieren als kollektiver Lernprozess- mit Defiziten

›Entwicklung‹ von unten: Verwaltung, Gesundheit, Schulen, Kooperativen

Autonome Gerichtsbarkeit

Und die große Politik?

Schlusswort: einige Antworten, viele neue Fragen

Anhang: Kooperativen fairquetschen?Starbucks und Conservation International in Chiapas

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Glossar

Kontaktadressen hüben und drüben

Anmerkungen

Ein Ethnologe zwischen den Kaffeestauden

In Chiapas, diesem hoch politisierten Umfeld, herrscht ein großes Misstrauen gegenüber jedem, der von außen kommt. Erst recht, wenn er Ethnologe ist und von Berufs wegen viele Fragen stellt. Und Fragen hatte ich zuhauf: Was bringt eine Bauernfamilie X dazu, sich an der Kooperative Y zu beteiligen, jahrelang die Annahme jeglicher Subventionen zu verweigern, ohne Lohn an einer Gesundheitsstation mitzubauen, viele Sonntage mit Sitzungen statt mit Kirch- und Müßiggang zu verbringen? Wie stehen die einfachen Bauern und Bäuerinnen zu ihren Kooperativen, wie begründen sie ihre Militanz in der zapatistischen Aufstandsbewegung und welchen Einfluss hat die ethnisch-politische Mobilisierung auf ihr Selbstverständnis als arme Bauern, Bäuerinnen und Indígenas? Auf einen Nenner gebracht: Mich interessierten der Alltag und die Identitätsbilder dieser indigenen Bauern und Bäuerinnen im Widerstand, welche sich in den Kooperativen organisiert haben.

Die Motivation der Zapatistas für ihren zähen Widerstand, dem die Regierungsorgane bisher weder mit Zuckerbrot noch mit der Peitsche beikommen konnte, war also der Dreh- und Angelpunkt meiner Forschung. Ich ging der Frage nach, wie die indigene Autonomie im Alltag, auf dem Kaffeefeld und in der Kooperative praktisch gelebt wird. Dabei verfolgte ich drei große Linien: Die Regionalgeschichte der interethnischen Beziehungen, die Innenansicht der Kooperative Mut Vitz und das Verhältnisses der darin organisierten Bauernfamilien zur gesamten Bewegung der Zapatistas. Über diese Wege versuchte ich, dem spezifisch zapatistischen Aroma der Rebellion auf die Spur zu kommen.

Doch obwohl ich die zapatistischen Gemeinden der Altos seit 1997 mehrmals besuchte – als Menschenrechtsbeobachter, als Kaffeeeinkäufer -wurde ich zuerst einmal in Frage gestellt: Die Zapatistas waren sehr kritisch gegenüber meinem Vorhaben, mit ihnen zusammenzuarbeiten und eine akademische Arbeit über sie zu verfassen. Diese Einstiegsschwierigkeiten wie auch eine generelle Reflexion über die Rolle als Forschender ist unbedingter Teil jeder ethnographischen Arbeit. Denn neben der Konfliktsituation und der sich daraus ergebenden berechtigten Vorsicht gegenüber Außenstehenden muss man sich weiteren Wurzeln des Misstrauens von Seiten der Zapatistas bewusst sein: Angehörige der Berufsgattung Ethnologie (oder Sozialanthropologie) brachten in Chiapas verschiedene Rollenverständnisse mit ins Feld und prägten dementsprechend das Bild des ›Kultur-Forschenden‹[1]. Zudem gerieten Ethnologinnen und artverwandte Wissenschaftlerinnen auch des Öfteren ins Fadenkreuz staatlicher Aufstandsbekämpfung: So wurde in Geheimdienstdokumenten schon von vor dem zapatistischen Aufstand der deutschstämmige Tojolabal-Kenner und Linguist Carlos Lenkersdorff als Drahtzieher von Guerilla-Aktivitäten in Chiapas vermutet. Auch ein lokaler Anthropologe fragte mich vor dem Interview über die Geschichte der Bauernorganisationen vorsichtig, ob ich das Material in Mexiko veröffentlichen würde, denn öffentliche Statements zu gewissen Persönlichkeiten aus der Politik könnten für ihn gefährlich werden: »Diese Krokodile leben alle noch und können kräftig zubeißen[2]«.

Die politische Großwetterlage bei meiner Ankunft im Herbst 2002 war sehr angespannt: In verschiedenen Regionen des Aufstandsgebietes hatten Paramilitärs mehrere Überfälle und Morde an Zapatistas verübt. Gleichzeitig verkündete der oberste mexikanische Gerichtshof, dass den Einsprüchen gegen die völlig verwässerte Gesetzesvorlage zu den indigenen Rechten nicht stattgegeben wird. Damit wurde der Weg zu einer politischen Lösung des Konflikts endgültig verbaut. Zapatistas und andere indigene Organisationen sahen im Verdikt der Judikative den endgültigen Verrat der Friedensabkommen von San Andrés. In diesem schwierigen Moment trat ich also auf die Zapatistas zu mit der Bitte, bei und mit ihnen eine Forschung durchführen zu dürfen…

Die Erlaubnis zum Besuch der Gemeinden und zur Durchführung meiner Studie verzögerte sich denn auch um ganze zwei Monate: Ich musste mich in Geduld üben und auf das formelle Einverständnis der zapatistischen Führung warten. Nach dem negativen Urteil des Obersten Gerichtshofs war die Situation in der Region angespannt, von Seiten der Zapatistas herrschte Funkstille gegenüber der Außenwelt. Während mehrerer Monate fanden interne Beratungen über das weitere Vorgehen statt. Gleichzeitig versuchte ich über alle möglichen Wege, meine Forschungspläne bei den zapatistischen Instanzen vorzubringen. Schließlich stellte sich heraus, dass meine Rollen in der Solidaritätsbewegung und als Teil einer Solidaritätsgruppe, die den Kaffee der zapatistischen Kooperative Mut Vitz in der Schweiz kommerzialisiert, keineswegs ein Hindernis für die Forschung war. Im Gegenteil: Mein Engagement gab offensichtlich den Ausschlag, dass die zapatistischen Strukturen mir trotz ihrer restriktiven Besucherpolitik und ihrem offiziellen Schweigen dann doch die lange ersehnte Erlaubnis für meine Forschungsarbeit erteilten. Meine von mir als problematisch eingeschätzte biographische Vorbelastung wurde somit zum Schlüssel des Zugangs als Forscher – wenn auch meine Rolle als Kaffeekäufer immer in der Arbeit mitschwang. So wurde ich für verschiedene kleinere Aufgaben im Kontakt mit den Käufern in Übersee eingespannt. Und auch in den Gemeinden waren sich meine Interviewpartner sehr wohl meiner Doppelrolle bewusst. Als beispielsweise in der ersten Gemeinde schon beim zweiten Interview nur zwei der fünf Gesprächspartner erschienen – es herrschten hurrikanartige Niederschläge – gemahnte der für meinen Aufenthalt verantwortliche Zapatist an die Disziplin der Kooperativenmitglieder: Das Nichterscheinen meiner Interviewpartner werde bei mir ein schlechtes Bild hinterlassen und das sei besonders bedauerlich, da ich ja Teil einer Käufergruppe ihres Kaffees sei. Von dieser Disziplinierung meiner Gesprächspartner war ich dann eher peinlich berührt.

Viele Kolleginnen und Kollegen konnten jedoch gar keine Forschung mit zapatistischen Gemeinden durchführen, da sie aus Sicht der Zapatistas »aus purem persönlichem Interesse« forschen wollten. Denn, so die Zapatistas sinngemäß: »Wir haben viel Arbeit mit den Besuchern, und nachher gehen sie wieder, schreiben über uns und verdienen dann besser«. Eine solch einseitige Beziehung akzeptieren diese selbstbewussten Forschungspartner nicht! Auch Subcomandante Marcos bestätigte in einem Communique zur indigenen Autonomie diese Einschränkung: In den Gemeinden seien Besucher willkommen, die Forschungen realisierten, aber: »Aufgepasst, nur wenn sie den Gemeinden einen Nutzen bringen«! (2003). Eine seitens der Zapatistas ziemlich nutzenorientierte Einstellung, doch angesichts der großen Armut dieser Bauernfamilien durchaus verständlich und vernünftig.

Die Erteilung der Forschungserlaubnis durch die EZLN hatte noch einen weiteren Haken: Ich ahnte schon im Vorfeld, dass wohl nur die Führung der Zapatistas Auskunft über die politischen Ziele der Bewegung gibt. Die zapatistischen Führungsstrukturen schränkten denn auch meinen Fragebogen mit den Leitfragen für die Interviews mit den Kooperativenmitgliedern ein und strichen die politischen Fragen gänzlich. Ich musste diese Maßnahme wohl oder übel akzeptieren und tröstete mich mit der Empfehlung des österreichischen Ethnologen Georg Grünberg (2002): »Man muss während der Forschung zulassen, dass einen die sogenannten ›Studienobjekte‹ planen. So lässt man Raum für Unvorhergesehenes und kreiert auch Situationen, in welcher die Zielgruppe die Initiative und die Handlungsverantwortung übernimmt«.

Natürlich war das Umgehen der brennenden politischen Fragestellungen in den meist steifen, formalen Interviewsituationen mühsam, und oft dachte ich, dass dieser Maulkorb in politischen Angelegenheiten meine Forschungsfreiheit allzu stark einschränkte. Zudem war bei den Interviews oft eine verantwortliche Person anwesend, welche den Verlauf genauestens verfolgte. Diese strikte Kontrolle der Situation verleitete die Interviewten nicht gerade zu unorthodoxen Aussagen. So verlegte ich das kritischen Nachfragen auf später und erhaschte dann einen Blick hinter die ideologische Fassade in den informellen Gesprächen in den rauchverhangenen Küchen, auf dem Arbeitsweg, in den Pausen der Feldarbeit oder bei der Feierabend-Cola vor dem kollektiv geführten Dorfladen.

Die formalen Interviews – welche ich aus Sicherheitsgründen nicht auf Band aufzeichnen durfte – dienten dazu, einen ersten Eindruck der lokalen Gegebenheiten zu erhalten. Doch auch diese vermeintlich unverfängliche Anfangssituation, beispielsweise mit Fragen zur Dorfgeschichte, stellte sich als tückisch heraus: Schon beim dritten Interview, als es um die Spaltung innerhalb der Gemeinde lange vor dem zapatistischen Aufstand gehen sollte, brach der 93-jährige Dorfälteste von San Miguel, Don Samuel, das Gespräch kurzerhand ab! Für ihn hatte ich mit der Frage nach den Spaltungen innerhalb der Gemeinde schon aktuelles politisches Terrain betreten, was ja untersagt war. Erst nach Rücksprachen konnte ich anderntags das Interview dann doch fortführen. Wobei ich mich jedoch mit meinem starken Interesse für die ›neutralen Personen‹ innerhalb der Gemeinde gleich wieder in die Nesseln setzte… Erst nach längeren informellen Gesprächen gelang es mir, mit Don Samuel eine Vertrauensbasis aufzubauen. Dabei beklagte er als Mitbegründer der Gemeinde die starke Spaltung und meinte ängstlich, dass zahlreiche Leute auf sie zukämen und sie ausfragten. Diese Leute würden nachher die Informationen der Regierung geben, und die Zapatistas könnten dann getötet werden. Don Samuel hat unter seinen vier Söhnen deren drei, die wichtige Positionen in der Partei Partido del Trabajo einnehmen. Mit diesen Söhnen – und Nachbarn – spreche er nicht über Politik, denn »wer weiß, vielleicht reden sie mit der Regierung und die schickt dann Leute, um mich zu töten«.

Neben den informellen Gesprächen waren die zahlreichen internen Sitzungen der Kaffeekooperative eine reichhaltige Informationsquelle. Hier wurden Probleme sehr offen diskutiert und meine Kenntnisse der indigenen Sprache Tzotzil reichten bald einmal aus, um diese Auseinandersetzungen zumindest soweit zu verstehen, dass ich meine Gastgeber anschließend im informellen Rahmen genauer dazu befragen konnte. Dabei wurden auch meine anfänglichen Zweifel, dass ich in meiner Doppelrolle als Kaffeekäufer und Forscher bloß eine geschönte Sicht der Dinge zu sehen bekäme, ausgeräumt. Die sehr unmittelbaren Forschungsmethoden ermöglichten einen differenzierten Einblick in eine Kaffee-Erntezeit, in die Arbeit der Bio-Kaffee-Kooperative sowie in die Auseinandersetzungen zwischen der Kooperative und der politischen Führung der zapatistischen Bewegung.

Der Preis für die Realisierung meiner ethnographischen Arbeit im Konfliktfeld Chiapas war also das Ausblenden politischer Fragestellungen in den Interviews sowie meine klare Parteinahme zugunsten der Zapatistas. Diese Parteilichkeit war jedoch eine wichtige Voraussetzung für das vorsichtige Vertrauen, welches ich wenigstens von dieser Seite gewann. Gespräche mit der Gegenseite innerhalb der Dörfer waren undenkbar. Einzig an einem Dorffest wurde ich zweimal von nicht ganz nüchternen Jugendlichen von der anderen Dorfhälfte angesprochen – und unter den Argusaugen der Zapatistas fanden kurze, unverfängliche Gespräche statt. Da es also schlicht unmöglich war, im Feld mit den anderen Konfliktparteien zu arbeiten, zog ich bei der Auswertung meiner Forschung Material von Forschern und Forscherinnen hinzu, welche sich mit den Nicht-Zapatistas der Region beschäftigt hatten, um so einige Kontrastpunkte setzen zu können.

Insgesamt erwies sich der Fokus auf die Arbeit auf den Feldern und in der Kooperative als außerordentlich glücklich, um auch in diesem hoch politisierten Feld eine ethnographische Forschung durchführen zu können. Die Alltagspraxis und das Selbstverständnis dieser Biobauern im Widerstand und somit die konkrete Umsetzung des zapatistischen Cargo-Systems – der ehrenamtlichen Gemeindeaufgaben – konnten so vertieft bearbeitet werden. Ich hoffe, somit beispielhafte Prozesse der indigenen Autonomie in all seinen Widersprüchen darzulegen, und verstehe diesen Bericht als Anregung für weitere Auseinandersetzungen mit der zapatistischen Bewegung.

Chiapas heute:Rebellion und Aufstandsbekämpfung

Viele historische und politische Ereignisse rund um den zapatistischen Aufstand wurden im Unrast Verlag in den Werken von Luz Kerkeling (»La Lucha Sigue!«) und Gloria Munoz Ramírez (»EZLN – 20 und 10: Das Feuer und das Wort«) ausführlich dokumentiert und kontrovers diskutiert. Von den Zapatistas, von indigener Bewegung und Autonomie wird auch hier die Rede sein. Im Gegensatz zu den historischen und politologischen Analysen auf der Makroebene kann die in diesem Buch angewandte ethnographische Herangehensweise mit der so genannten ›Froschperspektive‹ verglichen werden: Durch die ethnologische Methode des teilnehmenden Beobachtens‹ wollte ich in Erfahrung bringen, warum gerade diese Bauernfamilien sich als Zapatistas organisierten, wie sie es schafften, eine eigene, autonome Kooperative aufzubauen, und wie Kooperativenprojekt und zapatistische Bewegung zueinander stehen. Ausgehend vom detailliert beschriebenen Fallbeispiel der Kooperative Mut Vitz und der beteiligten Gemeinden sollen auch kritische Fragen an diese soziale Bewegung insgesamt gestellt werden können. Doch bevor ich zum Bericht komme, soll zur Erinnerung der Konflikt in Chiapas kurz skizziert werden, damit das politische Feld des Forschungsaufenthalts abgesteckt ist.

Wir erinnern uns: Die EZLN, diese indigene Armee, welche keine Guerilla sondern eine reguläre Streitmacht sein will, erklärte 1994 dem mexikanischen Staat offiziell den Krieg. Schätzungsweise 5.000 Kämpferinnen und Kämpfer besetzten handstreichartig mehrere Städte, darunter San Cristóbal de las Casas. Der Beginn des bewaffneten Aufstandes, der 1. Januar 1994, ist ein Datum mit großer symbolischer Bedeutung, trat doch Mexiko gleichentags dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen bei. Für die politische Klasse Mexikos war diese Rebellion der Peripherie eine böse Überraschung: Sie wurde am Tage des vermeintlichen Eintritts in die Erste Welt an das kleinbäuerliche und indigene Mexiko erinnert. Mit diesem »Ya Basta!« trat die marginalisierte indigene Bevölkerung als selbstständiger politischer Akteur in Erscheinung und katapultierte sich mit der Forderung nach einem selbstbestimmten, würdigen Leben in die Öffentlichkeit. Aufgrund massiver Proteste der mexikanischen Bevölkerung verkündete der mexikanische Präsident schon zwölf Tage nach Ausbruch der Auseinandersetzungen einen Waffenstillstand.

Die »Rebellion gegen das Vergessen« hatte ihr erstes Ziel erreicht: Mexiko musste seine Beziehungen mit der indigenen Bevölkerung im politischen und diskursiven Feld neu verhandeln. Offene militärische Auseinandersetzungen zwischen der EZLN und der Bundesarmee waren seit 1994 nur noch sporadisch zu verzeichnen – diese fanden nicht zufälligerweise auf dem Gebiet der Kaffeekooperativen statt, welche ich hier beschreiben werde. Die zivile Basis der EZLN und mit ihr die autonomen Strukturen rückten ins Visier der Aufstandsbekämpfung. So im Frühjahr 1998, als fünf einflussreiche autonome Bezirke gewaltsam geräumt wurden – darunter auch San Juan de la Libertad, in dem ich forschte. Mehrere Zapatistas wurden bei diesen Aktionen ermordet und viele Verantwortliche der autonomen Verwaltung wegen ›Usurpation öffentlicher Ämter‹, also illegaler Übernahme von Verwaltungsfunktionen, verhaftet. Die Mechanismen der Aufstandsbekämpfung sind im chiapanekischen Kontext bis heute omnipräsent, weshalb ich kurz darauf eingehen werde.

Low intensitywarfare – ›Kriegsführung niederer Intensität‹ – mit diesem euphemistischen Begriff wird die Doppelstrategie der mexikanischen Regierung zur Eindämmung des Aufstands beschrieben. Ich möchte diesen politischen Kampfbegriff eigentlich eher vermeiden, denn erstens verharmlost er die Methoden der Aufstandsbekämpfung, welche alles andere als von ›niederer Intensität sind. Und zweitens wurde im postrevolutionären Mexiko schon lange vor der – in der US-amerikanischen School of the Americas entwickelten[3] – Strategie des so genannten Low intensity warfare eine spezifisch mexikanische und lange Zeit sehr erfolgreiche Mischung von politischer Machtausübung praktiziert: Die zwei Hauptingredienzien der mexikanischen Politik waren einerseits Kooptation (das Kaufen und Vereinnahmen von unabhängigen Organisationen) und, wenn dies nicht oder nicht vollständig gelang, gezielte Repression. So kamen in den Siebziger Jahren in einem schmutzigen Krieg gegen Guerillabewegungen in Südmexiko zahlreiche Menschen um und mehrere hundert gelten bis heute als verschwunden. Der Schriftsteller Vargas Llosa bezeichnete dieses mexikanische System einmal zutreffend »perfekte Diktatur«.

Seit Mitte der Achtziger Jahre entwickelte sich jedoch ein immer breiterer Widerstand gegen die ›Dinosaurier‹ der Staatspartei PRI. Der zapatistische Aufstand war ein weiteres klares Zeichen für den Verfall der 70 Jahre andauernden Einparteienherrschaft. Wolfgang Gabbert (1997) spricht in diesem Zusammenhang von den Grenzen der Kooptation. Im chiapanekischen Kontext ist noch die kontraproduktive Wirkung der entfesselten Repression hinzuzufügen, deren Härte in den Achtziger Jahren unter dem Gouverneur, Großgrundbesitzer und Ex-General Absalón Castellanos Dominguez zum rasanten Wachstum der klandestinen Aufstandsbewegung EZLN beitrug. Viele Führungsfiguren der Bauernbewegungen sahen keinen anderen Weg mehr als die bewaffnete Verteidigung.

Seit 1994 heißt Aufstandsbekämpfung in Chiapas einerseits die Militarisierung der Region, die Einsätze von Polizei und Militär gegen die Zivilbevölkerung, aber auch die gezielte Verbreitung von Falschinformationen sowie die Terrorisierung und die Vertreibung der Unterstützungsbasen der EZLN durch paramilitärische Gruppierungen. Zusätzlich soll die Basis der EZLN über das Angebot von Subventionen und von Programmen zur Armutsbekämpfung ausgedünnt werden. Dabei sind staatliche Hilfestellungen jedoch traditionellerweise an parteipolitische Loyalitäten gebunden.

Ein Drittel der mexikanischen Bundesarmee ist im zapatistischen Gebiet auf über hundert Militärposten verteilt. Die Präsenz der Soldaten führt zu starken Spannungen innerhalb der indigenen Dörfer. Während einige Familien mit den Soldaten zusammenarbeiten, ihnen Tortillas, Alkohol oder gar ihre Töchter verkaufen, versuchen andere, die Uniformierten aus ihrer Gemeinde zu verbannen. Oft wird von Seiten der Militärs den Oppositionellen in einem schmutzigen Kleinkrieg das Leben schwer gemacht: Die Zapatistas beklagen immer wieder Drohungen, sexuelle Übergriffe und mutwillige Zerstörung von Äckern oder Saatgut. Seit 1995 wurden auch gezielt geostrategisch wichtige Regionen paramilitärisiert, insbesondere die an den ölreichen Bundesstaat Tabasco angrenzende Zona Norte. Die in Straffreiheit agierenden bewaffneten Gruppierungen rekrutieren sich dabei aus den regierungstreuen Familien derselben Dörfer – oder aus den Pistoleros der Großgrundbesitzer, welche schon vor dem Aufstand das Faustrecht durchsetzten.

Im Kontext von Aufstand und Aufstandsbekämpfung sind die Dörfer durch eine tiefe Spaltung entlang den politischen Zugehörigkeiten gekennzeichnet. Alte lokale Rivalitäten entladen sich häufig in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Im Diskurs der Regierung werden diese dann gerne als inner- oder zwischendörfliche Angelegenheiten bezeichnet, welche die vermeintlich ›unzivilisierten‹ Indígenas leider nicht gewaltfrei lösen würden. Armee- und Polizeieinheiten werden dann als ›Ruhestifter‹ in den konfliktiven Gemeinden stationiert. Auch das berüchtigte Massaker von Acteal (am 22.12.1997), welches die Paramilitärs in Hörweite von Polizei- und Militäreinheiten veRúben konnten, hatte seinen Ursprung in einem Streit zwischen zwei Dörfern um ein Gelände. Zur Analyse dieser Gewalteskalationen wäre eine eingehende »dichte Beschreibung der Gewalt« (Höpken/Riekenberg 2001: XII) notwendig, also eine Herangehensweise an das Ereignis politische Gewalt‹ in seiner Symbolik, seiner Dynamik, seiner Körperlichkeit – und auch in seinem lokalen und historisch-politischen Kontext. Nur angedeutet werden kann hier beispielsweise, dass die Paramilitärs beim Massaker von Acteal eine vergeschlechtlichte Gewalt gegen die mehrheitlich weiblichen Opfer anwandten – dies wohl nicht ein primäres Ziel der Aufstandsbekämpfung, sondern wohl eher zur Sicherung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, welche durch die erstarkenden oppositionellen Kräfte im Bezirk Chenalhó aufzubrechen drohten[4]. Auch zeigt die oftmals starke lokale Verankerung der Paramilitärs in ihren Gemeinden, dass die Täter nicht bloß als simple Erfüllungsgehilfen der staatlichen Aufstandsbekämpfung gesehen werden können. Dennoch ist der Aktionsradius dieser bewaffneten Gruppen meist klar durch die staatliche Strategie der Aufstandsbekämpfung definiert. So werden sie denn auch in internen Papieren als »Selbstverteidigungskräfte« oder »besonders patriotische Personen« bezeichnet.

Die Aufstandsbekämpfung, mit deren Hilfe die zivile Basis durch Verfolgung und Vertreibung von der Guerilla und somit ›der Fisch vom Wasser getrennt werden soll, war jedoch bisher nicht erfolgreich. Die militärische Besetzung der Aufstandsregion seit der Offensive vom Februar 1995 lastet auf den Gemeinden, die sich jedoch nur nicht-militärisch in Demonstrationen und anderen Aktionen zur Wehr setzen. Auch auf einen Bruderkrieg mit den Paramilitärs ließ sich die EZLN nicht ein. Im Gegenteil: Die Zapatistas entdeckten das ›Wort‹ als ihre stärkste Waffe. Oder eine andere Lesart: Sie wichen – vielleicht nicht zuletzt auch aufgrund ihrer offensichtlichen militärischen Schwäche – auf die Diskursebene aus. Im Ringen um die Definition einer »neuen Nation« (Kollewe 2002) wurde diese Taktik in unzähligen Communiques, in den zum breiten Dialog umfunktionierten Friedensverhandlungen und in riesigen Mobilisierungen perfektioniert. So weit, dass beispielsweise Anne Huffschmid die EZLN gar als eigentliche »Diskursguerilla« bezeichnet (2004). Wobei klar zu konstatieren bleibt, dass es der EZLN und den mit ihr sympathisierenden Organisationen bisher nicht gelang, Regierung und Parlament zur Umsetzung des ersten Abkommens der Friedensverhandlungen über indigene Rechte und Kultur zu bewegen. Deshalb verharren die Zapatistas in ihrem Widerstand, nehmen grundsätzlich keine Hilfe von Seiten des Staates an – also keine Subventionen, keinen Dünger und keine anderen assistenzialistischen Dienstleistungen –, welche in der Konfliktregion vor allem durch das Militär geleistet werden.

Seit Mitte 2003 haben die Zapatistas begonnen, ihre de facto-Autonomie[5] offen und für alle sichtbar zu gestalten: in den Caracoles genannten regionalen Zentren und mit den indigenen Räten der Guten Regierung. Damit ist einige Bewegung in die verfahrene Konfliktsituation gekommen. Doch dazu später, denn mein Aufenthalt lag just in den Monaten der verdeckten Entstehung dieser neuen Autonomiestrukturen. Im Nachhinein stellte ich fest, dass wohl viele der von mir beschriebenen Problemstellungen während meines Aufenthaltes im Winter 2002/03 den Prozess in Richtung der Caracoles abzeichneten, welche dann im August 2003 eingeweiht wurden.

Im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, wie wichtig für das Verständnis der indigenen Bewegung von heute die lokale Geschichte ist und wie stark die heutigen Zapatistas diese ihre Geschichte immer noch bewegt. Insbesondere die Erfahrungen der Indigenen mit den mestizischen Gutsherren, Händlern, staatlichen Funktionären und Beratern der Bauernorganisationen sind für das Verständnis der zapatistischen Bewegung zentral. Als Einstieg in den lokalen Kontext folgt nun deshalb ein detaillierter Rückblick in die Zeiten lange vor dem zapatistischen Aufstand, in denen die Besitzer der großen Kaffee-Fincas das Sagen hatten. Dann ist die Rede von den Bauernorganisationen, welche das Land besetzten und die Finqueros vertrieben. Viele neue Gemeinden entstanden in dieser Zeit. Erste Projekte der Vermarktung der selbständigen Kleinbauernfamilien entstanden – und scheiterten. All diese Erfahrungen des Kampfes um ein würdiges Leben gingen dem zapatistischen Aufstand voraus.

Geschichten von Fincas,Landkampf und Bauernorganisierung

Warum haben sich gerade die Bauernfamilien der Region von Simojovel und El Bosque autonom in der Kaffeekooperative Mut Vitz organisiert? Diese Leitfrage soll über dem Geschichtsteil stehen. Zum Verständnis vieler Haltungen und Strategien der Gegenwart erwies sich die Geschichte der interkulturellen Beziehungen zwischen den Indigenen und den Mestizen als fundamental: Die Arbeitswelt auf den großen Fincas, der Landkampf, der Aufbau der Gemeinden sowie die Organisierung in den Bauernorganisationen. Mit welchem Erfahrungsschatz, mit welcher Geschichte des ›Kulturkontaktes‹ waren diese Familien und Dörfer ausgestattet, als sie von der zapatistischen Bewegung erfuhren und dieser beitraten? Mein Augenmerk in den Gesprächen zur Geschichte richtete ich auf die Wahrnehmung der ›Anderen‹, der Kaxlán[6] – und damit auch auf das Selbstbild der Tzotzil-Indigenen, das sich gewandelt hat im Kontakt mit mestizischen Enganchadores (›Anwerber‹ der Erntearbeiter auf den Fincas), mit den Finqueros, den Verwaltern der Fincas sowie mit den Funktionären des Staates, den Beratern der Bauernorganisationen und den Coyotes genannten lokalen Kaffee-Aufkäufern.

Auf der Skizze ist die Mut Vitz-Region abgebildet, welche im Norden des chiapanekischen Hochlandes, den Altos liegt und an die Bezirke der Zona Norte angrenzt. Die zwei wichtigsten ehemaligen Fincas, La Trinidad und Cucalvitz, sind eingezeichnet ebenso wie das heutige Einflussgebiet der Kooperative Mut Vitz, das sich auf Dörfer entlang der Straße von San Andrés nach Simojovel erstreckt. Die Kooperativen-Dörfer befinden sich in den Bezirken San Juan de la Libertad (offiziell: El Bosque), Santa Magdalena de la Paz (offiziell: Aldama, ehemals Chenalhó) und Simojovel de Allende, das erstmals Ende Juli 2003 mit einem autonomen Namen ›16 de Febrero‹ versehen wurde (Subcomandante Marcos 2003). Die Region ist für chiapanekische Verhältnisse gut erschlossen: Die meisten Gemeinden haben Trinkwasseranlagen und Elektrizität. Steinhäuser, Despulpadoras für das Entkernen der Kaffeekirschen und gemeinsam genutzte Autos zeugen vom bescheidenen Wohlstand, der mit der Produktion des Kaffees in den seltenen Zeiten der Börsenhausse erreicht wurde. Allerdings wird das Land knapp: Viele Söhne der Ejidatarios, der Gründergeneration der Gemeinden, müssen ihr Auskommen anderswo suchen. Hinzu kommt die seit Mitte der Neunziger Jahre andauernde Preiskrise, welche den Kaffee-Anbau unrentabel macht.

Die Kaffee-Fincas und die Beziehungen zwischen Indigenen und den Kaxlanes

Schon in prähispanischer Zeit trieb die Bevölkerung des Bernsteingebiets Simojovel regen Handel mit den Völkern Mexikos. Die spanischen Kolonialherren banden die Region bald in die Weltwirtschaft ein: Simojovel wurde das königliche Monopol der Tabakproduktion zugesprochen, die Tabakwirtschaft wurde direkt über die königliche Kasse kontrolliert (Perez Castro 1995: 304). Die indigene Bevölkerung, die in den alten Pueblos wie Simojovel oder San Pedro Nixtalucum ansässig war, ist daher schon lange konfrontiert mit exportorientierten Agrarbetrieben und einer spanischen, später mestizischen Oberschicht. Die Berichte nach der mexikanischen Unabhängigkeit von 1824 zeichnen ein eindeutiges Bild von der Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft: Es gab keine Lohnarbeit, nur Arbeit gegen Wohnrecht auf dem Land, das sich die reichen Familien unter den Nagel reißen konnten: Da die Landtitel aus der Kolonialzeit oft verloren gegangen, verrottet oder nie vorhanden waren, wurde das Land zu Tierra baldía (dt.: Niemandsland) erklärt. Als der Staat nach dem verlorenen Krieg gegen die USA in den 1840er Jahren bankrott war und den Staatsangestellten keine Löhne mehr auszahlen konnte, bekamen viele Familien zwecks Schuldentilgung Tierra baldía zugesprochen, so die berühmten Familie Larrainzar in San Andrés oder die Familie de Carpio, die in San Pedro Nixtalucum eine Finca gründete und der auch das Land der Gemeinde San Miguel gehörte, welche weiter unten porträtiert werden wird. Ganze indianische Dorfgemeinden wurden einfach zu Baldíos erklärt und hatten in der Folge Arbeitsverpflichtungen für den Besitzer des Landguts zu erfüllen.

Diese Großgrundgüter waren vorwiegend auf den lokalen Markt ausgerichtet, produzierten Mais, Zucker und Tabak. Sie waren nicht sonderlich produktiv, doch ihre Besitzer hatten Posten im Staatsapparat inne und bauten so ihre Machtpositionen stetig aus. Um 1860 begann man mit einer ›besseren‹ Ausnutzung der indigenen Arbeitskraft: Die Tamemes, indigene Träger, wurden mit Lasten zwischen Chiapas und Tabasco hin- und hergeschickt. Diese Schwerstarbeit wurde ebenfalls in Abhängigkeitsdiensten geleistet, es gab keine Bezahlung, lediglich Verpflegung. Laut dem Historiker Justus Fenner[7] waren zeitweise annähernd vier Fünftel der männlichen Bevölkerung der Altos ständig auf Wanderschaft, was für die indigenen Dörfer großes Leid bedeutete. Noch heute reden die Alten mit Ehrfurcht von den schwer vorstellbaren Entbehrungen, denen ihre Väter und Großväter ausgesetzt waren.

Ab 1875, in der Regierungszeit des Diktators Porfirio Diaz, wurde dann das – übrigens auch im heutigen Neoliberalismus gleich lautende – Modernisierungsrezept angewandt: Ein massiver Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Straßen- und Eisenbahnbau, sollte Mexiko den Fortschritt bringen. Mit dem Straßenbau in den Altos verringerte sich die Zahl der indigenen Träger, nun wurden vermehrt Ochsenkarren eingesetzt. Kurz vor der Jahrhundertwende konnte mit Hilfe von ausländischem – vor allem deutschem – Kapital ein viel versprechendes Exportprodukt nach Chiapas eingeführt werden: Kaffee. Der Kaffeeanbau begann in den südlichen Regionen des Soconusco und der Frailesca,[8] aber auch in der Region von Bochil bis Simojovel und Huitiupán entwickelte sich rasch eine durch ausgeklügelte Patron-Klient-Beziehungen geprägte Kaffeewirtschaft, ein eigentliches wirtschaftliches und soziales ›Finca-System‹. Die Zahl der chiapanekischen Fincas und der kleineren, Ranchos genannten Kaffeebetriebe verdoppelte sich in den Jahren von 1890 bis 1910 (Toledo 2002: 45f.). Viele indigene Dörfer verloren nun auch noch ihre verbliebenen Ländereien und wurden in die Produktion von Kaffee, Bananen, Zuckerrohr zwecks Alkoholgewinnung sowie Holzexport eingebunden.

Nach den Wirren der mexikanischen Revolution von 1910-20[9] versuchte der wirtschaftlich daniederliegende postrevolutionäre Staat seinen Einfluss auf die Kaffeewirtschaft auszubauen und gründete 1936 eine Einheitsgewerkschaft der indigenen Arbeiter. Die Großbetriebe im Hochland nahe San Cristóbal (Tenejapa, Chenalhó, San Andrés und Municipio San Cristóbal) wurden Anfang der 40er Jahre unter Leitung von Erasto Urbina enteignet (diese Epoche ist lokal als Agrarismo bzw. Revolución india bekannt). Die zögerliche Agrarreform unter dem Präsidenten Cárdenas führte zwar zur Kooptation und teilweisen Integration der indigenen Gemeinden des Hochlandes in den postrevolutionären Nationalstaat (Rus 1998; Toledo 2002: 69) und erste Ejidos