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Als Isabelle Poole dem Entwicklungspsychologen Dr. Preston Grind begegnet, ist sie gerade erst aus der Highschool, von ihrem Kunstlehrer schwanger und auf sich allein gestellt. Izzy weiß, dass sie eine gute Mutter sein kann. Ganz ohne Geld und Familie wird es trotzdem nicht gehen. Grind hat sein Leben damit verbracht, Familien zu studieren, nachdem er in seiner eigenen Kindheit in Abgründe geschaut hat, und eine ganz eigene Theorie entwickelt. Izzy lässt sich auf ein Experiment ein, das ihr Leben verändern wird. So witzig wie warmherzig, so skurril wie lebensklug zeigt uns Kevin Wilson, dass die besten Familien die sind, die wir uns jenseits aller Konventionen selbst erschaffen.
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2019
Zum Buch
Als Isabel Poole dem Entwicklungspsychologen Dr. Preston Grind begegnet, ist sie gerade erst aus der Highschool, von ihrem Kunstlehrer schwanger und auf sich allein gestellt. Izzy weiß, dass sie eine gute Mutter sein kann. Ganz ohne Geld und Familie wird es trotzdem nicht gehen. Grind hat sein Leben damit verbracht, Familien zu studieren, nachdem er in seiner eigenen Kindheit in Abgründe geschaut hat, und eine ganz eigene Theorie entwickelt. Izzy lässt sich auf ein Experiment ein, das ihr Leben verändern wird. So witzig wie warmherzig, so skurril wie lebensklug zeigt uns Kevin Wilson, dass die besten Familien die sind, die wir uns jenseits aller Konventionen selbst erschaffen.
Zum Autor
KEVINWILSONbegann mit dem Schreiben, weil er einsam war und glaubte, sobald er gute Geschichten schrieb, würde er unwiderstehlich werden. Heute lebt er mit seiner Frau Leigh Anne Couch und ihrem gemeinsamen Sohn Griff in Tennessee, wo Wilson geboren und aufgewachsen ist. Er unterrichtet Kreatives Schreiben an der University of the South. Seine Erzählungen und sein Roman »Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung« begeisterten Kritiker wie Leser. Bei btb erschien außerdem »Das Große-Schwestern-Handbuch: Nachschlagewerk für sensible Jungs«.
Kevin Wilson
Das Beste, was Izzy Poole passieren konnte
Roman
Aus dem Amerikanischen von Xenia Osthelder
Für Griff und Patch
»Wir waren einmal eine große Familie, erinnerst du dich, eine große, glückliche Familie.«
Shirley Jackson, »Wir haben immer im Schloss gelebt«
»Wir sind die Gärtner und hätten der Garten sein können.«
Leigh Anne Couch, »Obsolescence«
Izzy brummte der Schädel an dem Morgen, als sie alle offiziell vorgestellt werden sollten. Für die meisten von ihnen war die Spannung zu viel gewesen. Nach den vielen Jahren, die sie auf diesen Moment warteten, hatten sie sich so überfordert gefühlt, dass sie am Abend vorher ihre Zuflucht zu mehreren Flaschen Bourbon genommen hatten, was zwar keineswegs verboten war, aber nicht gern gesehen wurde.
»Was würden die Kinder denken?«, hatte Julie gefragt, die ihr drittes Glas schon fast ausgetrunken hatte. Ihr Mann Link spielte auf seinem Banjo eine rasante Version von »She’ll Be Coming Round the Mountain«, und es klang wie auf dem Rummelplatz. Anfangs hatte Izzy mitgesungen, versucht, mit der Musik Schritt zu halten, konnte sich aber nicht daran erinnern, was die Frau außerdem noch tat, als zu kommen, immer wieder um den Berg herum zu kommen, nie ganz da zu sein, und so hatte sie aufgegeben und sich dem beruhigenden Geschmack des Alkohols hingegeben, dem dicken Belag, den er wie eine Vergoldung auf der Zunge hinterließ.
»Noch wichtiger, was würde unser Herr Doktor denken?«, kam es von Harry, der recht gekonnt im Tonfall Dr. Grinds fortfuhr: »Bitte nicht unter dem Aspekt von Gut und Böse, sondern nur unter dem von Gütig und Herzlos.«
»Also, dieser Bourbon ist gütig, soviel steht fest«, kicherte Ellen. Keiner im Innenhof gab sich Mühe, die Stimme zu dämpfen und Rücksicht auf diejenigen Paare zu nehmen, die vor dem großen Ereignis gut schlafen wollten.
»Wie anders wird es sein, ich meine, tatsächlich?«, fragte Kenny. »Ich weiß, es ist wichtig, etwas Wichtigeres dürfte es kaum geben, schätze ich, aber ich steige einfach nicht dahinter, was es für ein Gefühl sein wird.«
Die Männer und Frauen verstummten, erlaubten sich kurz den Fehltritt, in die Zukunft zu blicken, schenkten dann aber wieder eine Runde nach, ohne Rücksicht darauf, wie viel sie tatsächlich trinken wollten oder mussten.
Izzy war zu klug, um es laut zu äußern, aber sie konnte sich durchaus vorstellen, wie eine neue Bezeichnung, wobei der Name selbst nebensächlich war, zur Folge hatte, dass man sich anders fühlte, wenn man sich berührte. Sie dachte an alle bisherigen Umarmungen und Küsse und wie sich solche Zärtlichkeiten unweigerlich verändern würden, weil ihrer beider Vorstellung von der Welt durch die neue Bezeichnung erweitert würde. Was als eine Sache bekannt gewesen war, würde eine andere Sache werden. Es würde erschreckend sein und aufregend, und wenn ihr Wunsch in Erfüllung ginge, hätte sich alles Bisherige gelohnt.
Jetzt saßen sie zu neunzehnt unbequem auf dem Fußboden, weil die Stühle des Klassenzimmers für die Körper von Erwachsenen zu klein waren, und warteten auf Dr. Grind. Die Namen und Gesichter waren Izzy so vertraut, dass sie die Anwesenden tatsächlich als Brüder und Schwestern betrachtete oder doch zumindest als ihre Großfamilie. Wie auch immer sie die anderen bezeichnen mochte, die Vertrautheit, die sie empfand, enthielt Gott sei Dank keinerlei Anflug von sexuellem Verlangen. Ihre Gruppe setzte sich aus neun Paaren und Izzy zusammen, die allein zu ihnen gestoßen war. Die anderen waren davon ausgegangen, dass sie jemanden kennenlernen und schließlich heiraten würde, aber für Izzy war das nicht in Betracht gekommen. Etwas Wichtigeres stand auf dem Spiel, wie Dr. Grind sie alle wieder und wieder ermahnte. Sie mussten flexibel und offen sein und sich von den Erwartungen frei machen, die sie in ihrem früheren Leben, bevor sie sich zusammengefunden hatten, gehegt haben mochten.
In diesem heiteren, farbenfrohen Klassenzimmer versuchte Izzy sich zu konzentrieren, den schleichenden Verdacht auszublenden, dass sie nicht nur einen Kater hatte, sondern richtig krank war und Gefahr lief, sich gleich auf ihre Schuhe zu übergeben und den entscheidenden Augenblick zu verderben. Sie riss sich so lange zusammen, bis sie sich stark fühlte. Es war ihr größtes Talent, sich gegen Momente der Schwäche so zu wappnen, dass sie selbst und die Menschen um sie herum geschützt waren.
Endlich erschien Dr. Grind, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, als machte es ihn verlegen, dass er glücklich war und andere Leute, die es vielleicht nicht waren, sein Glück miterleben mussten. Er trug ein kurzärmeliges weißes Hemd mit einem roten Schlips, graue Hosen und graue Sportschuhe, seine Uniform. Es war genau der richtige Look, er wirkte nicht steif wie ein Wissenschaftler, hatte nichts von einer Intelligenzbestie, kam aber auch nicht verknittert und geistesabwesend daher, was es Izzy schwer gemacht hätte, ihm zu vertrauen. Er war gepflegt, schien sich in seiner Haut wohlzufühlen und machte den Eindruck, viel jünger als vierunddreißig zu sein. Er wirkte kindlich, aber ernsthaft. War es verwunderlich, dass Izzy möglicherweise in ihn verliebt war, als er leicht schlurfend den Raum betrat?
»Ich werde heute nicht groß auf die Familie eingehen, warum und weshalb wir hier sind, und auch nicht auf die anderen Dinge, über die wir ständig reden«, begann er. Julie, der ihr heftiger Kater anzusehen war, begann zu weinen. Dr. Grind und ihr Mann wandten sich ihr schnell zu, um sie zu trösten. Sie entschuldigte sich, riss sich zusammen, und Dr. Grind richtete sich wieder auf und setzte seine Rede fort.
»Selbst wenn Sie sich in Gedanken oft damit befasst haben, es ist und bleibt ein großer Brocken, den Sie heute verdauen müssen. Ich lasse Sie jetzt in den jeweiligen Raum bringen, warten Sie dort auf die Kinder. Und denken Sie daran, dieser Augenblick ist für Sie persönlich zwar sehr wichtig, die Kinder sind jedoch erst fünf Jahre alt, für sie wird dieser Moment lange nicht so erschütternd sein wie für Sie. Und bedenken Sie auch, es kommt nicht darauf an, was sich hier und heute abspielt, sondern was später im Leben geschieht. Ihnen stehen etwa dreißig Minuten zur Verfügung, vielleicht etwas länger, dann beginnt der Unterricht auf dem Naturlehrpfad. Und vergessen Sie nicht«, er hob die Hände, wie um zu zeigen, dass es hier nichts Geheimnisvolles gab, dass er ihnen nichts vorenthielt, »Ihre Kinder sind wunderbar und lieben Sie, und Sie lieben sie ebenfalls, und nichts, was heute geschieht, kann daran etwas ändern.« Wieder lächelte er in die Runde, strahlte vor aufrichtiger Zuneigung und verließ den Raum. Darin lag seine Stärke, er hielt gute Ansprachen, wirkte gütig und tüchtig und verließ dann das Zimmer und überließ sie sich selbst.
Das Personal trat ein und führte die Erwachsenen nacheinander aus dem Klassenzimmer. Roberto, der den Kindern Spanisch beibrachte und für den Sportunterricht zuständig war, berührte Izzy an der Schulter und bedeutete ihr mitzukommen. Sie holte tief Luft, nahm die angebotene Hand, stand auf, bereit für alles, was da kommen mochte.
Sie stand im leeren, hallenden Speiseraum. Man hatte sie alle angewiesen, keine Geschenke mitzubringen, keine Bilder oder Süßigkeiten, nichts, was die Kinder ablenken könnte. Sie wünschte sich jedoch, etwas in der Hand zu halten, zur Beruhigung ihrer Nerven.
Natürlich hatte sie ihn fast täglich gesehen, hatte ihn in den Arm genommen und in den Schlaf gewiegt, aber von jetzt ab würde es anders sein. Es würde für immer anders sein und doch hoffentlich genauso wie immer. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich einen Menschen an ihrer Seite, einen Partner. Doch sofort wies sie den Wunsch von sich; diesen Augenblick wollte sie ganz allein erleben.
Die Tür öffnete sich, und Roberto machte ihr ein Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Izzy nickte. Roberto verschwand, und plötzlich war er da. Ein kleiner Junge stand in der Tür. Ihr kleiner Junge. Ihr Sohn.
Er kam in den Raum, schon winkend, schon lächelnd, hielt aber abrupt inne, als er sie wahrnahm.
»Izzy?«, sagte er, neugierig, offen.
»Hi, Cap«, erwiderte sie, kaum in der Lage, den Schock zu verkraften, wie er da vor ihr stand, sie allein mit ihm, nur er und sie.
»Du bist meine Mama?«, fragte er vorsichtig, zu ängstlich, um sich ihr zu weit zu nähern. Ihr Herz brach an den Stellen, wo es immer gebrochen worden war.
»Ja, mein Süßer«, antwortete sie lächelnd.
»Du hast mich gemacht?«, fragte er und rückte ein Stück näher.
»Wir haben dich alle gemacht«, erwiderte sie, ein Mantra der Gruppe wiederholend, fügte aber hinzu, »aber ich habe dich am meisten gemacht.«
»Mama«, sagte er sachlich. Er winkte ihr wieder zu, sie winkte zurück.
»Ich bin deine Mama«, bestätigte sie und hielt die Luft an, als sie seine Aussage wiederholte.
»Gut.« Er lächelte und ließ sich von ihr in den Arm nehmen, und sie drückte ihn an sich und hatte das Gefühl, es sei zum ersten Mal.
»Es ist gut«, sagte sie, den Jungen in den Armen, den Sohn, den sie aufgegeben und doch behalten hatte, das ungeplante Kind, das sie nicht inniger hätte lieben können.
»Wir sind eine Familie«, sagte er, und sie wusste, dass er alle meinte, die anderen Kinder, die anderen Eltern und Dr. Grind, aber sie tat so, als meinte er nur sie beide.
»Wir sind eine Familie«, erwiderte sie und drückte ihn immer noch fest an sich. »Wir sind die beste Familie auf der großen, weiten Welt.«
Drei Stunden nach ihrer Abschlussfeier saß Izzy auf einer Parkbank neben ihrem Kunstlehrer Mr Jackson und teilte ihm mit, dass sie schwanger sei. Das Geständnis fiel ihr schwer, aber die große Erregung in ihr hielt die Angst in Schach. Sie hatte die verhasste Highschool hinter sich gebracht; sie war auf der anderen Seite angekommen, frei, die vier Jahre waren nur eine Narbe, die ihre Persönlichkeit auf Dauer interessanter machen würde. Sie trug ihre besten Sachen, ein dünnes Sommerkleid von Target in Murfreesboro, grün und weiß, wie die Fahne eines exotischen afrikanischen Staates. Es passte gut zu ihren kräftigen, dichten Sommersprossen, ihrem hellbraunen, für die Verabschiedung kurz geschnittenen Haar und ihrem runden, gescheiten Gesicht. Sie sah besser aus, als sie sich fühlte, und befürchtete, mit ihrer Unbesiegbarkeit wäre es in dem Augenblick vorbei, wo sie auf den Prüfstand kam.
Um ihre Nerven zu beruhigen, spielte sie mit der Bommel ihres Baretts, das sie in ihrer Hand hielt. Als ihre Mitschüler die Kappen in die Luft warfen, hatte sie die ihre festgehalten. Die Gründe dafür durchschaute sie nur insofern, als sie wusste, dass sie inmitten anderer Menschen nie wirklich feiern konnte. Glück war für sie etwas Kleines, Stilles, und man zeigte es, wenn niemand dabei war. Tatsächlich aber war sie in ihrem Leben noch nicht oft genug glücklich gewesen, um ihre Überzeugung durch einschlägige Erfahrungen untermauern zu können.
Mr Jackson war ihr Lieblingslehrer gewesen. Der Mittdreißiger hatte noch nicht jenen Punkt erreicht, wo jeder zweite Satz im Unterricht sarkastisch und ohne echtes Gefühl geäußert wird. Bevor er vor zwei Jahren in der Coalfield Highschool angefangen hatte, war er freischaffender Künstler gewesen, hatte in Europa ausgestellt und war ansatzweise berühmt. Seine Familie gehörte zu den oberen Zehntausend von Tennessee. Und doch unterrichtete er geistige Nullen am Arsch der Welt, sodass Izzy sich verwirrt gefragt hatte, ob er edelmütig oder dumm war oder vielleicht, vor allem, angeschlagen?
In der ersten Kunststunde ihres letzten Schuljahres hatte er eine leere Vase auf eine Trittleiter gestellt und gefragt, ob das Kunst sei. Die meisten Schüler hatten mit Nein geantwortet. Dann hatte er die Vase mit Blumen gefüllt. »Und jetzt?« Eine größere Zahl Schüler hatte seine Frage bejaht. Er leerte die Vase wieder. »Und wenn ich in die Vase pinkelte?« Niemand, inklusive Izzy, sagte ein Wort, aber ohne Zweifel schenkten jetzt alle ihrem Lehrer, dessen Khakihose mit Farbe bespritzt war und in dessen abgetragenem, verblichenem Baumwollhemd ein Päckchen Zigaretten steckte, ihre Aufmerksamkeit. Seine Züge erinnerten an einen Filmstar aus alten Zeiten, sie wirkten hager und zerklüftet, aber nicht verlebt. Sein kurzes, vorzeitig ergrautes Haar verstärkte den Eindruck von Weisheit. »Die Antwort, Kinder, lautet, dass alles Kunst ist.« Dann forderte er die Schüler auf, Beispiele für seine Behauptung zu liefern. »Und wenn Sie die Vase in Stücke schlagen?«, wollte einer wissen. Mr Jackson erwiderte, auch das sei Kunst. »Und wenn sie die Vase ficken?«, fragte einer aus der Gruppe der Kiffer, begleitet von einem grässlichen Hahaha seiner Freunde, das Gelächter darstellen sollte. »Dann erst recht«, erwiderte Mr Jackson.
Bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte, fragte Izzy: »Und wenn es keine Kunst sein soll?«
Er wandte sich ihr zu, offen, entgegenkommend. »Wie ist das zu verstehen?« Sie wurde verlegen, weil die ganze Klasse auf ihre Antwort wartete.
»Was wäre, wenn Sie extra darauf hinweisen würden, dass die Vase nur eine Vase und kein Kunstwerk ist?«
Seine Augen verrieten einen Anflug von Besorgnis, als wüsste er genau, was sie meinte, und wollte das, was nun kam, lieber nicht sagen. Das Schweigen wurde bedrückend, während er den Blick auf sie gerichtet hielt und dann leicht mit den Schultern zuckend sagte: »Es tut mir leid, selbst dann wäre es immer noch Kunst.«
Da verliebte sie sich in ihn, in seine liebenswürdige Antwort. Blitzartig breitete sich in jenem Moment die Zukunft vor ihr aus: Sie würde seine heimliche Geliebte werden, sie würden den größten Teil des Jahres miteinander verbringen, sie würde jetzt von ihm schwanger werden.
»Ich bin schwanger«, sagte sie zu Mr Jackson, der aus Nostalgie Traubenlimonade aus Glasflaschen trank. Er riss sich ein Bein aus, um Dinge zu finden, die besser schmeckten, weil sie selten waren. Anstelle einer Antwort nahm er die halb volle Flasche und schleuderte sie ins Gras, sodass sie dumpf in zwei Hälften zerbrach.
»Nicht gut, Izzy«, sagte er mit abgewandtem Gesicht, als sei er plötzlich verlegen; ein Warnsignal, dass ein heftiger Wutausbruch in der Luft lag.
»Ich weiß, dass es nicht gut ist«, antwortete sie, etwas verärgert über seine Reaktion. Sie hatte zwar damit gerechnet, und doch hatte sie im Innersten ihres Herzens gehofft, dass er sie mit den Worten umarmen würde, alles sei in Ordnung, und sie würden alle drei eine glückliche Familie werden. Hoffnung, verdammt, wie sie die hasste, diesen Lichtsplitter, von dem man glaubte, dass er das Herz füllen konnte. »Ich weiß, dass es nicht gut ist«, wiederholte sie, »deshalb sage ich es dir, denn wir beide haben das verbrochen, und nun müssen wir überlegen, was wir tun.«
»Bist du dir sicher?«, fragte er. Der letzte Strohhalm. Was für ein Klischee.
»Ich bin so sicher, wie man sein kann, ohne sich an Dritte zu wenden.« Fünf Schwangerschaftstests, in der Drogerie gestohlen, weil sie teurer waren, als so etwas Deprimierendes je kosten dürfte. Sollten doch die Leute, die ein Kind wollten, dafür bezahlen.
Er wand sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Selbst jetzt noch empfand sie Zärtlichkeit für ihn. Sie berührte seine Schulter; er zerbrach unter dem minimalen Druck auf seinen Körper und schluchzte tief auf, als hätte jemand einen schweren Stein auf seine Brust gewälzt. Sie ließ ihr Barett los und legte ihre Hände auf sein Gesicht, um ihm mit ihrer Willenskraft die Stärke zu geben, sich zu fassen. Es war eine verwirrende Frage, dachte sie, wer von ihnen beiden mehr Hilfe brauchte. Schon vor einer ganzen Weile war ihr aufgegangen, dass sie genau genommen beide welche brauchten. Wie wunderbar wäre es, was für ein Glück für sie, wenn sie einander retten könnten.
Er fasste sich wieder. Seine Stimmungen waren so wechselhaft wie das Wetter. »Tut mir leid. Es sollte nicht um mich gehen, ich weiß.«
»Ist schon gut, Hal«, erwiderte sie. »Ich kann dich verstehen.«
Wie von einer plötzlichen Eingebung getroffen, erstarrte er und blickte ihr in die Augen. »Willst du deshalb nicht studieren?«
Warum konzentrierte er sich nicht auf ihre Schwangerschaft?, fragte sie sich. War es denn so schwierig, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass sie schwanger geworden war, weil sie im vergangenen Schuljahr ziemlich viel Zeit mit Sex verbracht hatten, und dass die offenkundigen Probleme dieser Schwangerschaft auf die eine oder andere Weise gelöst werden mussten? War es nötig, diese hoch entflammbare Konstellation noch mit weiteren Elementen anzureichern, nur um zu erleben, wie sie miteinander reagierten?
»Das hat damit nichts zu tun«, entgegnete sie und senkte ihre Hände, weil ihr eingefallen war, dass sie auf einer Bank in einem öffentlichen Park saßen. »Ich habe noch nie auf die Uni gehen wollen, das habe ich dir schon tausend Mal gesagt. Du meinst, ich soll studieren, aber für mich kam das nie infrage. Das Kind ist einfach unser ganz spezielles Pech.«
»Gut, gut, ist ja schon gut«, lenkte er ein und wehrte sie mit einem Wedeln seiner Hand ab. »Gut, denken wir nach.« Er hielt inne. Dann beugte er sich vor und holte einen Umschlag aus dem Rucksack zu seinen Füßen. »Ich habe dir eine Glückwunschkarte mitgebracht.« Er hielt sie ihr hin.
Sie schlug ihm den Umschlag aus der Hand. »Das Kind, Hal! Gütiger Gott! Können wir über das Kind reden?«
»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte er, sein Gesicht sehr offen und traurig.
Wieder überkam sie ein Schwindelgefühl. Es war so merkwürdig, wie Zärtlichkeit und Besessenheit in einem unvollkommenen Körper nebeneinander existieren konnten.
»Ich habe keine Ahnung. Dafür ist es wohl noch zu früh.«
»Was machen wir also?«, fragte er, und sie war erleichtert, dass er sich endlich mit der Frage befasste, mit dem Blindgänger in ihrem Schoß.
»Was ich will, weiß ich«, sagte sie, »aber was wollen wir?« Gleich als sich der erste Test als positiv herausstellte, hatte sie das Kind behalten und es großziehen wollen, um ihr unvorstellbar trostloses Leben um seinetwillen in etwas Wunderschönes zu verwandeln. Aber ihren Wunsch laut auszusprechen, es Mr Jackson, Hal, zu sagen, schien ihre Kräfte zu übersteigen. Sie war so oft in ihrem Leben enttäuscht worden, wenn sie um etwas gebeten hatte, dass sie sich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern konnte. Diesmal würde sie sich zurückhalten und abwarten, ob sich ihre Wünsche wie durch Zauberei erfüllten.
»Das ist unfair«, sagte er. »Ehrlich, warum können wir nicht einfach darüber reden, was wir tun wollen?«
»Können wir. Ich will nur, dass du anfängst.«
Er warf wieder einen Blick auf die Karte im Gras zu ihren Füßen. Als wäre die Antwort auf ihrer Innenseite zu finden. »Da sind fünfzig Dollar für dich drin.«
»Nun fang schon an.«
»Ich sage ja nur, dass wir daran denken müssen, sie aufzuheben, bevor wir gehen.« Er sah auf den verlassenen Park, ein armseliger Vorwand für ein großes Wort, nur ein paar Bänke, viele Bäume und ein Weg, der so wenig gepflegt war, dass man ihn kaum benutzen konnte. Im vergangenen Jahr hatten sie sich hier viele Dutzend Mal getroffen. Ein Mal jedoch nicht, als das Kind gezeugt wurde, hatten sie mitten in der Nacht genau auf der Bank, auf der sie saßen, Sex gehabt. Izzy begriff nun, wie unbekümmert sie gewesen waren. Wie konnte es angehen, dass sie nicht damit gerechnet hatten, irgendwann dafür büßen zu müssen?
»Alles in allem«, fing er schließlich an, jedes Wort dehnend und in ihrem Gesicht nach einem Gefühl, einer Orientierungshilfe suchend, »sollten wir wahrscheinlich richtig gut darüber nachdenken …« Er brach ab und holte tief Luft. »Wir sollten wahrscheinlich darüber nachdenken, ob …« Wieder musterte er sie auf der Suche nach einer Reaktion, aber sie versteckte ihre Gefühle so geschickt wie ein Roboter. »Ja, wir sollten wahrscheinlich einfach … sollten dieses beschissene Kind einfach haben, meine ich.«
Weniger romantisch oder noch gefühlloser hätte er sich nicht ausdrücken können, aber sie hatte den Punkt erreicht, wo sie bereit war, alles zu akzeptieren. Sie brauchte keine tief empfundene Rede auf das Leben und ihre gemeinsame Zukunft. Sie brauchte dieses Kind. Warum das so war, hoffte sie eines Tages zu verstehen. Sie brauchte dieses Kind, und er hatte es ihr geschenkt.
Sie küsste ihn, schmiegte sich so eng an ihn, wie es ihrem Körper möglich war, hörte nicht auf, ihn zu küssen, als wollte sie ihn daran hindern, seine Meinung zu ändern. Sie vergaß oder ignorierte vielmehr, dass sie in einem öffentlichen Park waren und ihre Beziehung geheim. Oder vielleicht spielte die Geheimniskrämerei auch keine Rolle mehr für sie. Ziemlich bald würde man ihr ihren Zustand ansehen, und Hal würde in aller Öffentlichkeit ihre Hand halten, und alles würde von selbst gut werden. Sie fühlte in jenem kurzen Augenblick, wie ihr Leben einen Bogen beschrieb und sich um so viele Grade verlagerte, dass ihr von den neuen Möglichkeiten übel wurde. Sie war, verdammt noch mal, auf dem Höhepunkt ihres Glücks.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Wir gehen ins Kino.« Sie bückte sich nach der Karte und nahm, ohne das Geschriebene zu lesen, die drei Scheine heraus, eine Zehn- und zwei Zwanzigdollarnoten. »Ich bezahle«, sagte sie, noch immer lächelnd.
Sie fuhren fünfundvierzig Minuten nach Georgia hinein, was sie immer machten, wenn sie sich gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegen wollten, und sie verspürten noch keine Lust, gerade jetzt damit aufzuhören. Izzys Vater, der nicht wusste, dass seine Tochter keine Freundinnen hatte, würde davon ausgehen, dass sie mit ihnen unterwegs war, um zu feiern, und sie würde getrost spät nach Hause kommen können. Ihre Gefühle zu zeigen war nicht ihr Ding, jedes Zeichen von Verliebtheit außerhalb der Privatsphäre war ihr verhasst, aber jetzt ließ sie ihre Hand auf seinem Bein liegen, während er fuhr. Sie versuchte, positiv zu denken und gleichzeitig mögliche Katastrophen realistisch ins Auge zu fassen.
Seit sie im Auto saßen, hatte Hal kein einziges Wort geäußert. Von Zeit zu Zeit fletschte er nervös die Zähne wie ein in die Enge getriebener Hund. Hal hatte eine ganze Reihe nervöser Angewohnheiten, von denen jede ihre Rolle bei einer Symphonie sich ständig vermehrender innerer Zwänge spielte. Mal zuckte sein Nacken, mal fletschte er die Zähne, mal brüllte er mit abgerissenen Atemstößen irgendeinen Blödsinn, mal versteiften sich seine Muskeln so heftig, dass er zu krampfen schien, und mal rannte er ohne Vorwarnung mit dem Kopf gegen die Wand. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Auftreten seiner Ticks zu erahnen und ihnen ein Ziel zu geben. Gewöhnlich war es Sex. Heute Abend das Kino. Welche Ablenkung sie auch wählte, sie musste wirken, bevor er sich zu weit in seinen Zustand hineingesteigert hatte.
Es war noch früh, sie wollte das Glück nicht trüben, das sie über seine Zustimmung zu ihrer Schwangerschaft empfand, aber es war noch kein Wort darüber gefallen, wie sie vorgehen würden. Es war noch keine Rede davon gewesen zusammenzuziehen. Keine Rede davon, ihre Beziehung in der Stadt bekannt zu geben, obwohl sie nicht sehr viel länger geheim zu halten war. Auch über das Heiraten hatten sie noch nicht gesprochen, was für ein merkwürdiges Gespräch das sein würde. Sie hatte gehofft, einige Themen hier im Auto auf dem Weg ins Kino zu klären, aber Hal steigerte sich in einen Erregungszustand hinein. So blickte sie einfach unverwandt nach vorn und hoffte, dass sie sich beide mit der steigenden Zahl der zurückgelegten Kilometer verwandeln würden.
In der Highschool war sie eine glatte Einserschülerin gewesen. Sie war so brillant und ihr schien alles so mühelos zuzufallen, dass die Lehrer sie schlichtweg vergaßen. Für den Stoff hatte sie zuvor wenig Begeisterung gezeigt, sodass ihre fehlerfreien Testergebnisse als eine Art Zufall angesehen wurden und die Lehrer sich statt mit ihr mit denjenigen guten Schülern befassten, die ihre Aufmerksamkeit einforderten. Vom ersten bis zum letzten Schuljahr hatten ihr die Beratungslehrer versichert, sie erhielte ein volles Stipendium für jede staatliche Universität ihrer Wahl, aber sie hatte nur ruhig und höflich erwidert, dass sie daran kein Interesse habe. Sie war intelligent und schämte sich dessen nicht, aber wenn sie über ihren Aufgaben saß und lernte, löste das in ihr die Furcht aus, ihr Leben einer Sache zu widmen, für die sie sich eigentlich nicht interessierte und die sie letzten Endes enttäuschen würde. Sie sah sich in einem Job, der ihr nur wenig mehr als den Mindestlohn einbringen würde, und sie wäre so beschissen dran, als hätte sie nicht noch vier weitere Jahre Schule angehängt. Sollte es tatsächlich nicht laufen, würde sie es mit der Volkshochschule versuchen, dieses Zugeständnis würde sie machen, dachte sie, aber vorerst würde sie bei ihrem Vater bleiben und weiter in der Küche des Grills Zum ganzen Schwein arbeiten, wie schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Es war, wie sie sich jeden Morgen und jeden Abend vorbetete, ein Leben, das gut genug war.
Und dann war Hal Jackson auf der Bildfläche erschienen, und wenn sie auch nicht daran gedacht hatte, seinetwegen ihre Zukunftspläne zu ändern, hatte sie nichts gegen eine Veränderung der Gegenwart. Sie war eines Tages nach dem Unterricht zu ihm gegangen, einen Monat nachdem er ihr gegenüber Zeichen von Zärtlichkeit hatte erkennen lassen, und hatte ihn in den Plan eingeweiht, den sie sich ausgedacht hatte. Ihr Problem war Folgendes: Sie war die beste Schülerin ihres Jahrgangs. Ihre Durchschnittsnote war die beste, und obwohl sie keine Absicht hatte, zur Uni zu gehen, hatte sie sich auch in den wenigen zusätzlichen Kursen, die ihre Schule anbot, voll eingebracht. Die beste Schülerin musste eine Abschlussrede halten, Scheiße, sogar die zweitbeste. Dazu war sie nicht in der Lage. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie diese Rede klingen würde, wenn ihre Lippen vor Angst gelähmt waren. Was konnte sie überhaupt sagen, das nicht unnötige und unangenehme Aufmerksamkeit auf sie lenken würde?
Mr Jackson hatte nicht verstanden, wo ihr Problem lag. »Dann setze ein paar Prüfungen in den Sand«, hatte er ihr geraten. »Das geht nicht.« Auf die Frage, warum nicht, konnte sie keine befriedigende Antwort geben. »Ich schätze, das ist für mich kein Ausweg. Dafür bin ich zu stolz, habe ich gerade gemerkt«, hatte sie schließlich gesagt. Mr Jackson wollte wissen, was er in diesem Fall tun könne. »Sie könnten mich durchfallen lassen«, erwiderte sie lächelnd.
»Eigentlich hatte ich vor, dir allein schon für den ersten Monat eine Eins plus zu geben.«
»Aber ich will, dass Sie mich durchfallen lassen. Ich bitte Sie, mich durchfallen zu lassen.«
»Nichts zu machen!« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wenn Sie mich nicht durchfallen lassen, tu ich einfach nichts mehr für Ihr Fach.«
»Du willst also absichtlich durchfallen?«
Sie wusste, sie war in eine Falle getappt, war sich aber nicht sicher, wer sie gestellt hatte. »Ja, schätze ich mal.«
»Verstehst du, warum ich verwirrt bin?«
Sie nickte. Aber dass er sie verstehen sollte, verlangte sie gar nicht. Sie bat ihn um Hilfe. »Ich will keine Rede halten. Ich will nicht, dass die Leute mich ansehen. Ich will nicht, dass sie sich fragen, warum ich die Abschiedsrede halte und noch nicht einmal auf die Uni gehe.«
»Moment, warum willst du denn nicht auf die…«, begann er, aber sie fiel ihm ins Wort.
»Es geht darum, dass ich Sie bitte, mir zu helfen. Sie sind mein Lieblingslehrer, der beste Lehrer, den ich je hatte, und ich bitte Sie, mir zu helfen. Ich gebe mir Mühe in Ihrem Unterricht, und Sie geben mir eine Sechs, und alles ist gut.«
Sie konnte sehen, dass er nicht begriff, was los war. Dann sah sie, wie seine Verwirrung und Bestürzung plötzlich verschwanden, und für einen kurzen Moment hatte sie Angst vor ihm.
»In Ordnung«, sagte er. »Abgemacht.«
»Danke, vielen Dank, Mr Jackson.« Sie schrie beinahe.
»Aber Durchfallen ist nicht drin. Ich gebe dir ein Ausreichend, meinetwegen auch ein knappes Ausreichend, aber ich lasse dich nicht durchrasseln.« Er lächelte wieder, und sie fühlte die Wärme seiner Güte.
Ohne nachzudenken – oder vielleicht dachte sie auch mit solcher Intensität, dass ihre Fantasien Wirklichkeit wurden – legte sie die Arme um ihn und küsste ihn. Als es vorbei war und etwas vollkommen Neues begonnen hatte, sah er ihr in die Augen, und sie lächelte ihn ohne Vorbehalte an.
»Glückwunsch«, sagte er. »Aus Gründen, die ich nicht durchschaue, bist du nicht länger die intelligenteste Schülerin dieser Schule.«
»Schön, das zu hören«, antwortete sie. »Es tut so gut, das zu hören.«
In Georgia kaufte Izzy von ihrem geschenkten Geld zwei Karten für einen Film, der laut den Besprechungen so vielschichtig und kompliziert war, dass er den Kinobesucher in der ersten Stunde durch seine überraschenden Wendungen mindestens drei Mal völlig verblüffte. Sie entschied sich für ihn, weil sie hoffte, die schwierige Handlung würde Hal zwingen, sich auf den Film zu konzentrieren, statt an ihre Schwangerschaft zu denken. Natürlich konnte ihre Taktik auch nach hinten losgehen, und er würde den Film innerlich ausblenden und vor Angst über seine vergangene, gegenwärtige und zukünftige Rolle bei Izzys Zustand einfach nur zittern und beben.
Sie bestellte einen Riesenbecher Limo, in der Hoffnung, dass der Zucker sie beide wachhalten würde. Sie vermutete, dass Koffein und Zucker schlecht für das Kind waren, aber weil es noch so früh in der Schwangerschaft war, ging sie von einer Art Galgenfrist aus. Es war ihr in dieser ersten Woche, seit sie von ihrer Schwangerschaft wusste, schwergefallen, sich vorzustellen, dass das Kind ein eigenes Leben hatte. Sie dachte es sich immer noch wie einen neu entdeckten Muskel oder Knochen ihres Körpers, der keine Veränderung ihres Lebensstils erforderlich machen würde. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie in Zukunft auf sich aufpassen musste, um das Kind nicht zu gefährden. In der Pubertät hatte sie ihren Körper wie ein Schiff behandelt, das unter einem Fluch steht, das nie gewartet, nie gepflegt wurde, und das sie steuern konnte, bis es explodierte oder unterging. Nachdem sie die Limonade bezahlt hatte, redete sie sich noch einmal ein, dass sie eine Galgenfrist hatte, nahm zufrieden einen kräftigen Schluck und unterdrückte, so gut es ging, die Rülpser, die nicht auf sich warten ließen. Hal schwieg zu der Limo, entweder aus Solidarität oder weil er sich in seinem Kopf in immer kleinere Schachteln vergrub.
Genau in der Mitte des Saales fanden sie Sitze, um die herum alles frei war, und Hal holte als erstes sein Handy heraus und entfernte den Akku. Er hatte eine Heidenangst, er könnte zum öffentlichen Ärgernis werden, wenn es während des Films klingelte, und war nicht bereit, sich mit dem Abstellen des Geräts zu begnügen. Würde sie ihm vorschlagen, ging es ihr durch den Kopf, sein Handy auf Vibrieren zu stellen, es würde einen Anfall bei ihm auslösen. Er reichte ihr seinen Akku. Ihr eigenes Telefon hatte sie im Auto gelassen, weil sie seine Ängste kannte. Sie steckte den Akku in ihre Handtasche, damit er möglichst weit von seinem Gerät entfernt war. Aber Hal, noch immer nervös, legte als nächstes Brieftasche, Kleingeld und Lippenbalsam zusammen mit dem hohlen Handy auf den Boden zu seinen Füßen. Auf alles, wobei er entspannt sein musste, hatte er ihr einmal erklärt, musste er sich gründlich vorbereiten, damit er überhaupt eine Chance hatte, sich zu entspannen. Ihr machte das absolut nichts aus, sie sah mit Freude zu, wie er alles, was ihn ablenken konnte, von seinem Körper entfernte und sich dabei allmählich beruhigte. Es war, als würde sie eine merkwürdige, andersartige Form von Yoga miterleben. Er reichte ihr seinen Schlüsselbund, denn es würde klirren, wenn er ihn versehentlich mit den Füßen berührte. Nachdem er seine Taschen geleert hatte und endlich frei war, sich auf den Film zu konzentrieren, küsste er Izzy auf die Wange, das erste Zeichen von Zuneigung, seit sie den Park verlassen hatten. In diesem Moment betraten zwei junge Männer die Reihe hinter ihnen und stießen beim Hinsetzen gegen Izzys Sitz. Sie registrierte Hals Irritation darüber, dass sich ein fremder Mensch in die Nähe eines anderen fremden Menschen setzte. Er beruhigte sich jedoch in dem Moment wieder, als die Vorschau anlief, und Izzy beobachtete, wie sich seine Augen im Widerschein des grünen Leuchtens der Leinwand erwartungsvoll weiteten. Was immer als Nächstes geschehen würde, sein Körper schien dafür bereit zu sein.
Nachdem Izzy und ihr Lehrer ein Paar geworden waren – im vielleicht weitesten Sinn des Wortes –, verstand sie ihn besser und warf gleichzeitig einen Blick hinter die Fassade, was sie beides äußerst aufregend fand. Er war tatsächlich so gütig, witzig und beschlagen, wie er sich im Unterricht gab. Alles, was sie in jener täglichen Kunststunde an seiner Person interessant fand, vermengte und verdichtete sich. Sein beträchtlicher Reichtum, endlose Zuwendungen aus dem Fonds, den seine Eltern für ihn eingerichtet hatten, ermöglichte ihm den Zugang zu einer Welt, die Izzy merkwürdig berührte, auch wenn sie nicht aktiv daran teilhaben konnte. Auf die Galaveranstaltungen in Nashville zugunsten der Tennessee Arts Commission konnte sie ihn nicht begleiten. Sie konnte auch nicht in den Frühjahrsferien für eine Woche nach Belgien fliegen, nur um dort an der Vernissage eines berühmten Künstlers teilzunehmen. Sie hörte jedoch von diesen erstaunlichen Dingen, die er beiläufig erwähnte und als selbstverständlich hinnahm. Er war Kunstlehrer an einer Highschool und trotzdem Millionär und Mann von Welt. Das machte in ihren Augen beinahe einen Superhelden mit geheimem Leben aus ihm, und es stand nicht zu erwarten, dass sie jemals wieder jemanden kennenlernen würde, der diesem Ideal so nahekam.
Als seine Geliebte – Gott, was für ein entsetzliches Wort, denn Izzy sah sich nur als sein Mädel, als gehörte sie in einen Comicstrip der Dreißigerjahre – gewann sie auch Einblick in die verborgenen, weniger glanzvollen Seiten seines Lebens. Er war Kunstlehrer geworden, weil sich seine Karriere schnell in Nichts aufgelöst hatte. Er habe kein Talent; bei seiner berühmten Ausstellung in Europa, gab er bereitwillig zu, habe es sich nur um ein einziges Bild gehandelt, das neben einem Dutzend Werke anderer Künstler in einer Londoner Behörde gezeigt worden sei. Er unterrichte, weil seine Eltern ihn nach seinem Scheitern zu einem Studium gezwungen hatten. Er sollte etwas aus seinem Leben machen. Er hielt sich für einen Versager, wenngleich einen wahnsinnig reichen Versager, dank des Vermögens seiner Familie. Was Izzy mehr beunruhigte, obwohl sie es auf merkwürdige Weise auch tröstlich fand, waren seine offenkundigen psychischen Probleme, Zeiten tiefster Depression, die mit unglaublich manischen Perioden abwechselten. Medikamente und Therapien sollten sie in Schach halten, aber manchmal setzte er sich über beides hinweg, es schien, als wollte er riskieren, den Verstand zu verlieren. In der Schule fiel seine Labilität nicht sofort auf. Er hielt sich sowieso nicht an den Lehrplan, und sein Unterricht war eigenwillig, selbst wenn er in bester Verfassung war. Als sie jedoch mehr Zeit mit ihm verbrachte und ihn besonders in intimen Augenblicken erlebte, wurde sie Zeuge seiner Labilität und erschrak, wie groß sie war. Manchmal entwischte sie nachts von zu Hause oder fuhr nach der Arbeit im Grill in sein Bauernhaus, wo sie trotz des mehrere Hektar großen, vor neugierigen Blicken abgeschirmten Geländes ihren Pick-up vorsorglich in der Garage parkte, und traf ihn angetrunken und die Tatsache bejammernd an, dass ihre gegen das Gesetz verstoßende Affäre Izzy ruinieren und ihn in den Abgrund stoßen würde.
»Ich gebe mir ja Mühe«, klagte er einmal, »aber egal wie das hier ausgeht, ich habe das Gefühl, dass du eines Tages die Welt verabscheuen wirst, und alles wird allein meine Schuld sein.«
Sie küsste ihn und überflog die Titel seiner Criterion Collection, Filme, die ihr fremder als Porno waren, und antwortete: »Die Welt habe ich schon verabscheut, bevor ich dich kennengelernt habe. Deinetwegen verabscheue ich sie weniger.«
Manchmal konnte Izzy ihn aus einem Tief herausholen, aber manchmal war sein Zustand so leicht entflammbar, dass er nach einem Gegenstand in seiner Reichweite griff und ihn auf dem Steinfußboden zerschmetterte. Er warf so lange mit Dingen um sich, bis die Welt aus winzigen, scharfkantigen Stücken bestand und wieder verständlich für ihn war. Kleinlaut versuchte er anschließend die Scherben zu beseitigen. Ging er barfüßig durchs Haus, trat er unfehlbar in einen winzigen Keramik-, Glas- oder Plastiksplitter, der Besen oder Staubsauger entgangen war, und zuckte zusammen. War sie dabei, freute es sie, wie die Überbleibsel seines Verhaltens ihn bissen. Sie trug immer Schuhe in seinem Haus.
Izzys Mutter, die an Herzversagen starb, als ihre Tochter dreizehn war, hatte gegen Ende ihres Lebens große Angst vor der Welt gehabt und ihr Haus nur noch äußerst selten verlassen. Es wurde weder festgestellt, was ihr fehlte, noch war sie behandelt worden. Izzy war so sehr an psychische Labilität gewöhnt, dass sie sich fragte, ob vielleicht alle Menschen außer ihr davon betroffen waren. Hals Probleme überraschten sie nicht, sondern bestätigten nur nach und nach, was sie bereits wusste. Er war Künstler, er hatte versagt, als er seine Begabung entwickeln wollte, er unterrichtete an einer öffentlichen Schule, und er liebte sie, eine Achtzehnjährige, er konnte also nur verrückt sein. Manchmal glaubte sie, immun gegenüber Psychosen zu sein, weil sie ihnen so oft ausgesetzt gewesen war, dass sie Abwehrkräfte entwickelt hatte. Und dann hatte sie die Ergebnisse ihrer Schwangerschaftstests gesehen, die erschreckende, allumfassende Panik ungebremster Gefühle erlebt und begriffen, wie dumm es von ihr gewesen war sich einzubilden, dass sie lächerlicher Zwerg auch nur annähernd unbesiegbar sein könnte.
Der Film war so kompliziert wie angekündigt, so reich an überraschenden Wendungen, dass Izzy ständig im Geist mit den möglichen Motiven der handelnden Personen jonglierte, jedoch nie genug Zeit hatte, sich ausreichend lange mit einer Figur zu befassen. Die beiden Typen hinter ihnen hatten sich die meiste Zeit darüber unterhalten, wie es wohl weitergehen würde, und das in einer Lautstärke, die kaum unter der eines normalen Gesprächs lag.
»Der Typ ist ein Schurke, wetten?«
»Die wollen doch nur, dass du das denkst, dann schnallst du nicht, wenn der echte Schurke aufkreuzt.«
»Genau deshalb ist er am Ende doch einer, damit es nämlich dein verfluchtes Hirn verratzt.«
Hal, der winzige, schweißfeuchte Konfettistückchen aus einer Papierserviette drehte, wandte sich schließlich nach hinten. »Könntet ihr bitte das Reden lassen?«
»Sorry, Mann«, erwiderte der eine, und Izzy griff schnell nach Hals Hand und drückte sie beruhigend. Trotz des dämmrigen Lichts konnte sie sehen, wie er sich ihr zuliebe zu einem angespannten Lächeln zwang. Fünf Minuten später begannen die beiden hinter ihnen von Neuem, als wäre nichts gewesen.
»Gleich hat er kein Benzin mehr, da kannst du drauf wetten«, behauptete der eine etwas lauter als vorher. »Warum zeigen sie die Tankuhr, wenn sein Tank nicht gleich leer ist?«
»Natürlich, Mann, ist sein Tank gleich leer. Scheiße, Mann, das ist doch logo.«
Hal drehte sich wieder um und flüsterte, seine Stimme leicht brüchig vor Verärgerung: »Leute? Könntet ihr das Reden lassen?«
»Warum suchst du dir nicht einen anderen Platz mit deiner Tochter, wenn es dich so sehr stört, Mann?«
Hal war kräftig gebaut und ziemlich groß, was die Leute manchmal nicht wahrnahmen, weil er so reizbar und ängstlich wirkte. Jetzt stand er auf und drehte sich um. »Warum, verdammt noch mal, mache ich euch nicht Beine und befördere euch aus diesem beschissenen Kino?«
»Lass, Hal«, mischte sich Izzy ein und zog ihn am Arm, aber er befreite sich sofort. »Lass uns einfach gehen«, drängte sie. Sie versuchte ihn zu beruhigen, aber an der Art, wie er den Kopf zur Seite warf, sah sie, dass er schon auf dem Weg zu jenem beängstigenden Stadium war, wo er etwas in winzige Teile zerschmettern würde.
»Gott, Mann, entspann dich«, sagte der eine junge Mann grinsend. »Es tut uns leid, okay? Wir halten die Klappe.«
Izzy drehte sich zu Hal. »Verflixt, lass uns abhauen, ja?«
Er gab ihr einen Kuss und wandte sich wieder dem Film zu. »Ich weiß zum Verrecken nicht, was das alles soll.«
Keine Minute später, es war gerade genug Zeit vergangen, um sich einzubilden, dass die Ordnung wieder hergestellt und die Katastrophe abgewendet war, trat der eine Typ kräftig gegen Hals Sitz. Als hätte er nur darauf gewartet, wirbelte Hal herum und landete einen Treffer mitten in dessen Gesicht. Benommen sackte der Mann in sich zusammen. Bevor sein Begleiter reagieren konnte, hatte Hal einen Satz über die Sitze gemacht und sich auf ihn geworfen. Während sie miteinander rangen, rief der Angegriffene: »Locker bleiben, locker bleiben, Mann.«
Izzy merkte nicht, dass sie auf Hals Rücken trommelte. »Bitte, du, wir müssen hier weg.«
Mittlerweile hatten sich alle im Saal der Schlägerei zugewandt. »Du musstest dich unbedingt wie ein beschissenes Arschloch aufführen, was? Als wäre die Welt nicht schon voll von beschissenen Arschlöchern«, fluchte Hal, nicht viel lauter als ein Flüstern, als wolle er den anderen Kinobesuchern gegenüber höflich sein. Izzy versuchte, ihn am Hemd festzuhalten, und fiel dabei fast über die Lehne ihres Sitzes. »Los, komm«, befahl sie. »Raus hier.«
Endlich, nachdem er einen Treffer auf das Ohr seines Gegners gelandet hatte, dass er vor Schmerz aufheulte, wandte sich Hal zum Gehen. Izzy zog ihn den Gang hinunter, aus dem Saal hinaus, ohne sich umzusehen. Die Brusttasche auf Hals Hemd war fast abgerissen, und die Knöchel seiner rechten Hand waren rot wie rohes Fleisch. Davon abgesehen wies nichts an ihm auf eine Schlägerei hin. Noch folgte ihnen niemand aus dem verdunkelten Kinosaal. Sie verließen zielstrebig, aber in ruhigem Tempo das Gebäude, passierten den Erfrischungsstand und den Kartenkontrolleur, bis sie den Parkplatz erreicht hatten. Izzy warf Hal die Schlüssel zu, schnell bogen sie auf die Hauptstraße ab, um Autos zwischen sich und die von ihnen heraufbeschworene verdammte Katastrophe zu bringen.
Beide atmeten so schwer und ihre Körper gaben so viel Wärme ab, dass die Scheiben beschlugen. Nach etwa zehn Minuten unbehaglichen Schweigens fragte Hal endlich: »Ist alles in Ordnung?«
Izzy konnte noch nicht sprechen. Sie nickte nur, nicht in der Lage, Hal anzusehen.
»Es tut mir leid«, sagte er und stieß im gleichen Moment an das Gaspedal, sodass das Auto einen Satz machte. »Alles ist auf einmal passiert. Die Dinge müssen nacheinander passieren, so brauche ich das, und alles ist auf einmal passiert. Ich weiß manchmal nicht, wie ich mit mir klarkommen soll.«
»Wie geht es deiner Hand?«, fragte sie schließlich.
»Sie tut weh, wenn du mich fragst. Ich behaupte nicht, dass ich noch nie jemandem eine mit der Faust verpasst habe, aber ich glaube noch nie zwei Leuten in derselben Schlägerei. Dafür ist die menschliche Hand nicht gemacht.« Er wollte sie aufheitern, aber Izzy ging nicht auf ihn ein. So lief es immer ab. Die Spannung stieg, bis er explodierte, und wenn der Schlamassel passiert war, schämte er sich und wollte sich mit ihr versöhnen. Er machte sich schlecht, nicht ganz bis zum Selbstekel, und hoffte durch seine neu erwachte gute Stimmung die Lage zu retten.
»Das war schlimm, Hal. Es war fürchterlich, das mitzuerleben.«
Hal reagierte nicht, er fuhr einfach weiter. Nach einer Weile sagte er: »Ich werde ein guter Vater sein, Izzy. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst, um gut zu dir zu sein. Ich baue Scheiße, das weiß ich, aber hinterher mache ich immer Ordnung.«
Mit Schrecken fiel Izzy ein, dass sie schwanger war, sie hatte für eine Weile vergessen, dass ein Kind in ihr darauf wartete, auf die Welt zu kommen. In der Hektik von Hals Gewalttätigkeit war sie nichts weiter als ein kleines Mädchen gewesen, das angesichts der schrecklichen Scheiße, in der sie steckte, durchhalten wollte. Sie kannte solche Situationen und passte sich ihnen spontan an. Jetzt legte sie die Hand auf ihren Bauch und fühlte nichts darin.
»Etwas hinterher wieder in Ordnung bringen ist nicht dasselbe wie die Ursache beseitigen«, sagte sie. »Es ist nicht dasselbe.«
»Ich liebe dich, Izzy«, antwortete er. Izzy mochte den Satz nicht, es bestürzte und schwächte sie, ihn von Hal zu hören. In ihrer Familie sagte man so etwas nicht, und sie hatte sehr daran gearbeitet sich einzubilden, diesen Satz nicht zu brauchen. Sie legte größeren Wert auf Güte als auf Liebe, ohne zu wissen, ob es vielleicht dasselbe war.
»Du musst dich mehr anstrengen«, sagte sie, und Hal nickte. »Mehr Therapie. Ständig Medikamente.«
»Ich will«, begann er mit einer Stimme, die sich überschlug bei dem Gedanken, sie werde ihm verzeihen. »Ich will alles tun, um uns glücklich zu machen.«
»Du kannst die Leute nicht einfach ins Gesicht boxen, weil sie ungehobelt sind.«
»Scheiße!«, sagte er. »Das war daneben.«
»Nun zahlt es sich aus, dass wir uns immer in einem anderen Bundesstaat treffen.«
»Genau«, sagte er, und sie wusste, dass seine Anspannung verebbte. Sie gab nach, obwohl sie wusste, dass sie sich mehr hätte durchsetzen sollen. Er war ein großes Durcheinander, bestand nur aus Fehlern, und doch war er so perfekt wie niemand sonst. Sie brauchte ihn nicht, sagte sie sich, aber sie wollte ihn, und deshalb würde sie die nötigen Anpassungen vornehmen, um ihn zu behalten.
»Ich brauche Benzin«, sagte er und bog in eine Tankstellenzufahrt ein. Er stieg aus und trat an die Zapfsäule, während Izzy den Weg zum erleuchteten Tankstellenshop einschlug. »Ich hole mir eine Limo«, sagte sie und überlegte, was besser für das Kind wäre, normal oder light? Sie brauchte das Sprudeln und Schäumen der Limonade in ihrem Bauch. »Willst du auch etwas?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Komm wieder, mehr brauch ich nicht.«
Auf dem Rückweg, die Limoflasche am Mund, sah sie Hal zusammengesackt auf dem Boden neben dem Auto sitzen und weinen. Sie ließ die Flasche fallen. »Was ist los?« schrie sie und rannte zu ihm. »Was ist? Was ist dir?«
Er sah zu ihr auf, seine Augen so rot, dass es wie ein filmischer Spezialeffekt wirkte. Er hielt ihr die leeren Hände hin. »Meine Brieftasche«, stotterte er. Übelkeit stieg aus Izzys Bauch auf und lähmte ihr die Glieder.
»Ich habe sie im Kino gelassen«, fuhr er fort, dann zuckte er mit den Schultern. Seine Brieftasche, sein Führerschein, seine Kreditkarten, alles lag auf dem Fußboden im Kinosaal. Sie konnte voraussehen, was sich abspielen würde, wahrscheinlich bereits abspielte, wie die Brieftasche gefunden wurde, die Entscheidung gefällt wurde – und sie war einfach genug zu treffen –, Anklage zu erheben, wie die Bombe einschlug.
»Herr im Himmel, ich habe Scheiße gebaut.«
»Ist alles gut.« Izzy streichelte sein Haar, es war ihr egal, was die Leute an der Tankstelle dachten. »Alles ist gut.«
»Es ist Scheiße«, entgegnete er. »Alles ist verdammte Scheiße.«
»Keineswegs«, widersprach sie, stellte aber fest, dass ihrem Ton die Überzeugung fehlte.
Hal gab sich einen Ruck und kniete sich hin, um sie besser sehen zu können. »Ich schaffe es nicht«, sagte er schließlich.
»Alles wird gut«, wiederholte sie.
»Ich will das Kind nicht.« Bei diesen Worten verlor er beinahe wieder die Fassung. »Ich schaffe es nicht.«
»Okay«, sagte Izzy schnell, damit er aufhörte zu reden. »Okay, okay, okay.«
»Du hast etwas Besseres verdient, Izzy«, fuhr er fort, und sie glaubte ihm keine Sekunde. Verdient hatte sie verdammt noch mal gar nichts, aber sie würde sich nehmen, was sie haben konnte. Sie beugte sich zu ihm und hielt ihn in einer lockeren Umarmung.
Was wäre das Schlimmste, das ihm passieren konnte? Er war reich und hatte gute Beziehungen. Bewährung wahrscheinlich, mit Sicherheit nicht Gefängnis. Vielleicht noch einmal ein Aufenthalt in einer teuren Klinik, wo er seine eigenen Kleider tragen und Ausflüge in die Stadt machen durfte. Warum konnte er sich nicht für sie zusammenreißen? Sie hätte sich mit allem abgefunden, hätte er nicht das Kind erwähnt. Natürlich war er angeschlagen, natürlich wollte er es nicht haben. Sie wünschte sich, er hätte seine Zweifel für sich behalten und die Zähne zusammenbeißen können. Sie spürte, wie sich ihr Leben von seinem löste, wie Pinzetten die Ranken trennten, wunde Stellen hinterließen, die nie heilen würden.
»Ich bin ein Chaot«, sagte er, und sie küsste ihn, stand auf, entnahm ihrer Glückwunschkarte den Rest des Geldes und ging zurück zum Tankstellenshop.
Sie würde den Mann hinter der Theke bezahlen, tanken und Hal zum Park zurückfahren, wo ihr Pick-up stand. Sie würde ihn küssen, und während er seinem eigenen Schicksal entgegenfuhr, würde sie auf der Parkbank sitzen, mit ihrem Barett spielen und für sich alleine ausflippen, so heftig und lange, bis alles aus ihr heraus war – mit Ausnahme des Einzigen, was noch zählte, des Einzigen, was sie sich wünschte. Und wer immer sich ihr in den Weg stellte, dem würde sie die Krallen zeigen, bis er wich. Sollte noch ein einziger Mensch ihr vorschreiben wollen, was sie haben konnte und was nicht, so würde sie ihn anlächeln, nicken und, ohne sich dafür zu entschuldigen, tun, was sie verdammt noch einmal wollte.
Izzy stand über ein halbes Schwein gebeugt, dessen Haut rötlich-braun wie feinstes Leder war. Sie griff mit ihren festen Gummihandschuhen in das Tier und löste mit zittrigen Händen das Fleisch von den Knochen, wobei kleine, dampfende Stücke in ihre Handschuhe rutschten und an ihrer Haut kleben blieben. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den Brechreiz an, die morgendliche in ihr wirbelnde Übelkeit. Sie konnte den Geruch von geräuchertem Fleisch nicht mehr ertragen, hatte sie festgestellt, und sie ärgerte sich über die Schwäche, die ihren Körper erfasste und sie von der Arbeit abhielt, die sie so gut machte.
Anzusehen war ihr die Schwangerschaft noch nicht; 176 Zentimeter groß und mager, hoffte sie, ihr Körper würde noch eine Weile die vertrauten Maße behalten. Aber selbst wenn sich nichts an ihrer Figur zeigte, in ihrem Körper braute sich etwas zusammen. Meistens hielt die morgendliche Übelkeit bis nachmittags an, und gegenüber ihrem völlig ahnungslosen Vater flammte oft eine heftige Gereiztheit in ihr auf. Im tiefsten Inneren bildete sie sich ein, ihren Zustand während der ganzen Schwangerschaft verheimlichen zu können und eines Tages einfach ein Baby im Arm zu halten, von dem die Leute glauben würden, sie hätte es herbeigezaubert. Als eine weitere Welle der Übelkeit sie überschwemmte, ging ihr auf, wie dumm sie manchmal sein konnte.
Früher hatte sie als Kellnerin im Grill Zum ganzen Schwein gearbeitet, hatte sich ihren Weg um die Tische gebahnt, mit einem Tablett, auf dem süßer Tee in Gläsern groß wie Eimer stand. Jede Sekunde dieser Arbeit war ihr verhasst gewesen, sie war aber auf das Geld angewiesen, auf die Trinkgelder, die man ihr hinwarf und die meistens zehn Prozent der Rechnung nicht überschritten. Sie bildete sich nicht ein, eine gute Kellnerin zu sein; zu schüchtern versorgte sie ihre Tische nicht ausreichend. Sie fürchtete, den Gästen auf die Nerven zu gehen, wenn sie fragte, ob sie noch mehr Tee, mehr zu essen oder die Rechnung wollten. Sie mochte es nicht, mit dem Essen anderer Leute gesehen zu werden. Mr Bonner, der Inhaber des Lokals, hatte ihr den Job ihrem Vater zuliebe gegeben. Die anderen Kellnerinnen waren seine Töchter und Nichten. Izzy war ihm aufrichtig dankbar für die Arbeit und gab sich alle Mühe, zu lächeln, charmant zu sein, mit den Farmern und Fabrikarbeitern zu flirten, die ihren Spaß daran hatten, das junge Mädchen Sweetie, Honey und Baby Doll zu nennen, wenn sie ihnen riesige Portionen von zerzupftem Schweinefleisch brachte.
In den Pausen versteckte sie sich in der Küche, während die anderen Mädchen ins Freie gingen, um zu rauchen oder zu telefonieren. Sie sah dem siebzigjährigen Mr Tannehill zu, wie er die Schweine für den Smoker vorbereitete. Er pinselte die Tiere mit einer einfachen Mischung aus Salz und Pfeffer ein, wuchtete sie auf den Smoker, würzte die Haut mit Hilfe eines prähistorisch anmutenden Geräts, um am Ende das Fleisch zu zerzupfen, das weniger ein Essen als ein Wunder war. Die faulen Männer und Jugendlichen, die angeheuert wurden, um ihm zu helfen, blieben meistens nicht lange und taten nur das Allernötigste für ihren Lohn, und so hatte es sich ergeben, dass Mr Tannehills knappe, präzise Anweisungen irgendwann Izzy galten, die im Laufe der Monate immer näher an den Ort der Handlung gerückt war. Es schien ihm Spaß zu machen, wie sie ihm mit ernster Miene gehorchte und er ihr alles nur einmal sagen musste. Manchmal, wenn der Pit Boy auf seinem Hocker in eine Zeitschrift vertieft war, kam es vor, dass sie ihre Pause überzog und eine Kellnerin sie rufen musste. Bei einer solchen Gelegenheit hörte sie, wie Mr Tannehill »verdammt« vor sich hinbrummte. Sie machte sich gern nützlich und hatte Spaß daran, sich geschickt anzustellen. Manchmal kam sie vor der Schule oder blieb noch ein, zwei Stunden nach ihrer Schicht und setzte sich schweigend zu Mr Tannehill neben den Smoker, während er das Feuer genau auf der Temperatur hielt, die dem Schweinefleisch seinen einzigartigen Geschmack verlieh.
Nach einem Jahr, in dessen Verlauf drei Pit Boys entweder gegangen waren oder entlassen worden waren, fragte Izzy, ob sie deren Job haben könnte. Mr Tannehill überredete Mr Bronner, und nicht viel später standen nur noch Izzy und er in der hinteren Küche, bei ihrer Arbeit mit den Schweinen sich selbst überlassen, Alchemisten in ihrem Gewölbe, zwei Einzelgänger, die sich besser als andere Menschen auf die Zubereitung von Fleisch verstanden.
Izzy spürte, wie der Brechreiz ihr die Kehle zuschnürte, und beugte sich tiefer über das Schwein, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Nach einer Weile bemerkte Mr Tannehill, die Augen kaum sichtbar unter seiner Baseballmütze: »Geht’s dir nicht gut?«
Sie schüttelte den Kopf, doch weil sie wusste, dass Lügen ihr nicht helfen würden, erfand sie eine Ausrede. »Kater.« Sie sah Mr Tannehill zusammenzucken und erinnerte sich zu spät an seine Vergangenheit, an sein Restaurant in North Carolina, das von den Fans seiner Grillkünste mit begeisterten Kommentaren bedacht worden war, und wie seine Trunksucht ihn ruiniert hatte. Sie schien jedoch keine Wahl zu haben und machte tapfer weiter: »Ich habe wohl gestern Abend zu viel getrunken.«
»Als Angewohnheit nicht gut, aber manchmal unvermeidbar.« Er stand neben ihr, schob sie sanft zur Seite, und während seine alten Hände, die keine Handschuhe brauchten, das Fleisch zerpflückten, sagte er: »Geh und trink einen Schluck Wasser.« Sie folgte seinem Rat und schlürfte Wasser aus der hohlen Hand. Der Brechreiz ließ nach, doch der unentrinnbare Geruch von Schweinefleisch widerte sie immer noch an. Seit einiger Zeit wusch sie ihr Haar zweimal, bevor sie zu Bett ging, bearbeitete es wie wild, um Rauch und Fett herauszuwaschen, damit sie ungestört schlafen konnte.
Mit den Worten »es geht mir besser« nahm sie ihren Platz an seiner Seite wieder ein, und rasch lösten sie das Fleisch von den Knochen, ohne ein zweites Mal nach derselben Stelle greifen zu müssen. Waren sie fertig, reinigte Mr Tannehill die Innereien, um sie für Gerichte aufzuheben, die gelegentlich von älteren Jahrgängen außer der Reihe bestellt wurden. Izzy, ein Hackmesser in jeder Hand, zerteilte das Fleisch in ebenmäßige Stücke von gleicher Beschaffenheit. Rhythmisch trafen die Messer den Holzblock, ohne sie je zu enttäuschen. Sie wischte die Schneiden an ihrer Schürze ab, setzte sich auf einen umgedrehten Essigeimer und fragte sich, wie sie diese Arbeit noch siebeneinhalb Monate aushalten sollte.
»Sieht gut aus«, sagte Mr Tannehill, und obwohl er nicht lächelte, verriet seine leise, freundliche Stimme Zufriedenheit. Niemand könne so gut Barbecue machen wie Izzy, hatte er einmal gesagt, abgesehen von ihm selbst und Mr Sammy, einem Schwarzen mit einem Grill in Coalfield, der sich auf Rippchen und Hähnchen spezialisiert hatte. Sie hatte einmal den Vorschlag gemacht, zusammen an einem Barbecuewettbewerb teilzunehmen, im Mai nach Memphis zu fahren und denen dort zu zeigen, wie man es richtig macht. »Zu stressig für mich. Wettbewerb ist nicht mein Ding. Ich bereite ein Schwein so zu, wie es sich gehört, das macht mir Spaß, alles andere ist mir egal. In meinem Alter, Izzy, will man nur noch seine Ruhe.« Sie fühlte sich manchmal viel älter, als sie war, und empfand sich als albern, aber Mr Tannehills Wunsch, allein zu sein, einfach das tun zu dürfen, was ihm Spaß machte, ohne dass jemand dazwischen funkte, verstand sie gut.
Und jetzt musste sie sich wieder übergeben. Sie rannte aus der Küche in die Toilette und würgte, bis sie steif war. Sie lauschte, ob jemand sie gehört hatte und kam, um nach ihr zu sehen. Den Kopf zwischen den Händen saß sie auf dem Toilettendeckel, schon jetzt müde auf dem täglich bergaufführenden Weg ihrer Schwangerschaft.
Seit jenem Abend im Kino hatte Hal sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Ihr blieben nur die Gerüchte, die in der Stadt die Runde machten und die sie gern glauben wollte, solange sie ein Körnchen Wahrheit enthielten. Dank seiner vergessenen Brieftasche hatte die Polizei ihn anscheinend noch am selben Abend aufgesucht. Die Klage gegen ihn war entweder abgelehnt oder zur Bewährung ausgesetzt worden. Letzteres behauptete die Mehrheit der Leute. Ihr eigener Name fiel nicht, was sie gleichzeitig erleichterte und etwas überraschte. Seltsam, wie sie in einer so kleinen Stadt, wo jeder alles über jeden wusste, unbemerkt eine Beziehung mit ihrem Kunstlehrer haben und von ihm ein Kind erwarten konnte. Entweder lag es daran, dass sie so vorsichtig gewesen war oder dass man sie einfach nicht wahrnahm.
Den Rest des Sommers verbrachte Hal angeblich im Nordosten des Bundesstaates; seine Eltern hatten ihn weggeschickt, er sollte sich wieder einmal erholen. Sie wartete auf einen Brief, einen Anruf. Vergeblich. Entweder war er von seinen Medikamenten so betäubt, dass er sie vergessen hatte, oder, was wahrscheinlicher war, er schämte sich, für die Schlägerei, die Schwangerschaft, die Affäre, und versuchte sie, Izzy, die ständige Erinnerung an seine Fehlentscheidungen, aus seinem Gedächtnis zu streichen. Sie hätte gern seine Stimme gehört, sich vergewissert, dass er etwas für sie empfand. Auch wenn es wenig fein war und sie nicht allzu viel darüber nachdenken wollte, hätte sie sich sehr über eine Geste seinerseits gefreut, wäre sie auch nur finanzieller Natur gewesen, die ihr durch diese Schwangerschaft helfen würde und ihr gezeigt hätte, dass er sich bewusst war, an ihrer gegenwärtigen Lage mitgewirkt zu haben. War es verwerflich, dass sie, die vom reichsten Junggesellen der Stadt geschwängert worden war, sich den Luxus erhoffte, nicht den ganzen Sommer bis zu den Ellbogen in Schweinen stecken zu müssen? Aber Hal schwieg, und so konzentrierte sie sich auf das Kind, dachte die ganze Zeit an nichts anderes und hoffte, dass es sich nicht zeigen würde, bevor sie bereit war.
Als Izzy am nächsten Tag aufwachte, hörte sie ihren Vater in der Küche, wie er etwas zu essen suchte, das seinen Alkoholspiegel senken würde. Die Uhr zeigte sechs, sie zog die Decke über den Kopf und überließ sich ihrem Elend. Wenige Minuten später kam ihr Vater mit einem Pop Tart in der Hand in ihr Zimmer und rüttelte an ihrem unbedeckten Fuß.
»Dad, bitte, ich muss schlafen.«
»Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Spät.«
»Ich hab dich nicht gehört.«
Als sie ins Haus geschlüpft war, hatte er schlafend in seinem Sessel gelegen, und der Fernseher war acht Stufen zu laut gestellt. Seit ihre Mutter gestorben war, schlief ihr Vater auf der Couch, im Sessel oder, wenn es warm genug war, manchmal draußen auf der Veranda. Sein Schlafzimmer war zu seinem Kleiderschrank geworden, er betrat es nur, um sich umzuziehen.
»Du hast Post«, fuhr er fort und warf einen Brief aufs Bett. »Sie ist von jemand in Massachusetts. Wen kennst du in Massachusetts?«
Izzy setzte sich schnell auf und starrte auf den Umschlag. Es stand nur eine Adresse auf der Rückseite, kein Name, aber sie wusste, dass der Brief von Hal kam. Ihre morgendliche Übelkeit verwandelte sich in ein festes Stück Stein, eine zeitweilige Erleichterung.
»Nur eine Freundin. Sie ist dort in einem Camp.« Wie nicht anders zu erwarten, stellte ihr Vater keine weiteren Fragen. Sie barg das Geheimnis ihrer Schwangerschaft noch immer in sich, nachdem er aus dem Zimmer gegangen war.