Das Bild der alten Dame - Petra Oelker - E-Book

Das Bild der alten Dame E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Lady Amanda Thornbould traut ihren Augen nicht, als sie das riesige Paket auspackt: Es ist das Gemälde, das ihr Mann ihr zur Hochzeit geschenkt hatte und das vor dreißig Jahren gestohlen wurde. Den Absender kennt Lady Amanda zwar nicht, aber sie freut sich über alle Maßen, dass das kostbare Gemälde wieder da ist. Die Journalistin Leo Peheim, Spezialistin fürs Tränenfach, soll daraus eine rührende kleine Geschichte machen: geheimnisvolle Rückkehr eines Kunstwerks, adelige alte Dame, treue Liebe, Freudentränen. Sie fliegt zu Lady Amanda nach Jersey, um Hintergrundmaterial zu sammeln. Sie hat keine Ahnung, dass diese Story nicht in ihr Fach fällt. Denn es geht um Mord ... «Petra Oelker malt in ihrer spannenden Geschichte genüsslich aus, wie Menschen in den Strudel der Leidenschaft geraten - mit tödlichen Folgen.» (News)

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Seitenzahl: 286

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Petra Oelker

Das Bild der alten Dame

Roman

1

Lady Amanda Thornbould zog die Gummistiefel aus, stellte sie ordentlich neben die Hintertür zur Küche und schlüpfte in die bequemen Slipper, die sie immer trug, wenn sie keinen Besuch erwartete. Sie legte die Rosenschere und die Gartenhandschuhe auf den Tisch, ein altes Ungetüm aus dunklem Holz, voller Narben von zahllosen Angriffen ungeschickter kleiner Finger. Gerade als sie die Hände prüfend um die Teekanne legte, drängte sich die Morgensonne durch die hohen Eiben am hinteren Rand des Gartens und schickte mildes Licht durch die weit geöffneten Fenster. Lady Amanda seufzte genüßlich und blinzelte hinaus in das satte Grün. Die zahllosen Tropfen, die der Regen der vergangenen Nacht in den Büschen, Bäumen und wuchernden Stauden hinterlassen hatte, glitzerten wie ein kostbares Netz. In einer Stunde würde die Augustsonne die Pracht dieser frühen Stunde aufgesogen haben, und Lady Amanda, wahrlich keine Freundin spartanischer Lebensweise, war froh, daß sie sich an diesem Tag dazu durchgerungen hatte, mit der Sonne aufzustehen.

Ein roter Setter war ihr auf nassen, schmutzigen Pfoten vom Garten ins Haus gefolgt, sie zog ihn sanft am Ohr und sagte: «Komm, meine Alte. Laß uns endlich frühstücken.»

Der Hund setzte sich neben den Korbsessel, Lady Amandas Lieblingsplatz, und sah seine Herrin erwartungsvoll an. «Du siehst aus, als wolltest du auch eine Tasse Tee», sagte sie lächelnd und gab ihm ein Stück von ihrem dünn mit Orangenmarmelade bestrichenen Toast. Sie trank einen Schluck Tee, wärmte die Hände an der dickwandigen Tasse und lehnte sich zurück. Sie liebte diesen Platz. Von hier hatte sie den schönsten Blick. Der Garten hinter dem Haus war immer noch fast ein Park und jetzt, im späten August, üppig, als sei er Jahrhunderte alt. Einige der Bäume waren das gewiß.

Als Thornbould Manor vor nur einem Jahrhundert gebaut worden war, war es ein stattliches Haus inmitten von Feldern und Wiesen gewesen. Die gab es immer noch, doch inzwischen waren neue Nachbarn nähergerückt, und die hohe Tujen-Hecke am Rande des vorderen Gartens grenzte nun an die Straße nach St. Brelade. Lady Amanda war vor mehr als fünfzig Jahren als junge Braut in dieses Haus gezogen, damals war die Straße nicht mehr als ein Schotterweg gewesen, im Sommer staubig, im Winter vom Schlamm kaum passierbar. Nun bedeckte ihn schon lange eine glatte Asphaltdecke. Motorengeräusche hatten das Knarren der hölzernen Wagen und das Klappern der Pferdehufe abgelöst. Die Autos störten Lady Amanda nicht. Es waren nicht viele, zudem wand sich die schmale Straße kurvig die Hügel hinauf und zwang zum Langsamfahren.

«Nach dem Frühstück kommen die Staudenbeete hinter dem Teich dran», sagte sie. «Aber du wirst dich zusammenreißen und die Pfoten davon lassen.» Sie blickte den Hund streng an. «Du kannst die alten Knochen ausgraben, die du vorgestern im Gemüsegarten verbuddelt hast. Oder glaubst du, ich hätte das nicht bemerkt, Lizzy?»

Lizzy gähnte beleidigt. Der kleine Gemüse- und Kräutergarten hinter der Ligusterhecke bot mit seiner weichen Erde die besten Plätze für geheime Knochenlöcher, niemals würde sie sich an den Staudenbeeten oder gar am Rosengarten vergehen.

Die Rosen waren Lady Amandas Lieblinge. Sie fand das nicht besonders originell – jeder liebte Rosen –, aber zwischen den jüngeren standen noch ein paar alte Stöcke, die Joffrey gepflanzt hatte. Auf der Insel ging die Mär, sie züchte ihre Rosen selbst, so wie es sich für eine vornehme alte Lady gehörte. Tatsächlich kaufte sie ihre Pflanzen im Gartencenter in St. Peter, aber das wollte niemand wissen.

Sie warf einen Blick in die Times, die sie vom Morgenspaziergang durch den Garten aus dem Briefkasten mitgebracht hatte, überflog die Schlagzeilen, legte sie wieder auf den Tisch und griff nach der Jersey Evening Post vom Vortag. Sie fand es angenehmer, Zeitungen erst zu lesen, wenn sie schon einen Tag alt waren. All die schrecklichen Nachrichten wirkten dann halb so schlimm. Aber bevor sie die Post aufschlagen konnte, klingelte es.

Lizzy, die sich unter dem Tisch zusammengerollt hatte, sprang auf und lief mit leisem Knurren durch die Halle zur vorderen Tür.

«Still, Lizzy, das ist sicher George. Du kennst doch George.» Sie tauschte eilig die Slipper gegen das Paar eleganter schwarzer Schuhe, das hinter der Chippendale-Anrichte in der Halle immer bereitstand, und öffnete.

«Guten Morgen, Lady Amanda.» George nahm die Mütze ab und wischte sich damit über die Stirn. «Ganz schön schwer das Ding. Muß ordentlich was gekostet haben, per Luftfracht. Mit der Fähre wär’s viel billiger gewesen. Aber Luftfracht», sagte er und reckte die Schultern, «ist natürlich viel sicherer. Wo soll ich’s denn hinstellen?»

George Goodwin kannte und verehrte Lady Amanda, seit er auf krummen Kinderbeinen seinen Vater begleitet hatte, wenn der die Büsche und Bäume im Park von Thornbould Manor pflegte. Als die krummen Beine gerade geworden waren, strolchte George nur noch selten durch den Park. Er saß lieber stundenlang am Rand der Wiese, die durch das graue Betonband einer Rollbahn zum Flughafen von Jersey geworden war. Er kannte alle Flugzeugtypen, wußte genau, wann sie starteten und landeten, wie viele Passagiere oder Tonnen Fracht sie transportierten, woher sie kamen und wohin sie flogen. Mit geschlossenen Augen konnte er die Flugzeuge nur am Geräusch unterscheiden. Goodwins Jüngster ist verrückt, sagten damals die Leute auf Jersey, bald wachsen ihm Flügel. Nichts wäre George lieber gewesen. Er wurde jedoch weder Engel noch Pilot, sondern Frachtgutmeister. Nicht das Cockpit, die Laderäume und Lagerhallen waren sein Terrain. Trotzdem war er seinem Traum sehr viel näher gekommen, als sein Vater je geglaubt hatte.

«Tragen Sie das Paket doch bitte in die Halle, George.» Lady Amanda hielt ihm die Tür weit auf. «Es ist ja riesengroß, mehr eine Kiste als ein Paket.»

«Stimmt», George ächzte, «und mächtig schwer.»

«Wie nett, daß Sie es mir bringen, alleine hätte ich das Monstrum gar nicht bewegen können.»

«Ist doch selbstverständlich, Lady Amanda. Wenn Sie wollen, mach ich es gleich auf. Ich hab eine Drahtzange mitgebracht.» Er griff in seine Jackentasche und zog eine große rote Zange hervor.

«Natürlich habe ich nichts dagegen. Ich glaube nicht, daß ich die Drähte alleine lösen könnte. Mach doch mal Platz, Lizzy.» Die alte Dame schob den Hund, der neugierig an dem großen Paket schnupperte, energisch beiseite. «Was mag das nur sein? Ich kenne niemanden, der Peter Müller heißt, ich kenne auch niemanden in Hamburg oder überhaupt in Deutschland.»

«Das ist komisch, ja. Aber so heißt der Absender, das steht auf allen Papieren, die sind korrekt. Wie ich Ihnen gestern abend am Telefon schon sagte. Da will Sie vielleicht einer überraschen.»

Mit einem kräftigen Druck auf die Zange löste er den letzten Draht. «Ich weiß nicht, Lady Amanda, vielleicht sollten wir lieber John rufen. Es könnte ja was drin sein, was explodiert, heutzutage …»

«Unsinn, George. Die Polizei hat Wichtigeres zu tun. Ich bin eine harmlose alte Frau. Keine Politik, kein Mädchenhandel – wer sollte mir eine Bombe schicken?»

George dachte einen Moment nach. Die Vorstellung, daß nicht er, sondern John am Abend im Pub vom Auspacken des geheimnisvollen Paketes erzählen würde, gefiel ihm überhaupt nicht.

«Da haben Sie recht», brummte er, «wird wohl eher ’ne nette Überraschung sein. Von Ihrem Neffen vielleicht? Der kann ja jemanden beauftragt haben.»

George begann vorsichtig, die feste Pappe zu lösen.

«Timothy ist zwar immer für eine Überraschung gut, aber warum sollte er seinen Absender nicht auf das Paket schreiben? Der Inhalt wäre doch Überraschung genug.»

George nickte. Erst vor zwei Wochen hatte Lady Amanda ein Paket am Flughafen abgeholt, das Timothy aus Mexiko geschickt hatte. Allerdings ein nettes, handliches Paket, und jeder in der Frachtabteilung hatte den Absender lesen können. George hätte zu gerne gewußt, was Timothy geschickt hatte. Er sah sich verstohlen um, aber in der Halle stand nichts, das er nicht schon kannte. Timothy hatte als Kind, wie seine zahlreichen Cousinen, viele Sommer bei seiner Tante auf der Insel im Englischen Kanal verbracht, und George, nur ein oder zwei Jahre älter, hatte ihm großzügig die besten Angeltricks, die Bäume mit den süßesten Kirschen und – einige Jahre später – die schönsten Mädchen gezeigt. Timothy Bratton, inzwischen Experte und Gutachter für «alte Schinken», wie George es nannte, war oft in der ganzen Welt unterwegs. George war nie weiter als bis London und St. Malo gekommen, aber er beneidete ihn nicht. Trotz der Touristen, die im Sommer die Insel und vor allem die kleine Hauptstadt St. Helier überfluteten, gab es für ihn keinen Platz auf der Welt, an dem er sich lieber aufgehalten hätte.

Unter der festen, innen mit einer wasserdichten Folie beschichteten und mit breitem Klebeband gehaltenen Pappe kamen nun mehrere Schichten von dickem Sackleinen hervor, dann eine Lage steifes Packpapier und eine weitere aus weichem weißen Tuch.

«Lassen Sie mich helfen, George.» Lady Amanda, nun auch ganz unziemlich neugierig, begann, die letzten Klebestreifen, die das Tuch noch zusammenhielten, abzureißen.

«Mein Gott, George», flüsterte sie plötzlich, «es ist das Bild. Sehen Sie? Der alte Rahmen.» Hastig riß sie das Tuch ganz herunter. «Es ist das Bild. Joffreys Bild.»

Der Wirt hatte schon das letzte Glas vor der Sperrstunde ausgerufen, als George immer noch am Tresen des Blue Dolphin lehnte und zum drittenmal schilderte, wie Lady Amanda in der Halle stand und auf das Gemälde starrte, das unter der dicken Verpackung zum Vorschein gekommen war. Tränen seien ihr über das Gesicht gelaufen, ohne daß sie auch nur einen Schluchzer von sich gegeben hätte, und immer wieder habe sie gesagt: Joffreys Bild. Joffreys Bild ist wieder da. Und dann, der Höhepunkt seiner Geschichte, wie er allen Mut zusammennahm, die Karaffe von der Anrichte holte und der Lady einen kräftigen Schluck Whisky zu trinken gab. Niemand hatte sie bis zu diesem Tag Whisky trinken sehen. Und niemand hatte sie weinen sehen, nicht einmal in jenem Sommer vor mehr als dreißig Jahren, in dem das Bild verschwunden war.

2

Die Nacht zum fünften September war für die Jahreszeit zu kühl. Da der ganze Sommer nichts als ein vorgezogener Herbst gewesen war, kümmerte das niemanden. Ein halbvoller Mond hing tief über der Elbe, er hatte ein wenig Schlagseite, aber das, so dachte die Frau in dem dänischen Campingbus, lag vielleicht daran, daß man ständig nur ein Stück von ihm zwischen den Wolkenfetzen sah, die sich vor ihm über den Himmel schoben. Es war windstill, jedenfalls hier unten auf der Erde. Da oben mußte es anders sein. Es war schon nach Mitternacht, sie war zu müde gewesen, mit ihm in die Raststätte zu gehen. Die Vorstellung von dem Geruch gebratener Hühnchen und Würste und Pommes frites hatte ihr Übelkeit bereitet. «Dann bleib im Wagen», hatte er gesagt, «ich hol uns wenigstens ein Bier.» Offenbar trank er seins gleich dort, er war schon ziemlich lange fort.

Sie öffnete die Tür des Caravans, die kühle feuchte Luft war immer noch besser als der Geruch nach kaltem Tabakqualm. Sie haßte es, wenn er im Auto rauchte, doch seit sie auf der Rückfahrt waren, tat er das ständig. Sie stieg aus dem Wagen, reckte die Schultern und atmete tief, es roch nach nassem Pappellaub und Diesel. Auf den acht Spuren der Autobahn donnerte ein riesiger Laster vorbei, zwei PKWs folgten und setzten zum Überholen an. Sonst war nicht viel los. Auch die meisten Fenster der Hochhaus-Trabantenstadt zwischen der Autobahn und dem schwarzen Himmel waren dunkel. Riesige Stangen aus milchigem Licht teilten die Häuserkästen und -türme, in einigen der Flurtrakte mußte die Abschaltautomatik für die Beleuchtung ausgefallen sein.

Sie dachte an ihr warmes kleines Haus in Ribe und fröstelte. Vor Sehnsucht, vor Müdigkeit oder vor Kälte? Vielleicht vor Enttäuschung. Auch ihre Füße wurden kalt – sie trug nur dünne Leinenschuhe, am Gardasee war es noch sehr warm gewesen –, und sie schlenderte mit kurzen stampfenden Schritten an den parkenden Autos vorbei die Straße hinab. Bleib im Auto, hatte er gesagt. Wenn er so lange fortblieb, sollte er sie doch suchen, sollte er sich doch nur einmal fünf Minuten Sorgen um sie machen. Auf den langen Parkstreifen standen, schräg zur Fahrbahn eingeparkt, Laster neben Laster, hoch wie Häuser. Breite Schriftzüge verrieten ihre Herkunft: Ungarn, Polen, Türkei, Frankreich, Belgien, Niederlande oder Spanien, ein Däne war auch dabei. Sie strich leicht mit den Fingern über den dunklen Lack und wischte sich den öligen Schmutz an ihrer Jeans ab.

Dort wo die schmalen Fahrbahnen der Raststätte auf die Autobahn zurückführten, zweigte eine weitere, noch schmalere, zur Rückseite der Rastanlage ab. Die Bäume, wahrscheinlich Platanen, sie war nicht ganz sicher, maßen noch nicht mehr als drei oder vier Meter. Den Mann auf der Bank hinter dichtem Buschwerk bemerkte sie erst, als sie fast über seine Füße stolperte. Erschreckt murmelte sie eine Entschuldigung und wollte schnell zurückgehen. Weil sie es seltsam fand, daß einer der doch gewiß hundemüden Trucker tief in der Nacht auf einer Bank saß und den Mondfetzen nachstarrte, blieb sie stehen und sah ihn an. Wieder leuchtete ein Stück Mond hinter den Wolken hervor, und sie erkannte, daß er ein alter Mann war, eigentlich viel zu alt für einen Trucker. Er hockte auf der Bank, sein linker Arm lag steif über der Rückenlehne, als wolle er sich damit festhalten, seine Mütze hing ihm in die Stirn.

«Hallo», sagte sie. Und noch einmal: «Hallo?»

Der Mann reagierte nicht. Natürlich, dachte sie, er schläft. Es wäre besser, wenn er das in seinem Wagen täte, es ist viel zu kalt und feucht, um im Freien zu schlafen, und sei es nur für eine kurze Zeit.

Sie ging näher, tippte ihn vorsichtig an die Schulter und beugte sich hinunter, um ihm genauer ins Gesicht zu sehen. Wirklich ein sehr alter Mann. Er sah aus, als habe er sich zwei Tage nicht rasiert, seine dünnen Lippen waren spröde, und sein Kinn hing schlaff herunter, sein Gesicht zeigte die fahle Blässe, die sie bei sehr alten Menschen häufig gesehen hatte.

«Nille.» Der Ruf klang gedämpft zwischen den Bäumen hindurch. «Nille, verdammt. Wo bist du?»

«Hier», rief sie leise, «komm mal her, hier ist jemand.»

Schritte raschelten durch das Laub über den Grasstreifen, dann stand er neben ihr. «Bist du verrückt, einfach wegzulaufen? Hier im Stockdunkeln? Wer weiß, wer sich hier rumtreibt.»

«Hör doch auf», sagte sie müde und sah weiter den Alten auf der Bank an. «Er sollte hier nicht schlafen, findest du nicht? Oder ist er krank? Er atmet kaum. Hallo, Sie», sagte sie etwas lauter, «wachen Sie lieber auf!» und stubste ihn sanft gegen die Schulter.

«Geh mal weg.» Der Mann schob sie zur Seite, beugte sich über den Alten und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Dann hielt er ihm den Handrücken vor Mund und Nase, suchte mit den Fingerspitzen nach seinem Handgelenk und sagte: «Der schläft ganz tief. Wir lassen ihn besser in Ruhe. Komm.» Er griff nach ihrem Arm und zog sie mit sich fort. «Der ist irgendein Penner, der hier ein ruhiges Plätzchen für eine Nacht gefunden hat. Diese Kerle sind hart, die bleiben auch im Januar draußen, eine kalte Septembernacht macht denen nichts aus. Los, steig ein, wir wollen weiter.»

«Aber wieso denn? Wir wollten hier doch übernachten, morgen nach Hamburg reinfahren, und erst …»

«Ich hab’s mir überlegt. Wir fahren doch besser in die Stadt, an der Außenalster gibt es einen ruhigen Parkplatz, da können wir viel besser übernachten. Hier ist es zu laut, dieses Gedonner auf der Autobahn, da kriegt man kein Auge zu.»

Er hatte kein Bier geholt, sondern zwei Pappbecher Kaffee. Sie standen neben dem Vorderrad des Caravans auf dem Kantstein, der Kaffee war kalt geworden. Sie trank ihn trotzdem, er hatte mal wieder den Zucker vergessen, der bittere Geschmack gefiel ihr heute nacht.

Zwei Minuten später lenkte er den Wagen von der Raststätte Stillhorn kurz hinter der Süderelbe auf die Autobahn Richtung Norden nach Hamburg hinein. Als sie die Brücke über die Norderelbe erreichten, machte er sie auf den schönen Blick über den Hafen und auf die Türme der Stadt aufmerksam. Sie sah starr geradeaus. Er zündete sich eine Zigarette an und beschloß endgültig, ihr nicht zu sagen, daß der Alte auf der Bank tot gewesen war, noch nicht lange, aber eindeutig tot. Ein toter Penner, na und? Obwohl er für einen Penner ziemlich sauber ausgesehen hatte.

Er beschloß auch endgültig, doch nicht von der nächsten Telefonzelle die Polizei anzurufen. Dann müßte er Nille sagen, daß der Alte tot gewesen war, und sie würde ihm übelnehmen, daß er nicht gleich einen Notarzt, die Polizei und wer weiß wen noch gerufen hatte. Ihr wäre es egal, aber er konnte das nicht. Es würde Fragen geben, stundenlang, die Polizei würde ihre Namen und Adressen notieren, womöglich würden irgendwelche Erbsenzähler in einigen Tagen noch eine Frage haben und bei ihm Zuhause oder in der Praxis anrufen, seine Frau würde am Telefon sein und ihn fragen, wieso die deutsche Polizei anrufe, wieso er in Hamburg gewesen sei anstatt auf der Tagung in Kopenhagen?

Diese ganze Hetzerei nach Italien war sowieso eine Schnapsidee gewesen. Nilles Idee, weil sie noch nie in Italien gewesen war. Nur Streß. Noch mehr davon brauchte er wirklich nicht. Überhaupt gab es mit Nille in letzter Zeit immer nur Streß. Dem Alten war sowieso nicht mehr zu helfen. Morgen würde in irgend jemand finden. Morgen, wenn sie schon wieder auf der Autobahn waren Richtung Norden. Hamburg würde er ihr ein anderes Mal zeigen. Diesen letzten Satz glaubte er allerdings selbst nicht.

Es war kurz nach sechs und noch nicht ganz hell, als der Fahrer eines türkischen Lastwagens ein stilles Plätzchen für sein Gebet gen Mekka suchte und statt dessen den Toten fand. Der Körper war nun ganz erstarrt und halb von der Bank gerutscht. Der Türke hatte schon viele Tote gesehen, er erkannte gleich, daß der Alte nicht nur schlief. Er besah ihn sich, so genau es das dämmerige Mondlicht zuließ, und als er kein Blut, kein Messer, kein Einschußloch und auch sonst keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod entdeckte, ging er unter den Bäumen entlang hinüber zum Imbiß.

Der erste Polizeiwagen kam genau drei, der Notarztwagen 17 Minuten, nachdem der Mann hinter dem Imbißtresen telefoniert hatte. Einige Zeit später fuhren noch ein paar Autos bis an die rot-weiße Absperrung um die Bank, und bald darauf wurde der Tote weggebracht.

Er hatte weder Ausweispapiere noch Geld oder Kreditkarten bei sich, er trug weder Ring noch Uhr. Nun war er eine Sache, und für die war Hauptkommissar Klug von der Leichen- und Vermißtenstelle der Hamburger Polizei zuständig.

Die Liste der in der Region Hamburg Vermißten gab keine Beschreibung her, die auch nur annähernd auf den Toten aus Stillhorn paßte. Ein Foto mit einer Beschreibung wurde in den Hamburger Tageszeitungen veröffentlicht. Etwa 75 Jahre alt, 172cm, 69kg, schütteres, graues Haar, dunkelgrauer Anzug, schwarzblaue Jacke. Wer kennt diesen Mann? Niemand meldete sich. Nicht einmal die üblichen Verrückten und Wichtigtuer, die jederzeit bereit waren zu schwören, sie hätten Marilyn und J. F. K. am Hauptbahnhof Händchen halten sehen.

Der Obduktionsbericht aus der Gerichtsmedizinischen bestätigte, daß der Mann nicht durch Fremdeinwirkung gestorben war. Er war einer Angina pectoris erlegen, einer Verkalkung und Verengung seiner Herzkranzgefäße, die nach einem Krampfanfall zum Herzinfarkt und zum Tod geführt hatte. Dann stand da noch etwas von allgemeiner Verkalkung der Gefäße, schlechter Durchblutungsverhältnisse, vergrößertem Herz und noch einige weitere Befunde, die bei der Leiche eines Fünfundsiebzigjährigen als normal einzustufen waren. Todeszeitpunkt: etwa 23 Uhr. Klug rief den Arzt an, dessen Unterschrift unter dem Obduktionsbericht stand. Der bestätigte, daß der Tote bei rechtzeitiger Verabreichung, so drückte er sich aus, von Nitro-Spray oder Nitroglycerin-Kapseln den Anfall wahrscheinlich überlebt hätte. Solche Medikamente habe ein Patient mit diesem Befund normalerweise immer griffbereit in der Tasche.

Armes Schwein, dachte Klug, vielleicht hatte er seine Medikamente in der Tasche, und es waren Junkies gewesen, die ihn um seinen Besitz erleichtert hatten. Die nahmen alles, was nur entfernt nach etwas Schluck- oder Spritzbarem aussah. Was hatte der Alte auf der Bank gemacht? Auf dem Parkplatz der Raststätte war kein Auto übriggeblieben, das ihm gehört haben konnte. Er mußte mit einem anderen gekommen sein, als Beifahrer oder als Anhalter. Oder zu Fuß von Kirchdorf im Westen oder Moorwerder im Osten, was jedoch unwahrscheinlich war.

Die Kleidung des Toten, erfuhr Klug schließlich, sei einfach, Konfektionsware der unteren Kategorie. Es sei davon auszugehen, daß der größere Teil in Frankreich gekauft worden sei. Kein Wunder, daß ihn hier niemand vermißte, der Alte war Franzose. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Also gut, würden sie ihn im Kühlfach lassen, bis Interpol etwas herausfand. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Und so packte Hauptkommissar Klug alles zusammen, was den Kollegen in Paris helfen konnte: Fotos, Fingerabdrücke, Zahnstatus, Obduktionsbericht, die Liste der Kleidung, füllte die nötigen Formulare aus und legte den dicken Brief in den Postkorb. Ein unbekannter alter Mann in billiger Kleidung, der mitten in der Nacht auf einem Autobahnrastplatz seiner chronischen Krankheit erlegen war, machte keinen Eilkurier nötig.

3

«Warum ich? Ich verstehe nichts von Kunst. Warum schickst du nicht Jimmi?»

«Jimmi ist auf den Seychellen oder in Florida oder wo diese smarten Jungs sonst rumjetten, wenn sie gebraucht werden. Zier dich nicht, Leo. Du kannst einen Rubens von einem Picasso unterscheiden. Das reicht. Außerdem geht’s bei dieser Geschichte nicht um Kunst, sondern ums Herz. Geheimnisvolle Rückkehr eines Kunstwerkes, adlige alte Dame, treue Liebe, Tränen und so weiter. Bei so was bist du unschlagbar, und dein Englisch ist auch große Klasse.»

«Hör auf zu schleimen, Johannes, das kannst du nicht gut genug. Was ist mit den Kollegen vom Londoner Büro?»

«Keine Chance. Die haben die Sommergrippe, Tony Blair und irgendeinen neuen Popstar am Hals.»

«Warum machst du so eine Geschichte überhaupt? Ist das Sommerloch immer noch so tief?»

«Überhaupt nicht, es ist September, da haben nur die Bayern noch Ferien. Dieser alte Schinken, den die Lady zurückbekommen hat, soll aus Deutschland gekommen sein. So was interessiert die Leute. Immer nur Politik und Wirtschaft hält kein Leser aus, Leo, das ist ein alter Hut. Du kannst da drüben nach Herzenslust rumstöbern und die Leute dumm fragen. Häng dich im Dorfpub an den Tresen, und gib dem Postboten oder sonst wem einen aus. Auf so einer Insel ist nie was los, die erzählen dir garantiert alles und ihre eigene Lebensgeschichte dazu. So was machst du doch gern, Leo. Eine rührende kleine Geschichte, das ist ein ganz leichter Job. Was ist los?»

Der letzte Satz galt nicht Leo, sondern dem Klingeln des zweiten Telefons. Johannes rief: «Moment, die andere Leitung.» Der Hörer knallte auf die Tischplatte, und Leo hörte nur noch ein Murmeln im Hintergrund. Leider konnte sie nicht ein Wort verstehen.

Sie klemmte den Hörer unters Kinn, goß sich Kaffee nach und wanderte mit dem Telefon von der Küche in ihr Arbeitszimmer. Es war ruhig, sonnig und spartanisch wie eine Klosterzelle. Im letzten Jahr hatte sie alles, was konsequente Arbeit und Konzentration sabotieren konnte, daraus verbannt. In dem breiten Regal standen nun nur noch Aktenordner – Miete, Finanzamt und ähnlich Unerfreuliches –, stapelten sich Kartons mit Archivmaterial, das immer mehr und trotzdem nicht systematisch sortiert wurde, Fachbücher und jede Menge Nachschlagewerke. Unter dem Fenster türmten sich Zeitungen und Broschüren voller immens wichtiger Informationen, die sie garantiert niemals brauchen würde.

Leo wischte sich mit dem Handrücken über den Nacken, ließ das feuchte Stirnband auf den Boden fallen und begann, die Schnürsenkel ihrer Laufschuhe zu öffnen. Sie war heute gut in Form gewesen, wahrscheinlich lag es an den Sonnenstrahlen, die sich an diesem Morgen ausnahmsweise nach Hamburg verirrt hatten und den Stadtpark in eine frühherbstliche Idylle verwandelt hatten.

Johannes redete noch auf der anderen Leitung, ein bißchen lauter, aber immer noch nicht laut genug. Eine Hummel brummte an der Fensterscheibe träge auf und ab und verkroch sich schließlich in der wuchernden Grünlilie. Leo griff nach ihrem Terminkalender, betrachtete die ziemlich leeren Seiten und seufzte. Warum war sie nicht auf den Seychellen? Jahrelang hatte sie studiert, Biologie und Politik, ernsthafte Wissenschaften. Die beste Grundlage für Reportagen über veritable Umweltskandale, Bestechungsaffairen, eben für rasende Reisen rund um den Globus. Und nun? Nun war sie Spezialistin fürs Tränenfach. Wärst du Lehrerin geworden, hatte Annelotte neulich wieder gesagt, und hättest einen netten Schulrat geheiratet wie ich, wäre das nicht passiert. Dabei hatte sie Kjeld (das arme Kind!), ihrem dritten und bisher jüngsten Sprößling, das Fläschchen in den Mund gestopft, aber es sah mehr nach Knebeln aus. Kjeld war ein ausgesprochen stimmgewaltiges Kleinkind mit minimalem Schlafbedürfnis. Annelotte, seit ihrer ersten Prügelei um einen verbeulten Brummkreisel Leos beste Freundin, wirkte in der letzten Zeit sehr schmallippig. Das Glück von Ehe und Mutterschaft forderte auch seinen Preis. Leo hatte während ihres letzten Semesters keinen zukünftigen Schulrat, sondern einen Biologieprofessor im Auge gehabt, ein für diese Gattung ungewöhnlich kostbares Exemplar mit breiten Schultern und grünen Augen und zudem Spezialist für das Brutverhalten afrikanischer Buntbarsche. Leider auch für füllige junge Damen von höchstens ein Meter sechzig mit blonder Madonnenfrisur, Mittelscheitel inclusive, und Hang zu bewunderndem Schweigen. Das exakte Gegenprogramm zu dem, was Leo, ein Meter zweiundachtzig, dünn wie eine Pappel, dunkelbraun, viele zottige kleine Locken, zu bieten hatte. Bewunderung wäre kein Problem gewesen, jedenfalls in den ersten Wochen nicht, aber Schweigsamkeit war ihr nicht gegeben. Ihr größtes Laster jedoch war ihr unerstättlicher Wissensdurst, eine ehrbare Eigenschaft, solange sie sich auf bürgerliche Bildungsinhalte beschränkt, was in diesem Fall allerdings nicht zutraf.

Nicht daß sie wirklich indiskret gewesen wäre oder hemmungslos im Leben anderer herumspioniert hätte, nein, sie hatte einfach eine Nase für Dinge, die niemanden etwas angingen. Ihre Mutter behauptete immer noch – zumeist kurz vor Weihnachten oder bei ähnlich seelenschweren Anlässen –, sie habe sich nur von Leos Vater scheiden lassen müssen, weil das Kind, sie sagte immer noch das Kind, diese kleinen Zettel mit den lippenstiftroten Kußmündern in seiner Manteltasche gefunden und stolz auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Das war nun fünfundzwanzig Jahre her, und Leos Mutter lebte fröhlich klagend mit ihrem Zweitmann Ludger, treu wie ein Bernhardiner und ähnlich beleibt, auf Gran Canaria im ewigen Frühling. Von ihrem Vater hatte Leo nie wieder etwas gehört, bis er vor drei Jahren diese Welt verließ und sie, als späten Dank, mit einem kleinen Erbe bedachte, das sie nicht reich, aber zumindest frei von Sorgen um die Miete und die täglichen Kartoffeln machte.

Jedenfalls war es irgendwann höchste Zeit gewesen, ihre ausgeprägteste Eigenschaft in ehrbare Bahnen zu lenken und einen Beruf zu ergreifen, bei dem die weniger störte. Inzwischen waren sie und ihre Neugier erwachsen geworden. Was aber nicht viel besser war, nur besser aussah. Sie mußte nicht mehr in jede verschlossene Schublade gucken, auch belauschte sie nur noch äußerst selten fremde Telefongespräche, ihre Arbeitsweise gestaltete sich erheblich aufwendiger und bewies professionelle Effektivität. Sie recherchierte gründlich, und in ihrem Kopf ratterten fleißige kleine Synapsen, unermüdlich damit beschäftigt, auch scheinbar belanglose Begebenheiten, Eindrücke oder Geräusche so lange hin und her zu schieben, bis daraus ein Bild entstand, die Lösung eines Rätsels, die Antwort auf eine Frage – oder eine neue Frage, eine ganze Reihe neuer Fragen. Tatsächlich war Leos Weise, die Welt zu sehen und zu erkunden, für ihren Beruf ehrenhaft, für die Karriere jedoch völlig ungeeignet. Eine gute Journalistin, hatte schon ihr erster Chefredakteur gesagt, wisse, wann sie aufhören müsse zu recherchieren. Sie, Leo Peheim, wisse das nicht. Ihre dämliche Buddelei sei schlicht unprofessionell, damit bekomme sie jedes Thema kaputt.

Nun war sie zehn Jahre im Geschäft, und – wie schon gesagt – im Tränenfach gelandet. Offiziell hieß das «Gesellschaft und Soziales», was viel besser klingt, und an guten Tagen war sie damit zufrieden. An schlechten sah sie die Welt grau und ihre Geschichten über verlorene und wiedergefundene Väter und Hunde, zu Herzen gehende Einsätze selbstloser Frauen für Drogenabhängige und Obdachlose, gegen alle Wahrscheinlichkeit lebend überstandene Abenteuer in den Tiefen des malaysischen Dschungels (nicht vor Ort recherchiert, sondern nach der Rückkehr der Heldin ins heimatliche Süderbrarup) als reines Entertainment für Leute, die selbst weder Dramen noch Höhenflüge erlebten, was nicht schlecht war, aber auch nicht genug. In den letzten Monaten hatte sie mehr schlechte Tage als gewöhnlich, wahrscheinlich lag das an dem verregneten Sommer.

Am anderen Ende der Leitung landete der Hörer scheppernd auf dem weißen Plastikkästchen mit den vielen Knöpfen, und der andere wurde wieder aufgenommen. «Hast du was gesagt, Leo?»

Leo schüttelte den Kopf. «Nein, Johannes. Ich denke.» Sie stellte irritiert fest, daß sie kleine grüne Galgen auf die Schreibtischunterlage gemalt hatte.

«Denke nicht, mach einfach. Vom Denken ist noch keiner reich und berühmt geworden. Also! Das Ticket ist schon bestellt. Du hast einen Direktflug, kein Umsteigen in London, ist doch schön, oder? Eine nette kleine Reise auf eine nette kleine Insel. Und erzähl mir nicht, daß du keine Zeit hast. Ich weiß, daß du Zeit hast. Pack deine Sachen, und komm morgen um halb zehn in die Redaktion, hol das Ticket und ein paar Seiten Archivmaterial, und weiter geht’s zum Flughafen. Ist doch alles ganz bequem. Oder?»

Als das Taxi am nächsten Morgen um zwanzig nach neun vor dem Redaktionsgebäude hielt, war Leo wieder um eine Lebensgeschichte reicher. Bis auf einen in der Waschmaschine, trotz Schonwaschgang, ein für allemal dahingegangenen Lottozettel mit sechs Richtigen plus Supergewinnzahl, hatte sie eine Scheidung, die chronische Bronchitis des verflossenen Gatten und eine Allergie gegen Aprikosen zu bieten gehabt. Vielleicht war für undankbare Kinder und bösartige Nachbarinnen nur keine Zeit mehr gewesen.

Johannes’ Zimmer lag in der dritten Etage des Verlagsgebäudes am Ende eines Ganges von der Länge des Elbtunnels. Als Ressortleiter hatte er Anspruch auf ein Zimmer mit Aussicht. Davon gab es zwar nicht genug, aber Johannes, für Neulinge im Haus, wegen seines Zwiebackbaby-Gesichts und seiner behäbigen (nett ausgedrückt) Gestalt, ein freundlicher Bär und völlig frei von den Qualitäten, die man für eine halbwegs passable Karriere in seiner Branche brauchte, bekam tatsächlich immer, was er wollte. Ein Büro mit Aussicht war für ihn eine Kleinigkeit, und so sah er Tag für Tag über die Elbe auf das große Trockendock und die Kräne, auf pummelige kleine Barkassen und große Pötte, eben die ganze bunte Hafen-Szenerie. Seit die Stadt als Idealkulisse fürs Fernsehen entdeckt worden war, konnte er den Blick übers Wasser allerdings nicht mehr genießen. Im Fernsehen, sagte er, sehe das alles doch viel schöner aus. Immer Sonne und action. Was sei dagegen die Realität? Vor einigen Wochen hatte er seinen Schreibtisch umstellen lassen, nun saß er mit dem Rücken zu Fenster und Hafen, hatte den Flur hinter seiner stets geöffneten Tür im Blick und wußte als erster von den neuesten Liebschaften, Intrigen und was es sonst in einer Zeitschriftenredaktion Wichtiges zu erfahren gab.

Leo ließ ihre Reisetasche fallen, etwas behutsamer den kleinen Rucksack mit der Kosmetikbox und dem Laptop und setzte mit erleichtertem Seufzen den schweren Tontopf mit ihrer Grünlilie auf Johannes’ Schreibtisch. Der telefonierte. Natürlich.

«Nein», sagte er, «auf keinen Fall … Doch, vielleicht, aber erst nach … Selbstverständlich weiß ich, daß Maria in Schottland ist und dich nicht begleiten kann … Nein, aber … Wieso nie Zeit? Bin ich nicht erst Samstag mit dir bei den Groothudes gewesen? … Natürlich darf man die Karten nicht verfallen lassen, aber … Also gut, ich hole dich um sieben ab. Ja, morgen, nein, ich vergesse es nicht.  … Wie? Ja, ich sage Anita, sie soll mich daran erinnern … Ja! Du solltest unbedingt im Oktober nach Lugano fahren, unbedingt, besser vier Wochen, aber jetzt muß ich wirklich Schluß machen, ich habe Besuch … Natürlich beruflich. Ich arbeite hier. Hast du das vergessen?» Er schnaufte erschreckt und sah verblüfft auf den Hörer. «Sie hat aufgelegt.»

«Geht es deiner Mutter gut?» fragte Leo höflich.

«Schrecklich gut. Sie hat mich gerade gezwungen, morgen mit ihr ins Schauspielhaus in die ‹Westside Story› zu gehen. Dieses Gastspiel von so einer Broadway-Truppe. Die ‹Westside Story›! Nichts als hüpfende Teenager und Lärm. Was will sie da? Sie ist fast siebzig! Was ist das?» Er zeigte angeekelt auf das üppige Gewächs vor seiner Nase.

«Meine Grünlilie. Wenn ich sie alleine lasse, grämt sie sich und vertrocknet auf der Stelle. Meine Nachbarin ist im Urlaub, Johannes, also mußt du sie gießen. Jeden Tag, aber nicht zuviel.»

«Du spinnst, Leo, das ist hier ein Büro, kein Gewächshaus. Womöglich soll ich noch mit ihr reden?»

«Das wäre nicht schlecht. Sie ist eine wunderbare Zuhörerin.»

Er seufzte ergeben und schob den Topf mit spitzen Fingern an den Tischrand. «Stell das Monstrum irgendwo ans Fenster. Willst du Kaffee?»

Leo schüttelte den Kopf. Bevor sie in ein Flugzeug stieg, tat sie nichts, was sie auf irgendeine Weise munter halten konnte.

«Okay.» Johannes rubbelte sich mit beiden Händen energisch übers Gesicht. «An die Arbeit.» Er griff nach einer grünen Mappe auf seinem Schreibtisch, der wie stets penibel aufgeräumt war. Leo hatte nie verstanden, wie er das schaffte, bis sie vor einiger Zeit, auf der Suche nach einem Radiergummi, eine seiner Schubladen aufzog. Der Anblick war schrecklich. Das hatte sie getröstet.

«Das Archivmaterial.» Er reichte ihr die Mappe. «Es ist nicht viel. Du hast im Flieger reichlich Zeit, es zu lesen. Und bitte, Leo, frag viel, aber nicht zu viel. Lies den Artikel aus der Sun. Da steht eigentlich schon alles drin, ich weiß gar nicht, warum ich dich noch da rüberfliegen lasse. Ich will nicht, daß du womöglich rauskriegst, daß die ganze Geschichte ein Luftei ist. Sieh mich nicht so an. Du weißt genau, was ich meine. Es ist eine wirklich schöne Geschichte. Also frag die Lady nicht so lange, bis sie dir erzählt, daß ihr verschollener Ehemann kein Traumprinz, sondern eine Knalltüte war. Du bist ein Profi, also frag nur, was wir wissen wollen. Denk an den Vater aus Deutsch-Südwest.»

Leo seufzte. Die Geschichte mit der Wiedervereinigung von Vater und Tochter, die einander neunundvierzig Jahre lang für tot gehalten hatten, hatte so schön angefangen. Sie saßen, Leo gegenüber, einträchtig nebeneinander auf dem Sofa und beteuerten immer abwechselnd, wie schmerzlich sie einander vermißt, wie hart sie unter dem vermeintlichen Tod des anderen gelitten hatten, all die Jahrzehnte. Immer die Sehnsucht im Herzen, und nie, schluchzte die Tochter, habe sie die Hoffnung aufgegeben. Und dann, vor einer Woche, waren sie einander am Hamburger Flughafen in die Arme gesunken, endlich wieder vereint, eine Familie. Leo hatte das sehr rührend gefunden, aber auch erstaunlich. Ob er denn nicht, wie andere Eltern auch, über die Suchdienste nach seiner in den Nachkriegswirren verlorengegangenen Tochter hätte forschen lassen. Wieso er überhaupt nach Namibia gegangen sei, bevor er seine Familie …