Das Bild der Pyramide - Andrea Camilleri - E-Book

Das Bild der Pyramide E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Heftiger Dauerregen drückt den Bewohnern im sizilianischen Vigàta aufs Gemüt, als Commissario Montalbano Nachricht vom Fund einer männlichen Leiche auf einer Baustelle erhält. Kurz darauf sind die Ehefrau des Ermordeten und ein mysteriöser Begleiter verschwunden. Die örtlichen rivalisierenden Clans weisen alle Schuld von sich und propagieren einen Ehrenmord. Doch Montalbano kommt schon bald Machenschaften um einen lukrativen Bauauftrag auf die Spur ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnAnmerkung des Autors

Über das Buch

Heftiger Dauerregen drückt den Bewohnern im sizilianischen Vigàta aufs Gemüt, als Commissario Montalbano Nachricht vom Fund einer männlichen Leiche auf einer Baustelle erhält. Kurz darauf sind die Ehefrau des Ermordeten und ein mysteriöser Begleiter verschwunden. Die örtlichen rivalisierenden Clans weisen alle Schuld von sich und propagieren einen Ehrenmord. Doch Montalbano kommt schon bald Machenschaften um einen lukrativen Bauauftrag auf die Spur …

Über den Autor

Andrea Camilleri, 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle (Provinz Agrigento) geboren, arbeitete lange Jahre als Essayist, Drehbuchautor und Regisseur sowie als Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. Dort lebt er mit seiner Frau Rosetta in dem Stadtteil Trastevere im Obergeschoss eines schmucken Palazzo, wobei er seinen Zweitwohnsitz in Porto Empedocle in Sizilien nie aufgegeben hat. Sein literarisches Werk, in dem er sich vornehmlich mit seiner Heimat Sizilien auseinandersetzt, umfasst mehrere historische Romane, darunter »La stagione della caccia«, 1992, »Il birraio di Preston«, 1995, und »La concessione del telefono«, 1998, sowie Kriminalromane. In seinem Heimatland Italien bricht er seit Jahren alle Verkaufsrekorde und hat auch bei uns ein begeistertes Publikum gefunden. Mit den Romanen um den Commissario Salvo Montalbano eroberte er auch die deutschen Leser im Sturm, und seine Hauptfigur gilt inzwischen weltweit als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Kriminalistik und südländischen Charme und Humor.

Andrea Camilleri

Das Bild der Pyramide

Commissario Montalbano zweiundzwanzigster Fall

Roman

Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Walter Kögler

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

  

Titel der italienischen Originalausgabe:

»La piramide di fango«

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Sellerio Editore, via Siracusa 50, Palermo/ Italy

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband- / Umschlagmotiv: © mauritius images / robertharding / Stuart Black

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-7845-0

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Eins

Der Donner krachte so laut, dass Montalbano aus dem Schlaf hochfuhr und vor Schreck fast aus dem Bett gefallen wäre.

Seit mehr als zwei Wochen goss es pausenlos wie aus Kübeln. Die Schleusen des Himmels hatten sich geöffnet, und es schien, als würden sie sich nie wieder schließen.

Es regnete nicht nur in Vigàta, sondern in ganz Italien. Im Norden waren Flüsse über die Ufer getreten, Überschwemmungen hatten schwere Schäden angerichtet, und in einigen Ortschaften waren die Bewohner sogar evakuiert worden. Doch auch im Süden war die Lage ernst. Ausgetrocknete Flussbetten, die man seit Jahrhunderten für tot gehalten hatte, waren wieder zum Leben erwacht und zerstörten rachsüchtig Häuser und Felder.

Am Abend vorher hatte der Commissario im Fernsehen einen Wissenschaftler warnen hören, Italien stehe vor einer gewaltigen geologischen Katastrophe, da keine Regierung jemals ernsthafte Maßnahmen für den Bodenschutz ergriffen habe.

Wie ein Hausbesitzer, der nie darüber nachgedacht hatte, das kaputte Dach oder die beschädigten Fundamente seines Hauses zu reparieren. Und der sich dann wunderte und beschwerte, wenn eines Tages das Haus über ihm zusammenstürzte.

Vielleicht haben wir ein solches Ende verdient, war Montalbanos bitterer Kommentar.

Er machte Licht und sah auf die Uhr. Fünf nach sechs. Zu früh, um aufzustehen.

Mit geschlossenen Augen genoss er das Rauschen des Meeres. Ob es friedlich war oder wütend, es erfüllte ihn jedes Mal mit einem Glücksgefühl. Und dann wurde ihm bewusst, dass es aufgehört hatte zu regnen. Er stand auf und öffnete die Fensterläden.

Dieser Donnerschlag war wie der Abschlussböller eines Feuerwerks gewesen. Tatsächlich fiel kein einziger Tropfen mehr, und die leichten und luftigen Wolken, die nun von Osten heranzogen, würden die dicken schwarzen Regenwolken schnell verjagen. Zufrieden legte er sich wieder ins Bett.

Es würde also keiner jener trüben grauen Tage werden, die ihm die Laune verdarben. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, was er geträumt hatte, bevor ihn das Krachen des Donners aus dem Schlaf gerissen hatte:

Er war durch einen stockdunklen Tunnel gelaufen, in der rechten Hand eine Petroleumlampe, die nur wenig Licht spendete. Einen Schritt hinter ihm schleppte sich ein Mann vorwärts, den er kannte, dessen Namen er aber nicht wusste. Irgendwann sagte der Mann:

»Ich kann mit deinem Tempo nicht mithalten, ich verliere zu viel Blut.«

Und er darauf:

»Langsamer kommt nicht infrage, der Tunnel kann jeden Moment einstürzen.«

Der Mann hinter ihm keuchte und rang nach Luft. Dann hörte Montalbano einen Klagelaut und einen dumpfen Aufprall. Er drehte sich um und lief zurück. Der Mann lag bäuchlings auf dem Boden, zwischen seinen Schulterblättern steckte ein großes Küchenmesser. Er war tot, ganz eindeutig. In dem Moment löschte ein heftiger Windstoß das Licht der Petroleumlampe, und der Tunnel stürzte mit dem Grollen und Dröhnen eines Erdbebens in sich zusammen.

Der Traum war die Folge einer üppigen Mahlzeit mit gekochtem Tintenfisch und eines Fernsehberichts über ein Bergwerksunglück in China mit über hundert Toten.

Aber woher kam der Mann mit dem Messer zwischen den Schulterblättern?

Montalbano versuchte sich zu erinnern, beschloss dann aber, der Sache keine Bedeutung beizumessen.

Sanft sank er in den Schlaf zurück.

Da schrillte das Telefon. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass kaum zehn Minuten vergangen waren.

Kein gutes Zeichen, wenn so früh am Morgen ein Anruf kam.

»Pronto?«

»Birtì?«

»Ich bin nicht …«

»Hier steht alles unter Wasser, Birtì!«

»Hören Sie, ich …«

»Birtì, in der Vorratskammer mit den hundert frischen Käselaiben steht das Wasser zwei Meter hoch!«

»Hören Sie …«

»Ganz zu schweigen vom Lager, Birtì.«

»Verdammt noch mal! Jetzt hören Sie doch endlich einmal zu!«, brüllte der Commissario in den Hörer. Es klang wie Wolfsgeheul.

»Ist da nicht …«

»Nein, ich bin nicht Birtino! Das versuche ich Ihnen schon die ganze Zeit zu erklären. Sie haben sich verwählt!«

»Aber wenn Sie nicht Birtino sind, mit wem spreche ich dann?«

»Mit seinem Zwillingsbruder!«

Er knallte den Hörer auf die Gabel und legte sich fluchend wieder hin. Einen Moment später läutete es erneut. Kreischend sprang er aus dem Bett, griff nach dem Hörer und schrie wie von Sinnen:

»Leckt mich alle am Arsch, du, Birtino und die hundert frischen Käselaibe!«

Er legte auf und riss den Stecker aus der Buchse. Aber er hatte sich so aufgeregt, dass nur eines half: eine ausgiebige Dusche.

Er war auf dem Weg ins Bad, als von irgendwo aus dem Schlafzimmer eine seltsame Melodie an sein Ohr drang.

Das konnte nur der Klingelton seines Handys sein. Er ging ran.

Fazio war am Apparat.

»Was ist?«, fragte Montalbano barsch.

»Verzeihen Sie, Dottore, ich habe versucht, Sie auf dem Festnetz anzurufen, aber da war jemand dran, der … Ich muss mich verwählt haben.«

Dann hatte er also Fazio zum Teufel geschickt.

»Du hast dich ganz bestimmt verwählt, denn ich hatte den Stecker gezogen.« Er log mit einer Stimme, die absolut keinen Zweifel ließ.

»In der Tat. Deshalb muss ich Sie ja auf dem Handy belästigen. Wir haben einen Mordfall.«

Was sonst!

»Und wo?«

»In der Contrada Pizzutello.«

Der Commissario hatte den Namen noch nie gehört.

»Wo ist das?«

»Zu kompliziert, Dottore. Ich habe eben Gallo mit dem Dienstwagen zu Ihnen geschickt und bin selbst schon auf dem Weg nach Pizzutello, ich bin gleich da. Ach ja, ziehen Sie sich Gummistiefel an, das Gelände dürfte recht matschig sein.«

»Ist gut. Bis gleich.«

Er beendete das Gespräch, schloss das Festnetztelefon wieder an und war im Begriff, die Badezimmertür zu öffnen, als es erneut läutete. Wenn das noch einmal der Kerl war, der Birtino sprechen wollte, würde er sich die Adresse geben lassen und ihn erschießen. Und die frischen Käselaibe gleich dazu.

»Dottori, was machen Sie, hab ich Sie geweckt?«, fragte Catarella besorgt.

»Nein, ich bin schon eine Weile auf. Was gibt’s?«

»Dottori, ich wollte Ihnen die Erkenntnis vermitteln, dass Gallos Dienstwagen nicht zu Diensten steht und dass im ganzen Fuhrpaket auch kein anderer verfügbarer Wagen verfügbar ist, insofern als sie nicht fahrbar sind.«

»Was soll das heißen?«

»Dass sie auch alle kaputt sind.«

»Und jetzt?«

»Und jetzt hat Fazio mir die Befehligung erteilt, dass ich kommen und Sie mit meinem Auto abholen soll.«

Ach du Schande! Catarella war nicht gerade ein Ass am Steuer. Aber dem Commissario blieb keine andere Wahl.

»Und du weißt, wo der Tote ist?«

»Selbstverständlich, Dottori. Aber zur Sicherheit nehme ich den sprechenden Nawikator mit.«

Der Commissario war startklar und trank schon die dritte Tasse Espresso, als er vor der Haustür einen gewaltigen Schlag hörte. Er zuckte so heftig zusammen, dass der Kaffee aus der Tasse auf seine Jacke und seine Gummistiefel schwappte. Fluchend stand er auf, um nachzusehen, was passiert war.

Als er die Haustür aufriss, wäre er fast gegen die Stoßstange von Catarellas Wagen geprallt.

»Wolltest du mit dem Auto durch die Tür und mich direkt im Wohnzimmer abholen?«

»Ich bitte um Vergebnis und Entschuldung, Dottori, aber wegen des Schlammassels auf der Straße ist es so rutschig, dass der Wagen ins Schleudern gekommen ist. Aber daran bin nicht ich schuld, sondern die wetterologische Lage.«

»Leg den Rückwärtsgang ein und fahr ein Stück zurück, sonst komm ich ja nicht mal aus dem Haus.«

Catarella tat wie geheißen. Der Motor heulte auf, aber das Auto bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck.

»Dottori, die Sache ist die, dass der Weg abschüssig ist und die Reifen im Schlammassel durchdrehen.«

Der Moment war zwar völlig unpassend, aber der Commissario verspürte dennoch den Wunsch, ihn zu korrigieren.

»Catarè, es heißt Schlamm und nicht Schlamassel.«

»Wie Sie wollen, Dottori.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Dottori, wenn Sie über die Veranda rausgehen und ich dort reingehe, könnten wir die Plätze tauschen.«

»Und wozu soll das gut sein?«

»Dann fahren Sie, und ich schiebe.«

Das klang überzeugend. Sie tauschten die Plätze, und nach zehn Minuten und mehreren Anläufen hatten die Reifen endlich Bodenhaftung. Catarella sperrte die Haustür ab, dann tauschten sie erneut die Plätze und fuhren los.

Nach einer Weile sagte Catarella:

»Dottori, würden Sie mir etwas erklären?«

»Was denn?«

»Warum kann man eigentlich nicht Schlammassel sagen, wenn doch alles voller Schlamm ist?«

»Ein Schlamassel kann natürlich auch bedeuten, dass überall Schlamm ist, aber an sich hat es mit Schlamm nichts zu tun.«

Der sprechende Nawikator sprach seit einer halben Stunde, und seit einer halben Stunde folgte Catarella gehorsam den Anweisungen und sagte jedes Mal »Sissignore«, bis Montalbano fragte:

»Waren wir nicht gerade an der alten Mautstelle Montelusa Bassa?«

»Sissì, Dottori.«

»Und wo ist diese Contrada?«

»Noch ein Stück weiter, Dottori.«

»Aber wenn wir hier schon in der Provinz Montelusa sind, kann es doch nicht noch weiter entfernt sein!«

»Doch doch, Dottori, das alles hier gehört zur Provinz Montelusa.«

»Aber was geht uns ein Toter in der Provinz Montelusa an? Halt mal an und ruf Fazio auf dem Handy an. Und dann gibst du ihn mir.«

Catarella gehorchte.

»Fazio, erklär mir, warum wir uns mit einem Fall beschäftigen sollen, der gar nicht in unserem Zuständigkeitsbereich liegt?«

»Wer sagt das?«

»Wer sagt was?«

»Dass der Fall nicht in unserem Zuständigkeitsbereich liegt.«

»Ich! Wenn die Leiche in der Provinz Montelusa gefunden wurde, ist doch die logische Schlussfolgerung, dass …«

»Aber die Contrada Pizzutello liegt in unserem Zuständigkeitsbereich, Dottore! Sie liegt unmittelbar an der Grenze zu Sicudiana.«

Ach du lieber Himmel! Er und Catarella befanden sich genau am entgegengesetzten Ende der Provinz. Montalbano ging ein Licht auf.

»Warte mal kurz.«

Er sah Catarella forschend an, der den Blick vorsichtig erwiderte.

»In welche Contrada bringst du mich?«

»In die Contrada Rizzutello, Dottori.«

»Catarè, kennst du den Unterschied zwischen ›P‹ und ›R‹?«

»Natürlich, Dottori.«

»Erklär mir, wie ›P‹ und ›R‹ als Großbuchstaben aussehen.«

»Als Großbuchstaben? Da muss ich kurz überlegen. Also: Das ›R‹ hat einen Bauch und ein kleines Bein, das ›P‹ hat nur einen Bauch.«

»Bravo. Aber du hast sie verwechselt. Du bringst mich an einen Ort mit einem kleinen Bein statt an einen Ort nur mit einem Bauch.«

»Dann hab ich einen Fehler gemacht?«

»Kann man so sagen.«

Catarella wurde zuerst puterrot und dann leichenblass.

»O Matruzza santa, ich hab was falsch gemacht! Was für einen unverzeihbarlichen Fehler hab ich da begangen! Ich hab den Dottori vom rechten Weg abgebracht!«

Catarella war den Tränen nahe und schlug die Hände vors Gesicht. Um Schlimmeres zu verhindern, klopfte der Commissario ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Komm, Catarè, beruhige dich, auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an. Kopf hoch! Jetzt nimmst du das Handy und lässt dir von Fazio erklären, wie wir fahren müssen.«

Rechts der kleinen Landstraße, die zu einer von zahllosen Reifenspuren durchzogenen Matschpiste geworden war, erstreckte sich das weiträumige Gelände einer Baustelle, die sich in einen Schlammsee verwandelt hatte. Auf der einen Seite lagen aufeinandergestapelte riesige Betonröhren, jede so groß, dass ein Mensch aufrecht darin stehen konnte, und daneben standen ein riesiger Kran, drei Lkws, zwei Bagger und drei Schürfraupen.

Auf der anderen Seite des Areals parkten mehrere Pkws, darunter der von Fazio, und zwei Einsatzfahrzeuge der Spurensicherung.

Hinter der Freifläche war die Straße wieder als solche erkennbar und führte bergauf. Hundert Meter oberhalb lag eine kleine Villa und ein Stück entfernt ein zweites Haus.

Nachdem Catarella ihn abgesetzt hatte und wieder losgefahren war, ging der Commissario auf Fazio zu.

»Was wird hier gebaut?«

»Hier entsteht eine neue Wasserleitung. Wegen des schlechten Wetters können die Arbeiter seit vier Tagen nicht weitermachen, aber heute Morgen in aller Frühe waren zwei von ihnen hier, um nach dem Rechten zu sehen. Sie waren es, die die Leiche entdeckt und bei uns angerufen haben.«

»Hast du den Toten schon gesehen?«

»Ja.«

Fazio wollte noch etwas hinzufügen, entschied sich dann aber anders.

»Was ist?«, fragte Montalbano.

»Sie schauen ihn sich besser selbst an.«

»Und wo ist er?«

»In der Röhre.«

Montalbano sah ihn fragend an.

»In welcher Röhre?«

»Von hier kann man sie nicht sehen, Dottore, die Maschinen verstellen die Sicht. Man hat einen Tunnel durch den Hügel gegraben, um die Röhren darin zu verlegen. Drei sind schon eingebaut. Die Leiche wurde ganz am Ende des Tunnels entdeckt.«

»Dann mal los.«

»Dottore, im Moment sind noch die von der Spurensicherung drin. Und mehr als zwei Leute passen nicht rein. Aber sie sind wohl gleich fertig.«

»War Dottor Pasquano hier?«

»Ja. Er hat einen Blick auf die Leiche geworfen und ist wieder gegangen.«

»Hat er etwas gesagt?«

»Die beiden Arbeiter haben den Toten um Viertel nach sechs entdeckt. Dottor Pasquano meint, der Tod sei eine Stunde vorher eingetreten, aber der Mann sei ganz sicher nicht in der Röhre erschossen worden.«

»Dann haben ihn seine Mörder also hierhergeschafft?«

Fazio wirkte unschlüssig.

»Dottore, Sie müssen es mit eigenen Augen sehen.«

»Und der Staatsanwalt war auch schon da?«

Staatsanwalt Tommaseo, das war allgemein bekannt, baute ständig Unfälle, selbst bei strahlendem Sonnenschein und auf absolut leeren Straßen. Kaum auszudenken, was passierte, wenn er nach den sturzbachartigen Regenfällen der vergangenen Tage mit dem Auto unterwegs war.

»Staatsanwalt Jacono war da, weil Tommaseo an Grippe erkrankt ist.«

»Ich möchte mit den Arbeitern sprechen.«

»He, ihr beiden, kommt mal her!«, rief Fazio zwei Männern zu, die neben einem Auto standen und rauchten.

Sie stapften durch den Schlamm und gingen auf den Commissario zu.

»Buongiorno. Ich bin Commissario Montalbano. Um wie viel Uhr sind Sie heute Morgen hier angekommen?«

Die beiden sahen sich an. Der Ältere, ein etwa fünfzigjähriger Mann, antwortete.

»Um Punkt sechs.«

»Mit einem Auto?«

»Ja.«

»Und dann sind Sie als Erstes in den Tunnel gegangen?«

»In den Tunnel wollten wir als Letztes, aber als wir das Fahrrad gesehen haben, sind wir sofort rein.«

Montalbano sah ihn verständnislos an.

»Welches Fahrrad?«

»Direkt vor dem Tunneleingang lag ein Fahrrad, jemand muss es dort hingeworfen haben. Wir dachten, hier hätte jemand Unterschlupf gesucht und …«

»Moment mal. Wie konnte jemand mit dem Fahrrad durch diesen ganzen Matsch fahren?«

»Signor Commissario, wir haben einen Holzsteg gebaut, sonst könnten wir uns auf dem Gelände überhaupt nicht bewegen. Man sieht ihn erst, wenn man näher rangeht.«

»Und weiter? Was haben Sie dann gemacht?«

»Was hätten wir machen sollen? Wir sind mit Taschenlampen rein, und ganz hinten im Tunnel haben wir die Leiche entdeckt.«

»Haben Sie sie angefasst?«

»Nein.«

»Woher wussten Sie dann, dass der Mann tot ist?«

»Das man merkt doch, wenn einer tot ist.«

»Kannten Sie ihn?«

»Das können wir nicht sagen. Er ist vornüber aufs Gesicht gefallen.«

»Könnte es sein, dass er hier gearbeitet hat?«

»Kann sein, kann aber auch nicht sein.«

»Haben Sie mir sonst noch etwas zu berichten?«

»Nein. Wir sind raus aus dem Tunnel, und dann hab ich sofort im Kommissariat angerufen.«

»Alles klar, danke. Sie können gehen.«

Die beiden verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg, froh, endlich nach Hause gehen zu dürfen. Bei den Pkws kam etwas in Bewegung.

»Die Spurensicherung ist fertig«, sagte Fazio.

»Frag nach, ob sie etwas gefunden haben.«

Fazio entfernte sich. Mit dem Chef der Spurensicherung hätte Montalbano ums Verrecken nicht gesprochen. Er hegte eine tiefe Abneigung gegen ihn, was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte.

Fünf Minuten später war Fazio wieder da.

»Sie haben keine Patronenhülse gefunden, sind aber sicher, dass der Mann bereits angeschossen war, als er den Tunnel betreten hat. Es gibt blutige Handabdrücke an der Wand einer Röhre, als hätte er sich abgestützt, um nicht zu fallen.«

Die Fahrzeuge der Spurensicherung fuhren los. Jetzt waren nur noch Fazios Auto und das Transportfahrzeug der Gerichtsmedizin übrig.

»Dottore, halten Sie sich an mir fest, sonst rutschen Sie in dem Schlamm noch aus.«

Montalbano nahm das Angebot gerne an. Sie gingen vorsichtig, mit Tippelschritten, und als sie die beiden Autos hinter sich gelassen hatten, konnte der Commissario endlich den Tunneleingang sehen.

»Wie lang sind die Röhren?«

»Jede ist sechs Meter lang. Der Tunnel hat eine Länge von achtzehn Metern, und die Leiche befindet sich ganz am Ende.«

Links vom Eingang lag, halb mit Schlamm bedeckt, ein Fahrrad auf dem Boden, um das die Leute von der Spurensicherung ein gelbes Band gespannt hatten.

Der Commissario blieb stehen und sah sich das Fahrrad an. Es war ein altes, klappriges Ding, ziemlich abgenutzt, die grüne Farbe abgeblättert.

»Warum hat er das Fahrrad draußen gelassen und ist nicht reingefahren? Platz hätte er doch genug gehabt«, merkte Fazio an.

»Das war, glaube ich, keine freiwillige Entscheidung. Er muss gestürzt sein und hatte wohl keine Kraft mehr, noch einmal in den Sattel zu steigen.«

»Nehmen Sie meine Taschenlampe und gehen Sie vor«, sagte Fazio.

Montalbano nahm die Taschenlampe, knipste sie an und betrat den Tunnel, gefolgt von Fazio.

Doch nach zwei Schritten machte er kehrt und rannte schwer keuchend wieder heraus.

»Was ist?«, fragte Fazio verdutzt.

Konnte Montalbano ihm sagen, dass er sich an seinen Traum erinnert fühlte?

»Ich bekomme keine Luft. Ist der Tunnel auch wirklich sicher?«

»Ganz sicher.«

»Na gut. Gehen wir rein«, sagte er, knipste die Taschenlampe erneut an und holte tief Luft, wie vor einem Tauchgang.

Zwei

Er wusste, was er vorfinden würde, daran gab es nichts zu rütteln. Wenn man davon absah, dass Fazio glücklicherweise kein Küchenmesser zwischen den Schulterblättern hatte, war die Szene genau wie in seinem Traum, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Auch der Tunnel war voller Schlamm, weniger als draußen, aber matschig war es auch hier. Schließlich fiel der Strahl der Taschenlampe auf die Leiche. Montalbano erstarrte.

Denn der Tote, der auf dem Bauch lag und aussah wie eine Statue aus Schlamm, trug nur eine Unterhose und ein ärmelloses Unterhemd. Und er war barfuß.

Man hatte ihn mit einem einzigen Schuss zwischen die Schulterblätter getötet. Das Unterhemd war nicht mehr weiß, sondern rötlich braun von dem mit Schlamm vermischten Blut, und das Einschussloch der Kugel war deutlich zu erkennen.

»Ich würde gern sein Gesicht sehen«, sagte der Commissario.

»Ich werd’s veranlassen«, erwiderte Fazio und ging hinaus zu den Männern, die für den Abtransport der Leiche zuständig waren. Der Commissario folgte ihm. Die Männer saßen im Leichenwagen und vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen. Sie schauten Fazio missmutig an und spielten erst noch ein Weilchen weiter, bevor sie ausstiegen und in den Tunnel gingen.

»Heute Morgen um fünf hat es richtig geschüttet«, sagte Fazio. »Warum fährt einer bei strömendem Regen einfach so mit dem Fahrrad spazieren? Noch dazu barfuß und in der Unterhose?«

»Er ist nicht spazieren gefahren, er ist geflohen«, widersprach der Commissario. »Und wahrscheinlich wurde in dem Moment auf ihn geschossen, als er aufs Fahrrad stieg. Dabei fällt mir noch etwas ein.«

»Was denn?«

»Dass ein tödlich verwundeter Mensch bei einem solchen Unwetter wohl kaum die Kraft hatte, mit dem Rad bergauf zu fahren.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts weiter. Nur, dass der Mann …«

»Fertig!«, rief einer der Männer und trat aus dem Tunnel.

Der Commissario und Fazio gingen ein zweites Mal hinein. Die Männer hatten den Toten umgedreht und ihm sogar das Gesicht saubergewischt.

Es war die Leiche eines gutaussehenden, etwa dreißigjährigen Mannes mit schwarzen Haaren. Der halb geöffnete Mund entblößte eine Reihe gesunder weißer Zähne. Unter dem linken Auge hatte er eine halbmondförmige Narbe. Das Unterhemd wies auf der Vorderseite kein Loch auf, ein Zeichen dafür, dass die Kugel im Körper stecken geblieben war.

»Das genügt mir«, sagte der Commissario.

Sie gingen wieder ins Freie.

»Können wir ihn eintüten?«, fragte einer der Männer.

»Nur zu«, sagte Fazio.

Montalbano blickte sich um. Ein Gefühl der Beklemmung überkam ihn angesichts der trostlosen, deprimierenden Landschaft. Der riesige Kran erinnerte ihn an das Skelett eines Mammuts, die großen Röhren an das Gerippe eines gigantischen Tieres und die mit einer dicken Schlammschicht verkrusteten unförmigen Lkws an tote Wesen aus einer fernen Vergangenheit. Weit und breit gab es keinen einzigen Grashalm, die gesamte Vegetation war mit einer schmierigen dunkelgrauen Schicht wie aus einer Kloake überzogen, die alles Leben erstickt hatte, selbst Eidechsen und Ameisen. Montalbano kam T. S. Eliots Gedicht Das wüste Land in den Sinn, der Vers mit der »Rattenallee, wo die toten Menschen ihre Knochen ließen«.

»Seit wann arbeiten die eigentlich schon an dieser Wasserleitung?«

»Seit sieben Jahren, Dottore.«

»Und warum dauert das so lange?«

»Nach fünf Jahren gab es einen Baustopp, weil sich die Kosten verdreifacht hatten, wie üblich.«

»Und danach haben sie weitergemacht?«

»Ja. Die Regionalregierung hatte neue Gelder bewilligt. Aber mittlerweile scheint es kein Wasser mehr zu geben.«

»Von welchem Wasser sprichst du?«

»Von dem Wasser, das durch diese neue Leitung fließen sollte. Das Wasser des Voltano.«

»Und warum führt der Voltano kein Wasser mehr?«

»Er führt schon noch Wasser, aber nicht genug, um diese Leitung zu versorgen.«

»Woran liegt das?«

»Inzwischen hat das Konsortium von Caltanissetta die Ausschreibung für die Nutzung des Wassers aus dem Voltano gewonnen, und die Firma nutzt das Wasser selbst.«

»Dann ist diese Leitung also sinnlos?«

»Richtig.«

»Und warum gehen die Arbeiten trotzdem weiter?«

»Dottore, das wissen Sie doch besser als ich. Weil der Auftrag erteilt und der Vertrag unterzeichnet ist. Hier stehen knallharte wirtschaftliche Interessen im Vordergrund, die erfüllt werden müssen, weil sonst alles den Bach runtergeht.«

Aber wäre ein Ende mit Schrecken nicht besser als ein Schrecken ohne Ende?

Dieses kurze Gespräch mit Fazio war für Montalbano der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Gehen wir.«

»Aber Dottore …«

»Nein, Fazio, du bringst mich jetzt nach Marinella. Ich habe das Gefühl, ich ersticke in diesem Schlamm.«

Er ließ sich vor der Haustür absetzen, und sie verabredeten sich für den frühen Nachmittag im Kommissariat.

Montalbano griff in seine Jackentasche, wo er normalerweise den Haustürschlüssel hatte, aber da war kein Schlüssel. Er suchte in den anderen Taschen. Nichts. Er fluchte, als ihm aufging, dass Catarella ihm den Schlüssel nicht zurückgegeben hatte, nachdem er die Haustür abgesperrt hatte.

Jetzt klingelte er in der vagen Hoffnung, Adelina anzutreffen. Keine Antwort. Er klingelte Sturm, und zu seiner großen Erleichterung hörte er endlich die Stimme seiner Haushälterin.

»Immer mit der Ruhe! Ich komm ja schon!«

Die Tür ging auf, und als Adelina ihn sah, herrschte sie ihn an:

»Halt! Keinen Schritt weiter!«

Montalbano blieb wie vom Donner gerührt stehen.

»Was hast du denn?«

»Ich hab grade eben den Boden gewischt! Wenn Sie so verdreckt reinkommen, kann ich noch mal von vorn anfangen!«

»Du meinst also, ich muss draußen bleiben?«

»Ziehen Sie Ihre Gummistiefel aus, ich bringe Ihnen die Pantoffeln.«

Es war gar nicht so einfach, sich die Stiefel im Stehen und nur am Türpfosten abgestützt auszuziehen.

»Nur dass du es weißt: Ich gehe jetzt duschen.«

»Das Bad ist spiegelblank!«

»Gleich nicht mehr. Ist das ein Problem?«

»Gehen Sie nur. Ich kann Sie nicht daran hindern.«

Eine Stunde später war er frisch geduscht und hatte sich umgezogen. Er verabschiedete sich von Adelina, die grummelnd das Bad wieder in Ordnung brachte, stieg ins Auto und fuhr ins Kommissariat.

Jetzt fühlte er sich etwas besser. Das Duschwasser hatte ihn vom Schlamm befreit, nicht jedoch von dem unsichtbaren Schmutz all dessen, was Fazio ihm über den Bau der Wasserleitung erzählt hatte. Das war ihm unter die Haut gegangen.

Beim Betreten des Kommissariats fiel ihm sofort auf, dass Catarella nicht an seinem Platz in der Telefonzentrale war.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte der diensthabende Polizeibeamte.

Hatte sich Catarella womöglich auf dem Rückweg verfahren? Würde er erst am nächsten Morgen wieder auftauchen?

»Sind Dottor Augello und Fazio vor Ort?«

Der Polizist sah ihn mit großen Augen an. Himmel, er hatte ganz vergessen, dass er nicht Catarella vor sich hatte!

»Sind sie da?«, korrigierte er sich.

»Sissignore.«

»Dann sollen sie in mein Büro kommen.«

Die beiden erschienen gemeinsam, begrüßten den Commissario und setzten sich.

»Du weißt Bescheid über den Mord?«, fragte der Commissario seinen Vize Mimì Augello.

»Fazio hat mir alles erzählt.«

»Und du, hast du Neuigkeiten?«

»Heute Morgen, als ihr nicht da wart, hat Tano Gambardella angerufen.«

»Der Journalist?«

»Ja.«

Gambardella war der Herausgeber eines kämpferischen Wochenblatts, das sich vor allem der Missstände in Vigàta annahm. Ein mutiger Mann, der schon zwei Anschläge der Mafia überlebt hatte. Er arbeitete gelegentlich mit dem Fernsehsender Retelibera zusammen, dessen Chef Montalbanos guter Freund Nicolò Zito war.

»Und was wollte er?«

»Das hat er mir nicht verraten.«

»Warum nicht?«

»Er will nur mit dir sprechen. Persönlich selber, wie Catarella sagen würde.«

»Aber du bist mein Vize. Du hättest ihm …«

»Versteh doch, Salvo, ich hätte ihn schlecht zwingen können. Zwischen mir und Gambardella, da gibt es so eine alte Geschichte.«

Montalbano verstand auf Anhieb. Mimìs Geschichten drehten sich immer nur um das Eine.

»Geht es zufällig um seine Frau?«

»Ja. Ein tolles Weib.«

»Und wie alt ist diese Geschichte genau?«

Mimì Augello rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

»Drei Monate, würde ich sagen.«

»Mimì, wenn du dich nicht am Riemen reißt, kriegst du eines Tages die Kugel eines eifersüchtigen Ehemanns zwischen die Augen. Und ich werde es ihm leichtmachen unterzutauchen, das schwöre ich dir. Wie seid ihr verblieben?«

»Er wird dich anrufen.«

»Also, Jungs, Folgendes: Wie ich heute Morgen schon Fazio gegenüber angedeutet habe, muss der Tote in der Nähe der Baustelle gewohnt haben, genauer gesagt, im höher gelegenen Teil der Contrada Pizzutello.«

»Warum bist du dir da so sicher?«, fragte Augello.

»Weil er, tödlich verwundet, wie er war, nicht durch den Matsch bergauf hätte radeln können. Bestenfalls konnte er noch bergab fahren. Und ein weiteres Detail ist wichtig: Er kannte den Steg, den die Arbeiter durch den Schlamm gebaut hatten, auch wenn dieser Steg im Morast nicht zu sehen war. Wahrscheinlich kam er oft dort vorbei und hat beobachtet, wie der Steg gebaut wurde.«

»Aber was wollte er in dem Tunnel?«

»Sich verstecken. Er dachte, die Person, die auf ihn geschossen hatte, würde ihn verfolgen.«

»Das ist nicht schlüssig«, sagte Mimì. »Wenn er sich hätte verstecken wollen, hätte er das Fahrrad mit in den Tunnel nehmen müssen.«

»Das konnte er nicht, denn er war gestürzt und wohl auch nicht mehr imstande, klar zu denken. Vielleicht fehlte ihm auch die Kraft, das Rad aus dem Schlamm zu heben.«

»Er muss im Schlaf überrascht worden sein«, sagte Mimì.

»Genau. Und dann muss etwas passiert sein, das es ihm ermöglicht hat, sich aufs Fahrrad zu setzen und zu fliehen. Und er hatte immerhin die Kraft, sich im Sattel zu halten, als man ihm in den Rücken geschossen hat.«

»Klingt plausibel«, sagte Fazio.

Das Telefon läutete. Es war Catarella.

»Dottori, ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich es schluss- und letztendlich geschafft habe, an meinen Platz hier vor Ort zurückzukehren.«

»Hast du dich verfahren?«

»Ja, Dottori. Ich bin in Trapani gelandet.«

Erleichtert legte der Commissario auf. Er würde also keinen Suchtrupp losschicken müssen.

»So, und was machen wir nun?«, fragte Mimì.

»Du bleibst hier und vertrittst mich, wie es sich gehört. Fazio und ich fahren noch mal zur Contrada Pizzutello.«

Das erste Haus hundert Meter oberhalb der Baustelle war eine Mischung aus Landhaus und einstöckiger Villa. Als hätte der Bauherr sich nicht entscheiden können, ob er ein Domizil mit gehobenem Anspruch oder ein eher schlichtes Häuschen haben wollte. Die Haustür ging zur Straße, die Fensterläden waren geschlossen. Das Rolltor der Garage direkt neben dem Haus war heruntergelassen.

Eine Klingel gab es nicht. Fazio klopfte und klopfte, aber niemand öffnete.

Nach einer Weile gaben sie auf und fuhren zum nächsten Haus ein Stück entfernt. Es war ein großes, ziemlich heruntergekommenes Gebäude. Von der Rückseite hörten sie Gegacker, es musste ein ganzer Hühnerhof sein.

Die Tür stand offen.

»Dürfen wir reinkommen?«, rief Fazio.

»Nur zu, immer hereinspaziert«, war die Stimme einer älteren Frau zu vernehmen.

Sie traten ein und staunten.

Sie hatten das Zimmer eines Wohnhauses erwartet, aber der Raum war Lebensmittelladen, Restaurant und Bar in einem.

Drei kleine Tische waren zum Essen gedeckt.

Hinter dem Tresen stand eine sympathisch aussehende Alte mit lebhaften, scharfen Augen.

»Möchten Sie einen Kaffee? Frische Eier?«

Montalbano konnte seine Neugier nicht im Zaum halten.

»Was ist das hier?«

»Das, was Sie sehen«, erwiderte die Alte schlagfertig. »Sie können Brot, Nudeln, Saucen und Eier kaufen … was Sie wollen. Sie können hier auch essen. Und einen guten Espresso bekommen Sie bei mir auch.«

»Warum gibt es kein Ladenschild?«, bohrte der Commissario nach.

»Weil ich keine Lizenz habe.«

»Haben Sie überhaupt eine beantragt?«, schaltete sich Fazio mit strenger Miene ein.

»Das würde mir nicht im Traum einfallen! Wissen Sie, wie viel Schmiergeld ich für eine Lizenz bezahlen müsste?«

»Aber dann ist das ja ein illegales Unternehmen!«, rief Fazio.

»Was denn für ein Unternehmen?«, ereiferte sich die Frau. »In meinem Alter unternehme ich nichts mehr. Und Sie, wer sind Sie überhaupt? Sind Sie von der Finanzpolizei?«