Das Bootshaus - Michela M. Mosca - E-Book

Das Bootshaus E-Book

Michela M. Mosca

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Beschreibung

Katharina Golinghams Leben besteht aus ihrem Studium und später aus ihrem Job. Bis ihr alles zu viel wird und sie eine Auszeit erzwingt. Im Bootshaus, das sich im Golingham’schen Familienbesitz befindet, will sie endlich die nötige Ruhe finden und dem Alltag entfliehen. Dort trifft sie den mysteriösen Börsenaufseher Ryan Forster, und Katharina muss sich eingestehen, dass sie mehr zu verarbeiten hat, als sie zunächst gedacht hat. Denn Ryan dringt tief in ihre Gefühlswelt ein und weckt Sehnsüchte in ihr, die sie bis zu diesem Zeitpunkt verdrängt hat. Zwischen sexueller Verarbeitung und sexuellem Erwachen sieht sich Katharina gezwungen, ihre Gefühlswelt aufzuräumen und neu zu ordnen.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über die Autorin

Michela M. Mosca ist 1984 geboren und lebt in Wil SG. «Das Bootshaus» ist ihr erstes veröffentlichtes Buch. Sie erfüllt sich damit ihren Traum Schriftstellerin zu werden, der begann als sie 10 Jahre alt war.

Einleitung

Katharina Golinghams Leben besteht aus ihrem Studium und später aus ihrem Job. Bis ihr alles zu viel wird und sie eine Auszeit erzwingt. Im Bootshaus, das sich im Golingham’schen Familienbesitz befindet, will sie endlich die nötige Ruhe finden und dem Alltag entfliehen. Dort trifft sie den mysteriösen Börsenaufseher Ryan Forster, und Katharina muss sich eingestehen, dass sie mehr zu verarbeiten hat, als sie zunächst gedacht hat. Denn Ryan dringt tief in ihre Gefühlswelt ein und weckt Sehnsüchte in ihr, die sie bis zu diesem Zeitpunkt verdrängt hat. Zwischen sexueller Verarbeitung und sexuellem Erwachen sieht sich Katharina gezwungen, ihre Gefühlswelt aufzuräumen und neu zu ordnen.

Sie war ein Blümlein hübsch und fein,

Hell aufgeblüht im Sonnenschein.

Er war ein junger Schmetterling,

Der selig an der Blume hing.

Wilhelm Busch

Prolog

Sein Sein Geld wollte er nicht aus dem Fenster werfen, dessen war er sich bewusst.

«Dieser Mistkerl!», ärgerte er sich lauthals.

Niemand konnte ihn hören. Er sass wie jeden Abend in seinem Büro und erledigte liegengebliebene Arbeiten. Dies war für ihn die produktivste Zeit des Tages. Er hatte schon früh gewusst, dass er, wenn er ein bisschen mehr tat als alle anderen, es eines Tages schaffen würde. Und er hatte es geschafft. Zwei Casinos in zwei Städten in nur fünf Jahren. Endlich zahlte sich seine Anstrengung aus.

«Und dann gebe ich diesem Lumpengesicht, kaum älter als ich, einen Teil meines Geldes zum Verwalten.» Gebannt starrte er auf den Bildschirm. «Dieser Mistkerl!», brummte er erneut zwischen den Händen.

Er las die Börsenzahlen in seinem Live-Ticker. Seit einer halben Stunde stiegen seine Aktien nicht mehr. Unbehagen breitete sich in seinen Gedanken aus.

«Ich bin nicht dort, wo ich jetzt bin, damit sich mein Vermögen in Luft auflöst. Diese hirnspinstigen Spekulationen.»

Er schaute auf die Uhr. Eigentlich wartete seit gut einer halben Stunde eine Verabredung auf ihn, eine Frau. Doch das war ihm egal, sein Geld war ihm immer wichtiger gewesen. Auch in Zukunft würde sich daran nichts ändern. Nervös tippte er mit dem Zeigefinger und dem Daumen auf seinen Mahagonitisch, der eine der ersten Anschaffungen gewesen war, als er ganz oben angekommen war.

«Na los! Steig wieder!»

Er wartete auf eine erlösende E-Mail seines Börsenberaters. Von Minute zu Minute wurde er nervöser, düstere Gedanken breiteten sich mehr und mehr aus, je länger sich die Warterei hinzog. Dann endlich – das endgültige Resultat. Für einen kurzen Moment hielt er die Luft an, und im Raum war es still. Wo vorher noch das Fingertippen auf dem Holztisch zu hören gewesen war, herrschte jetzt Totenstille. Wenn ein Käfer durch die Gänge in seinem Büro gekrabbelt wäre, hätte dies einen Höllenlärm verursacht.

«Das gibt es doch gar nicht!», wendete er ungläubig ein, als er die E-Mail überflog. Eine Hand ballte er zu einer Faust, die er mit grosser Wut und voller Zorn auf den Tisch schmetterte. Gleichzeitig hob er mit der anderen den Hörer ab und wählte eine Nummer. Nicht etwa die seines Beraters, oh nein, sondern jene eines «Allestuers».

«Dieser verdammte Bengel!», fluchte er erneut, als am anderen Ende der Leitung eine tiefe, mürrische Stimme den Hörer abnahm.

«Ja!», meldete sich die Stimme am Telefon.

«Ich will diesen Mistkerl tot sehen!», tobte er und legte auf.

Er flirtete mit mir. Das war ein Tabu. Doch wie sollte ich ihm das sagen? Mein Hals war wie zugeschnürt. Ich brachte keinen Ton heraus. Walter, mein Klient. Er flirtete. Wo war ich eigentlich? Ich schaute mich umher. Ein Bett stand vor dem Fenster, es war ausgesprochen klein. Befand ich mich etwa bei ihm zuhause? Das wollte ich aber nicht. Schlimmer noch, das durfte ich auch nicht.

«Walter!», versuchte ich durch meinen Hals zu sagen. Ein leiser Ton war zu hören.

Walter sah mich offensichtlich nicht. Oder doch? Aber was tat er? Ich blickte mich um. An den Wänden hingen Bilder, die ganze Wand war voll davon. Ausschliesslich Frauen. Ausgesprochen hübsche Frauen. Waren dies alles Frauen, mit denen Walter im Bett gewesen war? Wieder flirtete er mit mir.

Und dann erwachte ich.

«Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung», forderte ich einen meiner Klienten auf.

Ich bezeichnete sie nie als Patienten oder gar Kunden, sie waren Klienten. Eine Bezeichnung, mit der ich versuchte, eine Grenze zu den persönlichen und intimen Gesprächen aufzubauen. Ausserdem nannten wir uns gegenseitig beim Vornamen. Noch eine imaginäre Grenze, diese jedoch sollte Vertrauen signalisieren.

Mein derzeitiger Klient hiess Matthias und kam in meine Sitzungen, um über die Beziehung zu seiner Freundin Alexa zu sprechen. Die beiden lebten in einer komplizierten Beziehung. Sie fühlte sich emotional gekränkt von ihm, er wiederum von ihr nicht verstanden. Eine klassische Beziehungsproblematik also. Mein Notizbuch und ein Stift waren zur Stelle.

Vor nunmehr fünf Jahren hatte ich, Katharina Golingham, mein Psychologiestudium beendet. Mein Spezialgebiet war die Sexualität. Im Alter von nur 29 Jahren führte ich eine eigene Praxis mit Erfolg. Ja, etwas zu jung war ich für dieses Arbeitsgebiet auf jeden Fall, und ich hatte meine ganzen Jugendjahre für das Studium geopfert. Ich konnte mich gut daran erinnern, als ich meinen Abschluss in der Tasche gehabt hatte. Mein Vater, Herbert, hatte mir einen weissen Umschlag überreicht, darin hatte die Mietbestätigung einer Praxis gelegen. Meine Eltern hatten einen Mietvertrag abgeschlossen und ihn mir zu meinem Abschluss geschenkt. Von da an hatte ich die eigene Praxis, die ich in den letzten fünf Jahren selbständig aufgebaut hatte. Zeit für mich privat blieb seither auf der Strecke. Immer war ich darauf bedacht, emotional auf der Höhe meiner Arbeit zu sein. Dies hatte in letzter Zeit dazu geführt, dass ich etwas verwirrt und müde reagierte.

«Alexa… Sie ist toll… ja… und doch!», riss Matthias mich aus meinen Gedanken. Wir sassen schon eine dreiviertel Stunde zusammen. «Ich weiss einfach nicht, was sie will. Alles habe ich versucht. Doch jeden Vorschlag lehnt sie ab. Was soll ich tun, Katharina?»

«Matthias», sprach ich ihn an, legte den Stift auf mein Notizbuch, zog meine Lesebrille ab und rieb mir die Stirn.

Mein Morgen war anstrengend genug. In letzter Zeit hatte ich diese Träume. Abgehackte Handlungen, die ich irgendwoher bereits kannte, vielleicht aus den Gesprächen mit meinen Klienten, oder ich hatte irgendwo darüber gelesen. Es waren nicht immer die gleichen Träume, und sie hatten weder einen Anfang noch ein Ende und hörten mittendrin auf. Manchmal kamen verschiedene Fälle in einem Traum zusammen. Dabei war doch unsere erste Lektion im Studium gewesen, die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen, um auf diese Weise zu verhindern, dass sie sich in die eigenen Träume einschleuste.

«Matthias», sagte ich nochmals und versuchte, ruhig zu sprechen. «Wenn Sie hier bei mir sind, dann dürfen Sie ungehemmt diejenigen Sachen aussprechen, die Ihnen auf dem Herzen liegen. Weder verurteile ich Sie noch werde ich Sie nicht ernst nehmen.»

Er nickte eifrig. Matthias war Mitte dreissig, sein Körper war sehr muskulös, und an den Armen trug er verschiedene in sich verdrehte Tätowierungen. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten. Der Typ Fitnessstudiobesucher. Etwas zu braungebrannt für seinen Typ, aber wahrscheinlich lag der letzte Urlaub noch nicht so weit zurück, oder aber er ging oft ins Solarium.

«Wissen Sie, Katharina, mein Frauentyp war bis jetzt immer identisch: Alle waren in der Fitnessbranche tätig, wie ich. Doch Alexa ist anders. Sie treibt keinen Sport, mag Sport sogar überhaupt nicht. Und im Bett sind es, wenn überhaupt, immer die gleichen zwei, drei Stellungen.»

«Matthias, vielen Männern und Frauen geht es gleich wie Ihnen. Die Wahl der Partnerin kann sich ändern, man hat nicht die gleichen Interessen, ist im Leben nicht am gleichen Punkt. Und doch frage ich Sie, ob es vielleicht sinnvoll wäre, Alexa mal in eine Sitzung mitzunehmen.»

Matthias sah mich so entsetzt an, als hätte ich ihm gesagt, dass die Welt gleich untergehen werde.

«Alexa… mitnehmen?»

Die Sitzungen mit Matthias gingen schon sehr lange so, und ohne einen Gegenpartner war es für mich sehr schwierig, ein gutes Urteil abzugeben.

«Matthias, dies würde mir helfen, Ihre Beziehung besser zu verstehen und gemeinsam einen Weg zu finden.»

Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder.

«Wissen Sie was», sagte ich, nahm meine Brille in die linke Hand, stand auf und legte mein Notizbuch und den Stift auf den Stuhl, «vereinbaren Sie einen Termin mit meiner Assistentin, wenn Sie nach draussen gehen. Einen Termin, an dem Alexa ebenfalls dabei ist. Geht das für Sie in Ordnung?»

Immer noch etwas verwirrt, stand Matthias ebenfalls auf. Er nickte zwar nur zögerlich, sah aber ein, dass dies die Sache vereinfachen würde und verabschiedete sich.

Die Kunst lag darin, sich seinem Partner zu öffnen, ihm mitzuteilen, dass man einen Therapeuten aufgesucht hat und ihn zu überreden, in eine Therapiesitzung mitzukommen. Leider genierten sich viele Paare, was die Sache für den Einzelnen schwieriger gestaltete. Sie dazu zu bewegen, zusammen in die Therapie zu kommen, darin lag meine Herausforderung.

Wie gern ich doch ein heisses Bad genommen hätte, mein Nacken fühlte sich verspannt an. Oder eine Massage wäre auch angebracht gewesen. Stattdessen setzte ich mich in meinem Bürostuhl auf und legte die Akte Matthias zur Seite, um die meines nächsten Klienten zu ergreifen. Es war die Akte von George William.

«George», murmelte ich und rieb mir abermals die Stirn. Platinblondes Haar, markantes Gesicht, giftgrüne Augen. Eigentlich ein attraktiver Mann mit Jahrgang 62, wenn da nicht seine Vorliebe für schwache Frauen gewesen wäre…

George William war verheiratet, seine Frau war Anwältin, und sie hatten keine Kinder. Was sie nicht wusste, war, dass George sexsüchtig war und sie bereits seit Jahren betrog. Zu mir in die Therapie kam er allerdings noch nicht lange. Seine Ausrutscher, wie er die Seitensprünge nannte, konnte er immer gut tarnen. Am Anfang, hatte er mir erzählt, hatten ihm die Komplimente anderer Frauen auch ein gutes Gefühl gegeben. Irgendwann war ihm das aber zu wenig gewesen, er hatte mehr gebraucht. Seine Ausstrahlung und Anziehungskraft hatten ihm einige Erfolge bei den Frauen gebracht. Wieso also aufhören? Der Kick oder die Glücksgefühle hatten ihm den ersehnten Rausch gebracht, den er im Alltag vermisste. Doch wie bei allen anderen Abhängigkeiten war auch bei George irgendwann das Tief gekommen. Er hatte sich immer schlechter gefühlt, insbesondere auch gegenüber seiner Frau. Am Anfang war er gereizt gewesen, doch jeder weiterer Ausrutscher hatte ihm geholfen, dieses Tief zu überwinden. Besser war es aber langfristig im Nachhinein doch nicht geworden, sondern das Gegenteil war eingetroffen, die Gewissensbisse waren immer schlimmer geworden. George hatte gemerkt, dass er angefangen hatte, ein Doppelleben zu führen, das er gar nicht gewollt hatte. George war einer meiner härtesten Fälle. Zu ihm durchgedrungen war ich bisher aber noch nicht.

Gerade als ich mich in die Akte von George einlesen wollte, fing das Telefon neben mir laut zu klingeln an. Erschrocken von der unerwarteten Unterbrechung fuhr ich zusammen. Normalerweise nahm meine Assistentin die eingehenden Telefonate entgegen.

«Golingham am Apparat?», meldete ich mich.

«Kate, mein Schatz!», vernahm ich meine Mutter am anderen Ende der Leitung. Sie sprach sehr laut, so dass ich für einen kurzen Moment den Hörer weglegen musste, um mein Ohr zu massieren. Danach legte ich den Hörer wieder ans Ohr.

«Mom», erwiderte ich mit müder Stimme.

«Wie geht es dir, mein Schatz? Du hörst dich etwas müde an.»

«Mir geht es gut! Nur ein bisschen erschöpft. Wie geht es euch?»

«Och, deinem Vater geht es gut. Du weisst ja, wie er ist, immer in seine Arbeit vertieft. Diese Woche arbeitet er noch, danach fliegen wir nach Florida. Das hatte ich dir letztens erzählt, oder?»

Oh Mist, ja, das hatte sie mir gesagt. Aber wann war das bloss nochmals gewesen? Vor einem Monat? Letztes Jahr? Ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.

«Ja, das hast du mir gesagt.»

«Schatz, ist wirklich alles in Ordnung mit dir?»

Ich atmete tief durch. Es war irgendwie schön, meine Mutter zu hören, und doch wollte ich nicht, dass sie sich Sorgen um mich machte. Sie hatten mir vor ein paar Jahren mit meiner Praxis geholfen, und ich weiss nicht, wie ich das ohne die Hilfe meiner Eltern geschafft hätte.

«Kate, mein Schatz! Wenn du eine Auszeit braucht, dann nimm sie dir. Du hast so hart an der Verwirklichung vom Traum einer eigenen Praxis gearbeitet und dich selbst dabei ganz vergessen. Unser Bootshaus wäre doch ideal für eine Auszeit, und da dein Vater und ich nächste Woche sowieso nach Florida reisen, steht das Haus leer.»

Eine Auszeit? Ich dachte nach. Das war wirklich nicht die dümmste Idee. Wieso war ich nicht selber darauf gekommen? Und das Bootshaus, das meinen Grosseltern gehört hatte und nach ihrem Tod meinen Eltern vermacht worden war, stand wirklich leer. Nicht umsonst hatten meine Grosseltern damals ein Haus gebaut am See. Ich konnte mich nicht erinnern, wann meine Eltern das letzte Mal dort gewesen waren. Musste schon eine Weile her sein. Geschweige denn, wann ich das letzte Mal dort gewesen war. In den letzten Jahren war kaum an Urlaub zu denken gewesen, und meine Eltern hatten den Südosten der Vereinigten Staaten für sich entdeckt.

«Kathi?», vergewisserte sich meine Mutter, ob ich noch am Telefon war.

Ich schüttelte den Kopf, um mich wieder zurück in die Realität zu bringen.

«Wo ist der Schlüssel zum Bootshaus?», fragte ich direkt. War es eine entschiedene Sache? Würde ich mir eine Auszeit nehmen? Wenn ja, für wie lange? Zugegeben, bereits seit fünf Jahren hatte ich mir keine Ferien mehr gegönnt, ausser an den Feiertagen.

«Der Schlüssel ist bei uns, Kate. Kommst du diese Woche noch vorbei?»

«Das kann ich dir noch nicht genau sagen, ich habe noch einige Termine», erwiderte ich entschuldigend. Ein Blick in meine Agenda liess die Woche, die mir noch bevorstand, bereits erahnen. Ich atmete unhörbar aus. Meine Mutter verstand das. Sie hatte sich damit abgefunden, dass mir meine Arbeit sehr viel bedeutete und dass sie wenig Freiraum für Privates liess.

«Solltest du es diese Woche und bevor wir abreisen nicht rechtzeitig schaffen, der Schlüssel liegt im Holzregal im Eingangsbereich. In der roten Keksdose.»

Ein Versteck, das bereits seit meiner Kindheit bestand. Da fiel mir ein: Wer würde meine Eltern überhaupt zum Flughafen bringen? Das schlechte Gewissen über die spärlichen Informationen, die ich eingeholt hatte, kam zum Vorschein. Ich fragte deshalb schnell nach.

«Tante Vivien», antwortete Mom. «Herbert will noch ein paar Stunden mit ihr verbringen, ehe sie uns zum Flughafen bringt.»

Vivien war die Schwester meines Vaters, und die beiden waren sich sehr nahe. Meine Mutter aber mochte Tante Vivien nicht besonders. Ich glaube, sie hatten sich gegenseitig noch nie wirklich gemocht.

Es klopfte an der Tür, und meine Assistentin Carmen streckte den Kopf herein.

«Kate, George William ist hier!»

Ich legte die flache Hand auf den Hörer, damit meine Mutter nicht bemerkte, dass ich mit meiner Assistentin sprach.

«Lassen Sie ihn herein!», flüsterte ich Carmen zu und zu meiner Mutter: «Mom, ich muss los. Mein nächster Klient ist hier! Ich melde mich in den nächsten Tagen bei euch. Grüss Herbert von mir.»

«Mache ich», erwiderte sie freundlich und legte auf.

«George», sagte ich mit einem professionellen Lächeln, als ich ihn in der Eingangstüre sah. George wollte flirten. Doch ich machte sein Spiel nie mit und versuchte die professionelle Distanz zu bewahren. «Setzen Sie sich, und fangen wir gleich an.» Ich ging um meinen Schreibtisch herum und streckte ihm die Hand zur Begrüssung entgegen. Die Türe hinter ihm schloss sich. Jetzt gab es nur George und mich – und seine Geschichte.

Ich konnte mich nur daran erinnern, dass ich vor ein paar Stunden das Fenster aufgemacht hatte. Irgendwie im Halbschlaf war es geschehen. Die leichte Brise hatte mich schnell wieder einschlafen lassen. Unruhig hatte ich mich von einer Seite auf die andere gewälzt. Und dann hatte ich geträumt.

Mein Kopf hämmerte unheimlich. Ich hatte eine wichtige Sitzung heute. Heute? Das konnte unmöglich sein. Ich hatte ein Aspirin genommen und schleppte mich so durch den Tag. Richtig genutzt hatte die Schmerztablette aber nicht.

Plötzlich lagen überall Kerzen. Ein grosser Mann stand über eine hübsche Frau gebeugt. Er flirtete, und er schien das gut zu beherrschen. Konnte der Mann George sein? Die Mimik der Frau verriet, dass sie sich freute, Komplimente zu erhalten, und doch spielte auch ein bisschen Angst mit.

Ein Hoch überkam mich. Wer war ich? Was tat ich hier? Ich versuchte zu sprechen, doch aus meinem Hals kam kein Laut.

«James?», fragte ich etwas verwirrt, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Wortlos beugte er sich zu mir herunter, packte mich am Rücken und wirbelte mich um seine eigene Achse. Ich landete etwas unsanft auf einem Bett. Ich versuchte mich hochzurappeln, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Auf dem Bett waren überall farbige Tücher verteilt. Wofür waren die gedacht? Und wo war die andere Frau hin?

«Was haben Sie vor, George?» Im nächsten Moment sah ich George, wie er auf dem Bett sass. Wo war die Frau hin? Ihre Jacke, die Tasche und die Schuhe, die vorher im ganzen Zimmer verstreut gewesen waren, waren weg.

George vergrub das Gesicht in seinen Händen. Aus irgendeinem Grund konnte ich seine Niedergeschlagenheit spüren. Ängstlichkeit, vermischt mit schlechtem Gewissen, und dann das Gefühl grosser Einsamkeit machten sich in George breit. Die Frau, die vorher im Zimmer gewesen war, hatte das Loch in seiner Seele nicht schliessen können. Im Gegenteil, das Gefühl der Leere war nur noch grösser geworden. Vor Schreck erwachte ich.

Als ich die Augen aufschlug und mich umsah, lag ich sicher in meinem Bett. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es drei Uhr früh war. Mein Tag würde erst in ein paar Stunden anfangen, dennoch stand ich auf, da sich meine Blase meldete. Diese Träume müssen langsam aufhören, dachte ich. Ich betrat das Bad und betrachtete mich kritisch im Spiegel: Meine Haare standen in alle Richtungen wirr vom Kopf ab, und mein Blick wirkte müde.

«Ich brauche diese Auszeit», murmelte ich vor mich hin und verrichtete mein Geschäft. Jetzt war ich wach, an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Nachdem ich den Morgen hinter mich gebracht hatte und eine grobe Skizze meines Wochenplanes durchgegangen war, sass ich an meinem Bürotisch und starrte aus dem Fenster.

«Das Bootshaus steht leer mein Schatz», liess ich mir die Worte meiner Mutter durch den Kopf gehen. Ich beschloss, sie gleich anzurufen. Das Telefon klingelte fast eine Ewigkeit, und gerade als ich auflegen wollte, um es später nochmals zu versuchen, meldete sich meine Mutter am Telefon.

«Hier bei Golinghams?»

«Hier Kate, hallo Mom!», begrüsste ich sie.

Meine Mutter atmete hörbar aus.

«Kate, hallo!», erwiderte sie etwas abgehackt. «Ich packe gerade die Sachen deines Vaters, du weisst ja, dass er nie genug einpackt, und deshalb habe ich das Telefon nicht gehört.»

Ich konnte ihr Lächeln an ihrer Stimme hören und sah meine Mutter direkt vor mir, mit ihrem dichten Haar, das sie immer an beiden Seiten der Schläfe zu einem Zopf band und um das ich sie so benied. Die Haare glänzten an schönen Sommertagen im Sonnenschein, und im Winter fielen Schneeflocken direkt darauf, dann sah sie aus wie ein Engel.

«Ja, das weiss ich.» Ich musste selber lächeln bei der Erinnerung, wie mein Vater, als ich noch zu Hause gewohnt hatte, stets die Hälfte des nötigen Gepäcks einzupacken vergass. Die Tatsache, dass meine Mutter irgendwann entschieden hatte, den Koffer meines Vaters ebenfalls zu packen, hatte meinen Vater nicht gestört. Im Gegenteil, als ich noch zu Hause gewohnt hatte, hatte er mir vor jedem Urlaub verschwörerisch zugezwinkert. Ob er wohl absichtlich alles vergass? Ich habe ihn allerdings noch nie danach gefragt.

«Mom, steht das Angebot mit dem Bootshaus noch?», fragte ich nach. Ich hörte sie erneut lächeln. «Natürlich, mein Schatz.»

«Ich könnte den Schlüssel Sonntag früh abholen. Geht das für euch in Ordnung?»

«Ja, wir fliegen erst am Sonntagabend spät. Du kannst bei uns frühstücken.»

Da ich meine Eltern drei Monate nicht mehr sehen würde, erschien es mir durchaus angebracht, sie zu besuchen.

Die Woche zog sich dahin, und mit jedem Tag, der verging, wurde ich müder. Als ich am Sonntagmorgen aufwachte, fühlte ich mich schon sehr urlaubsreif. Meiner Assistentin Carmen hatte ich die Anweisung gegeben, sämtliche anfallenden Termine zu verschieben. Vorläufig mal für die nächsten drei Wochen. Diese Zeitspanne sollte ausreichen, denn ich ging davon aus, dass ich danach entspannt und zufrieden ins Arbeitsleben zurückkehren würde. Schläfrig stand ich auf und zog die Vorhänge zur Seite. Herbstlicher Nebel lag über der Landschaft. Was für ein tröstliches Wetter. Nachdem ich mich geduscht hatte, fiel mein Blick auf die Uhr, und ich stellte fest, dass es erst acht Uhr war. Sehr früh für einen Sonntag, aber vielleicht waren meine Eltern ja bereits wach. Ich beschloss, mich bei meiner Mutter zu melden.

«Kate, hast du gefrühstückt?», meldete sich meine Mutter gleich und wirkte etwas besorgt.

«Nein, Mom, ich trinke im Moment bloss Kaffee.»

«Komm zu uns. Wir frühstücken zusammen, wenn du hier bist.»

Auf dem Weg zu meinen Eltern ging ich im Kopf die Liste durch, was ich alles mitnehmen wollte. Die Infrastruktur im Bootshaus war vorhanden. Das hiess, ich musste nur überlegen, welche Kleider ich mitnehmen wollte. Badetücher und Küchenartikel waren vorhanden, genauso das notwendige Mobiliar. Ein Schlafzimmer, zwei Gästezimmer, ein Bad und das Wohnzimmer waren von meinen Grosseltern, die ich vor ihrem Tod liebevoll Grani und Grapi genannt hatte, im alten Stil eingerichtet worden. Eine halbe Stunde später parkte ich in der Einfahrt meiner Eltern.

«Hi Katharina», begrüsste mich mein Vater, als ich aus dem Auto stieg. Es hatte fast den Anschein, dass er die ganze Zeit draussen auf mich gewartet hatte. «Mein Mädchen», begrüsste er mich herzlich und nahm mich in die Arme.

Ich erwiderte seine Umarmung. Sein Gesicht war kalt. Also hatte er tatsächlich auf mich gewartet. Es tat gut, meinen Vater wiederzusehen. In den vergangenen Monaten hatte ich kaum Zeit gehabt, mich um andere zu kümmern.

«Sie macht sich Sorgen, deine Mutter. Sie sagt, du arbeitest zu viel», flüstert mir mein Vater ins Ohr.

An seinem Gesichtsausdruck sah ich aber, dass auch er besorgt wirkte. Ich legte eine Hand auf seine Schulter und lächelte.

«Macht euch keine Sorgen. Deshalb mache ich jetzt auch Urlaub. Die letzten fünf Jahre waren auch sehr anstrengend gewesen.» Ich sah meinen Vater an. Waren seine Augen etwa wässerig geworden? Um das Thema nicht auf seine feuchten Augen zu lenken, schaute ich über den Kopf meines Vaters hinweg. «Dad, wieso stehen zwei fremde Autos in der Einfahrt? Die kommen mir irgendwie bekannt vor.»

«Komm», wechselte mein Vater schnell das Thema, und wir gingen ins Haus.

Der Tisch im Esszimmer war bereits gedeckt, und ich bemerkte, dass meine Mutter einen grossen Aufwand für unser gemeinsames Frühstück betrieben hatte. Ein normales Frühstück wäre nicht genug gewesen, stattdessen stieg mir ein verheissungsvoller Duft aus dem Ofen in der Küche in die Nase. Meine Mutter schaute aus der Küche heraus zu uns.

«Früchtebrot», antwortete sie auf meine Frage, bevor ich sie stellen konnte.

Ich freute mich und umarmte sie herzlich. Hinter meinen Eltern erschienen plötzlich meine drei besten Freunde. Ich machte grosse Augen. Was taten sie hier? Hatten meine Eltern das eingefädelt?

«Oh, Kate», kam meine Freundin Miranda auf mich zu und umarmte mich stürmisch. «Schön, dich wiederzusehen.»

Ich bekam fast keine Luft von ihrer energischen Umarmung. Miranda trug kurze hellblonde Haare, die ihr über die Augen reichten. Ihre Figur war zwar zierlich, aber man merkte, dass sie mit Brüdern aufgewachsen war, so stürmisch wie sie immer war.

«He!», meldete sich ihr Bruder hinter ihr, «lass mich auch mal drücken.» Er hauchte seiner Schwester einen Luftkuss zu und umarmte mich. Ebenfalls stürmisch.

«Merlot», sagte ich zwischen zwei Atemzügen, «du… erdrückst… mich.»

«Ich weiss», sagte Merlot flüsternd in mein Ohr, «aber ich habe dich lange nicht mehr gesehen.»

Merlot war einer von Mirandas Brüdern. Ich glaube, sie hatte vier Brüder, doch zwei davon waren schon viel älter und arbeiteten im Ausland, und der dritte studierte in einer anderen Stadt. Merlot war der jüngste von allen.

«Chris!», flehte ich den Dritten im Bunde an, mich von Merlot zu erlösen. «Hilf mir!», formte ich lautlos mit den Lippen.

Chris kam scherzend auf uns zu.

«Los, Merlot, lass sie los.» Zuerst wollte Merlot nicht. Aber Chris hob Merlots Arm nach oben, drehte ihn um seine eigene Achse und legte ihm dann den Arm nach hinten auf den Rücken. Chris war gross, stark und bärig, Merlot hingegen etwas drahtiger, dünn und weniger sportlich als Chris. Sein goldblondes Haar kam bei den Frauen sehr gut an.

«Och Chris», stöhnte Merlot auf, um ihm zu zeigen, dass er ein Spielverderber war.

Meine Mutter forderte uns streng auf, Platz zu nehmen. Chris lächelte mich an, und ich umarmte ihn noch flüchtig, bevor wir uns alle setzten. Chris mochte ich so sehr, wie man einen Bruder nur mögen kann, und unser Verhältnis war sehr geschwisterlich. Aber Miranda und Chris hätten ein gutes Paar abgegeben. Merlot stimmte mir ebenfalls zu, wenn wir gelegentlich darauf zu sprechen kamen. Leider hatte Miranda aber seit ein paar