Das braune Netz - Willi Winkler - E-Book

Das braune Netz E-Book

Willi Winkler

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Beschreibung

Sie hatten ihre Karriere im Dienste des NS-Staates begonnen – und setzten sie bruchlos in der der neuen Bundesrepublik fort. So bereitwillig sie der braunen Ideologie gedient hatten, so engagiert traten sie nun für die Demokratie ein. Kriegsgerichtsräte fällten wieder ihre Urteile, einst regimetreue Professoren lehrten und die Journalisten aus den früheren Propagandakompanien schrieben, als hätten sie sich nichts vorzuwerfen. Damit gewann der junge Staat zwar politische Handlungsfreiheit zurück, gründete seinen Erfolg aber auf einen moralischen Widerspruch, der nicht aufzulösen war: Die Demokratie wurde mitaufgebaut von ihren Feinden. Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt Willi Winkler eine schonungslose Betrachtung ihrer Frühgeschichte vor. Mitreißend und faktengesättigt beschreibt er, wie der westdeutsche Staat trotz all seiner Zerrissenheiten zum Erfolgsmodell wurde – und er zeigt, welchen Anteil vermeintlich oder tatsächlich geläuterte Nazis daran hatten. Eine Parabel über Schuld und Scham, über Bewältigung und Versöhnung, und zugleich eine zwingende Lektüre für alle, die dieses Land von Grund auf verstehen wollen.

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Willi Winkler

Das braune Netz

Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sie hatten ihre Karriere im Dienste des NS-Staates begonnen – und setzten sie bruchlos in der neuen Bundesrepublik fort. So bereitwillig sie der braunen Ideologie gedient hatten, so engagiert traten sie nun für die Demokratie ein. Ehemalige Kriegsgerichtsräte fällten wieder Urteile, einst regimetreue Professoren lehrten, und die Journalisten aus den früheren Propagandakompanien schrieben, als hätten sie schon immer den Rechtsstaat gepredigt. Damit gewann der junge Staat zwar politische Handlungsfreiheit zurück, gründete seinen Erfolg aber auf einen moralischen Widerspruch, der nicht aufzulösen war: Die Demokratie wurde mitaufgebaut von ihren Feinden.

 

Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt Willi Winkler eine schonungslose Betrachtung ihrer Frühgeschichte vor. Mitreißend und faktengesättigt beschreibt er, wie der westdeutsche Staat trotz all seiner Zerrissenheiten zum Erfolgsmodell wurde – und er zeigt, welchen Anteil vermeintlich oder tatsächlich geläuterte Nazis daran hatten. Eine Parabel über Schuld und Scham, über Bewältigung und Versöhnung, und zugleich eine zwingende Lektüre für alle, die dieses Land von Grund auf verstehen wollen.

Über Willi Winkler

Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der «Zeit», Kulturchef beim «Spiegel» und schreibt heute für die «Süddeutsche Zeitung». Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen «Die Geschichte der RAF» (2007), «Der Schattenmann» (2011), «Deutschland, eine Winterreise» (2014) und «Luther. Ein deutscher Rebell» (2016). 1998 erhielt Willi Winkler den Ben-Witter-Preis, 2010 den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, 2013 den Michael-Althen-Preis.

«Ja, ich habe auch gar nicht verstanden, warum die Russen, nachdem sie nach Berlin gekommen sind, mich nicht als Sachverständigen eingestellt haben.»

Carl Schmitt (1946)

«Man zog also irgendeine Uniform an.»

Hans Egon Holthusen: Amnestia substantia pacis. Analyse eines politischen Irrtums (1946)

«Man geht, poetisch gesprochen, auf einer Erde, auf der die Dinge ganz schön und fett wachsen; aber der Boden, das, was darunter ist, ist unheimlich, und wenn ich so allein durch die Straßen einer deutschen Stadt gehe, so kommen mir immer Angstträume in den Sinn, die ich in den dreißiger und frühen vierziger Jahren hatte, der Traum nämlich, ich sei in Deutschland und fragte mich mit Grauen, wie ich denn hingekommen sei. Dies Traumhafte werde ich nie ganz los.»

Golo Mann (1959)

«Papa hat ungefähr 1000 Jahre regiert der Ödipuskomplex des deutschen Volkes heißt NSDAP danach haben wir es mit Opa versucht das ging ganz gut war aber keine Dauerlösung nun sind wir ratlos»

Helmut Heißenbüttel (1965)

Einleitung: Glücklich ist, wer vergisst

Je näher man die Vergangenheit anschaut, desto ferner blickt sie zurück. Ende Februar 1946 schreibt ein siebzigjähriger Rentner an einen Geistlichen Rat, einen Schulfreund, der an St. Elisabeth in Bonn als Pfarrer wirkt. Der Schreiber ist empört. Das deutsche Volk, meint er anklagend, habe sich «fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung (…) gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld. Im übrigen hat man aber auch gewußt – wenn man auch die Vorgänge nicht in ihrem ganzen Ausmaße gekannt hat –, daß die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze, mit Füßen getreten wurden, daß in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden, daß die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Rußland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit.»

Konrad Adenauer, der Autor dieser Zeilen, war in der Weimarer Republik Oberbürgermeister von Köln und auch Präsident des Preußischen Staatsrats gewesen, er hatte den Zweiten Weltkrieg und die Verfolgung durch die Nationalsozialisten unter dem Schutz der katholischen Kirche knapp überstanden. Für ihn gab es keine Zweifel an den nationalsozialistischen Verbrechen, schon gar nicht daran, dass das «deutsche Volk» mitschuldig geworden war: «Man kann also wirklich nicht behaupten, daß die Öffentlichkeit nicht gewußt habe, daß die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das Naturrecht, gegen die Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen.»[*] Adenauer, der eben ein zweites Mal sein Amt als Bürgermeister verloren hatte, weil ihn diesmal die Engländer abgesetzt hatten, konnte sich nicht mit dem abfinden, was im «Dritten Reich» geschehen war.

Am 1. Oktober 1949, zwei Wochen nachdem Adenauer zum Bundeskanzler gewählt worden war, wandte sich Heinrich Nordhoff in einer großen Rede an seine zehntausend Arbeiter und Angestellten. Das Volkswagenwerk, das er seit Anfang 1948 leitete, war eben aus dem Protektorat der britischen Besatzungsmacht entlassen und in deutsche Hände zurückgegeben worden. Trotz des «Entsetzlichen, das wir durchgemacht haben», verkündete der Generaldirektor, könne man glücklich sein, «daß in unserem Lande wieder gearbeitet wird, mit dem ganzen Fleiß und der ganzen Emsigkeit, die den Deutschen zu eigen sind».

Arbeiten können sie, die Deutschen, sie konnten es immer, gerade noch hatten sie für den Endsieg gearbeitet und gekämpft. Nordhoff will diese elende Geschichte erledigt haben und fordert auch seine Mitarbeiter auf, sie hinter sich zu lassen. «Wir haben aufgehört, nach rückwärts zu sehen, wir haben ein Ziel vor uns, wir träumen nicht von der Vergangenheit, wir schaffen für die Zukunft.»[*] Die Zukunft hat eben begonnen: Die «Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben» bekam jetzt erst einen richtigen Namen – Wolfsburg –, und wie vom Führer versprochen, rollten, wenn auch um einige Jahre verspätet, die Volkswagen massenhaft vom Band. Schließlich hatte der Prototyp des Kübelwagens seine Eignung im Einsatz an der Ostfront bewiesen.

Allein 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik, wurden 46154 Volkswagen gebaut; ein halbes Jahr nach Nordhoffs Rede rollte der einhunderttausendste Käfer vom Band. Am 5. August 1955 kam bereits der einmillionste Wagen aus dem Werk. Der Käfer wurde ein Welterfolg, weiter verbreitet und langlebiger als das Model T Henry Fords. Begleitet von dem Werbeslogan «Er läuft und läuft …», war der Volkswagen bald das Symbol der deutschen Wirtschaft: Es ging immer weiter aufwärts und vor allem nach vorn, vorwärts ins Wirtschaftswunder. Der Staatsbetrieb Volkswagen wurde der Indikator für den Erfolg Westdeutschlands – statt der Siegesmeldungen aus Frankreich, Norwegen und Russland jetzt Produktionsrekorde.

Einige wenige mussten noch an die alte Schuld erinnern, für die meisten hatte eine großartige Zeit begonnen. Ganz neu war sie dennoch nicht, denn der wirtschaftliche Erfolg, überhaupt der Wiederaufstieg, war auf das Personal von gestern angewiesen. Nordhoff hatte dem «Dritten Reich» gedient und war Wehrwirtschaftsführer gewesen. Vor der Spruchkammer galt er zunächst als «Hauptschuldiger» und wurde von den Amerikanern bei der Adam Opel AG deshalb abgelehnt. Der Kriegsverbrecher Friedrich Flick besprach bereits in der Haft in Landsberg die Umstrukturierung seines Konzerns, ehe er am 25. August 1950 vorzeitig entlassen wurde. Flick wurde gebraucht, denn ohne ihn war die Wiederaufrüstung nicht möglich. Nordhoff übernahm die Arbeit bei Volkswagen Anfang 1948 und konnte jetzt der Welt, die von den Deutschen nur Panzerangriffe und Blitzkrieg kannte, beweisen, dass es ein neues demokratisches Land gab. Die deutsche Emsigkeit hatte auch das geschafft, die Niederlage im Krieg in eine Friedensdividende umzuwandeln.

Die deutsche Vergangenheit war fürs Erste tot und begraben. In den sechziger Jahren bei den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt wurde sie exhumiert, aber da hatte die Bundesrepublik längst ihr Wirtschaftswunder erlebt, waren dank Ludwig Erhard all die Versprechen der Nazizeit eingelöst worden: Urlaubsreise, Eigenheim, Fortschritt, Moderne. Nicht mehr Kraft durch Freude (KdF), sondern Wohlstand für alle. Der Kaufhausbesitzer meinte es gewiss ironisch, aber es lag ihm halt von früher auf der Zunge, wenn er 1949 in sein Schaufenster ein Bild des Wirtschaftsministers hängte und es mit einem Satz versah, der den Kunden bekannt vorkam: «Erhard befiehlt, wir folgen!» (Eine weitere Tafel ergänzte: «und senken die Preise».) Von Schuldeinsicht keine Spur, bloß kein Blick zurück, sondern im Käfer flott voran, das war die Rettung für die Bundesrepublik vor den Schatten der Vergangenheit. Was wäre denn die Alternative gewesen? Gab es überhaupt eine?

Keiner wäre auf die Idee gekommen, so zu handeln, wie sich der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger ausdrückte: «Wir wollen etwas Neues machen, und dazu bedarf es der Liquidation des Alten.» Filbinger sprach 1968 von der Schließung der Ulmer Hochschule für Gestaltung, einer mustergültigen Einrichtung der fortschrittsbegeisterten Moderne, 1953 begründet von Inge Aicher-Scholl, der Schwester der unter Hitler hingerichteten Sophie Scholl, unterstützt durch den Bankier Hermann Josef Abs, der das «Dritte Reich» mit Arisierung und der Beschäftigung von Zwangsarbeitern überstanden hatte. Aber hätte Filbinger nicht auch besser geschwiegen, er, der noch nach der Kapitulation des Hitler-Reiches an Todesurteilen gleich gegen mehrere Deserteure beteiligt war, also dafür gesorgt hatte, dass sie liquidiert wurden? Als ihm sehr spät, 1978, seine juristische Willfährigkeit vorgehalten wurde, verteidigte sich Filbinger mit einem Satz, der seine ganze Halsstarrigkeit offenbarte: «Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!»

Von Adenauer ist nicht ohne Grund der Spruch überliefert: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?» Deshalb konnte er, der 1946 so deutlich wie sonst vielleicht nur Karl Jaspers von Schuld gesprochen hatte, für «Tabula rasa», für das große Vergessen plädieren. 1952 sprach der Kanzler im Bundestag die erlösenden Worte gegen die Kritiker seiner Personalpolitik: «Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen.»[*] Das Personal der vorigen Epoche war einfach zu wichtig. Man könnte auch sagen: Es herrschte ein eklatanter Mangel an Leuten, die nicht mitgemacht hatten.

Die Leute, die von der Sache von früher her etwas verstanden, verstanden auch die neue. Ohne Hans Globke, der den Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasst hatte, als seine rechte und linke Hand hätte Adenauer gar nicht regieren können. Mit Ausnahme von Gustav Heinemann waren alle Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Roman Herzog vom Nationalsozialismus kontaminiert, aber sie waren wie vom Grundgesetz vorgeschrieben jeweils älter als vierzig Jahre und kamen aus der Mitte eines Mitläufervolkes. Eduard Dreher, im Zweiten Weltkrieg beteiligt an mindestens drei Todesurteilen für Bagatelldelikte, brachte es nicht bloß zum maßgeblichen Strafrechtskommentator, er konnte sogar persönlich Hand anlegen, als 1968 im Rahmen der Großen Strafrechtsreform auch die Beihilfe zum Mord, also auch sein rechtswidriges Wirken amnestiert wurde. Schon deshalb wurde kein einziger Richter – was gestern Recht war, konnte doch nicht plötzlich Unrecht sein – von einem deutschen Gericht dafür verurteilt, dass er eben noch alles andere als Recht gesprochen hatte.

Das Grundgesetz kommentierte ein Verfassungsfeind (Theodor Maunz), das Bundeskriminalamt leitete ein CIA-Agent, der sich bereits in der Feindbekämpfung im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) bewährt hatte (Paul Dickopf), und Albert Speer avancierte zum Star der Vergangenheitsbewältigung: Heldenhaft wollte er Hitlers Nero-Befehl der verbrannten Erde missachtet haben, sodass praktisch ihm ganz allein der wirtschaftliche Wiederaufstieg der Bundesrepublik zu verdanken war.

In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien erschienen. Das Außen-, das Justiz- und zuletzt das Innenministerium wurden auf ihre Geschichte hin durchleuchtet, und überall fanden sich, o Wunder: Nazis. Nazis saßen im Bundestag, in den Länderparlamenten, in sämtlichen Behörden und Ministerien, in der Polizei, in der Justiz, sie saßen in der Regierung und sie saßen zu Gericht, in manchen Fällen sogar über ihre ehemaligen Opfer. Die frühe Bundesrepublik war ein einziger Skandal.

Eine Partei der ehemaligen NSDAP-Mitglieder hätte bis in die sechziger Jahre die größte Fraktion im Bundestag stellen können. Neunzig Prozent aller Berufssoldaten der neuen Bundeswehr hatten bereits in der alten Wehrmacht gedient. Der Boden, über den er geht, ist unheimlich, schreibt Golo Mann. Aber die frühe Bundesrepublik hat sehr schnell gelernt, auf diesem Boden und auf ihrer Vergangenheit zu leben, gern auch zu tanzen.

 

Für die Nazi-Opfer, aber auch für die Nachgeborenen ist das schwer erträglich, wenn man sich unter Rechtsfrieden etwas anderes vorstellt: Schuld und dann eine Strafe, Sühne womöglich – aber einfach so weiterzumachen, das ist doch undenkbar. Doch genau so ist es zugegangen. Dieses stumme Lossprechungsverfahren war gedeckt durch das weitverbreitete Unschuldsbewusstsein, ja, das sichere Gefühl, dass einem Unrecht angetan worden sei: je nach Lebensalter erst durch den Versailler Vertrag und die nachfolgende Inflation und Arbeitslosigkeit, dann durch Hitler, schließlich durch die Besatzungsmächte, die Spruchkammern einrichteten und Schuldeinsicht verlangten, wo es doch für Millionen ums reine Überleben ging. Zwölf Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten wollten nicht bloß integriert sein, sondern bildeten den lebenden Beweis: Die Deutschen waren ein Volk von Opfern.

Der deutsche Soldat und kein ermordeter Jude galt in der ersten Nachkriegszeit als das Opfer. Bereits 1953 erschien zum achten Jahrestag des Kriegsendes eine Briefmarke, die in typischer Fünfziger-Jahre-Kargheit an die jüngste Vergangenheit mahnte: ein kahlgeschorener, wie im Schmerz gereckter Kopf hinter Stacheldraht, ein Profil, wie aus edelstem Marmor geschlagen, und dazu die Umschrift «Gedenket unserer Gefangenen» für zehn Pfennig, damals die Hälfte des Portos, das für einfache Briefe fällig wurde.[*] Von jüdischen Opfern war weit und breit nichts zu sehen.

Keiner verkörperte den nachkriegsdeutschen Opfermythos besser als Albert Speer: Beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher hatte er sich als angeblich unschuldig trotzdem für grundsätzlich schuldig erklärt und war damit dem Galgen entgangen. Als Unschuldiger, der sich ständig Vorwürfe machte, weil er es ja doch hätte wissen und etwas dagegen unternehmen müssen, begann er im Spandauer Gefängnis eine beispiellose Opferkarriere. Für Millionen Deutsche verkörperte Speer märtyrerhaft einen Glauben, der über jeden Verstand ging: dass es doch möglich war, Hitler nachgelaufen und dabei anständig geblieben zu sein.

Die Amnestie, die der Bundestag 1949 beschloss, so unerträglich sie ist, stellte einen halbwegs erträglichen Normalzustand her und war darum vermutlich unvermeidlich. Für Schwarzmarktdelikte gab es Straferlass, aber eben auch für die Beteiligung an den Mordtaten des Nationalsozialismus. Der nächste Schritt war der Artikel 131 des Grundgesetzes, der mit Zustimmung aller Parteien des Bundestags am 1. April 1951 in Kraft trat und fast allen NSDAP-Mitgliedern die Rückkehr in ihre Beamtenstellung oder wenigstens den Anspruch darauf garantierte. Moralisch wieder höchst fragwürdig, aber womöglich eine große zivilisatorische Tat in der Hoffnung auf eine anhaltende Befriedung der Gesellschaft.

Ein vielleicht unzulässiger Vergleich: Die SED, 1946 hervorgegangen aus der Zwangsvereinigung von SPD und KPD, erreichte nach dreißig Jahren einen Höchststand von 2,2 Millionen Mitgliedern. Nach dem Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 war die Mitgliedschaft in der SED, die bis dahin karrieredienlich war, ein Entlassungsgrund; Gelegenheit, wie Peter Rühmkorf meinte, endlich den «Kommunismus entgelten [zu] lassen, was wir an den Nazis versäumt haben»[*]. Die Mitläufer des SED-Regimes wurden nicht ins wiedervereinigte Deutschland integriert, mit den bekannten Folgen: Ressentiment, Staatsferne und wieder ein Opfermythos.

Mit ihrer staatlich betriebenen Schuldleugnung (vor allem durch den Mann, der 1946 so viel Einsicht gezeigt hatte) erlebte die Bundesrepublik eine sagenhafte Erfolgsgeschichte. Die Unbelehrbaren waren nach 1945 zunächst heimatlos, fanden aber dann Aufnahme in Klientelparteien und rechten Sammlungsbewegungen, die bald in ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit verschwanden. Die meisten mehr oder minder Belasteten, die Mitläufer und auch die Mittäter, schworen der einstigen Ekstase ab, wurden brave Diener des neuen Staates, so wie sie zuvor dem alten gedient hatten.

Was der neue Staat zwar nur oberflächlich, aber sehr erfolgreich camouflierte, war die Tatsache, dass die alten Netzwerke weiterbestanden, tadellos funktionierten und damit am Aufbau der Bundesrepublik staatstragend mitwirkten. Sie bildeten eine eigentümliche Übergangsmacht, ohne die es paradoxerweise viele gar nicht in die Demokratie geschafft hätten. Es brauchte gar keinen Großen Plan, dass es so weit kommen konnte. Es gab keine Geheimtruppe der SS, die die Bundesrepublik unterwandert und dafür gesorgt hätte, dass ihre Leute an der Macht blieben.

 

Die Bundesrepublik hat es überstanden, sie hat es sogar so gut überstanden, dass sie die Geschichte am Ende selber glaubte. Auch wenn es zwanzig Jahre dauerte, bis der alte Geist überwunden und die meisten Amtsinhaber in die Rente verabschiedet oder gestorben waren, verschwand die nostalgische Erinnerung an den ordnungsstiftenden Nationalsozialismus, die nicht nur die Besatzungsmächte fürchteten. Selbst die sogenannte Gauleiter-Verschwörung, die im Januar 1953 von der englischen Besatzungsmacht ausgehoben wurde, war am Ende ein Trumpf für Adenauer, der sich und seine Koalition von den alten Rechtskräften absetzen konnte. Politische Abenteurer wie Werner Naumann oder Otto Ernst Remer hatten keine Chance mehr.

Die Weltgeschichte hielt zu den Deutschen, machte aus den Verlierern binnen weniger Jahre Verbündete und dann sogar Sieger. Die Konstellation der Nachkriegszeit sorgte für Arbeit, Brot und genügend Furcht, sodass das deutsche Volk allmählich an die ungewohnte Demokratie gewöhnt wurde. Ohne Zwang ging es nicht, auch nicht ohne den gütigen Großvater im Kanzleramt, dem nichts Menschliches fremd war, aber Mitsprache, Transparenz, Gewaltenteilung, kurz: Demokratie umso fremder. 1953 wurden im Gaswerk in Stadtoldendorf alle Akten verbrannt, die die Mitgliedschaft im Ortsverein der NSDAP offengelegt hätten. Wie nennt man das? Realpolitik? Pragmatismus?

Der Umbau von der Diktatur zum Rechtsstaat war die Stunde der Politik mit Zügen einer tragischen Operette: Glücklich ist, wer vergisst. Nur die Wohlstandsversprechen der Dreißiger wurden nicht vergessen, denn die konnten jetzt endlich erfüllt werden: die Reise ins Ausland, das eigene Auto, das eigene Haus und immer genug zu essen und zu trinken. Der Umbau gelang, und zwar mit dem alten schuldigen Personal: Nordhoff und Flick machten weiter, die Schriftsteller machten weiter, die Journalisten, die Richter, die Beamten. Sie errichteten gemeinsam die Bundesrepublik, die neu und völlig anders als das alte Reich sein sollte.

In den Fünfzigern war viel von Restauration die Rede, doch wurde weder die Weimarer Republik noch das Kaiserreich und schon gar nicht das «Dritte Reich» wiederhergestellt. Der Bundesrepublik gelang ausgerechnet mit den alten Nazis ein richtiger Neustart. Das Land, das Europa verheert hatte, verwandelte sich, geschrumpft zwar, binnen weniger Jahre zum modernsten Land Europas. Der Preis dafür war hoch. Da er aber anders als die Kosten für das erste Auto, für die Hollywoodschaukel, für die dynamische Rente nicht zu beziffern war, wurde er gern entrichtet. Von der moralischen Katastrophe, die dabei verschwiegen wurde, handelt dieses Buch.

1. Die Mörder sind unter uns

1946 entstand als erstes Werk der neugegründeten Deutsche Film AG (DEFA) der Film «Die Mörder sind unter uns». Ein Mord ist weit weg in Polen geschehen, während des Krieges hat Hauptmann Ferdinand Brückner 121 Zivilisten erschießen lassen. Ein anderer Mord bleibt aus: Der Arzt Hans Mertens macht diesen Hauptmann ausfindig, dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier geht’s gut, er fertigt jetzt tatsächlich Kochtöpfe aus Stahlhelmen und ist sich natürlich keiner Schuld bewusst. Mertens möchte Brückner töten, wird aber ausgerechnet von einer KZ-Überlebenden, mit der er sich angefreundet hat, daran gehindert. In einem volkspädagogisch wertvollen Dialog wird die Schuldfrage aufgeworfen und aufs Allgemeinste beantwortet. Sie: «Hans, wir haben nicht das Recht zu richten!» Er: «Nein, Susanne, aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen!» Den Rechtsfrieden, so endet die Geschichte, sollen nicht einzelne Rächer, sondern die Gerichte herstellen, was 1946 noch für möglich gehalten wurde. Vier Millionen Zuschauer sahen den Film.

«Die Mörder sind unter uns» war einer der zeittypischen Bewältigungsversuche wie «Film ohne Titel» oder «Liebe ’47» oder «In jenen Tagen», die die zerstörten Städte nutzten, um Geschichten vom totalen Zusammenbruch zu erzählen, und die unmittelbare Vergangenheit in schwermütigen Bildern abzuschließen versuchten. Es ist vor allem das Pathos, das diese Filme trägt, es sind aber überraschenderweise auch dieselben filmischen Mittel und dieselben Schauspieler wie vor dem Ende des «Dritten Reiches»; den Zusammenbruch des alten Systems im Mai 1945 konnten sie offenbar leicht überstehen. Der Westen tendiert bald Richtung Heimatfilm und Heinz-Rühmann-Nachkriegsklamotte, die sich in nichts von der Heinz-Rühmann-Naziklamotte unterscheidet. Im Osten geht es, kaum auferstanden aus Ruinen, nach vorn zur Bewusstseinsbildung, aber das Personal kommt allen bekannt vor. Josef Sieber tritt im Jahr 1948 im Osten und im Westen auf: Er spielt in Gustav von Wangenheims Lehrfilm «… und wieder 48!» und in Artur Brauners Holocaust-Film «Morituri». Fünf Jahre zuvor hatte Sieber nach einem Drehbuch des Kriegsberichterstatters Herbert Reinecker (NSDAP seit 1943) den «Jungen Adlern» Hardy Krüger und Dietmar Schönherr beistehen dürfen, die auch die jungen Adler des Nachkriegsfilms werden sollten. Schönherr spielte zum Beispiel in «Nacht fiel über Gotenhaven» (1959) und wurde die deutsche Stimme von James Dean. Krüger war in «Illusion in Moll» (1952) oder «Liane, das Mädchen aus dem Urwald» (1956) zu sehen und wurde sogar für einen Film von Howard Hawks engagiert. Als Statist durfte der Rostocker Oberschüler Walter Kempowski bei den «Jungen Adlern» mitmachen.

Aber wenn es schon im Außenministerium und im Bundeskriminalamt nicht gelang, wie hätte man ohne die Leute von gestern eine neue Filmindustrie aufbauen können? Die Universitäten machten es doch vor. Von spektakulären Fällen wie dem Martin Heideggers abgesehen, ging das neue Leben mit dem alten Personal weiter, ohne dass sich größerer Widerstand geregt hätte. «Ein mehr oder weniger intensives NS-Vorleben wird als fact of life betrachtet», wie es der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz auf seine unnachahmliche Art in seiner Kohl-Biographie formuliert, den Nachkriegsstudenten sei «nichts Menschliches fremd» gewesen. «Erst seit Mitte der sechziger Jahre beginnt man systematisch zu graben.»[*] Helmut Kohl promovierte 1958 bei Walther Peter Fuchs, einem ehemals «engagierten Nationalsozialisten», dem von der NSDAP amtlich bestätigt wurde, er sei ein «verantwortungsbewusster» Wissenschaftler.[*] Jürgen Habermas, dessen Vater 1933 in die NSDAP eingetreten war, promovierte 1954 bei dem Philosophen Erich Rothacker, der 1933 den Aufruf deutscher Hochschullehrer für Adolf Hitler mitunterzeichnet hatte und anschließend als Abteilungsleiter in Goebbels’ Propagandaministerium für die Bücherverbrennung zuständig war. Beide, Fuchs und Rothacker, waren natürlich keine Mörder, aber sie lebten unbehelligt in der Bundesrepublik, setzten ihre akademische Laufbahn fort, bildeten Schüler aus, wurden mit Festschriften geehrt, termingerecht emeritiert und nie ganz vergessen.

 

Auch Hanns Martin Schleyer war kein Mörder. In dem amerikanischen, von deutschen Emigranten gestalteten Film «Hangmen also die!» (Auch Henker sterben, 1943) von Fritz Lang – nach einem Treatment von Bert Brecht – wird Reinhard Heydrich ermordet. Heute würde niemand das Attentat im Mai 1942 in Prag, dessen Folgen der Chef des Reichssicherheitshauptamtes nach einer Woche erlag, moralisch verurteilen, denn Heydrich war hauptverantwortlich für die systematische Ermordung der Juden, die im Jahr zuvor begonnen hatte. Schleyer war mit Heydrich, der zugleich stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren war, im besetzten Prag tätig und dort unter anderem mit der Arisierung der böhmischen Wirtschaft beschäftigt. Hätte Schleyer neben Heydrich im Auto gesessen und wäre mit ihm gestorben, wäre der Mord an ihm jedenfalls später eine politisch und moralisch zu rechtfertigende Tat gewesen. SS-Untersturmführer Schleyer saß nicht neben ihm, er kannte Heydrich vermutlich nicht näher, aber er wohnte in Prag in einer von Juden requirierten Villa, konnte rechtzeitig vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen fliehen, kam mit drei Jahren Internierung davon (im Lebenslauf höflich umschrieben als Kriegsgefangenschaft), stieg bei Daimler-Benz in den Vorstand auf und wurde der Arbeitgeberpräsident, der mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ebenso gut verhandeln konnte wie mit dem ehemaligen Kommunisten Willi Bleicher, dem Stuttgarter IG-Metall-Chef, der das «Dritte Reich» zum größten Teil im KZ Buchenwald verbracht hatte.

Die RAF als Jahrzehnte verspätetes Widerstandskommando hat Schleyer 1977 als Geisel genommen, ihn nach Väterart mit Genickschuss getötet und ihn damit ungewollt zu einem der vorgeschichtsbefreiten Heroen der wiederaufgebauten und wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik erhöht. Seine Lebensgeschichte war zwar nicht unbekannt, Bernt Engelmann hatte sie in seinem Buch «Großes Bundesverdienstkreuz» (1974) dargestellt, aber wer wie eine Hamburger Lehrerin im «Deutschen Herbst» versuchte, die Sprache auf den Obersturmbannführer Schleyer zu bringen, wurde von Amts wegen abgestraft.

Die Entführer hatten sich bereits Akten des tschechischen Geheimdienstes über Schleyer besorgt, sie hätten ihn auch mit einer aus Film und Fernsehen bekannten schwarzen Uniform ausstatten und in den Videoaufnahmen, die sie von ihrem Gefangenen produzierten, seine SS-Tätowierung vorzeigen können, aber als Rächer der deutschen Geschichte haben sie versagt. Der Schriftsteller Peter Schneider spricht von einer «historischen Dummheit der RAF» und meint: «Ein Geiselfoto, das Hanns Martin Schleyer in jener Uniform gezeigt hätte, die er als überzeugter Nazi und führendes Mitglied des Zentralverbandes der Industrie in Böhmen und Mähren getragen hatte, hätte die blutige Aktion nicht rechtfertigen können. Aber sie hätte der Welt einen historischen Vorgang deutlich gemacht.»[*]

Der damals neunzigjährigen Witwe Schleyers machte 2007 die «Diskussion um die Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und mögliche Begnadigung von Christian Klar (…) schwer zu schaffen», sie musste, wie Bild berichtete, «nach einem akuten Schwächeanfall» ins Krankenhaus.[*] Waltrude Schleyer war aus bester Familie, die Tochter des SA-Obergruppenführers Emil Ketterer, der 1923 an Hitlers Putsch in München teilgenommen hatte und mit dem Blutorden der NSDAP ausgezeichnet worden war. Als Präsident des TSV 1860 München sorgte er dafür, dass der Verein im «Dritten Reich» eine stramme NS-Richtung erhielt, als Amtsarzt befürwortete er das nationalsozialistische Euthanasieprogramm. Eine Strafverfolgung blieb nach 1945 aus, Emil Ketterer war doch nur «Mitläufer» gewesen. Die Schuld liege allein bei Hitler und seinen engsten Beratern, lautete die vertraute Ausrede vor der Spruchkammer: «Wir alten Warner dürfen uns daher mit Recht moralisch und tatsächlich frei von der Mitverantwortung fühlen.»[*] Seine Tochter war 1937 in die Partei eingetreten. Die Heiratserlaubnis, die für höhere SS-Angehörige wie Schleyer vorgeschrieben war, verzögerte sich, bis Himmler selber eingriff und die Genehmigung erteilte, weil «sowohl SA-Obergruppenführer Ketterer, der Vater von Waltraut K., wie auch Fräulein Ketterer selbst dem Reichsführer SS persönlich bekannt sind»[*].

Vergangenheitsbewältigung wird schwierig, wenn die Vergangenheit zu weit in die Gegenwart reicht. Ein FDP-Abgeordneter nannte eine Bildcollage an der Hamburger Hafenstraße, die unter anderem auch den bekannten Gefangenen der RAF zusammen mit dem bekannten Symbol der RAF zeigte, «menschenverachtend». Jan Philipp Reemtsma entgegnete ihm, dass sich der Abgeordnete vielleicht hätte fragen können, «welche Belastung sich vor allem für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland damals ergab, als fast alle anderen Bürgerinnen und Bürger über die Identifikation mit jenem Bild eines ehemaligen SS-Offiziers sich zu einer Nation der Opfer erklärten».[*] Die RAF hatte offensichtlich einen beliebten Wirtschaftspolitiker umgebracht, und in der allgemeinen Wahrnehmung waren in dem Krieg der «6 gegen 60000000», von dem Heinrich Böll 1972 gesprochen hatte, alle ihr Opfer geworden, wie sie zuvor alle Opfer der Nazis waren.

 

Wie im richtigen Leben ging auch im Film das Leben wie gewohnt weiter. Zwar wollte jetzt plötzlich keiner ein Nazi gewesen sein, aber sie waren doch da, brauchten Arbeit, verfügten über Spezialkenntnisse, besondere Fertigkeiten oder auch nur den Ehrgeiz, unter ganz anarchischen Bedingungen noch einmal etwas aus sich zu machen. Artur Brauner wollte keine ehemaligen Nazis beschäftigen, aber Eugen York, der 1948 Regie bei dem von Brauner finanzierten «Morituri» (1948) führte, dem ersten deutschen Film über die Judenvernichtung, hatte wenige Jahre zuvor, als Brauner als verfolgter Jude im Untergrund in der Sowjetunion zu überleben versuchte, in einem NS-Werbefilm ukrainischen Fremdarbeitern ein schönes, sauberes, aufgeräumtes Deutschland präsentiert. Yorks weitere Arbeit nahm den üblichen Verlauf über Heimat und Hafen zur «Gräfin Mariza» (1974) und ins Fernsehen. Der Komponist Wolfgang Zeller schrieb die Musik für den Hetzfilm «Jud Süß» (1940), dann für «Morituri», später für den DEFA-Film «Ehe im Schatten» (1949) und noch später für den westdeutschen Heimatfilm «Die Landärztin» (1958).

Auch bei dem so schrecklich gut gemeinten Besinnungsfilm «Die Mörder sind unter uns» waren genug Nazis beteiligt. Der Regisseur Wolfgang Staudte war in der Partei gewesen und hatte als Schauspieler in «Jud Süß» mitgewirkt. Sein Kameramann Friedl Behn-Grund hatte den Euthanasiefilm «Ich klage an» und einen patriotischen «Ohm Krüger» (beide 1940) gedreht, der Darsteller des Arztes Mertens, Ernst Wilhelm Borchert, hatte im Fragebogen seine Mitgliedschaft in der NSDAP (Parteieintritt 1933) unterschlagen und wurde deshalb von der Militärbehörde verhaftet. Für die Dreharbeiten wurde er bedingt freigelassen, aber nach der Premiere in Handschellen abgeführt.[*] Bekannt ist der Film noch heute, weil er als Debüt von Hildegard Knef gilt; ausgerechnet sie spielt die KZ-Überlebende Susanne Wallner. Die Rolle machte Knef mit einem Schlag berühmt, sie wurde das deutsche Fräuleinwunder, auch sie auferstanden aus Ruinen, dem Trümmerberlin.

Hildegard Knef hatte mit zwanzig bereits einiges erlebt und ihre Vergangenheit mustergültig entsorgen können. Im Verein mit einer aufmerksamen Presse konnte sie immer zeigen, dass auch ihr nichts Menschliches fremd war, aber alles wollte sie dann doch nicht zeigen. Sie hatte ja nicht bloß die Schauspielschule der UFAbesucht und kleinere Rollen in den letzten Filmen des «Dritten Reiches» bekommen, sondern sich durch ein Verhältnis mit dem erheblich älteren, aber zweifellos nützlichen Reichsfilmdramaturgen Ewald von Demandowsky (NSDAP seit 1931, 1932 ausgetreten, Wiedereintritt 1937) abgesichert, einem Protegé von Joseph Goebbels. Demandowsky glaubte fest an die Herrenrasse und dass Deutschland mit einer besonderen Sendung beauftragt sei. Goebbels verlieh ihm für seinen Einsatz das Goldene Parteiabzeichen, das sonst nur alten Kämpfern zustand, die bereits 1925 eingetreten waren.

Demandowsky stellte Knef als seine Braut vor, er wollte sie tatsächlich heiraten. In Wehrmachtsuniform versuchte sie im April 1945 mit Demandowsky den Ausbruch aus dem umzingelten Berlin. Um den Russen nicht lebend in die Hände zu fallen, wollten sie sich gegenseitig erschießen, wenn sie verwundet würden. «Von 70 Mann, mit denen wir zusammen waren, leben heut noch 4 und wir gehören merkwürdigerweise dazu»[*], schrieb sie in diesen Wochen ihrer Mutter. In ihren Memoiren «Der geschenkte Gaul» (1970) wird aus dem Kriegsende ein expressionistisches Abenteuer, und sie erweist sich als recht beachtliche Erzählerin: Eine Nacht auf der Flucht verbringt sie neben einer halbverwesten Leiche, in Interviews ergänzte sie den Horror noch um das Detail, dass sie sich mit einer Handgranate gegen einen aufdringlichen Russen gewehrt habe. In diesen Wochen befand sie sich tatsächlich in Lebensgefahr, ob sie aber wirklich in Gefangenschaft geriet, wie sie behauptete, ist gar nicht sicher. Nach der Kapitulation, Ende Mai 1945, stand sie jedenfalls schon wieder auf der Bühne. Sie war mit Demandowsky nach Berlin zurückgekehrt, trennte sich aber bald von dem Mann, der so offensichtlich dem alten System angehörte. Zu ihrem Glück hatte sie damit nichts zu tun, völlig unbelastet erreichte sie die «Stunde null», die da noch gar nicht so hieß. «Es war nicht schön aber notwendig, ich fühle mich befreit und frei», schreibt sie im September 1945 an ihre Mutter.

In den Memoiren behauptete sie, ihr Geliebter sei im Lager umgekommen. In Wahrheit nahm ihn eine amerikanische Militärstreife fest und überstellte ihn an die Russen, die ihm den Prozess machten und ihn zum Tode verurteilten. Am 7. Oktober 1946 wurde Demandowsky erschossen. (Das Urteil wurde im Rahmen der Glasnost-Politik Michail Gorbatschows Anfang der neunziger Jahre aufgehoben.) Acht Tage später erlebte der Film «Die Mörder sind unter uns» seine Premiere im Berliner Zoo Palast. Hildegard Knef hatte da bereits einen neuen Freund, Kurt Hirsch, der aus dem Sudetenland stammte, als Jude vor den Nazis nach Amerika geflohen war und mit der Army als Filmoffizier zurückkam. Durch die Heirat mit Hirsch verlor sie die deutsche Staatsbürgerschaft, als Ehefrau eines Amerikaners durfte sie aber in die USA und in Hollywood arbeiten. In seinem Film «A Foreign Affair» (Eine auswärtige Affäre, 1948) variierte Billy Wilder, Hirschs Vorgänger als amerikanischer Filmoffizier in Berlin, diese Überlebensgeschichte mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle.

Ihre Karriere war offenbar eine sehr deutsche Geschichte, wieder eine, die im «Dritten Reich» begonnen hatte und sich umstandslos in der Bundesrepublik fortsetzen ließ. Hildegard Knef kam 1945 als Debütantin mit Trümmerbiographie auf die Welt und konnte mit einem ungewöhnlichen Talent zur Mediensteuerung die Vorgeschichte auf einen allgemein akzeptierten Rest eindampfen. Der Spiegel und das amerikanische Magazin Life brachten bereits 1948 Bildgeschichten mit ihr, der Stern hatte sie in seiner ersten Ausgabe auf dem Titel und umschmeichelte sie mit vertrauter Prosa: «Der Stern unserer Zeit ist kein extravaganter Star. Natürliche Anmut bewundern wir an Hildegard Knef.»[*] So und nicht viel anders war sie aber bereits 1942 von dem Filmkritiker Frank Maraun, einem Talentsucher der UFA, charakterisiert worden: «Hildegard Knef vertritt in Reinkultur den Typus des deutschen Mädchens. Sie gefällt durch natürliche Anmut, hübsches Lachen und durch klaren, offenen Blick.»[*] Außerdem sei die Elevin, auch das erwähnt Maraun, der beizeiten auch vom «erneuerten Deutschland Adolf Hitlers» schwärmen konnte, «gut gewachsen» und wisse sich zu bewegen. Sie entspricht mit anderen Worten dem sportlichen Ideal des deutschen Mädels: kernseifensauber, keine Schminke, im Grunde die BdM-Ästhetik, inzwischen versehen mit dem Trauerrand der Niederlage, großes deutsches Schicksal. Goebbels soll von ihr sehr angetan gewesen sein.

Trotz eines mehrjährigen Vertrags mit dem Produzenten David O. Selznick wurde es nichts mit der Hollywood-Karriere. Weit erfolgreicher war Hildegarde Neff (Umschrift für die Amerikaner) am Broadway, wo sie 478-mal die Ninotchka in «Silk Stockings» (Seidenstrümpfe) spielte. Das Fräuleinwunder hatte es bis nach Amerika geschafft! Mit dem ersten Lufthansaflug über den Atlantik reisten 1955 Henri Nannen und Rudolf Augstein, die Chefredakteure von Stern und Spiegel, nach New York, um der Reinkultur zu huldigen.

Hildegard Knef blieb Deutschland auch sonst verbunden. Sie spielte die Titelrolle in einem belanglosen Film namens «Die Sünderin» (1951), der, wie die Sage geht, zum Skandal wurde, weil sekundenlang ihre Brust zu sehen war. Sybille Steinbacher hat in ihrer Studie «Wie der Sex nach Deutschland kam» (2011) nachgewiesen, dass es gar nicht die Brust war, die vor allem katholische Sittenwächter empörte, sondern die Themen Prostitution, Abtreibung und Sterbehilfe, die mit einem gewissen Vorsatz zur Sprache kamen. Von den Kanzeln herab wurde der Film als «Zersetzung der sittlichen Begriffe unseres christlichen Volkes» gegeißelt und in Unterschriftensammlungen und Bußwallfahrten bekämpft als Teufelswerk. «Wer sich dennoch entschließt, den Film zu besuchen», unkte ein ökumenisch-einträchtiges Flugblatt im vertrauten Sound der Adenauer-Frömmigkeit, «macht sich zum Wegbereiter des Kultur-Bolschewismus.» Offensichtlich vergiftete der Kommunismus inzwischen mit seiner verführerischen Botschaft auch das ahnungslose Kinopublikum. Wo der richtige Bolschewismus nur ein paar Kilometer weiter im Osten lauerte, musste der freie Westen mit allen Mitteln verteidigt werden, notfalls mit Stinkbomben und weißen Mäusen im Kino, wie es 1930 schon der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels versucht hatte, als er den pazifistischen Film «Im Westen nichts Neues» bekriegen ließ.

Noch in den Fünfzigern wurde das gesunde Volksempfinden ungescheut in Anschlag gegen den «moralischen Gestank» (der «Ruhrkaplan» Carl Klinkhammer) der «Sünderin» gebracht und dafür der vor 1945 unterbliebene Widerstand nachgeholt. Der Hitler-Attentäter Stauffenberg, so wenig er sonst in Ansehen stand, kam da gerade recht: «Ob Stinkbomben oder andere Bomben – es kommt darauf an, wogegen sie geworfen werden!» Es war ein Spektakel, das dem Geschichtstheoretiker die Tränen in die Augen treibt. Die brachial gegen den Film protestiert hatten, verstanden sich gar nicht als kreuzbrave Verteidiger von Sitte und Anstand, sondern waren echte Widerstandskämpfer. «Wir wollen nicht noch einmal Situationen erleben, in denen man uns den Vorwurf macht: Warum habt ihr nicht?»[*], erklärte ihr Anwalt, als sie wegen Nötigung, grobem Unfug und Widerstand gegen die Staatsgewalt vor Gericht standen. Während sich die westdeutsche Öffentlichkeit bei Umfragen noch sehr skeptisch zur moralischen Berechtigung des politischen Attentats äußerte, wurden die Angeklagten schon als Brüder im Geiste Stauffenbergs freigesprochen.

Willi Forst, der Regisseur der «Sünderin», hatte es auf diesen Skandal angelegt, den Film aber nur mit Hilfe einer staatlichen Ausfallbürgschaft von dreihunderttausend Mark finanzieren können. Es war eine Investition, die sich finanziell und erst recht ideell rentierte. Katholische Priester vor allem im Rheinland und in Bayern organisierten Bittprozessionen gegen den Film, während Busunternehmer Fahrten in größere Städte anboten, wo man das Laster in Augenschein nehmen konnte, ehe man dagegen protestierte. In Regensburg kam es zu tagelangen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Verteidigern des Films. Dank der Sittenwächter beider Konfessionen wurde die «Sünderin» einer der größten Filmerfolge der Nachkriegszeit.

Der Kulturkampf gegen «Schmutz und Schund»

Bei der allgemeinen Verwirrung war leicht Ärgernis zu erregen: Alles, was in der nationalsozialistischen Reinheitslehre aus Deutschland ferngehalten wurde, war plötzlich da und für jedermann und auch für jede Frau zu haben: Jazz, ausländische Filme, Negertänze. Das Fraternisierungsverbot der Alliierten ließ sich nicht lange halten, das, was bei den Nationalsozialisten «Rassenschande» hieß, wurde im Land Hitlers und Himmlers Alltag, Anarchie überall. Höchste Zeit also, dieser unkontrollierbaren Entwicklung gegenzusteuern und dem wankelmütigen Volk von berufener Seite die neue Welt so zu erklären, dass es nicht seinerseits völlig unkontrollierbar wurde. Erst sehr viel später, im Jahr 1961, gab Heinrich von Brentano, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, zu, dass seine Partei die neu gewonnene Freiheit fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Das war der Liberalismus, der direkt in die Libertinage führte und in Bereiche, die sich der Aufsicht des Staates entzogen. Zumindest im engeren Kreis in Bonn wusste man von Brentanos Homosexualität, dass er also persönlich eine Freiheit nutzte, die ihn nach § 175 des Strafgesetzbuches ins Gefängnis hätte bringen können. Freiheit sei ein sittlicher Begriff, erklärte Brentano in einer Aussprache im Bundestag, und darum lehnten «wir [womit er seine christliche Partei meint] die unbedingte Freiheit ab, den schrankenlosen Individualismus, dessen Gebrauch oder, richtiger gesagt, Mißbrauch in die Anarchie führte»[*].

Gerhard Ritter fand es schon 1948 «voreilig und ungerecht», den Nationalsozialismus (eine Invektive gegen Thomas Mann) als «Erblaster der Deutschen» zu betrachten. Als Historiker an Verfallsgeschichten gewöhnt, bemühte er sich um eine zeitgemäße Interpretation, die an Harmlosigkeit kaum zu überbieten war. Der Nationalsozialismus gehöre vielmehr «in ein Zeitalter des allgemeinen Kulturverfalls, der Glaubenslosigkeit und des moralischen Nihilismus hinein». Allerdings schien ihm der «allgemeine Verfall abendländisch-europäischer Kulturtradition»[*] in Deutschland besonders weit fortgeschritten zu sein, die Beschwörung des christlichen Glaubens als Bollwerk gegen Kulturverfall und den Bolschewismus deshalb umso wichtiger.

Nach dem gottlosen «Dritten Reich» und den Umwälzungen der Nachkriegszeit hofften nicht nur die Kirchen auf eine Rechristianisierung, wenn nicht des Abendlandes, so doch Deutschlands. Der Kulturkampf gegen die «Sünderin» kam da gerade recht. Dass er ein Rückzugsgefecht war, wollte Anfang der Fünfziger niemand glauben. Noch war kein Hochhuth aufgestanden, um den Papst wegen seiner Untätigkeit gegen den Judenmord anzuklagen. Dieser Papst, Pius XII., hatte die PR-Möglichkeiten von Wochenschau und Fernsehen erkannt und ließ sich mit seiner Frischzellenkur bereitwillig zum Illustriertenhelden machen. Um das Kirchenvolk zu stärken und die eigene Macht zu betonen, verkündete er 1950 ex cathedra und damit als unumstößliche Wahrheit die leibliche Aufnahme der Jungfrau Maria in den Himmel. Er empfing in der Audienz mit gleichem Eifer Hitlers Banker Hjalmar Schacht, den Protestanten Reinhard Gehlen und Thomas Mann, den Autor des nicht unbedingt kirchenfrommen «Doktor Faustus». Dafür kam Graham Greenes grundkatholischer Roman «Die Kraft und die Herrlichkeit» auf den Index, weil darin ein saufender Priester auftrat; dem Schüler Peter Handke, dessen Vater und Stiefvater beide Wehrmachtssoldaten waren, wurde das Buch 1959 im Knabeninternat Tanzenberg in Kärnten konfisziert: «Da hatte ich es aber schon gelesen.»[*]

Ein Amtsgerichtsrat Richard Gatzweiler aus Köln verfasste 1955 eine Broschüre mit dem Titel «Verbrecher-Comics gefährden die Jugend». Der Jurist schien sich kundig gemacht zu haben, er wusste von Nick Knatterton und Tom Mix, ihm war aber nicht unbekannt, dass neben den «Bildstreifenheften» auch «der jugendgefährdende Film, die Vielzahl der Illustrierten mit sexuell betonten Titelbildern und Inhalt, die Anzeigen in Illustrierten und Wochenendzeitungen, die Werbungen durch Plakate, die Reklame der Nachtlokale, die Catcher-Veranstaltungen und ähnliche negative Zeiterscheinungen» ihren verheerenden Einfluss auf eine Gesellschaft ausüben, für die sich kein «konkreter Maßstab» mehr finden lässt, «nach dem sich die sittlichen Denkvoraussetzungen im deutschen Volk richten könnten».[*]

Die Zeit ist, wie sie es schon immer war, aus den Fugen: Zwar tanzten bald Peter Kraus und Conny Froboess durchs Kino und die Heide ergrünte aufs Neue, doch muss die Landesarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten mit Schrecken feststellen, dass viele einen «hemmungslosen freien Geschlechtsverkehr» pflegen. In Passau werden sicherheitshalber Samba und Rumba mit der Begründung untersagt, die Tänze kämen «aus dem Bordell». In Paderborn wird ein Unternehmer bedroht, weil er es versäumt hatte, seine Schaufensterpuppen anständig zu bekleiden. Am Kiosk lockt «Gift in bunten Heften», deshalb lässt der Volkswartbund an einem einzigen Tag allein in Köln 136234 Comic-Hefte beschlagnahmen. Das Aufstellen von Kondom-Automaten verletze Sitte und Anstand, urteilte der Bundesgerichtshof noch 1959, denn die feilgebotene Ware sei zu «nicht naturgemäßem Geschlechtsverkehr bestimmt».[*]

Der «Volkswartbund», eine Organisation des Kölner Männervereins, der sich als «Katholischer Verband zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit» bezeichnete, hatte 1933 in Gestalt seines Generalsekretärs Michael Calmes eine Kampagne gegen den jüdischen Kondomhersteller Julius Fromm mit der Begründung begonnen, Fromm sei schuld an einer «unser gesamtes Volkstum bedrohenden Seuche»[*]. Mit allen Merkmalen des verklemmten Lustmolchs führte Calmes in einem dreißigjährigen Wirken seine Kampagne gegen «Schmutz und Schund», worunter er Freikörperkultur, Homosexualität, Varietés und alle möglichen Druckerzeugnisse von Katalogen bis zu erotischen Romanen verstand. In der Weimarer Republik bekämpfte er den Liberalismus, im «Dritten Reich» das «volksvernichtende Treiben» der Kondomhersteller und konnte sich hinterher, weil er nicht in der Partei gewesen war, sogar noch als Verfolgter präsentieren, obwohl sein saubermännisches Treiben sich bestens mit dem Reinheitsdenken des NS-Staates vertrug.

Das «Dritte Reich» war alles andere als leibfeindlich, aber in der Bekämpfung der Homosexualität fand sich Calmes ebenso auf der Seite der Nationalsozialisten wie bei ihrem Erbgesundheitsgesetz. Nach 1945 führte Calmes seinen Kampf fort. Mit Prophetengabe sah er das «sittlich-geistigmoralische Elend» kommen, denn «in breiter Front stürmen die Schmutzwellen über das deutsche Volk dahin, und vielfach und gewunden sind auch die heimlichen Kanäle, aus denen das literarische Gift allmählich in die breite Masse sickert.»[*] Nicht einmal die Sprache musste er ändern, wenn er als selbstapprobierter Arzt diagnostizierte, «der deutsche Volkskörper blutet aus allen Wunden»[*], weil er sich nicht den strengen Moralvorstellungen von Calmes fügen wollte. Seit seinem Amtsantritt als Sittenwächter bombardierte Calmes Bürgermeister, Ministerialen, Pfarrer, Bischöfe und Laienverbände mit Eingaben, die als Denunziation gemeint waren und in jedem Fall für die weitere Finanzierung seines Volkswartbundes sorgten, und sei es, dass sich die angesprochenen Behörden den lästigen Mahner vom Leib halten wollten. Vermutlich hat nur der FBI-Chef J. Edgar Hoover seine Mitbürger länger überwacht als Calmes, der 1927 Generalsekretär des Volkwartbundes wurde und bis 1958 dafür sorgte, dass zumindest in Westdeutschland das Abendland nicht unterging.

Der Feldzug für den gesunden Körper konnte lächerlichste Formen annehmen: Im Oktober 1956 brach eine Abordnung des Volkswartbundes von Köln nach Hamburg auf, um in einer besonders schwierigen Sache zu recherchieren. Furchtlos betrat die von Michael Calmes angeführte Truppe die Brutstätten des Lasters auf St. Pauli und entdeckte, was bis dahin niemand geahnt hatte: In Hamburg auf der Reeperbahn herrscht die Sünde! Mit immer noch zitternden Händen brachte Calmes einen Bericht zu Papier, den er umgehend an seinen Kardinal Joseph Frings schickte, nicht ohne darum zu bitten, Seine Eminenz möge «gütigst entschuldigen», was er da zu lesen bekäme, nämlich das, was Calmes und seine Sittenwächter voller Abscheu hatten beobachten müssen: «In einem Film traten fünf Mädchen auf, deren Oberkörper völlig frei ist und die um die Lenden teils nur einen schmalen Gürtel tragen, der aber bei den wollüstigen Bewegungen oft herunterrutscht.»

Im Kölner Generalvikariat dankte man für den selbstlosen Einsatz, und der Sekretär notierte: «Em. [Eminenz] wird die Sache im Auge beh.[alten]»[*]. Mochte die Welt sonst auch wanken, daran gab es keinen Zweifel: Nie ruhte das Auge der frommen Obrigkeit lüsterner auf dem sündigen Treiben der Welt als in jenen goldenen Nachkriegsjahren. In bewährter Weise sah sie darauf, dass die Reinheit des Volkes nicht befleckt wurde. «Dass zwischen rigider Sexualmoral und nationalsozialistischen Tätern als deren Exekutoren handfeste Zusammenhänge bestanden, war daher eine Tatsache, keine Einbildung der protestierenden Jugend der späten sechziger Jahre.»[*]

In der Verratspsychose der Nachkriegszeit verfiel Amtsgerichtsrat Gatzweiler auf eine interessante antibolschewistische Variante: Schwule bildeten für ihn «Moskaus neue Garde»[*]. Dagegen musste mit allen Mitteln gekämpft werden. Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling sah deshalb 1953 in den «Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern» die beste Sicherung gegen die «drohende Gefahr der kinderreichen Völker des Ostens», ein Argument, das sich im Kulturkampf noch immer bewährt hat. Der Minister konnte sich nicht vorstellen, «daß irgendeine Frau und Mutter formale Gleichberechtigung, wie sie von einigen Seiten gefordert wird, überhaupt will». Ausdrücklich verwies er auf das abschreckende Beispiel der DDR, wo man sich die «gleichberechtigte Einbeziehung der Frau in das Wirtschaftsleben»[*] zum Ziel gesetzt hatte. In einer Broschüre von 1959 lobte Wuermeling das berüchtigte Urteil zur Kuppelei, das fünf Jahre zuvor beim Bundesgerichtshof ergangen war und mit Berufung auf Entscheidungen des Reichsgerichts von 1937 und das bekannt gesunde Empfinden des Volkes auf den Satz hinauslief: «Die sittliche Ordnung will, dass sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist.»[*] Sittenlosigkeit führe letztlich zur Diktatur und werde damit, meinte der Minister mit dem apokalyptischen Unterton, den er seinem Obersten Adenauer abgelauscht hat, zum «Totengräber der Demokratie, wenn die Demokratie ihrer nicht Herr bleiben kann»[*].

Am Ende siegte jedoch das Wirtschaftswunder über das noch aus dem Kaiserreich überlieferte Bild von Sitte und Anstand, das in den Fünfzigern unbedingt wiederbelebt werden sollte. Bald, so konstatiert die Zeithistorikerin Sybille Steinbacher, «löste der ökonomische Erfolg als Gradmesser persönlicher Integrität die Sittlichkeit ab»[*].

Bestes Beispiel dafür war Beate Uhse. Die Sportfliegerin wurde 1944 in die Luftwaffe übernommen, zum Hauptmann befördert und konnte in den letzten Apriltagen 1945 nach Schleswig-Holstein fliehen, wo sich das letzte Nazi-Aufgebot um den Hitler-Nachfolger Karl Dönitz scharte. In Flensburg eröffnete sie ein Geschäft für Hygieneartikel, die sie aus dem liberaleren Skandinavien importierte und diskret an eine wachsende Zahl von Kunden verschickte. Sie verkaufte Kondome und Broschüren zur Empfängnisverhütung, und gegen den Erfolg, der sich im Steueraufkommen der Stadt Flensburg bemerkbar machte, blieb auf Dauer auch der Volkswartbund machtlos.

Trotzdem war dieser Erfolg – eine Frau als Unternehmerin und das mit einem Warenangebot, das es in der katholisch regierten Bundesrepublik gar nicht geben sollte – eine große Ausnahme, Domestizierung die Regel. Es gab keine schönere Moritat als die Geschichte der Frankfurter Prostituierten Rosemarie Nitribitt, die in einem Mercedes Cabrio nach Freiern suchte, für kurze Zeit Teil der Wirtschaftswundergesellschaft und dafür 1957 ermordet wurde. Ihr Tod ist von Verschwörungstheorien umrankt, weil angeblich auch Mitglieder der Familien Krupp und Sachs, die ihr Vermögen aus dem «Dritten Reich» hatten herüberretten können, zu ihrer Kundschaft gehörten. Noch fünfzig Jahre nach ihrem Tod, als ihr Schädel aus dem Kriminalmuseum geholt und bestattet wurde, konnte ihre Geschichte ein lustvolles Gruseln auslösen.

Nach den Zerstörungen und Verheerungen von Krieg und Nachkriegszeit war es schwer, die Frauen wieder an den Herd zu führen, den sie doch verlassen hatten, um in der Rüstungsindustrie ihren sogenannten Mann zu stehen und hinterher die Trümmer wegzuräumen. Ernst Jünger lobte 1954 seine Verehrerin, die Journalistin Margret Boveri, für eine Rezension, die natürlich ihm galt, und fügte dann völlig ironiefrei hinzu: «Immer häufiger begegnet man jetzt unheimlich klugen Frauen – das ist auch ein Zeichen für die rapide Veränderung, in der wir begriffen sind – ob aber ein günstiges?»[*] Die Vertreter der modernen Literatur waren allerdings nicht besser: Frauen, so erinnerte sich der Literaturkritiker Reinhard Baumgart an die Gruppe 47, «durften lachen, sollten tanzen, mitessen und mittrinken und, das auch, ihr Gedichtetes vorlesen, nahmen aber nicht teil am kritischen Diskurs». Der Leiter Hans Werner Richter soll einmal erstaunt gefragt haben: «Welche Frau hat da eben was gesagt?»[*] Der Letzt- und Stichentscheid nach § 1354 BGB – «Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinsame eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu» – wurde vom Bundestag erst 1957 abgeschafft.

Die «deutsche Mutter» erzieht noch immer wie bei Adolf Hitler

In diesen fünfziger Jahren, die den Frauen nur zögernd Mitsprache oder überhaupt Rechte über das der Mutter hinaus zugestehen wollten, wurden die meisten Kinder nach einem Buch aufgezogen, das Dr. med. Johanna Haarer verfasst hatte, «Die Mutter und ihr erstes Kind». Für heutige Begriffe handelt es sich um schlimmste schwarze Pädagogik: Das Baby soll nicht verweichlicht werden; Küsse sind zu vermeiden, da bei diesem Körperkontakt Tuberkelbazillen übertragen werden können; das Kind, das im Ausdruckswechsel auch gern als «Haustyrann» oder «kleiner Plagegeist» bezeichnet wird, ist vor allem nicht zu sehr zu verwöhnen. Dieses strenge Regiment ist kein Zufall, sondern reinste nationalsozialistische Lehre: Das Werk erschien zum ersten Mal 1934. Hervorgegangen war es aus einer Artikelserie, die die Lungenfachärztin Haarer im Völkischen Beobachter veröffentlicht hatte. Julius Friedrich Lehmann, der in München bereits vor Gründung der NSDAP nationalistische und völkische Unternehmungen gefördert und den Hitler-Putsch von 1923 unterstützt hatte, brachte in seinem medizinischen Fachverlag auch die Rassenlehre von Hans F.K. Günther heraus. Jedes in seinem Haus veröffentlichte Buch, behauptete Lehmann, sei «Ergebnis seiner eigenen, persönlichen Anregung» gewesen.[*]

Es sei gar nicht sie, sondern die Anregung des Verlegers gewesen, dass sie ihrem Manuskript «ein der damaligen Lage angepasstes Vorwort»[*] vorausgeschickt habe, erläuterte Haarer 1948 der Münchner Spruchkammer. Haarer war keine Kinderärztin, sondern schrieb als junge Mutter, die aus dem Berufsleben gerissen worden war. Sie hatte sich ins Medizinstudium gekämpft, geheiratet, war von ihrem Mann betrogen worden, hatte wieder geheiratet und war 1932 Opfer der zeitgenössischen Beschäftigungspolitik geworden, in der bei Doppelverdienern die Frau wieder nach Hause geschickt wurde. Dort begann sie zu schreiben. Sie hatte eine Kinderfrau, aber die Geburt von Zwillingen war eine ganz neue Erfahrung, über die sie – ein erstes self-help book – auch anderen berichten wollte. Unter dem Titel «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind» wurde ihr Buch ein Bestseller im «Dritten Reich», den der Völkische Beobachter als regelrechtes Hausbuch pries: «Durch den kurzweiligen Plauderton und die glückliche Gabe, stets allgemein-verständlich zu sein, schimmert überall die freudige Erwartung auf das große Ereignis durch. Dieses wundervolle Werk, das nicht nur Ratschläge gibt, sondern auch immer ihre sachliche Begründung anführt, ist wirklich ein Treffer. So kann das Buch nicht nur, sondern muß geradezu aus voller Ueberzeugung für jede junge Ehe empfohlen werden.»[*]

Kurzweilig vielleicht, aber vor allem kurz und knapp waren die Anweisungen für die junge Mutter: «Auch nachts einmal stillen!», aber streng nach der Uhr. «Schreien lassen!», bis das Kind es kapiert hat. Nach dem «Kampf» der Geburt komme es schon früh zu «förmlichen Kraftproben zwischen Mutter und Kind», und da ist die deutsche Mutter gefragt: «Sie in der richtigen Weise zu bestehen, ist das Geheimnis aller Erziehung.»[*] Der Wehr- geht die Volks- und Kindsertüchtigung voran: «Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus seinem Bett heraus zu nehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren, es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, dass es nur zu schreien braucht, um (…) Gegenstand solcher Fürsorge zu werden.»[*] Keine Schläge, aber in eine stille Kammer sperren: «Nicht die Mutter straft es dann, sondern das Leben, und das ist eigentlich das Richtige.»

Damit die junge Mutter nicht allein gelassen wurde, schrieb die Autorin ihrem Erfolgsbuch gleich noch ein weiteres hinterher, «Unsere kleinen Kinder», in dem sie die «Lust am Gehorsam» entdeckt. Das erwachende oder erweckte Interesse an Uniformen und marschierenden Kolonnen kann ganz zwanglos gefördert werden, um den Kleinen bei dieser Gelegenheit «etwas von unserem Volk, unserem Vaterland und seinem Führer zu erzählen»[*]. Dieser schönen Aufgabe oblag Haarer in ihrem nächsten Werk besonders ausgiebig. «Mutter, erzähl von Adolf Hitler!», 1939 im 191.–230. Tausend erschienen, war voller lehrreicher Passagen wie dieser: «Denkt nur einmal an – eines Tages merkte Adolf Hitler, daß es auch in Wien Leute gab, die so aussahen, wie der Trödeljakob bei uns daheim, nur waren ihrer viel, viel mehr! Sie hatten lange, schwarze Mäntel an und schwarze Hüte auf den Köpfen. Die Augen schwarz, die Haare kraus, die Nasen krumm, schmutzig und häßlich anzusehen – so gingen sie in den Straßen von Wien. (…) Nein, Deutsche waren das niemals, das erkannte Adolf Hitler. Es war ein fremdes Volk, mit dem wir gar nichts zu schaffen haben. In alten Zeiten waren sie weit aus dem Osten her zu uns gekommen. Es waren Juden, so hießen sie.»[*]

Über dem Vorwort steht ein Satz Adolf Hitlers: «Alles, was wir tun, tun wir letzten Endes für das Kind.»[*] Für Ziel und Weg, die Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes, schrieb Haarer anlässlich eines Films, der ihrer Meinung nach die Zigeuner verharmloste: «Die Zigeuner sind stets in hohem Maße kriminell.» Sie bedrohten die Volksgemeinschaft, deshalb müsse das Ziel «die völlige Entfernung der Zigeuner aus Deutschland sein»[*]. 1937 war sie in die Partei eingetreten und schon vorher zur «Gausachbearbeiterin für Rassenpolitik» berufen worden. 1939 beantragte sie die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, um weiter publizieren zu können. Auch sie unterlag der Zensur, wenn sie ihre Texte nicht den Zeitläuften entsprechend selber bearbeitete: Die beiden Sätze «Was auch kommen mag, wir wissen: Gott hilft immer dem, der sich selbst hilft und tapfer kämpft. Er hat uns einen Führer geschickt, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat»[*] aus dem «Erzähl»-Buch tilgte sie in folgenden Auflagen; vielleicht schien ihr die Berufung auf Gott (der Führer zog es vor, von der Vorsehung zu sprechen, vor allem wenn sie sich seiner angenommen oder ihn zu den Deutschen geschickt hatte) im atheistischen «Dritten Reich» nicht mehr opportun. Die christlichen Konfessionen, so hatte sie 1937 in einem Vortrag über die «Rassenpolitischen Aufgaben des Deutschen Frauenwerks» verkündet, betrieben das «Pflegen und Fürsorgen um jeden Preis, um seiner selbst willen und ohne Unterschied, ob es sich um lebenswertes oder unwertes Leben handelt»[*]. Nach dem Krieg legte sie Wert darauf, dass sie nie aus der evangelischen Kirche ausgetreten sei und immer – trotz der hohen Abgabenlast, wie sie betont – die Kirchensteuer bezahlt habe. Pfarrer und kirchlich organisierte Krankenschwestern dankten es ihr mit Persilscheinen. Den nachfolgenden Satz, ein schönes Beispiel für die modifizierten liturgischen Redensarten der katholischen Kirche, strich sie nicht, sondern ließ ihn stehen: «Ihm [Adolf Hitler natürlich] wollen wir glauben, ihm vertrauen, ihm folgen, wohin er uns führt, jetzt und immerdar.»[*]

Bei Kriegsende kann Johanna Haarer gar nicht begreifen, warum sie interniert wird, sie war doch bloß Ärztin. Als man ihr das Strickzeug wegen Selbstmordgefahr wegnehmen will, verlangt sie die Nadeln mit der Begründung zurück, für Selbstmord habe sie ein viel zu gutes Gewissen. Im Lager sieht sie amerikanische GIs, deren Haltung «ausgesprochen schlecht» ist; außerdem «dudelten sie ihre Schlager vor sich hin».[*] Das gute Gewissen trägt sie in die Bundesrepublik hinein. Reue zeigt sie kaum; beim «Erzähl»-Buch habe sie sich «von den damals herrschenden Zeitströmungen» beeinflussen lassen. Dass sie die Juden so dargestellt habe, bedauerte sie jetzt, führte zur Entschuldigung aber an, «daß ich mit der Beeinflussbarkeit durch Zeitströmungen nicht allein stehe»[*]. In ihrer Erklärung für die Spruchkammer bittet sie um Wiederverwendung als Ärztin. «Mit gutem Gewissen glaube ich für mich eine mildere Beurteilung in Anspruch nehmen zu können und glaube sagen zu können, dass ich meine Pflichten als Bürger eines friedlichen und demokratischen Staates erfüllen werde.»[*]

Johanna Haarer kann nicht völlig ohne Erfahrung in der Kindererziehung geblieben sein, sie hatte selber fünf Kinder, doch wenn dem Zeugnis ihrer jüngsten Tochter Gertrud zu trauen ist, war sie eine angstbesetzte, tyrannische Mutter, die bis zum letzten Tag im nationalsozialistischen Denken gefangen blieb. Während sie von den Amerikanern interniert war, beging ihr zweiter Mann, der ebenfalls Arzt war, am 20. April 1946 Selbstmord, am ehemaligen Führergeburtstag, «wohl infolge geistiger Störung»[*], wie sie den Behörden versichern will. Der Mann war schwach, der Mann hat versagt.

Die ehemalige Rassen- und Gesundheitsideologin Johanna Haarer überlebte, arbeitete nach dem Krieg als Ärztin in verschiedenen Gesundheitsämtern und brachte vor allem wieder ihren Bestseller – gekürzt um das Adjektiv «deutsch» – auf den Markt. Die schlimmsten Züchtigungsmaßnahmen, besonders der militärische Ton gegen das eigene Kind, wurden zurückgenommen, die Strenge blieb. Daneben sind aber auch ganz neue Töne möglich: «Fürchten Sie sich nicht davor, Ihr Baby zu verwöhnen!»[*]

Johanna Haarer starb 1988. Im Jahr zuvor war die letzte Neuausgabe ihres Hauptwerkes «Die (deutsche) Mutter und ihr erstes Kind» erschienen, womit die Gesamtauflage 1,2 Millionen Exemplare erreicht hatte, die Hälfte davon wurde in der neugegründeten Bundesrepublik verkauft und an deutsche Mütter weitergereicht. In den Aufzeichnungen, die sie gleich nach ihrer Gefangenschaft angefertigt hatte, erklärte sie der Nachwelt, «dass wir mit heißem Herzen für unser Volk das Beste wollten. Von Unmenschlichkeiten und Missständen haben ganz besonders wir Frauen nichts gewusst.»[*] Die Männer vielleicht, aber die Frauen doch nicht, und plötzlich ist auch die emanzipierte Frau, die mit ihren Büchern genug Geld für ein stattliches Heim verdiente, in dem sie mit ihrem Mann unter einem großen Ölgemälde ihres geliebten Führers Adolf Hitler sitzen konnte, nur mehr ein armes, ahnungsloses Heimchen gewesen.

Horst Wessel und die Verteidigung des Abendlands

Im «Dritten Buch über Achim» (1961) von Uwe Johnson kommt aus ostdeutscher Perspektive die Rede auf Westdeutschland, auf Hans Globke also und auf Konrad Adenauer, «der zum Gesicht des Staates vor der Welt einen Irgend bestellte, der nämlich den Bertolt Brecht verglichen hat mit einem Zuhälter und Schläger»[*]. Der namenlose «Irgend» war Heinrich von Brentano, der erste Außenminister der Bundesrepublik und, obwohl dem Namen nach der Literatur zugehörig, ein richtiger Barbar. Am 9. Mai 1957 missbilligte er ein Gastspiel des Bochumer Schauspielhauses in Paris mit Bert Brechts «Dreigroschenoper» und erklärte, dass «die späte Lyrik des Herrn Brecht nur mit der Horst Wessels zu vergleichen» sei,[*] jenes Horst Wessel, der für die Nazis das Lied «Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen» gedichtet hatte. Kommunisten hatten Wessel 1930 umgebracht, und so war er zum Märtyrer der Nazis avanciert.[*] Brecht aber galt im Westen als Gottseibeiuns, weil er sich nach der Rückkehr aus dem Exil in Ostberlin niedergelassen hatte.

Der Verleger Peter Suhrkamp musste den Außenminister in einem Brief, der auch in der Frankfurter Allgemeinen erschien, daran erinnern, dass Brecht Deutschland 1933 nicht ganz freiwillig verlassen hatte, während er, der Außenminister, «in Deutschland» seinem bürgerlichen Beruf als Staatsanwalt habe nachgehen können.[*] Suhrkamp, der 1944 verhaftet worden war und mehr als ein Jahr in Gestapo-Haft verbracht hatte, brauchte nicht eigens darauf hinzuweisen, dass Brentano als Staatsanwalt im «Dritten Reich» keineswegs neutral gewesen war, sondern einem Unrechtsregime gedient hatte. Doch verstieß Suhrkamp mit dieser Andeutung gegen ein Tabu der frühen Bundesrepublik: Es war ungehörig, einem Amtsträger der neugeborenen Demokratie, gar dem Gesicht des Staates vor der Welt, den unterlassenen Widerstand im «Dritten Reich» vorzuhalten. Brentano, so deutet der gar nicht untertänige Verleger an, habe offenbar Bildungslücken, eine Leseempfehlung also: In der Zeitschrift Akzente gebe es «einige sehr schöne Gedichte aus dem Nachlaß» Brechts zu lesen.[*]

Brentano wusste sich selbstverständlich zu wehren. Hochherrschaftlich fand er sich durch Suhrkamps Brief «peinlich berührt», «wegen seiner Form, die eine eigenartige Mischung aus Anmaßung und Unduldsamkeit darstellt»,[*] denn ein Brief an einen Minister, über die Zeitung verbreitet, das gehörte sich einfach nicht, das war, in den Begriffen der Bonner Regierung, «peinlich». Wie es der Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten bereits 1947 versucht hatte, hielt Brentano dem im Vorjahr verstorbenen Brecht das Gedicht «Lob des Kommunismus» vor, dazu seine (angebliche) Ergebenheitsadresse an Walter Ulbricht nach dem 17. Juni 1953 und den Stalin-Preis. Vor allem hielt er ihm vor, dass er zum Feind übergelaufen war. In der zeitüblichen Aufrechnung der beiden deutschen Diktaturen wurden nicht nur Nationalsozialismus und Kommunismus gleichgesetzt, es musste die jüngere, die kommunistische, unweigerlich als die schlimmere dastehen. Brecht sei es doch offenbar nur darum gegangen, schrieb Brentano in seiner Erwiderung, «die Unfreiheit des Dritten Reiches durch die Sklaverei des Bolschewismus, die Schändung des Rechts im Nationalsozialismus durch die Herrschaft des Verbrechens im Kommunismus zu ersetzen»[*]. Ganz abgesehen von der Frage, was Brecht wollte, für den Außenminister Westdeutschlands war der Nationalsozialismus als «Unfreiheit» noch erträglicher als die «Sklaverei», die er jetzt im Osten vorfand. Dass er selber an der Schändung des Rechts beteiligt gewesen war, verblasste, wenn er auf die Verbrechen des Kommunismus zeigen konnte. Brentano lieferte damit die offizielle Exkulpation für das nationalsozialistische Staatsverbrechen – was war das schon, gemessen am Kommunismus, und außerdem waren alle Nationalsozialisten tot, oder?

Der Brentano-Nachfahr hat wahrscheinlich nie ein Wort des bekannt schwierigen Johnson gelesen, jedoch schien sich 1961 Gelegenheit zur Rache und staatlichen Züchtigung durch Subventionsentzug zu bieten. Johnsons Roman mit den Invektiven für die Adenauer-Republik war im Suhrkamp-Verlag erschienen und von der Kritik hoch gelobt worden. Der Schriftsteller Hermann Kesten behauptete fälschlich, der aus der DDR ausgesiedelte Kollege habe bei einer Veranstaltung in Rom den Bau der Mauer begrüßt. Brentano war inzwischen als Außenminister zurückgetreten und führte die CDU/CSU-Fraktion an, für die er sich in einer Aussprache des Bundestags grundsätzlich zur Freiheit, wenn auch nicht zur Meinungsfreiheit bekannte. Als eklatantes Beispiel für ihren Missbrauch konnte er den Auftritt des Schriftstellers Johnson anführen, dem zu seinem, Brentanos, Entsetzen auch noch als staatliches Stipendium ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom zuerkannt worden war. Unter Beifall seiner Fraktion forderte Brentano, die «zuständigen Instanzen» möchten sich doch bitte darum kümmern, dass so jemand nicht mehr «als Stipendiat und Sprecher in das Ausland geschickt» werde. Zwar gestand Brentano allen «Gewissensfreiheit» zu, aber die «staatsbürgerliche Freiheit des Einzelmenschen bedarf des sittlichen Korrelats der Bindung», denn «zu viel Freiheit, ach, sie schadet nur». Vorsichtshalber forderte er bei dieser Gelegenheit auch noch eine «größere Einflußnahme auf die Gestaltung unserer Jugend- und Erwachsenenbildung».[*]

 

Mit der Bildung lag vor allem bei der Jugend einiges im Argen. Das wusste nicht nur der Volkswartbund, jede Wochenschau konnte davon berichten, wenn mit Reichssender-Gedröhn zwar nicht mehr von Siegen an der Ostfront, aber von Autorennen, Fußballturnieren und Produktionsrekorden beim Volkswagen berichtet wurde. Den zwangszivilistischen Erfolgsnachrichten folgte gern ein Feuilleton, in dem man sich über die Auswüchse der Jugendkultur lustig machte: Der Rock ’n’ Roll, der in harmloser Form ab 1956 auch in Westdeutschland Anhänger fand, wurde in bester Tradition als negroide Verirrung vorgestellt. Der Reporter freute sich mit dem Publikum, wenn er die erschreckend unkonventionellen Tänze mit dem Motto «Wehe, wenn sie losgelassen!» vorführen konnte.