Der Schattenmann - Willi Winkler - E-Book

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Willi Winkler

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Beschreibung

Keiner kennt ihn, und nicht wenige bezweifeln, dass es ihn überhaupt gegeben hat. Aber für dieses Dunkel hat er selbst gesorgt: François Genoud, Schweizer Bankier, überzeugter Nazi, Förderer des Linksterrorismus. Wer war dieser Mann, in dessen Person sich die Extreme des 20. Jahrhunderts in einzigartiger Weise berühren? Während des «Dritten Reichs» war Genoud für den deutschen Geheimdienst tätig und konnte sich später die lukrativen Rechte an den Schriften von Joseph Goebbels sichern. In den Fünfzigern engagierte er sich im algerischen Befreiungskampf, dann wandte er sich den palästinensischen Terrororganisationen zu, die für Entebbe, Mogadischu und das Massaker in München 1972 verantwortlich waren. Es fiel Genoud nicht schwer, Wadi Haddad und Carlos bei Flugzeugentführungen, Attentaten und Erpressungen zu unterstützen und zugleich Kriegsverbrechern wie Adolf Eichmann und Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, beizustehen. Willi Winkler erzählt von einem Mann im Hintergrund, einem Strippenzieher, der mit den wichtigsten Geheimdiensten verbandelt war – und er zeichnet das Psychogramm dieses Schattenmanns, dessen Geschichte ein ganz neues Licht auf das Netzwerk alter und neuer Nazis und deren Verbindungen zum Linksterrorismus wirft.

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Willi Winkler

Der Schattenmann

Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse Leben des François Genoud

Inhaltsverzeichnis

Zitat

Einleitung

1. Bildnis eines jungen Mannes

Exkurs: Der rasende Mitläufer

2. Das Ende, ein Anfang

3. Der Handlungsreisende

4. Schwankende Gestalten

Exkurs: Der Gehilfe

5. Der Reichsverweser

6. Politisches Zwischenspiel: Die Naumann-Verschwörung

7. Joseph Goebbels bleibt umstritten

8. François Genoud schreibt für Hitler

9. Ein Geschäft: Adolf Eichmann

10. Ein weiteres politisches Zwischenspiel: Algerien

11. Die Welt wird rot

12. Die Internationale des Terrors

13. Am Beispiel einer Flugzeugentführung

14. Joseph Goebbels wird endlich respektiert

15. Carlos

16. Der Vertrauensmann

17. Freischärler

18. Barbie kehrt heim

19. Goebbels, noch einmal

20. Späte Abenteuer

Ein Letztes

Abkürzungen

Anmerkungen

Auswahlbibliographie

Danksagung

«Vernunft und Wissen jedoch haben im Leben der Völker stets nur eine zweitrangige, eine untergeordnete, eine dienende Rolle gespielt – und das wird ewig so bleiben!»

Der Student Schatoff in Fjodor M.Dostojewskis Roman «Die Dämonen», wie ihn Joseph Goebbels zitiert1

Einleitung

Für eine gute Geschichte hat die folgende einfach zu viele Namen. Das buntscheckige Personal der letzten sechzig, siebzig Jahre tritt auf, Nationalsozialisten, Politiker, Kirchenleute, Bandenchefs, Terroristen, dazwischen auch Verleger und Anwälte. Der Schauplatz wechselt von Bonn am Rhein an den Genfer See, von München nach Buenos Aires, Jerusalem, Beirut, Moskau, Paris. Wer soll da den Überblick behalten?

Mitten in diesem Durcheinander befindet sich ein Mann, der so dicht von Legenden umwuchert ist, dass ihn niemand kennt. Alles Mögliche wird ihm zugeschrieben: dass er «Odessa» aufgebaut hat, die Fluchthilfeorganisation für ehemalige SS-Angehörige; dass er nach dem Zweiten Weltkrieg das fabulöse Nazi-Gold in die sichere Schweiz geschafft hat; und dass er von dort aus wie eine Spinne im Netz einer weltweit operierenden Verschwörung auf ein «Viertes Reich» hinarbeite. 1986 – fünfzehn Jahre vor dem Angriff auf das World Trade Center – soll er sogar versucht haben, die Freiheitsstatue in New York in die Luft zu sprengen.

Der Mann, um den es hier gehen soll, war aber kein Terrorist, sondern ein solider Geschäftsmann, ein Schweizer, wie er im Kontorbuch steht. Diskrete Geldgeschäfte waren seine Spezialität. Er verfügte über internationale Verbindungen, pflegte einen bescheidenen Lebensstil und war selbstverständlich ein liebevoller Familienvater.

François Genoud führte nicht nur ein unauffälliges, sondern ein mustergültig normales Leben und kam niemals mit den Gesetzen seines Landes in Konflikt. Trotz seines ungewöhnlichen Treibens, das ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis hätte bringen müssen, ist er nie belangt worden. Er spazierte bei den Schweizer Bundesbehörden ebenso munter ein und aus wie im Hauptquartier von Wadi Haddad in Beirut, bei einem Mann, der tatsächlich das Gehirn einer schlagkräftigen, rücksichtslosen und international operierenden Terrorgruppe war.

Nein, Genoud war kein Großverbrecher, er hat kein Blut an den Händen, er war bloß ein freischaffender Nazi. Geschehen ist ihm nie etwas. In Algerien landete er zwar einmal kurz im Gefängnis, wurde jedoch mit Hilfe der Schweizer Regierung bald befreit. Er hatte regelmäßigen Umgang mit Waffenhändlern und Freischärlern, mit Luftpiraten und Erpressern, sogar ein Bombenanschlag wurde auf ihn verübt, doch er blieb unverletzt. Seine Freunde starben wie die Fliegen, wurden ermordet, fielen Anschlägen oder dubiosen Unfällen zum Opfer, verschwanden spurlos oder wanderten auf Lebenszeit ins Gefängnis, doch Genoud blieb immer ein freier Mann, der durch die Welt reiste, angeregte Gespräche führte und seine großen und kleinen Geschäfte machte. Wie ein Parzival ist er durch die Welt gegangen, ein weißer Ritter, der scheinbar ganz allein für seine Ideale kämpfte.

In früheren Zeiten hätte man einen Schutzengel am Werk gesehen, der einen vor jeder Art von Gefahr oder Nachstellung bewahrt. Für Genoud wirkten moderne Schutzengel. Bereits während des Zweiten Weltkriegs war er Geheimagent nicht nur einer Seite und flitzte munter zwischen der Schweiz und Deutschland, zwischen Belgien, Frankreich und wieder der Schweiz hin und her. Seine Schutzengel waren immer in der Nähe und traten in unterschiedlichster Gestalt auf: Revolutionäre, Gestapo-Leute, Geheimdienstoffiziere, gern auch Wissenschaftler und Verleger.

Genoud charmierte sie alle mit seiner Freundlichkeit, mit seinem ausgesucht höflichen Benehmen, seiner Hilfsbereitschaft und mit dem, was er seinen Idealismus nannte. So gelang es ihm, obwohl Doppel- und Tripel-Agent, ein klandestines Leben im vollen Licht der Öffentlichkeit zu führen.

Ende der sechziger Jahre beginnt die Schweizer Bundespolizei den Bürger Genoud zu überwachen. Allein in den Jahren 1969 und 1970 fährt er hundertneunundachtzig Mal durch die Schweiz, besucht sechzehn Mal Deutschland, fünfundzwanzig Mal Frankreich, drei Mal Großbritannien, neun Mal Italien, vier Mal Spanien, drei Mal Libyen, sechs Mal den Libanon und fünf Mal Ägypten.2 Warum? Und nicht weniger interessant: Wer bezahlt das?

Geheimdienste verraten gewöhnlich nichts über ihre Mitarbeiter. Eine regelrechte Biographie dieses immer flüchtigen Agenten ist deshalb kaum möglich, zu unbestimmt ist sein flackerndes Erscheinen, zu wenig greifbar sind seine Taten. So lässt sich allenfalls ein Bewegungsbild nachzeichnen, auf dem wenigstens in Andeutungen zu erkennen ist, mit welcher Energie dieser Schattenmann seine dubiosen Anliegen betrieb. Akten müssen helfen, wo verlässliche Aussagen fehlen, Abhörprotokolle widersprüchliche Erinnerungen ergänzen, und ohne Spekulationen über diesen rätselhaften Menschen wird es nicht gehen.

Zunächst aber die Fakten: Zur Jahreswende 2004 auf 2005 erreichte die Rechtsanwältin Cordula Schacht auf Briefpapier der Georg-August-Universität Göttingen die Anfrage, ob sie mit dem Abdruck zweier Gedichte einverstanden sei. Professor Frank Möbus schrieb diesen Brief, und die Gedichte wollte er in einem wissenschaftlichen Aufsatz zitieren, als Beleg für jugendbewegte Lyrik, die Leser, zugegeben, auch ein wenig irreführen, weshalb der Aufsatz nicht gleich offenbart, wer der Autor war, der mit Anfang zwanzig so ekstatisch reimte: «Ich fluche Dir, dreieinger Gott,/​Daß Du mich ließest werden,/​Und hasse nichts, wie Dich, Phantom,/​Auf dieser ganzen Erden./​Gib mir ein Beil, und ich zerschlag/​Dir Deine Paradeisen,/​Und will der Menschheit einen Weg/​Zu neuem Glücke weisen.»3

Das Reimpaar «Paradeisen/​weisen» widerlegt sogleich die Vermutung, hier handle es sich womöglich um einen sträflich vernachlässigten Poeten oder wenigstens das unbekannte Jugendwerk eines berühmten. Das «Nachtgebet», aus dem die zitierten Zeilen stammen, liegt mit Hunderten weiterer Blätter im Bundesarchiv Koblenz und ist der Forschung zugänglich wie Millionen anderer Blätter auch, Verordnungen, Erlässe, Bescheinigungen, Aktennotizen, Vorgänge der banalsten Sorte. Lyrische Werke wie das zitierte sind in diesem Schatzhaus deutscher Regierungs- und Verwaltungsgeschichte seltener anzutreffen, falls sie nicht von einem anderweitig prominenten Autor stammen. Und so ist es auch hier, der Mann, der Gott sein blasphemisches Gebet entgegenschmetterte, heißt Joseph Goebbels, und war 1919, als er es heißen Herzens niederschrieb, ein ehrgeiziger, wenn auch seiner katholischen Herkunft noch kaum entronnener Dichter.

Einen Erstabdruck könne sie nicht kostenlos genehmigen,4 schreibt die Anwältin nach Göttingen zurück. Sie habe die Interessen der Erben Goebbels’, seiner Geschwisterkinder, zu wahren.5 Frau Schacht wacht über das Urheberrecht des Dichters wie des Ministers Joseph Goebbels.6 Als Juristin betrachtet sie dieses Recht selbstverständlich ohne Ansehen der Person und kümmert sich auch nicht darum, dass aus dem eifrigen Jüngling, der da so flehentlich schreibt (oder auch nur um Worte ringt), der berüchtigte nationalsozialistische Hetzer wurde, der niemals um ein pathetisches Wort verlegene Propagandaminister Hitlers, jener fanatische und fanatisierende Redner, der am 18.Februar 1943 im Berliner Sportpalast nach der Kapitulation der 6.Armee in Stalingrad erst recht zum «totalen Krieg» aufrief: «Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!»

Das Urheberrecht ist ein ehrwürdiges Rechtsgut, und nirgends wird es höher gehalten als in Deutschland. Der Schöpfer eines sprachlichen Werks – und als solches können bei großzügiger Auslegung auch Briefe, Tagebuchnotizen, Äußerungen in jeder, aber unbedingt fixierter Form gelten – erwirbt im Augenblick der Niederlegung ein ausschließliches Recht an seinen Worten, das er auch dann, wenn er diese Worte aus der Hand gibt und von einem Verlag drucken lässt, nur als Nutzungsrecht überträgt. Das ist die Voraussetzung für eine Honorierung, ein Entgelt für jeden Abdruck (so er überhaupt genehmigt wird), und zwar noch siebzig Jahre über den Tod des Urhebers hinaus. Das heißt in diesem wie im Fall jedes anderen Autors, dass jedes Mal, wenn urheberrechtlich geschützte Werke von Joseph Goebbels veröffentlicht werden, Tantiemen an seine Erben fällig werden. So werden seine Worte beispielsweise vom Bayerischen Rundfunk als «Kleines Senderecht» mit 3,34Euro pro zehn Sekunden vergütet.7 Bei Peter Longerichs Goebbels-Biographie (München 2010) werden die Erben sogar am Absatz beteiligt. Mit der historischen Person Goebbels, mit seinen bekannten Taten und Untaten, hat das Urheberrecht nichts zu schaffen.

Dieses rechtskonforme Verhältnis zu einem der größten Kriegsverbrecher nimmt manchmal groteske Formen an: Zwei Jahre lang ist die Schauspielerin Iris Berben durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gereist, um parallel aus dem Tagebuch von Anne Frank und jenem von Joseph Goebbels zu lesen, in bester erzieherischer Absicht natürlich. Die Zuhörer sollten mit der Nase darauf gestoßen werden, was den verfolgten Juden im «Dritten Reich» geschah, denen der Propagandaminister unermüdlich drohte. Das Rechtsverhältnis ist eindeutig: Da sie nach wie vor beansprucht werden, sind für jeden der fünfzig Auftritte Tantiemen für Goebbels angefallen. «Um die Aufführungsrechte erhalten zu können», hat der Veranstalter Carpe Diem mit Cordula Schacht eine Pauschalvereinbarung getroffen, schon weil eine «Pauschale keinerlei Abrechnungsdifferenzen aufwirft».8 An die Erben von Anne Frank musste übrigens keine wie immer geartete Pauschale gezahlt werden, anders als an die Erben des Mannes, der – um seine Rolle zu vereinfachen – für ihren Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen wenigstens mitverantwortlich ist. Goebbels kostet Geld, er bringt Geld, und er hat das Recht auf seiner Seite.

Goebbels ist lange tot; er starb 1945 mit seinem Herrn und Meister, aber das Urheberrecht lebt. Deshalb ist Goebbels bis heute (und noch bis Ende 2015) kostenpflichtig und ein gutes Geschäft. Dafür hat unser Mann aus der Schweiz gesorgt, ein glühender Nazi, dessen jugendliche Begeisterung für Hitler und das «Dritte Reich» ins Grenzenlose wuchs, als beide untergegangen waren. Dieser Herr – und natürlich handelt es sich um François Genoud – war kein Jurist und kein richtiger Verleger, nicht einmal Mitglied der NSDAP oder sonst einer Nazi-Verbindung war er, sondern bloß ein sympathisierender Außenseiter, dem es darum ging, ausgerechnet an den Größen des «Dritten Reiches» ein angebliches Unrecht gutzumachen, das die Besatzungsmächte, das die Geschichte und nicht zuletzt das ehrvergessene deutsche Volk ihnen angetan hatten.

Hitler, Goebbels, Bormann – diesen Männern, die nach seiner Meinung «so durchgreifend und groß auf den Gang der Weltgeschichte eingewirkt haben»,9 galt sein ganzer Einsatz. François Genoud war ein Nazi, aber kein finsterer Weltverschwörer, sondern ein friedfertiger Mann, dem es bei allem, was er trieb, angeblich immer nur um das Gute ging. Ganz gleich, ob er sich um die alten Nazis und ihre Angehörigen kümmerte, ob er dafür sorgte, dass ein Massenmörder wie Klaus Barbie vor Gericht effektvoll vertreten wurde, oder ob er als Komplize arabischer Terroristen durch die Welt reiste – für ihn war das alles nur sein bescheidener Beitrag im Kampf der Armen gegen die Reichen, der Rechtlosen gegen die Machthaber.

Mit seinem Faible für den Nationalsozialismus stand er keineswegs allein, wenn es auch nach 1945 nicht mehr so viele gab, die ihrer Begeisterung derart leidenschaftlich Ausdruck verleihen mochten. Über Nacht war aus dem Volk, das dem Führer zugejubelt hatte, ein Volk von Widerstandskämpfern geworden, die alle von Anfang an dagegen gewesen waren. Genoud gehörte nicht dazu, aber er war ja auch kein Deutscher. Die Kapitulation des Deutschen Reiches begriff er nicht bloß als Niederlage, sondern als seinen Auftrag. Seine Arbeit begann erst jetzt.

Für Genoud war Hitler kein Menschheitsverbrecher, für ihn war er ein Idealist, einer, der es allenfalls bei den Juden übertrieben hatte, und mit Auschwitz habe er sowieso nichts zu tun. «Das ist alles falsch», behauptete er noch bis zum Schluss. «Es gibt doch sogar Dokumente dafür.»10 Erst in der deutschen Niederlage fand Genoud seine Bestimmung und Berufung. Wenn ihn auch alle verraten hatten, er würde in Treue fest zu seinem Führer halten und in einer Welt von Feinden bewahren, was allgemein in Acht und Bann getan war. Jahrzehnte nach Hitlers Tod lebte und webte sein umtriebiger Handelsvertreter weiter und wirkt durch das Urheberrecht sogar über den eigenen Tod hinaus.

«The truth is, I loved Hitler»,11 gestand er der britischen Journalistin Gitta Sereny. Diese Liebe kannte keine Grenzen. Ob einer seiner Helden dem Regime bis zuletzt angehört hatte wie Goebbels oder auch Bormann, ob er sich davon entfernt hatte wie Hjalmar Schacht, ob die Paladine untereinander verfeindet waren und sich gegenseitig bekämpften, ob sie die bequeme Mittellage des künstlerischen Desinteresses an der Politik vorschützten wie Leni Riefenstahl – das alles kümmerte Genoud wenig. Wie bei einem Reliquiensammler des ausgehenden Mittelalters begeisterte ihn alles, worauf einst das Auge der NS-Herren geruht, was ihre Hand berührt, ihr Kopf gedacht hat – und am besten war, dass sich mit diesen Relikten auch noch munter Handel treiben ließ. So wurde Genoud Gralshüter und Marketender zugleich und konnte seine beispiellose Verteidigung des Nationalsozialismus als Ehrensache verfolgen.

Sicherlich faszinierte ihn auch das Hasardspiel in der permanenten, staatlich geduldeten Illegalität, hatte er eine unbändige Freude an den Haken, die er zwischen der Schweiz und Deutschland, zwischen Europa und dem Orient, zwischen Links und Rechts schlagen konnte, ohne für irgendetwas belangt zu werden. Wie auch? Genoud wechselte seine Schauplätze, seine Themen, seinen Umgang oft mit dem Monat, und dann wieder ist über Jahre nichts von ihm zu hören.

Wer sich auf die Suche nach ihm macht, wundert sich, wie vielen François Genoud ein Begriff ist – und wie wenige sich zu ihm äußern wollen. Im Internet hat seine Figur inzwischen ungeheure Ausmaße angenommen, ist er zur bête noire des unausrottbaren Nationalsozialismus geworden, von der angeblichen Verschiffung Tausender Nazis nach Südamerika bis zur Rettung des fantastischen SS-Schatzes. Jenseits dieser immer wieder gern erzählten Kolportage ist allzu wenig darüber bekannt, wie das Geschäftsmodell Genoud funktionierte, wie es ihm gelang, sich urheberrechtliche Nutzungsrechte an Hitler, Bormann und Goebbels zu verschaffen – und vor allem, wer ihm dabei behilflich war. Ohne gute Freunde geht es nicht. Genoud hatte sein Leben lang gute Freunde in einflussreicher Position, ja, es scheint, als schützten sie ihn noch über den Tod hinaus.

Das Seltsamste bei alledem ist vielleicht gar nicht einmal der Mann jenseits von Links und Rechts, der sich in nationalsozialistische Unternehmen mit gleicher Begeisterung wie in terroristische stürzte, sondern das sind Männer und Frauen, die selber jeder Nähe zum – sei es deutschen, sei es arabischen – Nationalismus unverdächtig, Genouds Treiben über die Jahrzehnte nicht bloß geduldet, sondern gedeckt und immer wieder unterstützt haben.

Ein Mann, dem nachgesagt wird, Gäste in seiner Wohnung unter einer Nazi-Fahne empfangen zu haben,12 der Hitler einen «Mann des Friedens» nannte und Martin Bormann als seinen «Helden» bezeichnete, der Bewunderung für Eva Braun empfand und den systematischen Judenmord bestritt, sollte in gesitteten Kreisen Mitteleuropas nicht mehr empfangen werden, jedenfalls nicht mehr in den sechziger oder siebziger Jahren. François Genoud war aber in diesen gesitteten Kreisen nicht bloß gerngesehener Gast und als Plauderer geschätzt, er war ein gesuchter Geschäftspartner bei renommierten Verlagen. Er ging, wenn er es wollte, bei Bischöfen, bei Ministern, bei staatlichen Einrichtungen ein und aus, unterhielt sich mit Geheimdienstbeamten, verhandelte mit Fluggesellschaften – und beteiligte sich an Flugzeugentführungen, um dieselben Firmen zu erpressen.

Er nutzte Gelegenheiten und Freunde, beseelt (wenn man es so nennen will) von einem geradezu wahnhaften Idealismus, der ihm eingab, ausgerechnet Adolf Hitler und den Seinen müsse Gerechtigkeit werden.

Seine Geschäftspartner lachten über ihn, sie schüttelten den Kopf, fanden diese Nazi-Begeisterung aber dann doch recht amüsant und sahen darin gewiss kein Geschäftshindernis. Nazi geht immer, und Genoud saß nun einmal auf dem Material. Sein durchschlagender Erfolg wäre nicht möglich gewesen, hätte Genoud nicht immer und überall zumindest Förderer, Nutznießer und aus den verschiedensten Gründen Interessierte gefunden. Er hatte etwas anzubieten, was verboten und gleichzeitig begehrt war, Hehler-Ware gewissermaßen, die er im Verschwörer-Ton feilbot.

Genoud ist eine einmalige und trotzdem beispielhafte Figur, an der sich die ganze Unsicherheit der Nachkriegszeit zeigen lässt: das Schwanken zwischen Links und Rechts, das Liebäugeln mit der Gewalt, die Möglichkeit, mit Ideologie, wie extrem auch immer, Geld, viel Geld zu verdienen. So wenig er den nachhitlerischen, den demokratischen Staat achtete, so gründlich hat er sich des Rechtsstaats bedient, um im Namen der großen Verbrecher sein eigenes Recht durchzusetzen.

Ob das alles seine juristische Richtigkeit hat, ist zumindest zweifelhaft. Genoud hat keineswegs jeden der vielen Prozesse, die er führte, gewonnen, doch ein endlich erzielter Vergleich sichert bis heute den Zugriff auf dieses Erbe. Martin Broszat, damals als Leiter des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) sowohl Leidtragender wie Nutznießer des Genoud’schen Sonderrechts, nannte dies 1989 einen «für die Zeitgeschichtsforschung moralisch-politisch nur schwer erträglichen Zustand»,13 doch zahlte auch das IfZ Genoud «nach langem Hin und Her wohl oder übel eine hübsche Summe Geld»,14 und das nicht nur einmal.

Mit etwas Takt, mit etwas politischer Entschlossenheit hätte sich das Ärgernis auch außerjuristisch bereinigen lassen. In einem Leserbrief an den Spiegel hatte Robert M.W.Kempner, der ehemalige Stellvertretende US-Hauptankläger in Nürnberg, schon 1973 darauf hingewiesen, dass bei den Tagebüchern des deutschen Ministers Joseph Goebbels von einem auf eigene Rechnung entstandenen künstlerischen Werk keine Rede sein könne: «Soweit Entschädigungen [für Schäden, die durch Goebbels mitverursacht wurden] durch die Bundesrepublik erfolgt sind, kann das Bundesfinanzministerium Regreßansprüche gegen die Erlöse aus der Goebbels-Erbschaft geltend machen.»15

Daraus ist bis heute nichts geworden. Bei der Frage, wie lang denn dieser Skandal noch andauern soll, zeigt ein Ministerium aufs andere, und jeder weist alle Verantwortung weit von sich. Im Innenministerium wollen sie sich «um die Beantwortung Ihrer Fragen bemühen, bitten jedoch um etwas Geduld»,16 um diese Bemühungen nach vier Monaten und wiederholten Nachfragen lapidar zu beenden: «Für Urheberrechtsfragen ist das BMJ [Bundesministerium der Justiz] zuständig.»17 Für die Rechte an Joseph Goebbels sei der «Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM)» zuständig, sagt das Bundesinnenministerium,18 aber das Staatsministerium für Kultur kann sich «mangels eigener Zuständigkeit» nicht äußern.19 Dem Justizministerium ist «der Sachverhalt nicht detailiert1* bekannt», außerdem liege es «nicht in unserer Zuständigkeit, diesen Sachverhalt aufzuklären»,20 was schon deshalb seltsam ist, weil das Finanzministerium dazu auffordert, sich «zuständigkeitshalber» an das Justizministerium zu wenden.21

Genoud lebt, auch wenn er gestorben ist, und mit ihm das nationalsozialistische Erbe.

1.Bildnis eines jungen Mannes

In ihrer Oktober-Ausgabe 1996 brachte die revisionistische Zeitschrift L’Autre histoire einen kurzen Nachruf auf den «Éditeur, révolutionnaire, croyant» François Genoud. Es ist ein schöner Brauch, über die Toten nichts Böses zu sagen, und so wusste auch dieser Nachruf nur Gutes zu melden. Der Verstorbene, hieß es da, «hat den Tod des großen Hannibal gewählt und ist in die letzte Ruhestätte der Helden eingegangen». Bei dem revolutionären Verleger handelte es sich offenbar um einen Idealisten: «Er hat seine ganze Existenz der Verteidigung seiner Ideale und dem Kampf für das Recht auf die Selbstbestimmung der Völker geweiht.»

Wäre da nicht die germanische Rune gewesen, unter der die Todesnachricht bekanntgemacht wurde, der unbefangene Leser hätte an einen Philanthropen, einen Menschheitsfreund, denken können. Denn hatte nicht auch der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, auf den die Idee eines Völkerbunds zurückgeht, das «Selbstbestimmungsrecht der Völker» gefordert?

Aber François Genoud war kein Philanthrop, sondern ein Nazi.

François Genoud war zwar kein geborener, dafür aber ein gelernter und zudem erstaunlich lernfähiger Nazi. Die Grundlage für jene Ideale, die ihm in der völkischen Traueranzeige nachgerühmt wurden, hatte ihm Adolf Hitler vierundsechzig Jahre zuvor höchstpersönlich geliefert. Im Herbst 19321 wird der siebzehnjährige Lehrling Genoud bei der Rückkehr von einem Ausflug in Bad Godesberg Adolf Hitler vorgestellt. Der befindet sich auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Macht und bebt in der Erwartung, bald in die Reichskanzlei einzumarschieren. Der amtierende, längst bedeutungslose Kanzler Franz von Papen kann nur mehr mit Notverordnungen regieren; die NSDAP ist bereits die stärkste Kraft im Land. Nicht nur immer mehr Deutsche, sondern auch viele ausländische Beobachter erwarten von Hitler, dass er Ordnung schafft und das durch die Kriegsfolgen und die Weltwirtschaftskrise gebeutelte und politisch zerrissene Deutschland wieder stabilisiert. Hitler wiederum grüßt in dem fremden Knaben die Zukunft: «Eure Generation wird Europa erbauen»,2 soll der Führer zu ihm gesagt haben, vielleicht auch, dass «wir zusammen mit eurer Generation ein brüderliches Europa aufbauen werden».3 Der spätere Idealist ist tief ergriffen, weniger von den bedeutenden Sätzen, an die er sich noch im hohen Alter erinnert, als vielmehr vom Charisma des Führers. Hitler wird für diesen Atheisten zum Heiland, und wie es sich für den wahrhaft Gläubigen gehört, wird seine Verehrung nie nachlassen. «Er war mein Held», bekennt er stolz, noch Jahrzehnte später, und fügt ohne einen Anflug von Reue oder Bedauern hinzu: «Er ist es immer noch.»4

Seit dieser Begegnung im Godesberger Rheinhotel Dreesen ist Genoud glühender Nationalsozialist. Er interessiert sich allerdings nicht für Parteiungen und Fraktionskämpfe, sondern lediglich für das, was er als die nationalsozialistische Idee ansieht. Leider ist ihm als Schweizer die Möglichkeit verwehrt, der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen beizutreten; umso entschiedener wird sich sein Einsatz für die Sache gestalten. Seine Umgebung bestärkt ihn. Der junge Mann absolviert eine Lehre bei Wilhelm Strauven, einem Geschäftsfreund seines Vaters. Strauven gehört zum rechtsradikalen «Stahlhelm», der Hitlers NSDAP stützt und ihm wenige Monate nach der Begegnung zur Machtergreifung verhilft. «Mir ist erst viel später klar geworden, wie sehr mein Lebensweg vom Schicksal bestimmt wurde»,5 weiß Genoud, als er 1985Bilanz zieht, und sein Schicksal war nun einmal Hitler, an dem er deshalb dieses Leben lang in unwandelbarer Treue festhalten wird. Es war mehr als Gefolgschaft – auch wenn Genoud manchmal an einen feudalen Lehnsmann erinnert–, es war mehr, viel mehr. «Ich bin immer bereit, denen zu verzeihen, die ich liebe, und die Wahrheit ist, ich habe Hitler geliebt.»6

Diese Liebe teilte er ab 1933 mit Millionen deutscher Männer und Frauen, die ihren Führer mit wahrer Inbrunst verehrten – doch anders als sie fiel er nach der Niederlage von 1945 nicht vom Glauben ab. Hitler versprach seinen Deutschen ihr Selbstbewusstsein wiederzugeben, die massenhafte Gefolgschaft war auch ein Angebot an den Einzelnen, sich von familiären Bindungen zu befreien und sich stattdessen einer neuen, selbstgewählten Gemeinschaft anzuschließen. So wurde Hitler für Genoud zu einem besseren Vater: zu allem entschlossen, eine überlebensgroße Leitfigur, zu der man aufschauen konnte. Genouds leiblicher Vater war zwar ein erfolgreicher Geschäftsmann, aber eben nur ein Geschäftsmann und keiner, der wie der fanatische Hitler für seine Ideale gekämpft hätte.

Die Lausanner Familie, in die Genoud 1915 hineingeboren wurde, ist mehr nach Frankreich orientiert, wo die Vorfahren des Vaters herkommen. Frankreich gehörte im Ersten Weltkrieg zu den Gegnern Deutschlands, und der Vater bleibt im Herzen deutschfeindlich, zeigt sich aber pragmatisch. «Du weißt, was ich von ihnen denke, ich verabscheue sie. Aber sie haben Eigenschaften, die bei uns in der Familie schrecklich fehlen: Ordnung und Disziplin.»7 Deshalb schickt er den Sohn, der noch vier Geschwister hat,8 nicht etwa in die deutschsprachige Nordschweiz, sondern gibt ihn mit Blick auf eine künftige Geschäftslaufbahn gleich auf eine Schule in Deutschland. 1931 wird Genoud in das protestantische Melanchthonstift in Freiburg im Breisgau aufgenommen. Das 1917 gegründete Institut ist alles andere als eine nationalsozialistische Pflanzstätte, es hat vielmehr zum Ziel, «den badischen Beamtenstand und die Pfarrerschaft durch Zuführung eines Nachwuchses zu ergänzen».9 Einer der Lehrer im Stift ist der Pfarrer Arnold Hesselbacher, der von 1943 an zum widerständigen «Freiburger Kreis» gehört. Unter den badischen Honoratiorenkindern ist Genoud gewiss ein Außenseiter, aber seinen Mitschülern fällt er nicht durch extremistische Ansichten auf. Er ist ein Durchgangsschüler mit lauter guten Noten (Betragen: 1, Fleiß: 2) und besucht das Institut ohnehin nur ein Jahr lang. An Ostern 1932 wird für «Francis» vermerkt: «Tritt aus Schule und Stift aus.»10

Der Vater führt in Lausanne ein Tapetenunternehmen, sein Geschäftsfreund Strauven in Bonn eine Papierfabrik, und in dieser setzt der sechzehnjährige Genoud seine Ausbildung mit einer Lehre fort. Doch auch in Bonn bleibt er nicht lang. Nach der Machtübergabe an Hitler schickt der Vater seinen Sohn, den er längst an den Führer verloren hat, weiter nach England. Dort übt sich Genoud in der englischen Sprache und nährt seinen Hass auf den britischen Kapitalismus, der den gängigen Welterklärungsformeln der dreißiger Jahre zufolge unweigerlich als «jüdisch kontrolliert» gilt. Auch Großbritannien durchlebt zu dieser Zeit eine schwere Krise, und auf den Straßen marschieren die faschistischen Schwarzhemden Oswald Mosleys, mit dem sich Genoud später wie selbstverständlich befreunden wird.

In den USA wurden 1927 die beiden italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti hingerichtet. Sie sollen einen Raubmord begangen haben. Obwohl Zweifel an der Täterschaft bleiben, müssen sie sterben, ein Ereignis, das den jungen Genoud ebenso wie Tausende anderer junger Menschen auf der ganzen Welt tief empört. Die Macht des Staates, so sieht es Genoud, vernichtet den Einzelnen. In diesen Jahren, noch unsicher und ungefestigt, beginnt er die übliche antisemitische Literatur zu lesen, darunter natürlich Hitlers «Mein Kampf». («Das hat für mich sehr viel erklärt»11) und die berüchtigten «Protokolle der Weisen von Zion», die sein sich verfestigendes Weltbild bestätigen. In Europa scheint Hoffnung aufzukeimen: In Italien herrscht Mussolini, in Deutschland ist Hitler Reichskanzler geworden, in Frankreich kommt es zu einer Volksfrontregierung. Für solche großpolitischen Ereignisse ist die Schweiz zu klein und zu wenig aufregend, aber die Unruhe der dreißiger Jahre weht auch durch dieses zur Friedfertigkeit verpflichtete Land.

1935, wieder zu Hause in der Schweiz, engagiert sich der heimatlose Nationalsozialist Genoud bei der Nationalen Front, den Frontisten, die sich um Gaston Amaudruz scharen. Mit einer trutzigen Jungschar stürmt der gegen die sozialistische Polizei von Lausanne, holt sich ehrenvolle Blessuren. «In schön geschnittenen Gabardinehosen und mit finsterer Miene habt ihr nationale Revolution gespielt»,12 meint Carlos Bauverd, der Sohn von Genouds Jugendfreund Jean Bauverd, und nicht die «Protokolle der Weisen von Zion» hätten sie genährt, sondern «Robinson Crusoe» und die Bücher Jules Vernes.

Diese Jugendjahre eines unerbittlichen Judenhassers wären biographisch nicht vollständig ohne jenes jüdische Mädchen, in das alle Antisemiten einst verliebt waren, weil sie ja keine sein wollen. Seins heißt Klari, Klari Kempfer, eine Jüdin aus Ungarn, «die schöner ist als eine griechische Statue»,13 doch Klari muss nach den gemeinsam verbrachten Ferien zurück in ihre Heimat. Ob sie die Ausrottungsaktion des Beauftragten für die Endlösung der Judenfrage überlebt hat, weiß niemand. Nach dem Krieg hat sich Genouds Interesse längst der Täterseite zugewandt und dem Unrecht, das beispielsweise dem Organisator der Vernichtung angetan wurde, Adolf Eichmann. Wie sich diese unschuldige Liebesgeschichte mit seinem antisemitischen Weltbild vertrüge, wird Genoud später gefragt, doch nach einer Antwort muss er nicht lange suchen: «Meine Weltsicht ist das eine, meine Gefühle sind etwas ganz anderes.»14 Der politische Mensch Genoud kennt aber nichts anderes als Gefühle; er ist und bleibt sein Leben lang ein sentimentaler Immoralist.

Genoud arbeitet im Geschäft seines Vaters mit, der die Hitler-Begeisterung seines Sohnes nicht begreifen kann. Als sich die Kunden über dessen aggressiv vorgetragene politische Ansichten beklagen, kündigt er lieber, statt sich etwa zu mäßigen. Bei der ganzen Hitlerei habe es sich um einen klassischen Vater-Sohn-Konflikt gehandelt, meint Genouds späterer Verleger Albrecht Knaus,15 und der Jüngere setzte sich durch, weil er auf die neuen Mächte vertraute, die sich bald als die stärkeren erweisen. Die extremistische Haltung Genouds fällt nicht bloß den Kunden auf, sondern auch dem Schweizer Nachrichtendienst. Der beginnt 1934 mit der Beobachtung, aus der schnell eine Überwachung wird. Genoud ist kaum neunzehn, als die Behörde Interesse an ihm fasst. Sie prüft seine Post und hört ihn ab, beschäftigt sich mit seinen Bekannten und Freunden, befragt Geschäftspartner und Nachbarn und wird doch nicht schlau aus ihm. Genoud ahnt bald das Interesse der Behörde an ihm, scheint es von Anfang an zu fördern, spielt schließlich damit. 1934 hat er sich noch nichts Nennenswertes zu Schulden kommen lassen, verfügt aber durch seine Jahre im Ausland bereits über internationale Beziehungen, nicht zuletzt ins immer machtvoller auftretende Deutsche Reich. Das lässt ihn zu einer potenziellen Gefahr werden, aber auch zum lohnenden Objekt für nähere Observierung. Umgekehrt nutzt Genoud das geheimdienstliche Interesse, um ein möglichst öffentliches Leben zu zelebrieren, in dem es angeblich nichts zu verbergen gibt. In den kommenden Jahrzehnten, in denen sich Genoud seine Freunde in allen Lagern sucht, wird ihm niemand so treu zur Seite stehen wie der Schweizer Geheimdienst.

Bei den rechten Frontisten begegnet Genoud einem Schulfreund16 wieder, der seine Weltsicht erweitern und seine ideologische Ausrichtung bis zuletzt prägen wird. Jean(-Maurice) Bauverd ist Antisemit wie Genoud und verfügt wie dieser über die Fähigkeit, sich in allen Umbrüchen einzurichten, ohne dabei die alte Ideologie aufzugeben. Die beiden jungen Männer erinnern sich der erlittenen Gymnasialjahre und streben hinaus ins richtige Leben.

Sternfahrten sind in Mode gekommen, ständig wird irgendwo eine Wettfahrt ausgetragen, und so beschließen die beiden im Sommer 1936 eine gemeinsame Entdeckungsreise in den Orient. Als Automobil-Abenteurer reisen sie in einem Aero-Modell zunächst quer durch Mitteleuropa. In Deutschland feiert sich das «Dritte Reich» mit blutroten Hakenkreuzfahnen, und in diesem Jahr der Olympischen Spiele scheint das international respektierte Deutschland der modernste, jugendlichste Staat in ganz Europa zu sein. «Ihr seid dem Ästhetischen verfallen»,17 wird Carlos Bauverd seinem Vater und Genoud nachträglich zugestehen, dem Abenteuer und noch keineswegs der Politik. Gleichzeitig sei die Reise eine «Flucht vor dem Kapital» gewesen, vor dem Freimaurertum und vor den zweihundert Juden, die angeblich Staat und Gesellschaft und Medien beherrschen, der übliche, zeittypische Summs. Die Fahrt geht über die Tschechoslowakei und die Donauländer hinab durch den Balkan. Bukarest wird gestreift, dann das türkische Edirne, und auch die aus den Romanen Karl Mays vertrauten Fährnisse bleiben nicht aus: Hunger, Durst, die schlimmen hygienischen Bedingungen, der eine oder andre Überfall.

Der Orient wird umso rätselhafter und geheimnisvoller, je tiefer die Abenteurer vordringen. Von Istanbul reisen sie über Mossul weiter nach Teheran und nach Kabul. Sie verlieren ihr Reisegeld, werden von Räubern verfolgt, müssen sich eines Wolfsrudels erwehren; die üblichen Reisekrankheiten kommen dazu. Marco Polo fühlen sich die beiden näher als dem heraufziehenden Massentourismus, der Hindukusch reines Märchenland. Später erzählt Genoud, er habe davon geträumt, «Bandenchef in den Bergen» zu werden, «ein Mann, der sein Haus nie ohne das Gewehr verlässt».18 Doch in Indien erkrankt der Räuber am Typhus; er kommt noch einmal mit dem Leben davon, weil er (die Welt ist doch klein) rechtzeitig eine Schweizer Klinik findet. Die vertraute Welt hat ihn wieder, wenn auch nicht ganz. Auf halbem Wege zurück nach Europa wird Genoud in Bagdad Zeuge eines Staatsstreichs und erlebt, wie die nationalistischen Araber unter General Bakr Sidqi die Regierung stürzen. Genoud ist überglücklich, dass er dabei sein darf. Das ist doch etwas anderes als die kleinen Scharmützel mit der «roten» Polizei in Lausanne, auch besser als die unblutigen Revolutionen in Italien und Deutschland. Hier pfeifen einem wirklich die Kugeln um die Ohren.

Ein wenig fühlen sich die beiden Reisenden wie Lawrence von Arabien, der im Jahr zuvor bei einem Motorradunfall gestorben war. In deutscher Übersetzung sind eben seine «Sieben Säulen der Weisheit» erschienen, das Epos vom späten Ritter, der eine heldenhaft kleine Schar im Kampf gegen große Mächte anführt – und auch noch siegt! Der Verrat gehört notwendig zu dieser Heldensage, und waren es nicht die perfiden Engländer, die den Arabern nach ihrem Aufstand die Souveränität im eigenen Land verweigerten? Das steht nicht bloß bei T.E.Lawrence, so funktionierte kolonialistische Realpolitik. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Orient nicht etwa frei, sondern am Reißbrett in künstliche, instabile Staaten wie Saudi-Arabien, Irak, Jordanien und Syrien zerteilt, damit die alten Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien weiter über sie herrschen konnten. Genoud und sein Freund Bauverd sind in einem historischen Moment zugegen, als sich der arabische Aufstand wiederholt, mit dem das koloniale Joch endgültig abgeworfen werden soll. Die beiden Abenteurer werden mit Palästinensern bekannt, die sich in Bagdad vor den Engländern verstecken. Genoud glüht vor Begeisterung. Sein ganzes weiteres Leben lang wird er die arabische Sache propagieren, und jede Niederlage bestätigt ihm nur deren tiefe Berechtigung. Im Hitler’schen Geist ist es natürlich «Zionismus», das bewährte «internationale Judentum», das das ausgebeutete Arabien unterdrückt. So wird Arabien zum Märchenland, das Genoud mit allen Fasern, gern auch mit terroristischen Methoden, immer aber im Einklang mit den heimischen Gesetzen, gegen die alten Unterdrücker verteidigen wird.

Die Revolutionstouristen reisen weiter nach Jerusalem und werden vom Mufti empfangen, dem sie wie im klassischen Abenteuerroman sogar eine geheime Botschaft aus Bagdad übermitteln dürfen. Der Mufti Hadj Amin al-Husseini ist das religiöse und vor allem politische Oberhaupt der versprengten arabischen Revolutionäre, und er ist von einem geradezu mörderischen Antisemitismus beseelt. Winston Churchill soll ihn als «eine Tonne Dynamit, die auf zwei Beinen herumläuft», bezeichnet haben.19 Dieser Führer wähnt die unmittelbare Bedrohung Arabiens gar nicht bei der britischen Kolonialmacht, sondern bei den Juden: Seit in Deutschland die Nazis die Macht übernommen haben, wandern immer mehr Juden in das britische Mandatsgebiet ein, in dem seit Jahrhunderten Araber leben. Nach der Balfour-Deklaration von 1916 sollte Palästina sowohl Arabern als auch Juden Heimat bieten, und als Lord Peel 1937 den Vorschlag macht, das dünnbesiedelte Land zu teilen, rückt die Bedrohung noch näher. Der Mufti findet in den Schweizern die Anhänger, die er braucht, um sein panarabisches Anliegen in Europa zu verbreiten: «Ihr jungen Leute, die ihr Französisch sprecht und Freunde des arabischen Nationalismus und des Islam seid, ihr müsst an die Befreiung des von Frankreich und Italien beherrschten Maghreb denken. Dort kann eure Hilfe am wirksamsten sein, dort wird sie am meisten gebraucht.»20

Genoud ist einundzwanzig, als er diese grandiose Ansprache in perfektem Französisch hört. Wieder richtet ein großer Hetzer das Wort an ihn, ein Führer, der ihn mit einem Auftrag in die Welt hinausschickt. Er hört diese Sätze in einem exotischen Land, und sie bestätigen ihm seine Träume vom Sieg der edlen Araber, den nur die berüchtigte weltweite Verschwörung der Juden zu vereiteln droht. Genoud wird den Auftrag des Mufti zu seinem eigenen Kampf machen und sich für das, was er seine Ideale nennt, in die Schanze werfen.

Es liegt nahe, dass die Reise von Bauverd und Genoud kein reiner Abenteuerurlaub war, sondern der Aufklärung diente. Bauverd veröffentlicht im Jahr darauf einen Reisebericht,21 und auch Genoud wird zu Hause so manchem von seiner Orientexpedition berichtet haben. Er versteht sich jedoch keinesfalls als Spion, sondern als Idealist, als junger Mensch auf der Suche nach einem Sinn für sein bisher recht kleines Leben. Wie könnte er den großen Appell des Mufti je vergessen? «Diese wenigen Worte brannten sich uns ins Herz; sie haben großen Einfluss auf unser Leben gehabt.»22

Nur ein Schweizer konnte so leicht für den Befreiungskampf fremder Völker entflammbar sein, ein Schweizer, den die eigene Machtlosigkeit schmerzt und der deshalb die Männer der Tat wie den Mufti bewundert und für den England und das Judentum der große Feind sind. Bald schon wird sich der Mufti an die faschistischen Gegner Englands wenden, an Italien und Deutschland, von denen er Unterstützung im Kampf für die Freiheit der Araber erhofft. Die Engländer jagen ihn, er flieht nach Rom, dann nach Berlin, wo er 1941 von Hitler empfangen wird. Für den waren Araber zwar auch nur Semiten, Menschen bestenfalls zweiter Klasse, doch den Mufti zählte er nicht dazu. Ein rötlicher Bart zeichnete ihn aus, dazu hatte er noch himmelblaue Augen vorzuweisen. «Man möchte fast glauben, es handle sich um eine absolut nordische Erscheinung»,23 notiert Joseph Goebbels nach einer Begegnung mit al-Husseini. Hitler vermutete einen Schuss Römerblut, der den Araber am Ende doch von den Juden unterschied, die sie beide bekämpfen wollten.

Zum Jahrestag der Balfour-Deklaration sandte Heinrich Himmler dem allzeit kampfbereiten Mufti ein Telegramm: «Die Erkenntnis dieses Feindes und der gemeinsame Kampf gegen ihn bilden die feste Grundlage des natuerlichen Buendnisses zwischen dem nationalsozialistischen Grossdeutschland und den freiheitsliebenden Mohammedanern der ganzen Welt.»24 Fast gleichlautend schreibt der Mufti an seinen Verbündeten Himmler sowie an den Außenminister Ribbentrop: «Deshalb bitte ich Euerer Exzellenz das Nötige zu veranlassen die Auswanderung der Juden nach Palästina zu unterbinden, womit Sie Exzellenz ein neues praktisches Beispiel der Politik des natürlich verbündeten und befreundeten Deutschlands der arabischen Nation gegenüber, geben.»25 Bis heute ist umstritten, inwieweit der Mufti in die Endlösung eingeweiht war. 1944, als er so dringend um Amtshilfe nachsuchte, ging es nicht mehr um die Auswanderung der Juden, die längst systematisch umgebracht wurden. Später war der heldenhafte Mufti selbst den Palästinensern peinlich. Aus «Entrüstung über die Rolle und das Vorgehen der Engländer in Palästina» habe er sich einfach deren Gegnern angeschlossen, erläuterte er seinen Jüngern. «Trotzdem war Haddsch Amin kein Nationalsozialist», behauptet der Palästinenser-Chef Abu Ijad.26 Der Mufti residierte, mit einer selbst für einen Exil-Monarchen reichlichen Apanage versehen, auf einem Schloss in der Nähe von Berlin und forderte seine arabischen Landsleute in Radioansprachen über den Sender Zeesen auf, nicht nachzulassen im Kampf gegen die Juden.

Genoud verehrte diesen mordlüsternen Araberführer wie einen idealen Vater und hielt ihm bis zu dessen Tod 1974 die Treue. Wie sehr er sich während des «Dritten Reiches» für dieses zweite große Idol engagierte, bleibt vorläufig im Dunkeln. Wenigstens einmal, 1943, muss er ihn in Berlin besucht haben.27 Carlos Bauverd behauptet, sein Vater Jean habe eine SS-Schule in Niedersachsen besucht und anschließend dem Mufti bei der Aufstellung eines bosnisch-kosovarischen SS-Regiments geholfen.28 Jean Bauverd sei es auch gewesen, der den Mufti aus dem Orient geholt und mit dem «Moloch» Hitler zusammengeführt habe, «um die große Freundschaft zwischen Germanen und Arabern zu fördern»29 – aber da geht vielleicht der Hass auf den «faschistischen Vater» mit Carlos Bauverd durch. Die «13.Freiwillige Bosnisch-Herzegowinische SS-Gebirgsdivision Kroatien» kämpfte jedenfalls mit der deutschen Wehrmacht gegen die kommunistischen Partisanen, und fest steht auch, dass Bauverd 1943 im Auftrag des Propagandaministeriums den unter deutscher Besatzung gegründeten Sender Radio Monte Carlo auf die arabische Welt ausrichtete, in der Genoud nach dem Krieg sein entscheidendes Wirkungsfeld finden sollte.

Der Mufti wird von den Nazis als wichtiger Bundesgenosse in Reserve gehalten. «Er ist klug, bedachtsam, seine Vortragsweise zeugt von Intelligenz und Übersicht», notiert Goebbels 1944 im Tagebuch. «Er legt mir dar, daß die arabisch-mohammedanische Bevölkerung keinerlei Interessengegensätze mit dem Deutschen Reich je gehabt habe oder heute habe oder in Zukunft haben werde. Infolgedessen seien die 400Millionen mohammedanisch-arabische Bevölkerung absolut für uns zu gewinnen, wenn man sie nur propagandistisch richtig bearbeite.»30

Doch trotz leidenschaftlicher rhetorischer Kollaboration bei der Auslöschung der Juden gelang es dem Mufti nicht, Deutschland zum Kriegseinsatz im Vorderen Orient zu bewegen. Zwar hielt Hitler in einer Art Kommuniqué fest, «Deutsche und Araber haben in den Engländern und Juden gemeinsame Feinde und sind in dem Kampf gegen diese verbunden»,31 aber er leistete dem Mufti nie die ersehnte Waffenhilfe. «Araber! Erhebt euch wie ein Mann und kämpft für euer heiliges Recht!», verkündete er am 1.März 1944 über den Großdeutschen Rundfunk. «Tötet die Juden, wo immer ihr sie findet. Das gefällt Gott, der Geschichte und dem Glauben. Es wird euch Ehre machen. Gott ist auf eurer Seite».32 Zwar nicht auf die Deutschen, dafür aber auf seine beiden Schweizer Gefolgsleute konnte sich der Hassprediger al-Husseini verlassen. Sie zeigten ein ganz anderes Feuer als die unentschlossenen Deutschen.

Exkurs: Der rasende Mitläufer

Während François Genoud fremde Länder und fremde Sitten kennenlernte und das für die dreißiger Jahre nicht ungewöhnliche Leben eines wohlhabenden jungen Mannes führte, dem niemand so schnell die Entscheidung für einen Beruf, gar einen Gelderwerb abverlangen würde, bemühte sich in Deutschland Paul Dickopf um den beamtenüblichen Aufstieg im Polizeiapparat des «Dritten Reiches». Noch wussten die beiden nichts voneinander, und zunächst sprach wenig dafür, dass sie irgendwann zusammenfinden würden, zu weit waren beide auseinander: Der eine pflog des Müßiggangs und interessierte sich für Politik vorerst nur als Divertimento im sonst wenig aufregenden Leben eines Playboys. Der andere, von Haus aus weit weniger gut gestellt, arbeitete sich ameisenzäh und entschlossen in der herrschenden Politik nach oben, verstand es aber zugleich, seinen Opportunismus so geschickt zu camouflieren, dass ihm sein Dienstherr, der Bundesinnenminister Hermann Höcherl, später wahrheitswidrig nachrühmen sollte, Dickopf habe «zu keiner Zeit mit dem Nationalsozialismus paktiert».33

In einem Lebenslauf, den er 1949 verfasste, lieferte Paul Dickopf eine ausgesprochen dialektische Begründung dafür, wie es ihm gelungen sein sollte, während des «Dritten Reiches» der «verhassten NSDAP nicht zu verfallen»: Er bemühte sich einfach darum, «mit Hilfe einer Stellung in der Kriminalpolizei einen – wenn auch kleinen – Teil des staatlichen Machtapparates zu erobern».34 Dickopfs Eroberung dieses Machtapparats sah so aus, dass er – unter Vermeidung einer Mitgliedschaft in der NSDAP – bei allem anderen mittat, was die höhere Beamtenlaufbahn im Führer- und SS-Staat erforderte.

Eigentlich, so wird er später erklären, habe er Forstwirt werden wollen, sei aber am Numerus clausus gescheitert. Dickopf, Jahrgang 1910, beginnt Verwaltungsrecht und Jura zu studieren und versteht sich als unpolitisch, aber er ist fleißig und ehrgeizig und tritt deshalb dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund bei. Dann bricht er das Studium ab und bewirbt sich bei der Polizei. Im Polizeidienst kann niemand unpolitisch bleiben: 1936 wird Heinrich Himmler Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, SS-Brigadeführer Reinhard Heydrich wird Chef der Sicherheitspolizei. Die zivile Kriminalpolizei unterwirft sich sofort den militärischen Vorstellungen der SS. Der Kripoleiter Arthur Nebe schreibt 1939 an Heydrich, der inzwischen zum «Gruppenführer» aufgestiegen ist: «Als soldatische Beamte und SS-Männer werden wir Mitarbeiter des Reichskriminalpolizeiamtes unsere ganze Kraft hingeben an die Aufgaben, die Sie nach den Befehlen des Führers und des Reichsführers SS zu erfüllen haben.»35

Auch Dickopf folgt diesem strammen Gebot. Angeblich standen einer regelrechten Karriere im Nationalsozialismus sein katholischer Glaube und die Ehe mit einer «jüdisch versippten» Frau im Weg, dennoch ging es mit dem Beamten Dickopf stetig aufwärts. Am 1.Juni 1936 wird er Kommissaranwärter bei der Kriminalpolizeileitstelle Frankfurt am Main, die ihn Ende 1938 für achteinhalb Monate auf einen Lehrgang an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg schickt.36 In seiner Personalakte ist seine Größe mit 180Zentimetern angegeben und seine SS-Nummer als 337259.37

Der Mann bleibt vorläufig auf der Beamtenlaufbahn, wird SS-Untersturmführer und Kriminalkommissar und nach Ende des Charlottenburger Lehrgangs Leiter des kriminalpolizeilichen Erkennungsdienstes im Land Baden. 1940 holt ihn das Oberkommando der Wehrmacht (Amt Ausland/​Abwehr) nach Stuttgart und betraut ihn mit der Aufgabe, fremde Polizeiorganisationen und Nachrichtendienste auszuspionieren. Für diese rege Widerstandstätigkeit erhält Dickopf 1941 am Jahrestag des Kriegsausbruchs das Kriegsverdienstkreuz 2.Klasse.38

Dann aber soll der vorbildliche Beamte ganz plötzlich desertiert sein.

Ein Geheimagent ist ein Geheimagent, und schon deshalb wird es schwierig, eindeutige Aussagen über den SD-und Abwehr-Agenten Paul Dickopf zu treffen, der es bis zum BKA-Präsidenten und Interpol-Chef brachte – eine Karriere, die von einem ausgeprägten Talent zeugt, in schwierigen Zeiten zu überleben. 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbricht, an dem die Schweiz lediglich mit der Überlegung teilnimmt, ob sie die anschwellenden Flüchtlingsströme ins Land lassen soll oder nicht, eröffnet der immer noch junge Playboy Genoud in Lausanne einen Nachtclub. Geschäftsführer wird sein libanesischer Freund Muhidin Daouk.39 Der Club, der «Oasis» heißt, ist die unauffällige Nachrichtenzentrale, die Genoud in Kontakt mit den verschiedensten Vertretern und Agenten bringt, vor allem jenen aus Nazi-Deutschland. Bauverd kommt hier vorbei, einige wenige Amerikaner, neue Freunde aus dem Orient, und bald auch der angebliche politische Flüchtling Dickopf.

In der Selbstdarstellung, die Dickopf nach dem Krieg niederschrieb, hatte er schon in Deutschland die Freundschaft des Ausländers Genoud gesucht, weil «der mir im Falle einer eines Tages notwendig werdenden Flucht bei der Asylbeschaffung behilflich sein könnte».40 Er schreibt nichts darüber, dass es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit war. Der leidenschaftliche Reisende Genoud bringt Dickopf kleine, freundschaftserhaltende Geschenke ins devisenbewirtschaftete Deutschland mit, Nescafé, Schokolade, Strümpfe, Schweizer Leckereien, für die Frau angeblich, aber auch für den wachsenden Tauschhandelsbedarf in Deutschland, wo die Kaufkraft noch immer gewaltig, das Warenangebot aber insbesondere bei Importen sehr knapp geworden ist. Beide beschäftigen sich – sei es im Auftrag, sei es mit Duldung ihrer Vorgesetzten – mit Devisenschmuggel, handeln mit Diamanten, mit Gold. Im Schweizer Bundesarchiv gibt es Aufzeichnungen darüber, dass die beiden vor allem Geldgeschäfte pflegten, die um keinen Preis hätten auffliegen dürfen. Dickopf und Genoud handelten mit allem, was der Schwarzmarkt hergab und verlangte. «Wir waren alle Freunde»,41 heißt das bei Genoud unvermeidlich.

Hans-Dietrich Genscher, sein späterer Chef, verabschiedete den einstigen Kundschafter 1971 mit den treuherzigen Worten: «Er war ein Polizeibeamter, der sich dem Rechtsstaat fest verpflichtet fühlte.» In die Schweiz sei er demnach nicht als Abwehr-Agent abgestellt worden, sondern «weil er der Abkommandierung an die Ostfront entgehen wollte». Er habe vom Einsatz von Kollegen «bei der Partisanenbekämpfung und bei der Judenvernichtung» gewusst, aber er, Paul Dickopf, «wollte nicht schuldig werden».42 In der Tat wurde er nicht schuldig, sondern ging weiter und zu seinem eigenen größtmöglichen Nutzen seiner Arbeit nach. «Paul Dickopf sollte – mit der Legende eines Überläufers ausgestattet – Devisen beschaffen und sie im Ausland deponieren»,43 glaubt Peter-Ferdinand Koch und bringt es (leider ohne weitere Nachweise) auf die kurze Formel: «Der spätere BKA-Präsident war nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Schieber.»44 Auf jeden Fall war er alles andere als ein Widerstandskämpfer. Bei seiner mysteriösen Flucht – die später immerhin als Beweis herhalten musste, dass Paul Dickopf schon immer gegen die Nazis war – tritt nun jener Freund in Dickopfs Leben, dem er beinah dreißig Jahre lang eng verbunden bleiben sollte. «Ich war während des gesamten Krieges auf Seiten der Deutschen, habe meinen Freund Dickopf geschützt, einen Deserteur, ich habe ihn über die Grenze geschafft und bin wieder zurück», erzählt Genoud und zeigt noch nach Jahrzehnten den ganzen Stolz auf seine Tat. «Niemand wusste etwas!»45

Was für ein seltsames Paar: der eifrige Nazi und der ebenso eifrige Widerstandskämpfer! Im Jahr 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, war es höchst unwahrscheinlich, dass sich politische Gegner auf derart freundschaftliche Weise näherkommen. Die weltanschauliche Sympathie, die Genoud zu den Deutschen und zum Nationalsozialismus trieb, hätte ihn bestimmt daran gehindert, einem echten Deserteur zur Flucht aus dem Einflussbereich seines geliebten Führers zu verhelfen.

Wie immer bei den zahlreichen Freundschaften, die Genoud im Lauf seines Lebens schloss, verbindet sich auch hier persönliche Neigung mit einem wachen Sinn für das Strategische. Freunde sind nützlich und helfen sich gegenseitig. Politischer Gleichklang muss keine Voraussetzung sein, ist aber sicherlich kein Nachteil. Mehr oder weniger bewusst beginnt Genoud so ein Netz zu knüpfen, das die unterschiedlichsten Menschen allein darin verbinden wird, dass sie zu ihm und seinen vielfältigen Interessen passen.

Niemand wusste etwas? Während ganz Europa von Kiew bis Lissabon von Nationalsozialisten oder Faschisten beherrscht wurde, blieb die Schweiz neutral und zog schon deshalb Spione aus allen möglichen Ländern an. Seit 1941 stand Dickopf in Kontakt mit François Genoud, der nach Stuttgart gefahren war, um sich der deutschen Abwehr als Informant anzubieten. Vorsichtig, wie er war (und gar nicht mehr so ungestüm wie als jugendlicher Barrikadenkämpfer), hatte er diese Tätigkeit für das weltkriegführende Deutschland beim eigenen, beim Schweizer Geheimdienst angemeldet und arbeitete auch diesem zu. Für Genoud ist das selbstverständlich kein Widerspruch, auch kein Verrat, denn für ihn zählt vor allem Freundschaft.

Freund Dickopf war Mitte 1942 ins Hauptquartier der Abwehr nach Berlin bestellt und mit dem Auftrag versehen worden, sich im Ausland als selbständiger Agent anzusiedeln und «den Schweizer Geheimdienst zu unterwandern».46 Der Herr Polizeikommissar wirkte als «Schläfer». Zunächst ging Dickopf nach Paris, tat sich dort einige Monate um, besuchte Südfrankreich, dann Brüssel, fuhr über Weihnachten heimlich zu Verwandten in Deutschland, kehrte nach Brüssel zurück. Manchmal hat ihn Genoud auf diesen Reisen begleitet. Unterwegs lernte er im Eisenbahnabteil seine zukünftige Frau kennen, Liliane Mouru de la Cote aus Brüssel, die er am 1.April 1943 heiratete.47

Seit dem 16.April 1943 wird Dickopf im Deutschen Fahndungsbuch zur Festnahme ausgeschrieben, mit dem merkwürdigen Zusatz allerdings, er sei «vermisst». Er war aber nicht vermisst, die deutsche Abwehr wusste genau, wo sich Dickopf befand und was er trieb, schließlich war er stets ordentlich versetzt worden. Über Zwischenträger, zu denen wiederum Genoud gehört, berichtet der flüchtige Widerstandskämpfer laufend an die NSDAP-Zentrale in München.48

Dickopf will in Brüssel und von Genoud erfahren haben, dass der SS-Geheimdienst SD nach ihm suche. Also verlassen sie Brüssel gemeinsam und reisen via Frankreich über die grüne Grenze illegal in die Schweiz ein. François Genoud handelt bei diesem keineswegs gefahrlosen Abenteuer nicht etwa auf eigene Faust: Sein Führungsoffizier beim Schweizer Geheimdienst, Hauptmann Gérard Olivet, holt das Paar am 17.Juli 1943 an der Grenze ab, bringt die beiden nach Lausanne und beschafft Dickopf Papiere sowie eine Unterkunft. Der angebliche Flüchtling wohnt bei Genouds syrischem Freund Muhidin Daouk in Lausanne und unterliegt der Überwachung durch das Territorialkommando. Genoud und Dickopf schöpfen sich gegenseitig ab, und der eine legendiert, wie das geheimdienstliche Lügen-Erfinden heißt, tapfer den anderen.

Da sich Dickopf erfreulicherweise nicht «im nationalsozialistischen Sinne» betätigt, wird er als politischer Flüchtling betrachtet, die Behörden können ihm nichts anhaben. Ein Geheimagent ist ein Geheimagent und deshalb immer im Dienst. Rasch ist der Kontakt zur amerikanischen Botschaft hergestellt, sodass Dickopf gleichzeitig für seine Leute zu Hause in Deutschland, für die Schweizer und für die Amerikaner recherchieren kann.

Dickopf ist selbstverständlich nicht der Einzige, der in der Schweiz für das «Dritte Reich» wirkt. Christoph Graf Dönhoff (1906–1992), der Bruder der späteren Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, nach ihren Worten «ganz begeistert von den Nazis»49 und deshalb bereits 1933 in die NSDAP eingetreten, brachte es bis in den Auslandsnachrichtendienst (Abteilung VI) des Reichssicherheitshauptamtes. Ende März 1945 durfte «Toffy» Dönhoff als Vizekonsul nach Zürich, um wegen möglicher Friedensverhandlungen zu sondieren. Nach der Kapitulation wurde er ausgewiesen, geriet in Italien in Gefangenschaft, wurde aber bereits 1946 entlassen. Als sein Fluchthelfer wirkte der vielseitige Dickopf, der am 19.Mai über Chiasso nach Italien ausreiste.

In den Jahren davor ist Dickopf in seiner Reisetätigkeit stark eingeschränkt, kann sich aber auf den Freund verlassen, den die Mikrofiches im Schweizer Bundesarchiv unverblümt als «NS-Mitarbeiter» bezeichnen. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1942 reist Genoud acht Mal von der neutralen Schweiz ins kämpfende Deutschland. Einmal, als er in Basel angehalten und überprüft wird, stellt man überrascht fest, dass er «eine große Menge Goldes bei sich hat, die er aus Deutschland ausführen will».50 Zum sagenhaften SS- oder Nazi-Schatz wird dieser Transport zwar nicht hinreichen, doch die Akten belegen, dass Genoud im großen Stil geschmuggelt hat. Die Behörden ärgern sich nicht wenig über diesen ein- und austräglichen Transfer, aber sie können, wie auch später noch so oft, nichts gegen den umtriebigen Landsmann unternehmen. Es ist schließlich nicht verboten, Gold in die Schweiz einzuführen, und ein Landesverräter ist Genoud auch nicht, weil er die Behörden jedenfalls von einem Teil seiner Unternehmungen wissen lässt. Ein wichtiger Kollaborateur ist Ludwig Wemmer, den Parteileiter Martin Bormann 1943 als Aufpasser in Kirchenfragen aus der Zentrale nach Rom schickt. «Der Gesandte Wemmer, nur zwei Jahre älter als Sigis[mund von Braun, Legationssekretär in der deutschen Botschaft beim Vatikan], fand ein ausgiebiges Vergnügen an Schiebungen mit Schweizer Franken, Bildern und überhaupt», bestätigt Hilde von Braun, die Frau des Botschafters.51

Der angebliche Flüchtling Dickopf sucht keineswegs Kontakt zu deutschen Emigranten, gar zum politischen Widerstand, sondern wohnt bei seinem V-Mann, dem Schweizer Aufklärer Genoud. Der SS-Untersturmbannführer ist schließlich kein gemeiner Deserteur, sondern ein ganz normaler Opportunist. Nach seinen eigenen Worten hatte Dickopf sein Handwerk zwar nicht von der Pike auf, dafür aber mit dem «Leichenlöffel» in der Hand gelernt, einem Werkzeug, mit dem sich auch Toten noch die Fingerabdrücke abnehmen lassen.52 Am besten aber kannte er sich mit lebenden Menschen aus. Es kam dazu, dass Dickopf das Musterstück eines politischen Beamten war, der sich der jeweiligen Macht andient, wie sie es wollte, es dabei aber immer verstand, die Mächtigen in seinem Sinn und zu seinem Vorteil zu lenken. «Paul Dickopf hat für alle gearbeitet», schreibt Armand Mergen in seiner «BKA Story». «Er war Dreifachagent.»53 Genoud war ihm gern behilflich, außerdem konnte er dabei etwas fürs Leben lernen.

2.Das Ende, ein Anfang

Der Treck setzt sich am 26.April 1945 in Bewegung. In mehreren Wellen hatten die alliierten Bomber am Tag zuvor den Obersalzberg im Berchtesgadener Land angeflogen. Dort hatte sich der Führer ein Haus gebaut, um das herum sich auch sein Hofstaat ansiedeln durfte. Eine Zwingburg war es nicht ganz, aber doch die für die Volksgemeinschaft unzugängliche Zentrale von Regierung und Partei, wenn Adolf Hitler nicht in Berlin weilte. Schließlich konnte aber auch der künstliche Nebel die Anlage nicht mehr schützen, und so wurden Berghof und Teehaus innerhalb weniger Stunden zerstört. Hitler, Joseph Goebbels und Martin Bormann befanden sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin, auch Eva Braun war in vorletzter Minute zu ihrem Geliebten geeilt. Auf dem Obersalzberg hielten sich fast nur mehr Familienangehörige der Parteileitung auf. Sie alle mussten jetzt, da der Feind sie obdachlos gemacht hatte und niemand sie mehr vor der Kriegswirklichkeit bewahren konnte, so rasch wie möglich evakuiert werden. Bormann, der Reichsleiter und, wie er sich nannte, «Sekretär des Führers», also sein ebenso ergebener wie bissiger Wachhund, hatte für die eigene Familie längst Vorsorge getroffen. Wenn überhaupt etwas, dann bot nur noch die Flucht in die Berge Aussicht auf Rettung. Aus Italien, aus Frankreich und aus dem Osten rückten Truppen gegen Deutschland vor. Berlin war bereits eingeschlossen, an ein Entkommen im Sperrfeuer feindlicher Flugzeuge kaum mehr zu denken.

Dort geht in den letzten Apriltagen die ganze Pracht und Herrlichkeit des «Dritten Reiches» unter. Die russischen Panzer sind aus den östlichen Stadtteilen ins Zentrum vorgerückt und haben das ehemalige Machtzentrum eingekreist. Die Reichshauptstadt ist zusammengeschrumpft auf eine Fläche von wenig mehr als einem Quadratkilometer zerbombten und zerschossenen Geländes, unter dem sich der Führerbunker befindet. Die Schallwellen der Detonationen dringen bis hinab in die privaten Räumlichkeiten des bedrängten Reichskanzlers. Wencks Armee, immer wieder beschworen und sehnsüchtig erwartet, wird nicht mehr zu Hilfe kommen. Selbst der Führer, der noch vor kurzem von seinen Volksgenossen den Kampf bis zum Endsieg verlangt hatte, weiß inzwischen, dass das Ende gekommen ist. Eine doppelte Angst quält ihn: dass ihn die Russen gefangen nehmen, ihn hinrichten und seinen Leichnam ähnlich wie die Italiener Tage zuvor den ihres gestürzten Duce schänden und der Lächerlichkeit preisgeben könnten; und womöglich noch größer die Furcht, er könnte der Nachwelt doch nicht jenes historisch herausragende Bild hinterlassen, das ihm Gefolgsleute wie Joseph Goebbels unermüdlich bestätigten. («Er ist das größte geschichtliche Genie, das in unserer Zeit lebt»,1 lallt Goebbels nach dem mit Glück überlebten Attentat vom 20.Juli 1944 ins Tagebuch.)

Im Bunker unter der Reichskanzlei wird zum letzten Mal Geschichte gemacht und – wie es sich für ein deutsches Weihespiel gehört – mit religiöser Hingabe Richard Wagner nachgespielt, selbstverständlich unter notarieller Aufsicht. Mag die Welt draußen auch in Scherben fallen, hier unten muss doch alles seine Ordnung haben. Magda Goebbels hat ihre sechs Kinder aus der Ehe mit dem Propagandaminister Goebbels mit hinab in den Bunker geholt, damit die Musterfamilie des «Dritten Reiches» auch im Tode vereint sei. «Unsere herrliche Idee geht zu Grunde – mit ihr alles, was ich Schönes, Bewundernswertes, Edles und Gutes in meinem Leben gekannt habe», schreibt sie an Harald Quandt, ihren dreiundzwanzigjährigen Sohn aus erster Ehe. «Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht mehr wert, darin zu leben, und deshalb habe ich auch die Kinder hierher mitgenommen. Sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben»,2 liest der Leutnant der Luftwaffe, der sich inzwischen als Gefangener in einem britischen Lager in Nordafrika befindet. «Du wirst weiterleben…», und deshalb soll er sich seiner Familie würdig erweisen, damit «unser Tod nicht umsonst gewesen ist».3

Auch Goebbels baut darauf, dass ihm die Nachwelt irgendwann jene Kränze flechten wird, die in diesem Augenblick leider nicht zu erwarten sind. «Die Stunde wird wiederkommen, in der wir sauber und unbefleckt dastehen werden vor der Welt»,4 fügt er Magdas Brief als erstaunlich selbstbewusstes Vermächtnis an. Sein Stiefsohn sei «wahrscheinlich» der Einzige, «der übrig bleibt, die Tradition unserer Familie fortzuführen»,5 und zwar «so sauber und unbefleckt, wie unser Glaube und unser Ziel immer gewesen sind».6 Harald Quandt stirbt 1967 bei einem Flugzeugabsturz; Freunde versichern, dass er nie über den Tod seiner Stiefgeschwister hinweggekommen sei.

Hanna Reitsch, die legendäre Fliegerin, wird diesen Brief am 28.April aus dem umlagerten Fuchsbau in Berlin nach Schleswig-Holstein ausfliegen, wo Admiral Dönitz das letzte Aufgebot um sich geschart hat. Goebbels bleibt bis zum letzten Atemzug bei seinem Meister. Auch seine Frau harrt mit ihm aus, und die Kinder werden gar nicht erst gefragt.

Auch Martin Bormann wollte als bis in den Tod treuer Paladin Hitlers das Ende des «Dritten Reiches» nur in den Wagner’schen Dimensionen begreifen, an die der Führer seine ergebene Schar gewöhnt hatte: «So oder so, wir werden, wie beschworen, unsere Pflicht bis zum Ende tun»,7 schreibt Bormann im letzten überlieferten Brief an seine Frau, um mit germanischen Heldentodträumen zu enden, dem Vergleich mit den Nibelungen, die ihr stolzes Ende im Saal des Hunnenkönigs Etzel gefunden hätten.8 Auch Joseph Goebbels weiß starke letzte Worte für die Nachwelt: «An ein materielles Fortleben nach dem Tode glaube ich nicht. Aber wenn es ein solches geben sollte, dann werde ich nach diesem Tode in ein Walhall einziehen, in dem mich meine alten Mitkämpfer und Kameraden, die mir auf anständige Weise vorangegangen sind, schon erwarten.»9

Trotz dieses heroischen Fatalismus sorgte sich Goebbels um das Schicksal seiner Tagebücher. Die sollten ihre Leser auch dann noch finden, wenn der Chronist selber bereits für Führer und Reich und den eigenen Größenwahn gefallen war. Seit 1923 hatte Goebbels Tagebuch geführt, erst mit der Hand und ausnehmend schwer lesbar von seinem Weg zu Hitler und der gemeinsamen Machtergreifung berichtet, die Erfolge der NSDAP geschildert und dabei den eigenen, stetig wachsenden Ruhm nicht vernachlässigt. Von 1941 an hatte er dann diktiert, und dafür standen dem Reichspropagandaminister gleich mehrere Sekretärinnen zur Verfügung. Nach der Invasion der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 sorgte Goebbels dafür, dass «sein gehüteter Schatz, sein größtes Geheimnis, Ergebnis und Konzentrat einer mehr als zwanzigjährigen politischen Tätigkeit»10 (so sein Presseadjutant Wilfred von Oven) im damals modernsten Verfahren auf Glasplatten übertragen und die Mikrofiches in Stahlkassetten an drei verschiedenen Stellen außerhalb von Berlin vergraben wurden. Seine Arbeit sollte den Untergang unbedingt überleben. Die Originalblätter musste angeblich sein Geheimsekretär Richard Otte verbrennen, allerdings blieben auch davon Tausende von Blättern übrig. Goebbels, der ehemalige Dichter, der scheue Bewunderer Stefan Georges, der streitsüchtige Journalist wollte im Wort überleben. Das gelang, und dazu verhalf ihm sein nie ermüdender Verehrer François Genoud.

Dazu verhalf ihm auch das gruselige Schauspiel, das in diesen letzten Stunden inszeniert wird. Es ist vorbei, die Zeit ist gekommen für die große Bilanz. «Man bereut es hinterher, daß man so gut ist»,11 soll Hitler in einem Anfall von abgründigem Humor gesagt haben. Endlich sah auch der Führer ein, dass es keinen Ausweg mehr gab und kein Reich. Er lehnte es ab, sich ausfliegen zu lassen, seinen Kampf etwa in der sogenannten «Südfestung» fortzusetzen, zumal er wusste, dass die dortige Streitmacht noch schwächer war als das letzte Aufgebot, das um Berlin zusammengezogen war. Der Tod der Nibelungen steht unmittelbar bevor, gleich werden Etzel und seine asiatischen Barbaren die germanischen Recken schlachten. Während Hitler die endgültige Entscheidung Stunde um Stunde hinauszögert, sind an die russischen Soldaten bereits Siegesbanner ausgegeben worden, die auf dem zerschossenen Reichstag als Triumphzeichen gehisst werden sollen. Die treue Hanna Reitsch ist fort, Göring, so viel ist noch nach unten durchgedrungen, verhandelt längst mit den Schweden, zuletzt verrät auch noch Himmler seinen Führer, der an SS-Gruppenführer Hermann Fegelein ein letztes Exempel statuieren lässt. Hitlers Schwager wird zum Tod verurteilt und erschossen, weil er sich vorsichtshalber bereits die Uniform ausgezogen hatte.

Die regelmäßigen Tischgespräche mit ihren deliranten Ausschweifungen hören auf, keine Monologe mehr, keine Welterklärungen, die verrinnende Zeit wird genutzt für letzte, schwere Worte. Der Führer diktiert sein Vermächtnis, die Sekretärin Traudl Junge schreibt auch das noch auf. Ein Standesbeamter wird bestellt. Adolf Hitler will seine Freundin Eva Braun für die Nachwelt legitimieren. Diese Nachwelt soll wissen, wie sehr der Führer die Gegenwart verachtet, die so schmählich versagt hat, weil sie seiner großen Ideen und ihres Erfinders nicht würdig gewesen war. Noch einmal beschwört er sein unzuverlässiges Volk, verpflichtet die «Führung der Nation» zur «peinlichen Einhaltung der Rassegesetze» und fordert sie auf, ja nicht nachzulassen im «unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum»,12 dann bringt er sich zusammen mit seiner Gattin um, oder wie er es hinterher im Großdeutschen Rundfunk verkünden lässt: «Unser Führer Adolf Hitler [ist] heute nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen.»13