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Ein neues Zeitalter beginnt – Zeit für neue Gefährten!
Von seinem eigenen Volk verstoßen, kehrt der Dunkelelf Drizzt Do’Urden auf der Suche nach einem verschollenen Freund mit seinen Gefährten in die verlassene Zwergenstadt Gauntlgrym zurück. Sie ahnen nicht, dass die Dunkelelfen dort inzwischen eine Siedlung gegründet habem. Was wie ein Abenteuer in den leeren Zwergenhöhlen begann, wird zu einem verzweifelten Kampf ums Überleben. Denn nichts würde die grausame Spinnengöttin der Dunkelelfen glücklicher machen, als der Tod von Drizzt Do‘Urden – und ihr Volk ist nur zu gern bereit, ihren Wünschen zu folgen …
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Seitenzahl: 669
Veröffentlichungsjahr: 2018
Von seinem eigenen Volk verstoßen, kehrt der Dunkelelf Drizzt Do’Urden auf der Suche nach einem verschollenen Freund mit seinen Gefährten in die verlassene Zwergenstadt Gauntlgrym zurück. Sie ahnen nicht, dass die Dunkelelfen dort inzwischen eine Siedlung gegründet haben. Was wie ein Abenteuer in den leeren Zwergenhöhlen begann, wird zu einem verzweifelten Kampf ums Überleben. Denn nichts würde die grausame Spinnengöttin der Dunkelelfen glücklicher machen, als der Tod von Drizzt Do’Urden – und ihr Volk ist nur zu gern bereit, ihren Wünschen zu folgen …
Die Legende von Drizzt bei Blanvalet:
Die Dunkelelfen · Die Rache der Dunkelelfen · Der Fluch der Dunkelelfen · Der gesprungene Kristall · Die verschlungenen Pfade · Die silbernen Ströme · Das Tal der Dunkelheit · Der magische Stein · Das Vermächtnis · Nacht ohne Sterne · Brüder des Dunkels · Kristall der Finsternis · Schattenzeit · Der schwarze Zauber · Die Rückkehr der Hoffnung · Der Hexenkönig · Die Drachen der Blutsteinlande · Die Invasion der Orks · Kampf der Kreaturen · Der König der Orks · Der Piratenkönig · Der König der Geister · Gauntlgrym · Niewinter · Charons Klaue · Die letzte Grenze · Die Gefährten · Die Nacht des Jägers
Erzählungen vom Dunkelelf
Außerdem von R. A. Salvatore:
Star Wars: Episode I–III. Die dunkle Bedrohung – Angriff der Klonkrieger – Die Rache der Sith
Der Speer des Kriegers/Der Dolch des Drachen/Die Rückkehr des Drachenjägers. Drei Romane in einem Band!
Weitere Titel in Vorbereitung
Prolog
So viel Blut.
Überall Blut.
Es verfolgte Doum’wielle, wohin sie auch ging.
Sie sah es auf ihrer silberweißen Haut, die verriet, dass sie halb Elfe, halb Drow war. Nacht für Nacht verfolgte es sie in ihren Träumen. Sie sah es in den Spuren, die ihre Füße im Schnee hinterließen. Sie sah es auf ihrem scharfen Schwert. Ja, ganz besonders dort.
Unablässig spiegelte es sich im roten Rand ihres intelligenten Schwertes, Khazid’hea.
Tausend Mal hatte sie ihrem Bruder diese Klinge ins Herz gerammt. Seine Schreie hallten in jedem wachen Gedanken nach, und sie erfüllten ihre Träume. Für Khazid’hea waren das süße Sphärenklänge.
Eines Tages hatte ihr Bruder Teirflin versucht, sie im Schlaf mit ebendieser Waffe – ihrem eigenen Schwert – zu töten. Doch sie war schneller gewesen.
Sie war besser gewesen.
Sie war würdiger gewesen.
Die scharfe Klinge war in seine Brust gefahren, hatte Haut, Muskeln und Knochen durchstoßen und das Herz gefunden, sodass das köstliche Blut sich ergießen konnte.
Dieses Blut würde auf ewig an ihren Händen kleben. Damals aber, als die Waffe sie im Bann hatte und ihr die warmen Worte ihres Vaters zuflüsterte, wollte sie das Blut gar nicht abwaschen.
Vielleicht waren Teirflins Todesschreie doch Musik in ihren Ohren.
Zwei. Die Finger des Drow bewegten sich in den komplexen Handzeichen, die seinem Volk eine heimliche, stumme Verständigung ermöglichten. Sie bewegen sich langsam.
Tsabrak Xorlarrin, der Zauberer aus dem Dritten Haus von Menzoberranzan, überlegte. Hier draußen fühlte er sich nicht wohl, denn er war weit entfernt von Menzoberranzan und auch von Q’Xorlarrin, der neuen Stadt der Drow, die seine Familie in den Minen der sagenhaften Zwergenheimstatt Gauntlgrym errichtete. Er war sich ziemlich sicher, weshalb Oberin Zeerith ausgerechnet ihn auf diesen Erkundungsgang geschickt hatte: Zeerith wollte ihn von ihrem Sohn Ravel fernhalten, einem erbitterten Rivalen von Tsabrak.
Einem Rivalen, der definitiv die Oberhand gewonnen hatte, wie Tsabrak sich eingestehen musste. Mit seinem erfolgreichen Eindringen in das alte Zwergenreich war Ravel zu leuchtendem Ruhm aufgestiegen, der das Ansehen von Haus Xorlarrin mehrte. Dabei hatte ihn ausgerechnet ein Baenre begleitet, und zwar mit dem Segen dieses mächtigen Clans. Die Stadt Q’Xorlarrin nahm inzwischen Formen an, und an dieser Entwicklung war Ravel maßgeblich beteiligt gewesen.
Die Finger des Zauberers bewegten sich schnell und erteilten seinen Spähern einen neuen Auftrag, denn er benötigte genauere Informationen. Nachdem er sie losgeschickt hatte, kehrte er zurück zu seiner Cousine Berellip, der älteren Schwester von Ravel. Sie wartete mit ihrem Gefolge in einer kleinen natürlichen Höhle am Ufer des unterirdischen Flusses, dem sie bis hierher gefolgt waren. Berellip Xorlarrin war unübersehbar. Mit ihrem lauten, herrischen Auftreten hielt sie die rangniederen Männer auf Abstand. Nur ihren zwei jungen Zofen war es gestattet, sie anzusprechen.
Tsabrak durchquerte den kleinen Raum und entließ die Zofen mit einem Wink.
»Ihr habt sie gefunden?«
Tsabrak nickte. »Wenigstens zwei. Sie sind in den unteren Tunneln unterwegs.«
»Orks?«
Der Zauberer zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir noch nicht. Verstohlener als Orks, könnte man sagen. Vielleicht schlaue Goblins.«
»Hier stinkt es überall nach Orks«, sagte Berellip angeekelt.
Tsabrak konnte wieder nur mit den Schultern zucken. Als sie in diese Tunnel unter den nördlichen Ausläufern der Silbermarken vorgestoßen waren, waren sie davon ausgegangen, hier viele Orks vorzufinden. Schließlich lag über ihnen das Ork-Reich von König Obould Todespfeil.
»Euer freches Grinsen betrachte ich als Herausforderung«, warnte Berellip, deren Hand bereits an den Griff ihrer Schlangenpeitsche glitt.
»Ich bitte um Vergebung, Priesterin«, sagte Tsabrak und verbeugte sich ehrerbietig. Berellip war ganz wild darauf, ihre Peitsche gegen das Fleisch von Drow-Männern einzusetzen. »Ich hatte mich nur gefragt, ob ein gefangener Goblin-Stamm bei unserer Rückkehr nach Q’Xorlarrin ausreichen mag.«
»Ihr glaubt immer noch, dass wir hierhergeschickt wurden, um Sklaven zu nehmen?«
»Zum Teil«, antwortete der Zauberer ehrlich. »Ich wüsste auch andere Gründe, warum man mich vorläufig aus dem Weg haben will. Ich bin mir jedoch nicht sicher, warum man Euch in dieser ruhmreichen Umbruchzeit für das Haus fortschickt.«
»Weil Oberin Zeerith es so wünschte«, zischte die Priesterin.
Mit einer neuerlichen Verbeugung zeigte Tsabrak ihr an, dass dies selbstverständlich die einzige Antwort war, die er verdient hatte. Berellip behielt ihre Gedankengänge meistens für sich, und Tsabrak hatte das zu akzeptieren. Er und Berellip hatten sich schon oft über den Sinn und Zweck ihres Auftrags unterhalten, und dabei war Berellip teilweise erheblich offener gewesen und hatte Oberin Zeerith sogar kritisiert. Doch es war typisch für Berellip Xorlarrin, einfach so zu tun, als hätten diese Gespräche niemals stattgefunden.
»Unseren Weg und die Zusammenstellung der Truppe hat nicht nur Oberin Zeerith festgelegt«, sagte er kühn.
»Das weiß man nicht.«
»Ich kenne Erzmagier Gromph Baenre seit zweihundert Jahren. Er hatte seine Hand im Spiel.«
Berellips Gesicht wurde sehr hart, und sie murmelte: »Baenre hat überall die Hand im Spiel.« Sie sprachen von Tiago Baenre, dem offiziellen Vertreter des Ersten Hauses, der Ravel bei der Eroberung von Gauntlgrym begleitet hatte. Zu Beginn ihrer Reise nach Osten hatte Berellip Tsabrak gegenüber kein Geheimnis daraus gemacht, wie sehr sie den dreisten jungen Adligen verabscheute.
Berellips Abneigung gegenüber Tiago überraschte Tsabrak wenig. Er kannte Tiago ziemlich gut, und die geringeren Häuser von Menzoberranzan hatten schon oft gesehen, wie der junge Krieger sich über seinen Status als Mann geflissentlich hinwegsetzte und das Gewicht von Haus Baenre für seine Zwecke in die Waagschale warf. Zudem flüsterte man sich zu, dass Tiago bald Saribel Xorlarrin heiraten würde, Berellips in jeglicher Hinsicht unterlegene jüngere Schwester, die er Berellip vorgezogen hatte. Von Saribel hielt Berellip offenkundig ähnlich wenig wie von Ravel, dachte Tsabrak.
»Was hätte der Erzmagier schon davon, wenn wir beide hier draußen sind?«, fragte Berellip hochmütig. »Wozu sollte er Oberin Zeerith bitten, eine Hohepriesterin und einen Meister von Sorcere auf Sklavenjagd zu schicken?«
»Das ist nicht alles«, sagte Tsabrak überzeugt. Er spielte auf eine andere Unterhaltung an: »Ihr hattet mir gesagt, die Spinnenkönigin sei über unsere Reise erfreut.«
Er hielt den Atem an und machte sich auf einen Peitschenschlag gefasst, erlebte jedoch eine angenehme Überraschung, als sie einfach nickte und sagte: »Hier geht etwas anderes vor. Wir werden es erfahren, sobald Oberin Zeerith der Meinung ist, dass wir es wissen sollten.«
»Oder wenn Erzmagier Gromph dieser Meinung ist«, bohrte Tsabrak weiter.
Berellips Augen sprühten vor Zorn.
Zu seiner großen Erleichterung kamen ausgerechnet in diesem Moment seine Späher in die Höhle gelaufen.
»Keine Goblins«, meldete einer von ihnen sichtlich aufgeregt.
»Drow«, sagte der andere.
»Drow?«, fragte Berellip. Sie wechselte einen Blick mit Tsabrak. Von einer Drow-Stadt hier draußen war keinem von ihnen etwas bekannt.
Vielleicht kennen wir unsere Antworten bald, teilten Tsabraks Finger seiner Cousine lautlos mit, wobei der Zauberer darauf achtete, dass weder die Späher noch die anderen im Raum seine Signale bemerkten.
Auf halber Höhe einer unterirdischen Felswand saßen zwei geschmeidige Gestalten auf einem Absatz. Aus einer Tunnelöffnung über ihnen ergoss sich Wasser in den unterirdischen See am Fuß der Wand. Trotz ihres schmalen, gefährlichen Standorts, der nur von vereinzelten Flechten erhellt wurde, wirkten beide vollkommen entspannt.
»Warum müssen wir da hinauf?«, fragte Doum’wielle, während sie das Seil hochzog. Die Elfe war die jüngere der beiden. Sie musste die Stimme erheben, um sich über das Rauschen des Wasserfalls hinweg Gehör zu verschaffen. Unwillkürlich wünschte sich der Ältere, er hätte sie ausreichend in der Zeichensprache der Drow unterwiesen. »Ich dachte, wir wollten ins Unterreich absteigen«, fügte seine Tochter voller Sarkasmus hinzu.
Der Drow, dessen Haut dunkler war als ihre, probierte einen Unterreichpilz und starrte ihn angewidert an. »Das ist der Weg, auf dem ich meine Heimat verlassen habe«, antwortete er.
Die junge Frau, die halb Drow, halb Mondelfe war, lehnte sich ein Stückchen vor und wirbelte bereits den Seilhaken für den nächsten Wurf. Mitten in der Bewegung brach sie ab und starrte ihren Begleiter ungläubig an.
»Das ist hundert Jahre her«, wandte sie ein. »Wie kannst du das so genau wissen?«
Er warf den Rest des Pilzes in die Tiefe und stand geschmeidig auf, obwohl eines seiner Beine schwer verwundet war. Dann wischte er sich die Hände an der Hose ab. »Ich wusste immer, dass ich eines Tages wiederkomme.«
Die Frau warf das Seil erneut aus. Diesmal landete der Haken in dem dunklen Loch des Tunnels über ihnen.
»Deshalb habe ich mir den Weg sehr gut eingeprägt«, erklärte er, als sie den Sitz des Hakens prüfte. »Der Wasserfall war damals aber noch nicht hier.«
»Na, das ist ja vielversprechend«, erwiderte sie schnippisch und kletterte los.
Ihr Vater sah ihr stolz dabei zu und registrierte das Schwert, das in der Scheide an ihrer Hüfte hing. Khazid’hea, der Schnitter, war eine mächtige, intelligente Waffe, die schwächere Besitzer in den Wahnsinn treiben konnte. Allmählich wusste seine Tochter die blutrünstige Klinge zu beherrschen. Das war kein Kinderspiel, denn er hatte es schmerzhaft am eigenen Leib erfahren.
Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft, als er zu dem ebenso feinen wie starken Elfenseil sprang und mit sehnigen Armen zügig zu ihr aufschloss. So war er dicht unter dem Zugang, als sie sich über den Rand zog und ihm die Hand hinstreckte. Er griff zu und hatte es geschafft.
Sie sagte etwas zu ihm, aber er hörte es nicht mehr. Nicht angesichts der Feinde, die sich mit erhobenen Armen näherten, weil sie mit ihren Handarmbrüsten auf ihn zielten.
Auf der anderen Seite des Wasserfalls stand Tsabrak Xorlarrin oben im Tunnel an derselben Bruchkante, die zuvor seine Beute gewählt hatte, und beobachtete, wie die zwei vom Seeufer aus in die Höhe kletterten. Er hatte sie problemlos entdeckt und dank seines beträchtlichen magischen Talents genau verfolgt. Sein zufriedenes Lächeln (das unbemerkt blieb, weil er sich unsichtbar gemacht hatte) zeigte an, dass er sich ziemlich sicher war, um wen es sich bei diesem abtrünnigen Drow dort handelte.
Er fragte sich, was Berellip Xorlarrin wohl machen würde, sobald sie herausfand, dass es sich um einen einst hoch angesehenen Sohn des Zweiten Hauses von Menzoberranzan handelte, dem größten Rivalen von Haus Xorlarrin.
»Schön vorsichtig, Hexe«, flüsterte er, doch seine Worte gingen im Tosen des Wasserfalls unter. Er hätte Berellips Kriegern auf magischem Wege eine Warnung schicken können. Der Spruch lag ihm auf der Zunge.
Dann aber änderte er seine Meinung und lächelte noch breiter. Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er hörte, wie die Frau aufschrie, und es im Zugang zum Tunnel gleißend hell wurde.
Vorsichtshalber zog sich der Drow zur Wand zurück, wo zwei Stalagmiten sicheren Halt versprachen, und setzte zu einem Zauber an.
Das Knistern und Knacken von Doum’wielles Blitzschirm, der die Armbrustbolzen abfing, übertönte das Rauschen des Wassers. Die Bolzen klackerten zu Boden.
»Zu mir!«, rief sie ihrem Vater zu, aber das war überflüssig. Der erfahrene Krieger schob sich bereits neben sie an die Tunnelwand. Beide hatten keine Lust, ihre Gegner mit dem Rücken zum Abgrund zu empfangen.
Er zog seine zwei Schwerter, sie ihres.
Khazid’hea duldete keine zweite Waffe neben sich, denn den glorreichen Todesstoß wollte das Schwert mit nichts und niemandem teilen.
Drei Drow-Männer tauchten vor den beiden auf. Sie bewegten sich perfekt koordiniert mit dem Rücken zum Fluss – einer am Boden kriechend, der zweite springend, und der dritte rannte herbei, um seinen Kameraden Deckung zu geben. Alle drei waren mit je zwei Schwertern bewaffnet. Der robbende Drow sprang direkt vor Doum’wielles Vater hoch und trieb dessen Klingen mit einem doppelten Schlag von unten in die Höhe.
Der zweite Krieger landete mit einem Salto neben ihm. Noch ehe er stand, stach er mit einem Schwert nach Doum’wielle und mit dem anderen nach ihrem Vater. Da der dritte Krieger direkt auf sie zulief und eine doppelte Parade erforderlich machte, konnte die Elfe dem Stich nach ihrem Gesicht nur unter Mühen ausweichen.
»Nicht töten!«, rief ihr Vater, wobei ihr nicht klar war, ob das ihr galt oder ihren Feinden. Sie hätte den Befehl ohnehin nicht befolgt, denn ihr Schwert dürstete nach Blut – egal wessen Blut. Sie zog Khazid’hea mit Schwung zurück und schlug beide Schwerter ihres Gegners beiseite. Er drehte seine vordere Klinge, sie drehte Khazid’hea, und beide stachen zu.
Mit dem Fels im Rücken konnte Doum’wielle nicht zurückweichen. Aber ihr Stich trieb ihren Gegner nach hinten, sodass auch dessen Angriff sie nicht traf. Im Zweikampf und mit Khazid’hea in der Hand würde sie diesen erfahrenen Krieger zweifellos besiegen.
Aber das hier war kein Zweikampf, und auch ihr Vater hatte es nicht nur mit einem Gegner zu tun. Der mittlere Angreifer schlug mit seinen Schwertern mal nach links, mal nach rechts und mischte sich so in das Wirbeln der Paraden und Gegenschläge ein.
Nein!, schrie Khazid’hea in ihrem Kopf auf, als das intelligente Schwert ihre Absichten erkannte.
Sein Einspruch verhallte ohne Wirkung, weil Doum’wielle keine Wahl blieb. Hier ging es ums nackte Überleben. Die Kriegszauberin und Halb-Drow stach nach vorn, wehrte rasch einen Schlag des mittleren Feindes ab und stach dann noch einmal zu, um den Hauptgegner zurückzudrängen.
Das Zurückweichen war exakt so bemessen, dass der von ihr eingesetzte Zauber ihn auf den glitschigen Steinen in den Fluss rutschen ließ. Der Drow schlug haltsuchend um sich, wurde jedoch von der Strömung erfasst und an seinen Begleitern vorbei über den Rand des Abgrunds gerissen.
»Nein!«, schrie ihr Vater ihr zu, aber aus ganz anderen Gründen als ihr Schwert. Khazid’hea wehrte sich dagegen, dass sie ihre Magie einsetzte, denn das Schwert wollte den Ruhm und das Blut allein für sich. Ihr Vater hingegen schien immer noch auf eine Verhandlungslösung zu hoffen – was Doum’wielle angesichts von Khazid’heas spöttischen Eingebungen vollkommen lächerlich erschien.
Da sie bemerkt hatte, dass sich weitere Feinde näherten, wandte sich Doum’wielle rasch dem zweiten Drow zu, den sie gegen den Hauptgegner ihres Vaters abdrängen wollte.
Diesmal jedoch war der Mann schneller, und als sie angriff, sprang er mit einem Griff an die Brosche an seiner Mantelschließe in einem hohen Satz nach hinten. Die Magie seines Hauswappens löste einen Levitationszauber aus, mit dessen Hilfe der Drow über den unterirdischen Fluss schwebte.
Doum’wielle wäre ihm gern gefolgt, aber Khazid’hea trieb sie stattdessen nach vorn, denn das Schwert witterte die Blöße des dritten Drow, der mit ihrem Vater kämpfte. Bei ihrem Angriff fuhr er herum und konnte ihren ersten Schlag teilweise abwehren.
Aber mehr auch nicht, denn Khazid’hea konnte sich durchsetzen. Mühelos durchdrang die Klinge das schöne Kettenhemd des Drow und glitt herrlich in seine Haut. In heller Panik warf der Drow sich nach hinten und floh von dem Sims in die Weite der dahinter gelegenen Höhle.
Jetzt standen Doum’wielle und ihr Vater wieder Seite an Seite. Sie blickten in den Tunnel, wo sich vier Drow-Krieger aufgebaut hatten – unter ihnen der, der über den Fluss geschwebt war – und erneut ihre Handarmbrüste erhoben.
»Das ist unser Tod«, sagte ihr Vater resignierend.
»Genug!« Die Lautstärke des Rufs hinter der feindlichen Linie war magisch verstärkt. Für jeden, der in Menzoberranzan aufgewachsen war, war das ein klarer Befehl, kam er doch aus dem Mund einer Frau.
Die Drow machten Platz für eine Frau in einer schönen schwarzen Robe, die kunstvoll gearbeitet und mit spinnenförmigen Runen verziert war. Selbst Doum’wielle, der die Drow-Kultur nur aus den Erzählungen ihres Vaters bekannt war, begriff, dass sie eine hochrangige Priesterin der Göttin Lolth vor sich hatten.
Zum Zeichen ihrer Macht hielt sie die furchtbare Schlangenpeitsche bereit, aus der vier gierige lebende Schlangen hervorwuchsen, die auf ihren Befehl hin nur zu gern zuschlagen würden.
»Wer seid Ihr, und warum seid Ihr hier?«, fragte Doum’wielle in der Sprache der Drow, die sie von ihrem Vater gelernt hatte.
»Ah ja, die Vorstellung«, warf ihr Vater ein. »Damit hätte ich gern früher begonnen, aber Eure Krieger waren zu sehr auf meinen Tod versessen.«
Das Zischen der Schlangen spiegelte den Zorn der Priesterin wider.
»Ihr schlagt gegenüber einer Hohepriesterin einen derartigen Ton an?«
Überrascht registrierte Doum’wielle, dass ihr Vater sichtlich eingeschüchtert einen Schritt zurückwich. Er hatte ihren Rang unterschätzt und wirkte nun weit weniger selbstbewusst.
»Vergebt mir«, sagte er mit einer Verneigung. »Ich bin …«
»Tos’un Armgo vom Haus Barrison Del’Armgo«, unterbrach ihn Doum’wielle. »Und ich bin Doum’wielle Armgo von ebendiesem Haus.« Sie trat vor und hielt dabei Khazid’hea bereit, dessen rote Schneide hungrig funkelte. »Ihr werdet uns nach Menzoberranzan bringen«, befahl sie, »wo wir uns wieder unserem Haus anschließen werden.« Sie konnte nicht erkennen, ob die würdevolle Priesterin beeindruckt oder belustigt war.
»Kinder vom Haus Barrison Del’Armgo, Menzoberranzan hat hier keinen Einfluss.«
Belustigt also, erkannte Doum’wielle. Das verhieß nichts Gutes.
»Doch die Stadt Q’Xorlarrin wird Euch willkommen heißen«, sagte die Priesterin.
Tos’un seufzte, und Doum’wielle hoffte, das wäre ein Ausdruck tiefer Erleichterung.
»Q’Xorlarrin?«, fragte er. »Haus Xorlarrin hat eine Stadt gebaut?« An Doum’wielle gewandt flüsterte er: »Doe, unser neues Leben könnte interessanter werden, als ich geplant hatte.«
»Ja, Haus Xorlarrin«, antwortete die Priesterin. »Früher das Dritte Haus von Menzoberranzan, heute größer. Größer als das Zweite Haus, möchte man meinen.«
Die Art, wie sie dies sagte, schien die Hoffnung aus dem Gesicht ihres Vaters zu wischen, bemerkte Doum’wielle.
»Tos’un Armgo«, erklang eine Männerstimme von hinten. Als Doum’wielle und Tos’un sich umdrehten, sahen sie hinter dem Rand des Abgrunds einen Drow in der Luft schweben. Doum’wielle schien ihre Magie aktivieren zu wollen, aber ihr Vater hielt sie am Arm fest. Sein Blick verriet, dass er die anderen für deutlich überlegen hielt.
»Tsabrak?«, fragte er.
Der schwebende Zauberer lachte und verbeugte sich, was mitten in der Luft geradezu komisch wirkte.
»Ein Freund?«, flüsterte Doum’wielle hoffnungsvoll.
»Drow haben keine Freunde«, flüsterte Tos’un zurück.
»Allerdings«, pflichtete Tsabrak Xorlarrin ihm bei. »Trotzdem habe ich euch einen großen Gefallen getan und euch wahrscheinlich die Hinrichtung erspart.« Er zeigte nach unten, und als Doum’wielle und Tos’un sich näher an den Abgrund wagten, sahen sie die beiden abgestürzten Drow-Krieger in einem magischen Netz liegen, das sich über den Boden der Höhle spannte.
»Meiner Cousine, der ältesten Tochter von Oberin Zeerith, wurde vor Kurzem durch den Willen der Göttin eine vierte Schlange verliehen, um die Gnade der Göttin walten zu lassen. Ich denke, sie wartet nur darauf, diese Schlange einzusetzen. Mit denen, die Xorlarrins töten, geht Berellip bekanntlich nicht zimperlich um.«
»Dann sollte sie vielleicht keine Xorlarrins losschicken, um die Kinder von Haus Barrison Del’Armgo anzugreifen!«, erwiderte Doum’wielle herrisch. Tos’un versuchte fassungslos, sie zum Schweigen zu bringen, worauf sie den Rest ihrer Antwort tatsächlich herunterschluckte.
Aber nur, weil vier lebende Schlangen, die Köpfe von Berellips grausamer Peitsche, sie für ihre Unverfrorenheit in den Rücken bissen.
Khazid’hea schrie sie an, sich zu wehren, doch das Gift und der Schmerz zwangen Doum’wielle in die Knie.
Ihre Lektion hatte begonnen.
Teil 1
Gemeinsam im Dunkel
Verändert man sich tatsächlich?
Über diese Frage habe ich in den letzten Jahrzehnten immer wieder nachgedacht. Besonders wichtig wurde sie mir, als ich einmal mehr auf Artemis Entreri stieß, der nach einhundert Jahren überraschend lebendig war.
Es ergab sich, dass wir gemeinsam unterwegs waren, ja, dass ich ihm traute. Heißt das, dass ich dachte, er hätte sich »verändert«?
Eigentlich nicht. Und nun, nachdem sich unsere Wege erneut getrennt haben, glaube ich nicht, dass ein grundlegender Unterschied zu dem Mann besteht, an dessen Seite ich in der Unterstadt von Mithril-Halle gekämpft habe, als es noch in der Hand der Duergar war, oder dem Mann, den ich nach Calimhafen verfolgt habe, nachdem er Regis entführt hatte. Letztlich ist er derselbe Mann, so wie ich letztlich derselbe Drow bin.
Man kann lernen und wachsen und dadurch in vergleichbaren Situationen anders reagieren als früher – das ist die Hoffnung, die ich für alle hege, auch für mich selbst, ja, für ganze Gesellschaften. Ist das nicht der einzige Zweck von Erfahrungen, dass wir sie nutzen, um eine bessere Wahl zu treffen, destruktive Instinkte zu bezähmen und klügere Lösungen zu finden? In dieser Hinsicht glaube ich tatsächlich, dass Artemis Entreri sich verändert hat, weil er nicht mehr sofort zum Dolch greift, auch wenn er im Zweifelsfall ebenso tödlich zusticht wie früher. Doch wenn man ihm ins Herz blickt, ist er derselbe geblieben.
Für mich zumindest gilt das, auch wenn ich im Nachhinein besehen in den letzten paar Jahren einen ganz anderen Pfad beschritten habe als den, dem ich die meiste Zeit meines Lebens gefolgt bin. Finsternis hat sich in mein Herz geschlichen, das gebe ich zu. Ich hatte so viele gute Freunde verloren, dass ich schließlich auch die Hoffnung verlor und den leichteren Weg beschritt – obwohl ich nahezu jeden Tag geschworen hätte, dass ein Drizzt Do’Urden niemals so zynisch reagieren würde.
Im Grunde genommen habe ich mich jedoch nicht verändert, und als ich vor der Wahl stand und mir die Wahrheit eingestehen musste, konnte ich nicht weitergehen.
Ich kann nicht behaupten, dass ich Dahlia, Entreri und die anderen vermisse. Zumindest drängt mein Herz nicht darauf, sie zu suchen. Andererseits bin ich nicht so sicher, dass meine Entscheidung mir so leichtgefallen wäre, wenn nicht die Freunde zurückgekehrt wären, die mir am nächsten stehen. Wie kann ich die Trennung von Dahlia bereuen, wenn diese Weggabelung mich doch in die Arme von Catti-brie zurückführte?
Und so weiß ich erneut die Gefährten der Halle an meiner Seite, die zuverlässigsten und teuersten Freunde, die ich je hatte und auf die ich je hoffen könnte. Haben sie sich verändert? Haben ihre Reisen in die Welt des Todes diese vier Freunde neue Maßstäbe gelehrt, die mich bitter enttäuschen werden, wenn wir uns wieder näherkommen?
Das ist eine Furcht, die ich in mir trage, aber doch von mir weise.
Denn ich glaube, im Grunde genommen ändert man sich nicht. Die Wärme von Catti-bries Umarmung vermittelt mir die Zuversicht, dass ich recht habe. Das freche Grinsen von Regis kenne ich von früher (auch wenn er jetzt Schnauzer und Ziegenbart trägt). Und Bruenors Schrei in jener Nacht unter dem Sternendach auf Kelvins Steinhügel und seine Reaktion auf Wulfgar … doch, das war Bruenor, dickschädelig und treu bis in die Knochen!
Aber trotz allem habe ich in diesen ersten gemeinsamen Tagen bei Wulfgar eine Veränderung bemerkt. Da ist eine Leichtigkeit, die ich nicht an ihm kannte, und – was merkwürdig ist, nachdem ich gehört hatte, wie widerstrebend er Iruladoon erneut gegen die Welt der Sterblichen eingetauscht hat – ein Lächeln, das nie zu weichen scheint.
Dennoch ist und bleibt er Wulfgar, der stolze Sohn von Beornegar. Er hat eine Art Erleuchtung gefunden, auch wenn ich die nicht näher fassen kann. Er ist erleuchtet und erleichtert. Die Last ist verschwunden. Ich sehe seine Freude, sein Lächeln, als wäre all dies nichts als ein großes Abenteuer, geschenkte Zeit, und das ist wohl eine ausgesprochen gesunde Perspektive.
Sie sind zurück. Wir sind zurück. Die Gefährten der Halle. Wir sind nicht mehr dieselben wie früher, aber unsere Herzen sind treu, uns eint das gemeinsame Ziel, und das Vertrauen zueinander ist ungeschmälert und somit grenzenlos.
Darüber bin ich sehr froh!
Und überraschenderweise bereue ich auch nichts von den letzten Jahren meiner Reise durch dieses gleichermaßen verwirrende, erschreckende und großartige Leben. Meine Zeit mit Dahlia und insbesondere mit Entreri hat mich vieles gelehrt, wie ich meine. Dass ich die Welt aus ihrer zynischen Sicht erlebt habe, hat mich nicht wieder in meine Jugend in Menzoberranzan zurückkatapultiert und mit Finsternis umfangen, sondern ich entwickelte dadurch ein umfassenderes Verständnis für Entscheidungen und ihre Konsequenzen. Denn ich habe mich davon gelöst, noch ehe ich wusste, welches Schicksal mich auf Bruenors Anhöhe erwartete.
Ich bin nicht so selbstbezogen, dass ich der Meinung bin, die ganze Welt sei für mich geschaffen! Es gerät wohl jeder manchmal in solche egozentrischen Spielchen hinein. In diesem Fall jedoch gestatte ich mir, mich selbst für so wichtig zu halten, dass ich mir eingestehe: Die Rückkehr der übrigen Gefährten der Halle war mein Lohn. Welchen Namen man auch den Göttern und Göttinnen zuschreibt, ob man ans Schicksal glaubt, an Zufall oder an die verschlungenen Wege des Glücks – es spielt keine Rolle. In diesem speziellen Fall möchte ich an eine besondere Form der Gerechtigkeit glauben.
Das klingt dumm und selbstherrlich, ich weiß.
Aber es fühlt sich gut an.
Drizzt Do’Urden
Kapitel 1
Die Weisheit der Oberin Baenre
Als Oberinmutter Quenthel Baenre sich zu den Abendgebeten anschickte, war es noch ein normaler Tag. Ihre prachtvollen schwarzen Spitzen umwogten sie wie fließende Spinnennetze, als sie würdevoll den Mittelgang ihrer Hauskapelle abschritt und an den rangniederen Priesterinnen und den vielen Seitenaltären vorbeikam. Der kleinste Luftzug konnte die feinen Fäden der Robe aufwirbeln und die Gestalt der Oberinmutter verschwimmen lassen. Das verlieh ihr eine schwer fassbare Aura, als käme sie aus einer anderen Welt.
Quenthels einzige überlebende Schwester, Sos’Umptu, Erste Priesterin des Hauses und Hüterin der Kapelle, hatte an diesem Abend zuerst gebetet und lag nun auf den Knien mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden. Quenthel ließ dieses Bild auf sich wirken, während sie näher kam. Sos’Umptus Unterarme und Hände ruhten über ihrem Kopf flach auf dem Boden und wiesen in absoluter Unterwerfung zum Altar hin. Das war für die täglichen Gebete der höchsten Priesterinnen keine übliche Haltung. Eine Priesterin von Sos’Umptus Rang gab sich nur selten derart demütig.
Als Quenthel so nahe herangekommen war, dass sie die Gebete ihrer Schwester vernahm, hörte sie, dass diese tatsächlich flehentlich um Vergebung bat. Die Oberinmutter hörte noch ein wenig zu, um herauszufinden, wofür sich Sos’Umptu entschuldigte, verstand es jedoch nicht.
»Liebe Schwester«, sagte sie, als Sos’Umptu schließlich aus ihrem verzweifelten Gebet auftauchte.
Die Erste Priesterin hob den Kopf und sah sie an. »Fleht«, drängte Sos’Umptu flüsternd. »Sofort!«
Angesichts von Sos’Umptus respektlosem Ton und der Frechheit, ihr überhaupt einen Auftrag zu erteilen, glitt Quenthels Hand unwillkürlich zu ihrer Schlangenpeitsche, an der sich fünf ewig aufmerksame Schlangen wanden. Dabei stellte sie überrascht fest, dass selbst K’Sothra, die blutrünstigste von ihnen, sie vor dieser Reaktion warnte – und K’Sothra gab nur äußerst selten einen anderen Rat als die Peitsche!
Hör ihr zu, raunte Hsiv, ihre Beraterschlange.
Sos’Umptu ist fromm, stimmte Yngoth zu.
Der Rat der Schlangen ließ die Oberinmutter begreifen, dass nur eine überaus wichtige Angelegenheit ihre Schwester zu einem derart unbotmäßigen Verhalten verleiten würde. Schließlich war die zurückhaltende, berechnende Sos’Umptu ihrer verstorbenen älteren Schwester Triel sehr ähnlich.
Die Oberinmutter breitete ihre Roben hinter sich aus und legte sich neben der Ersten Priesterin mit dem Gesicht nach unten und ausgestreckten Armen nieder.
Sofort hörte sie das Schreien – nein, das Kreischen. In die misstönende Kakophonie der Dämonenstimmen mischte sich die tobende, giftige Stimme der Herrin Lolth.
Irgendetwas lief hier völlig falsch.
Quenthel dachte angestrengt nach. Wie ganz Toril war auch Menzoberranzan noch auf der Hut, denn fünf Jahre nach der Zauberpest war die Welt noch immer nicht wieder genauso wie zuvor. Der Drow-Stadt war es in Quenthels Augen seitdem jedoch gut ergangen. Haus Xorlarrin, das mit Haus Baenre verbündete Dritte Haus von Menzoberranzan, hatte sich in der alten Zwergenfestung Gauntlgrym festgesetzt, die bald unter dem Namen Q’Xorlarrin bekannt sein würde. Die gewaltige alte Schmiede, die von nichts weniger als einem Urelementar befeuert wurde, war wieder zum Leben erweckt worden, und inzwischen flossen ausgezeichnete Waffen mit mächtigen Zauberkräften nach Menzoberranzan. Die neue Drow-Stadt wirkte so sicher, dass Oberin Zeerith Xorlarrin inzwischen ihre Abreise vorbereitete und den Rat von Menzoberranzan ersucht hatte, der neuen Stadt den Namen Q’Xorlarrin zu genehmigen und sie ihrem mächtigen Haus dauerhaft als Wohnsitz zuzusprechen.
Es würde gar nicht so einfach werden, dieses Haus im Achterrat zu ersetzen, denn wenn eines der nachrangigen Häuser eine Aufstiegschance witterte, begann es stets zu brodeln. Aber Quenthel ging nach wie vor davon aus, dass sie diese Probleme im Griff hatte.
Bregan D’aerthe florierte, und der Handel von und nach Menzoberranzan verlief störungsfrei. Unter der Führung von Kimmuriel und Jarlaxle hatten die Söldner klammheimlich die Oberflächenstadt Luskan übernommen, ohne die Neugier oder den Zorn der Herren der umliegenden Reiche zu erregen. Selbst die mächtige Stadt Tiefwasser hielt still.
Kaum merklich schüttelte die Oberinmutter den Kopf. Seit sie Menzoberranzan regierte, lief doch alles glatt. Vielleicht wurden die Schreie von etwas anderem verursacht? Sie gab sich Mühe, über die Grenzen von Menzoberranzans Tentakeln hinauszublicken.
Aber das Aufheulen in ihrem Kopf ließ keinen Zweifel zu: Heute Nacht hatte Lolths Zorn ein klares Ziel – und er richtete sich gegen Haus Baenre oder zumindest gegen Menzoberranzan. Nachdem das telepathische Unwetter längere Zeit auf Quenthel eingeprasselt war, richtete sie sich schließlich auf und bedeutete Sos’Umptu mit einer Geste, ihrem Beispiel zu folgen.
Ihre Schwester gehorchte kopfschüttelnd. Sie war ebenso durcheinander wie Quenthel.
Der Grund für den Zorn der Spinnenkönigin? Quenthel stellte ihre Frage in der komplexen Zeichensprache der Drow.
Sos’Umptu schüttelte ratlos den Kopf.
Oberinmutter Quenthel betrachtete den großen Altar, dessen Hintergrund ein aufgerichteter Riesendrider bildete. Der Drider hockte auf seinen acht eingezogenen Spinnenbeinen und stand mit Kopf und Oberkörper einer Drow-Frau für die herrliche Gestalt der Göttin Lolth persönlich. Quenthel schloss die Augen und horchte erneut hin. Dann nahm sie abermals die Unterwerfungshaltung ein.
Die Schreie blieben unklar.
Immer noch verwirrt und besorgt ging sie langsam wieder ins Knien über. Sie verschränkte die Arme, wiegte sich hin und her und suchte nach einer Eingebung. Als sie eine Hand an die Peitsche legte, blieben selbst die Schlangen untypisch stumm.
Schließlich hob sie den Kopf und signalisierte ihrer Schwester: Geht nach Arach-Tinilith und holt Myrineyl.
»Schwester?«, wagte Sos’Umptu offen zu erwidern. Arach-Tinilith war als Ausbildungsstätte der Priesterinnen die wichtigste Akademie der Drow und lag auf dem Tier-Breche oberhalb von Melee-Magthere, der Schule der Krieger, und Sorcere, der Schule für vielversprechende junge Zauberer.
Ich sollte mich in den Quarvelsharess zurückziehen, zeigten Sos’Umptus Finger an. Dieser größte öffentliche Tempel von Menzoberranzan, wo Sos’Umptu als Hohepriesterin ihren Dienst versah, war ihr Lebenswerk. Ich habe nur in der Kapelle Baenre haltgemacht, damit ich die Abendgebete nicht versäume.
Ihr Widerspruch gab der Oberinmutter zu verstehen, dass Sos’Umptu davon ausging, dass diese Angelegenheit nicht nur Haus Baenre, sondern ganz Menzoberranzan betraf. Das mochte stimmten, aber Quenthel wollte kein Risiko eingehen und ihrem Haus keinesfalls eine Blöße geben.
Nein! Ihr Signal war eindeutig. Sie sah die Enttäuschung auf Sos’Umptus Gesicht und wusste, dass es mehr um den Grund ging, weshalb Sos’Umptu nach Arach-Tinilith geschickt wurde, als um die verzögerte Rückkehr in ihren geliebten Tempel. Sos’Umptu und Myrineyl, Quenthels älteste Tochter, waren schließlich keine Freundinnen! Je näher Myrineyls Abschlussprüfungen in Arach-Tinilith rückten, desto mehr wuchs das Raunen über das bevorstehende Ringen der beiden um den Titel der Ersten Priesterin von Haus Baenre, eine der begehrtesten Positionen der Drow-Stadt.
Ihr werdet mit Myrineyl zusammenarbeiten, wies Quenthel sie mit Handzeichen an. Laut sagte sie: »Ruft in diesem Tempel eine Yochlol. Wir werden den Ruf der Herrin Lolth vernehmen und ihren Wünschen Folge leisten.«
Bei den Worten der Oberinmutter hoben sich in der ganzen Kapelle die Köpfe, und manche Priesterinnen standen sogar auf. Eine Yochlol zu beschwören war keine Kleinigkeit, und die meisten Anwesenden hatten diese Zofen der Herrin Lolth noch nie zu Gesicht bekommen.
Die Oberinmutter bemerkte die Blickwechsel ihrer Untergebenen, die großen Augen, die Scheu und die Aufregung.
»Die Hälfte der Priesterinnen von Haus Baenre darf der Beschwörung beiwohnen«, erklärte die Oberinmutter, als sie sich erhob. »Wählt die aus, die ihren Platz gebührend verdienen.« Sie warf die Spinnwebschleppe hinter sich und stolzierte gemessen davon, als wäre sie der Fels der Zuversicht.
Im Kopf der Oberinmutter überschlugen sich jedoch die Gedanken, denn dort hallte das Kreischen der Lolth nach. Irgendwer hatte einen schlimmen Fehler begangen, und Lolths Strafen fielen niemals gnädig aus.
Vielleicht sollte sie selbst an der Zeremonie teilnehmen, überlegte sie, ehe sie diesen Gedanken rasch wieder verwarf. Immerhin war sie die Oberinmutter von Haus Baenre, die unangefochtene Herrscherin über Menzoberranzan, die Stadt der Lolth. Sie würde keine Yochlol um eine Audienz ersuchen, allenfalls deren Einladung annehmen, sollte es dazu kommen. Außerdem sollten Hohepriesterinnen die Zofen der Lolth nur im absoluten Notfall herbeirufen, und Quenthel war sich keineswegs sicher, dass ein solcher Notfall vorlag. Wenn nicht, würde die Beschwörung Lolth womöglich noch mehr verstimmen, und dann wäre es besser, wenn sie bei dem Ruf nicht anwesend war.
Fürs Erste würde sie das Letzte unter ihren noch lebenden Geschwistern aufsuchen, ihren Bruder Gromph, den Erzmagier von Menzoberranzan. Vielleicht wusste er mehr.
Gromph Baenre, der Erstgeborene der großen Yvonnel von Haus Baenre, zählte zu den ältesten Drow in Menzoberranzan. Seit langem trug er auch den Titel des am längsten amtierenden Erzmagiers der Stadt. Er war bereits vor der Zauberpest und sogar Jahrhunderte vor der Zeit der Unruhen berufen worden. Angeblich hielt er sich, indem er sich eben hielt und seinen Platz kannte, denn obwohl sein Status ihm innerhalb von Menzoberranzan großen Einfluss verschaffte und ihn zweifellos zum mächtigsten männlichen Drow der Stadt machte, war und blieb er letztlich doch – ein männlicher Drow.
Rein theoretisch standen somit jede Oberinmutter und jede Hohepriesterin im Rang über ihm. Sie waren Lolth näher als er, und hier herrschte die Spinnenkönigin.
Schon viele niederrangige Priesterinnen hatten diese Theorie Gromph gegenüber umsetzen wollen.
Sie waren alle tot.
Selbst Quenthel – die Oberinmutter Quenthel – klopfte an der Tür zum Privatgemach des Erzmagiers in Haus Baenre erst einmal höflich an. In der Akademie Sorcere wäre sie wohl hochtrabender aufgetreten, aber hier in Haus Baenre brauchte sie nicht den Schein zu wahren. Quenthel und Gromph kannten einander zu lange und zu gut. Auch wenn sie sich nicht besonders mochten, brauchten sie sich doch gegenseitig.
Der alte Zauberer stand rasch auf und neigte respektvoll den Kopf, als Quenthel ins Zimmer rauschte.
»Unerwartet«, bemerkte er, denn die beiden verbrachten tatsächlich wenig Zeit miteinander. Für gewöhnlich ließ Quenthel ihren Bruder zudem zu ihrem Thron rufen.
Quenthel schloss die Tür und wies Gromph an, sich zu setzen. Er bemerkte ihre Nervosität und sah sie forschend an. »Was gibt es?«
Die Oberinmutter nahm ihm gegenüber an dem großen Schreibtisch Platz, der mit Pergament bedeckt war, teils eingerollt, teils ausgebreitet, dazwischen ungefähr hundert Tintenfässchen.
»Erzählt mir von der Zauberpest«, gebot Quenthel.
»Die ist zum Glück vorbei«, erwiderte er achselzuckend. »Die Magie ist so wie früher, das Gewebe erneuert, in ruhmreicher Weise.«
Quenthel musterte ihn fragend. »Ruhmreich?«, wiederholte sie. Das war eine merkwürdige Wortwahl, umso merkwürdiger, wenn man bedachte, wie Gromph sich normalerweise verhielt.
Gromph zuckte wieder nachlässig mit den Schultern, um seine neugierige Schwester abzuwehren. Angesichts der Unruhe um die Spinnenkönigin reagierte sie ausnahmsweise einmal nicht auf sein Verhalten. Ausnahmsweise hatte sich die Spinnenkönigin diesmal zuerst an die männlichen Zauberer von Menzoberranzan gewandt und erst hinterher an die höherstehenden Zauberinnen aus Arach-Tinilith. Gromph wusste, dass er in Lolths Augen nur kurze Zeit über Quenthel stehen würde, aber diese Spanne wollte er so lange wie möglich auskosten.
Quenthel kniff die Augen zusammen. Gromph unterdrückte sein Lächeln, weil er wusste, dass seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit gegenüber solchen Spielchen der Göttin sie gewaltig wurmte.
»Die Spinnenkönigin ist aufgebracht«, sagte Quenthel.
»Das ist sie immer«, erwiderte Gromph. Er konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Schon bald würde einer von ihnen dem anderen eine ganze Menge über die Spinnenkönigin erzählen, doch zu Quenthels Überraschung würde das dieses Mal nicht sie sein. »Ihr glaubt, ihr jetziger Zorn hat mit dem Gewebe zu tun? Mit dem Ende der Zauberpest?«, fragte er, denn er konnte einfach nicht widerstehen. Er malte sich bereits Quenthels Gesichtsausdruck aus, wenn sie die Wahrheit erfahren würde, und musste sich sehr zusammenreißen, um sie nicht lauthals auszulachen. »Das ist fünf Jahre her. In den Augen einer Göttin natürlich nur ein Wimpernschlag, aber dennoch …«
»Verspottet sie nicht!«, warnte Quenthel.
»Niemals. Ich möchte nur begreifen …«
»Sie ist aufgebracht«, unterbrach ihn Quenthel. »Es wirkt ungezielt, ein disharmonischer Aufschrei wie von großer Enttäuschung.«
»Sie hat verloren«, stellte Gromph fest und lachte über Quenthels drohenden Blick.
»Darum geht es nicht«, widersprach die Oberinmutter überzeugt.
»Liebe Schwester …«
»Oberinmutter!«, wies Quenthel ihn scharf zurecht.
»Fürchtet Ihr, dass die Spinnenkönigin Euch zürnt?«, fuhr Gromph fort.
Quenthel lehnte sich zurück und starrte ins Leere. Sie dachte deutlich länger über diese Frage nach, als Gromph erwartet hatte – so lange, dass der Erzmagier sich schließlich wieder seinem Pergament zuwandte und weiterschrieb.
»Uns«, befand Quenthel schließlich. Gromph sah sie fragend an.
»Uns? Haus Baenre?«
»Vielleicht Menzoberranzan.« Quenthel wedelte abfällig mit der Hand. Sie war sichtlich irritiert. »Ich habe Sos’Umptu und meiner Tochter aufgetragen, eine Yochlol zu rufen, damit wir Genaueres erfahren können.«
»Dann sagt mir bitte, liebe Schwester«, Gromph faltete auf dem Tisch die Hände und starrte Quenthel herausfordernd an, als er erneut ihren Titel ausließ, »warum habt Ihr beschlossen, mich bei der Arbeit zu stören?«
»Die Zauberpest, das Gewebe.« Wieder fuchtelte die Oberinmutter herum.
»Nein, das ist nicht der Grund«, sagte der alte Erzmagier. »Meine liebe Quenthel, mir scheint, Ihr habt Angst.«
Sie sprang so abrupt auf, dass der Stuhl mit Schwung nach hinten glitt. Ihre Augen sprühten vor Zorn, als sie ihn erneut zurechtwies und dabei jede Silbe einzeln ausspie: »O-be-rin-mut-ter.«
»Ja«, sagte Gromph. »Oberinmutter von Menzoberranzan.« Er stand auf und sah sie auf Augenhöhe an. »Vergesst das nie.«
»Ihr scheint derjenige zu sein, der …«
Gromph hörte ihr gar nicht zu. »Und verhaltet Euch entsprechend«, fuhr er fort.
Wieder blitzten Quenthels Augen auf. Ihre Hände ballten sich zusammen und schienen sich für einen Zauber öffnen zu wollen, doch dann bezähmte sie sich rasch wieder.
Gromph nickte und lachte leise. »Wenn die Spinnenkönigin Euch zürnt und Ihr die geringste Schwäche zeigt, ist Euer Schicksal besiegelt«, warnte er. »Ob oben oder unten, die Welt ist im Fluss. Die Pläne unserer Herrin Lolth haben gerade erst begonnen. Sie duldet jetzt keine Schwäche.«
»Unter meiner Führung geht es Menzoberranzan bestens.«
»Ist das so?«
»Haus Xorlarrin hat Gauntlgrym besiedelt. Die alte Schmiede ist wieder aktiv – zum Nutzen von Menzoberranzan.«
»Und Haus Barrison Del’Armgo?«, bohrte Gromph weiter. »Sieht man den Umzug von Xorlarrin dort als etwas, das Oberinmutter Quenthel in die Hände spielt, oder als eine eigene Chance hier in der Spinnenstadt? Ihr habt ihnen einen Gegner vom Hals geschafft, nicht wahr?«
»Ihre Feinde von Haus Xorlarrin sind nicht weit. Oberin Zeerith ist noch in der Stadt«, protestierte Quenthel.
»Und wenn sie geht und ihr Anwesen hier leer steht? Was bald der Fall sein wird …«
»Dann sind sie nicht weit.«
»Und wenn Oberin Mez’Barris Armgo nun Zeerith ein besseres Geschäft zu bieten hätte?«
Quenthel setzte sich wieder, um über diese gefährliche Vorstellung nachzudenken. Erst nach einer ganzen Weile sah sie abermals zu Gromph hinüber, der immer noch hinter seinem Tisch stand.
»Nur Mut, liebe Schwester«, sagte Gromph leichthin. »Wir kennen nicht einmal den Grund für den … Aufschrei … der Herrin Lolth. Vielleicht erregt sie sich nur über etwas aus dem Reich der Götter, das mit uns überhaupt nichts zu tun hat. Vielleicht geht es überhaupt nicht um Euch, um das Haus Baenre oder um Menzoberranzan. Wer kann das bei den Göttern schon sagen?«
Dazu nickte Quenthel hoffnungsvoll. »Inzwischen dürften sie die Yochlol gerufen haben«, bemerkte sie, stand erneut auf und ging zur Tür. »Holen wir uns unsere Antworten.«
»Holt Ihr sie Euch«, forderte Gromph sie auf. Er kannte seine Antworten ja bereits. »Ich habe hier noch zu tun. Heute und morgen bleibe ich in Haus Baenre, nur für alle Fälle.«
Das schien die Oberinmutter zufriedenzustellen, und sie machte sich auf den Weg. Gromph blieb stehen, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann setzte er sich mit einem tiefen Seufzer wieder hin.
Er brauchte keine Erklärungen von einer Zofe der Yochlol. Eine noch ältere Quelle hatte ihm bereits von der Unruhe der Spinnenkönigin und ihrer wachsenden Wut auf Menzoberranzan berichtet.
Quenthel würde bald zurückkommen, und sie würde der Reise, auf die er sie schicken wollte, wenig abgewinnen können.
Die blubbernde, kratzige Stimme der Yochlol passte zu ihrem Erscheinungsbild – einem halb geschmolzenen schmutzigen Wachshaufen mit zahlreichen Tentakeln, die den Albtraum vervollständigten.
»Ihr erweitert, aber ihr seid nicht stark«, sagte die Yochlol sichtlich verärgert.
Sos’Umptu und Myrineyl wechselten einen nervösen Blick.
»Wir möchten nur die Spinnenkönigin erfreuen«, erwiderte Sos’Umptu mit angemessener Ehrerbietung.
»Sie erfreut sich an Stärke«, sagte die Yochlol.
Das war eine überraschende Antwort für beide Priesterinnen, weil kein Hinweis auf das Wort »Chaos« darin enthalten war, welches doch die erklärte Maxime der Spinnengöttin war.
Die klebrige Masse veränderte sich; sie wurde länger und dünner. Die Tentakel schrumpften und wurden zu Armen, Drow-Armen, und Drow-Beinen, während das Wesen die Gestalt einer Drow-Frau annahm, nackt und wunderschön. Mit einem lüsternen Lächeln ging die Zofe auf Myrineyl zu und hob die Hand. Sie strich der Drow sanft über Kinn und Wangen.
»Hast du Angst, Tochter von Oberinmutter Quenthel?«, fragte die Yochlol in Drow-Gestalt.
Myrineyl, die jetzt sichtlich zitterte, schluckte.
»Wir haben das Gefühl, dass die Göttin Schmerzen leidet oder aufgebracht ist«, warf Sos’Umptu ein, aber die Yochlol hob die Hand, um die ältere Drow-Frau zum Schweigen zu bringen. Sie wandte ihren bohrenden Blick nicht von Myrineyl ab. Die Hand der Zofe wanderte an Myrineyls feinem Kiefer entlang und langsam ihren Hals hinunter.
Aus Sos’Umptus Sicht stand die junge Baenre kurz vor der Panik. Trotz ihrer Vorbehalte in Bezug auf Myrineyl hob Sos’Umptu die Hand, sodass Myrineyl sie sehen konnte, und signalisierte mit den Fingern das Wort Stärke!
Sogleich riss Myrineyl sich zusammen und schüttelte den Kopf. »Wir sind Haus Baenre«, erklärte sie. »Wenn die Herrin Lolth uns braucht, dienen wir ihr. Das ist alles.«
»Und doch zitterst du bei der Berührung einer Zofe«, sagte die Yochlol. »Hast du Angst? Oder findest du mich so widerlich?«
Sos’Umptu hielt die Luft an. Wenn Myrineyl jetzt das Falsche sagte, würde die Yochlol sie in die Dämonennetzhöllen mitnehmen und ewigen Qualen aussetzen.
Aber Myrineyl lächelte, umarmte die Zofe und küsste sie voller Leidenschaft.
Sos’Umptu nickte bewundernd. Im Stillen gratulierte sie der jungen Priesterin zu diesem Schachzug.
Eine ganze Weile später schritten Sos’Umptu und Myrineyl nebeneinander durch die Gänge des Baenre-Hauses, um der Oberinmutter Bericht zu erstatten. Sie hatten von der Zofe wenig direkt erfahren, was für solche Begegnungen jedoch sehr typisch war.
»Warum?«, fragte Myrineyl leise.
Sie musste nicht konkreter fragen. Sos’Umptu hätte zulassen können, dass sie bei der Prüfung versagte. Dann wäre sie die Konkurrentin ein für alle Mal los gewesen, und jeder Drow in Menzoberranzan wusste, dass Sos’Umptu Baenre nichts lieber wäre, als Quenthels lästige, ehrgeizige Tochter los zu sein.
»Ihr dachtet, das sei eine Prüfung?«, erwiderte Sos’Umptu.
Myrineyl blieb stehen und sah die ältere Priesterin an.
»Ihr glaubt, die Mahnung der Zofe zu mehr Stärke hätte Euch gegolten?«, hakte Sos’Umptu verächtlich nach. »Ist das Eurer Unerfahrenheit oder Eurer Dummheit zuzuschreiben? Oder vielleicht Eurer Arroganz? Ja, das wäre eine klassische Schwäche für ein Kind von Quenthel.«
Viele Herzschläge lang blieb Myrineyl jede Antwort schuldig. Sie zuckte nicht mit der Wimper, und Sos’Umptu sah, dass sie die Beleidigung gründlich überdachte, um zu einem wohlüberlegten Gegenangriff anzusetzen.
»Wie könnt Ihr es wagen, so respektlos von der Oberinmutter zu sprechen?« Diese Antwort war absehbar gewesen.
»Die Prüfung galt mir«, erklärte Sos’Umptu und ging so zügig weiter, dass Myrineyl ihr nachhasten musste. »Und damit dem ganzen Haus Baenre.«
Myrineyl, die sich immerhin gerade mit einem halbgeschmolzenen, schmutzigen Wachsklumpen ausgetobt hatte, wirkte hinreißend verwirrt.
»Wenn eine Zofe die Gestalt einer Drow annimmt – sieht sie dann durch die Augen der Drow?«, fragte Sos’Umptu.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Die Yochlol hat mich beobachtet, während sie Euch ansah, kleine Närrin«, erläuterte Sos’Umptu. »Sie hat mein Stärke-Zeichen genauso deutlich gesehen wie Ihr. Nur darum ging es. Etwas läuft grundfalsch. Die Spinnenkönigin ist höchst verstimmt, und sie fordert Stärke.«
»Einigkeit«, flüsterte Myrineyl.
»Einigkeit unter den zwei Adligen von Haus Baenre, bei denen sie am wenigsten zu erwarten ist.«
Myrineyls Augen weiteten sich.
»Glaubt Ihr, die Rivalität zwischen der Hohepriesterin von Haus Baenre und der Tochter von Oberinmutter Quenthel bliebe unbemerkt?«, fragte Sos’Umptu.
»Ich bleibe in Arach-Tinilith und diene der Herrin Minolin Fey«, sagte Myrineyl mit gespielter Unschuld.
»Aber Ihr werdet Minolin niemals ersetzen«, warnte Sos’Umptu, »ebenso wenig wie Ardulrae von Haus Melarn als Oberin der Schriften. Mit diesen Titeln stellt die Oberinmutter – Eure Mutter – zwei rivalisierende Häuser zufrieden, potenzielle Feinde, mit denen sich Haus Baenre in den Zeiten des Abzugs von Haus Xorlarrin nicht anlegen möchte. Aber das wisst Ihr ja.«
Myrineyls Unschuldsmiene war verflogen, was Sos’Umptu genau registrierte. Die junge Priesterin nahm eine selbstbewusste Haltung ein.
»Einigkeit – jetzt«, mahnte Sos’Umptu. »Wie es die Spinnenkönigin verlangt.« Diese Worte klangen selbst in ihren Ohren seltsam, und Myrineyl schien das ebenso zu empfinden.
Prompt fragte die junge Priesterin erneut: »Warum?«
Diese überaus wichtige Frage konnte Sos’Umptu lediglich mit einem Seufzen beantworten. Die Zofe hatte wenig preisgegeben. Ihr wichtigster Hinweis war der obskure Satz gewesen: »Die Ewige würde es verstehen.«
An diesem Punkt erreichten sie Quenthels Tür. Myrineyl wollte anklopfen, doch ein warnender Blick von Sos’Umptu hielt sie zurück. »Einigkeit bedeutet, seine Stellung zu beachten, Kleine«, erklärte Sos’Umptu. Daher war sie es, die klopfte, und sie antwortete auf den Ruf der Oberinmutter und betrat auch zuerst die privaten Gemächer von Quenthel.
Gromph lächelte, als seine Tür aufschwang, und wie erwartet Oberinmutter Quenthel hereinfegte.
»Sie verspottet mich!«, rief Quenthel. Sie lief zu dem Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen hatte, und wollte sich setzen. Dann aber trat sie ihn weg. »Die Ewige würde es verstehen, hat die Zofe Sos’Umptu und Myrineyl zugeraunt. Die Ewige! Unsere Mutter würde es wissen, aber die liebe Quenthel kann es leider nicht!«
Gromph war bewusst, dass sein Grinsen im Moment nicht gut ankommen würde, aber er konnte sich nicht beherrschen. Der Hinweis auf »die Ewige« war deutlich genug. Es ging um ihre Mutter, Yvonnel, bekannt als »Yvonnel die Ewige«, die größte Oberinmutter, die es in Menzoberranzan je gegeben hatte. Sie hatte die Stadt Jahrtausende regiert.
»Und jetzt wagt Ihr es, mich zu verspotten?«, schäumte Quenthel. »Hättet Ihr das Yvonnel gegenüber auch gewagt?«
»Natürlich nicht«, antwortete der alte Erzmagier. »Yvonnel hätte mich umgebracht.«
»Aber die liebe Quenthel kann das nicht, ja?« Die Oberinmutter runzelte wütend die Stirn.
Gromph stand gemessen auf. »Ihr werdet es nicht tun«, sagte er, »auch wenn Ihr es könntet.«
»Seid Ihr da so sicher?«
»Nur weil ich weiß, dass meine Schwester eine kluge Frau ist«, erwiderte er, während er zur linken Wand ging, wo er einen großen Schrank öffnete, der mehrere Ebenen mit allen möglichen Dingen enthielt: Spruchrollen – unglaublich viele! –, Kästchen, Säckchen und eine große Eisenkiste. Mit einer Handbewegung und einem schnellen Spruch webte Gromph einen einfachen Zauber. Neben ihm erschien eine glänzende, schwebende Scheibe. Er hob die Eisenkiste heraus und stellte sie auf die Zauberscheibe.
»Natürlich necke ich Euch nur, weil ich die Antwort auf Euer Rätsel habe«, erklärte er, während er sich zu Quenthel zurückdrehte.
»Da drin?«, fragte sie und zeigte auf die Kiste.
Gromph lächelte noch breiter. »Auf diesen Tag warte ich schon sehr lange, liebe Schwester«, sagte der Erzmagier.
»Oberinmutter«, stellte sie richtig.
»Genau. Es wird dringend Zeit, dass Euch niemand mehr anders nennt.«
Quenthel wich einen Schritt zurück. Dann setzte sie sich und starrte den Erzmagier an. »Was wisst Ihr? Warum zürnt die Spinnenkönigin?«
»Das wiederum weiß ich nicht«, antwortete er. »Zumindest nicht genau. Aber dass die Zofe unsere liebe verstorbene Mutter erwähnte, ist für mich das Zeichen, dass ich – nein, dass wir es wohl herausfinden können.« Erneut lachte er leise. »Zumindest weiß ich, wie Ihr es herausfinden könnt. Oh, ich weiß, wie Ihr vieles in Erfahrung bringen könnt. In den Gängen des Unterreichs, außerhalb von Menzoberranzan, wartet das Glück. Großes Glück und ein Verstand, der älter ist als Yvonnel.«
Quenthel starrte ihn durchdringend an. »Wollt Ihr ewig in Rätseln sprechen?«
Gromph ging hinter ihr zu einem anderen Schrank neben einer Vitrine. Als er die Tür öffnete, kam ein großer, bodentiefer Spiegel zum Vorschein. Der Erzmagier schloss die Augen und webte einen neuen Zauber, diesmal deutlich länger und weitaus komplizierter. Das Bild von Gromph und dem Raum im Spiegel wurde dunkler, bis es schließlich ganz verschwand.
»Kommt«, lud Gromph seine Schwester ein, sah sich um und streckte die Hand aus. Die Scheibe mit der Eisenkiste schwebte zu ihm herüber.
»Da hinein?«
»Natürlich.«
»Wohin?«, wollte Quenthel wissen, während sie nach Gromphs Hand griff.
»Das habe ich gerade gesagt«, antwortete er, machte einen Schritt in das Portal und zog Quenthel mit sich. Die schwebende Scheibe kam ebenfalls mit ihnen. Auf ein Wort von Gromph begann sie zu leuchten und erhellte den Weg. Vor ihnen lag ein Tunnel des Unterreichs.
»Wir sind außerhalb der Stadt?«, fragte Quenthel etwas verunsichert. Als wichtigster Stimme der Herrin Lolth in Menzoberranzan waren der Oberinmutter solche Reisen nur in Begleitung eines großen Trosses an Soldaten und Wachen gestattet.
»Ihr seid durchaus sicher, Oberinmutter.« Dass Gromph den korrekten Titel benutzte, hatte den erwünschten Effekt, denn Quenthel nickte unwillkürlich.
»Ich habe hier draußen einen alten Freund entdeckt – besser gesagt, einen Bekannten. Eigentlich eher zufällig«, erklärte Gromph. »Wobei ich inzwischen davon ausgehe, dass es wohl doch kein Zufall war, sondern eher eine göttlich inspirierte Entdeckung.«
»Noch mehr Rätsel?«
»Es ist alles ein Rätsel, auch für mich«, log er. Er wusste genau, dass Lolth ihm all dies gezeigt hatte und dass sie damit ein klares Ziel verfolgte. »Doch ich bin schließlich nicht die Oberinmutter, und darum verrät unser Bekannter mir nicht alles.«
Quenthel wollte etwas entgegnen, brach aber ab, als Gromph mit einem Stab in die Finsternis eines Seitengangs zeigte und mit seiner Macht ein kleines Licht in der Ferne erzeugte. Das Licht beschien den Zugang zu einer Höhle, die durch einen Perlenvorhang abgeschirmt war.
Der Erzmagier ging los, die Oberinmutter marschierte rechts neben ihm, und die Scheibe mit der Kiste schwebte ebenfalls mit. Als die Perlen von einer Hand mit drei Fingern geteilt wurden, blieb Quenthel etwas zurück. Aus der Höhle trat ein hässlicher Zweibeiner, auf dessen wulstigem Kopf aufgeregte Tentakel zuckten.
»Ein Illithide!«, sagte Quenthel verblüfft.
»Ein alter Freund«, erklärte Gromph.
Quenthel stählte sich für die Begegnung und starrte der Kreatur entgegen, die sich nun näherte. Gromph genoss ihren offenkundigen Abscheu. Gedankenschinder waren in der Tat entsetzliche Wesen, aber dieser war noch hässlicher als andere seiner Art, denn er hatte schlimme Verletzungen erlitten. Seitdem hing ein Teil seines gewölbten Kopfes schlaff über seiner linken Schulter.
»Methil«, flüsterte Quenthel, um dann lauter zu wiederholen: »Methil El-Viddenvelp!«
»Ihr erinnert Euch!«, gratulierte Gromph.
Natürlich erinnerte sie sich. Wie könnte irgendjemand, der in den letzten Jahrzehnten von Oberinmutter Yvonnels Regentschaft im Haus Baenre gedient hatte, diese Kreatur vergessen? Methil war Oberinmutter Yvonnels Geheimrat gewesen, ihr Duvall, wie die Drow diese Position bezeichneten. Er konnte Gedanken lesen, was nur wenige Drow mit Psi-Kräften vermochten, nachdem Oberinmutter Yvonnel das Haus Oblodra ausgelöscht hatte, indem sie den Ort während der Zeit der Unruhen komplett im Klauenspalt versenkte. Methil El-Viddenvelp hatte Oberinmutter Yvonnel Einblick in die Wünsche, die Intrigen und die Befürchtungen von Freund und Feind gleichermaßen verschafft.
»Aber er ist doch beim Angriff auf Mithril-Halle umgekommen«, flüsterte Quenthel.
»Genau wie Ihr«, sagte Gromph. »Beides war nicht wahr. Unser Freund hier hat überlebt, dank unseres Bru … dank der Bemühungen von Bregan D’aerthe.«
»Kimmuriel«, sagte Quenthel und nickte.
Gromph war froh, dass er sich so schnell korrigiert hatte und dass sie deshalb auf Kimmuriel Oblodra gekommen war, einen der wenigen Überlebenden des vernichteten Hauses. Kimmuriel war ein ausgezeichneter Psioniker, der sich gern mit Illithiden umgab und rein zufällig momentan zur Führungsriege der Söldnerbande zählte.
An den Bemühungen ihres Bruders Jarlaxle zur Rettung des schwer verwundeten Illithiden hatte Kimmuriel keinerlei Anteil gehabt, aber das brauchte Quenthel nicht zu wissen. Ebenso wenig, wie sie von ihrer Verwandtschaft mit Jarlaxle wissen sollte!
»Wie lange wisst Ihr schon von dem Gedankenschinder?«, fragte Quenthel argwöhnisch.
Gromph machte ein verständnisloses Gesicht. »Genauso lange wie Ihr …«, begann er.
»Seit wann wisst Ihr, dass er hier draußen ist?«, stellte die Oberinmutter klar.
»Ein paar Monate«, erwiderte Gromph, auch wenn es genau genommen eher viele Jahre waren.
»Und Ihr seid nicht auf die Idee gekommen, mich zu informieren?«
Wieder gab sich Gromph völlig verständnislos. »Ihr wollt Methil so benutzen, wie es Yvonnel einst getan hat?« Noch ehe Quenthel reagieren konnte, fuhr er fort. »Das könnt Ihr nicht! Der Illithide ist stark geschädigt, das versichere ich, und er würde Euch in dieser Rolle lediglich sehr viel Kummer bereiten.«
Quenthel hob abwehrend die Hand, weil ihr der Illithide für ihren Geschmack bereits zu nahe gekommen war, und setzte einen Befehlszauber ein: »Halt!«
Auf ein derart intelligentes Wesen hätte ein solcher Zauber normalerweise keinerlei Wirkung haben dürfen, doch aus dem Mund von Oberinmutter Quenthel hatte er deutlich mehr Gewicht. In Kombination mit Methil El-Viddenvelps sichtlich verringerter Gehirnkapazität brachte dies den Gedankenschinder abrupt zum Stehen.
»Und warum sind wir dann hier?«, fragte Quenthel ihren Bruder spitz.
»Weil Yvonnel es wissen würde«, antwortete er und wandte sich der eisernen Kiste auf der Scheibe zu. Auf seinen Wink hin klappte der Deckel auf. »Achtung!«, sagte er.
Als Quenthel vorsichtig in die Kiste spähte, verschlug es ihr den Atem, denn sie sah einen runzligen Kopf, der in der Mitte gespalten und irgendwie wieder zusammengenäht worden war und den sie gut kannte. Das war der Kopf ihrer vor langer Zeit verstorbenen Mutter!
»Was ist das?« Entsetzt wich sie zurück. »Das ist Blasphemie!«
»Konservierung«, stellte Gromph klar.
»Woher habt Ihr das … nein, sie? Wer war das?«
»Bregan D’aerthe natürlich. Dieselben, die Methil gerettet haben.«
»Das ist ein Sakrileg! Ihr wollt Yvonnel wiederauferstehen lassen?« Gromph hörte das berechtigte Zittern in ihrer Stimme, denn eine solche Tat würde die gegenwärtige Oberinmutter teuer zu stehen kommen.
Er schüttelte den Kopf. »Unsere liebe verstorbene Mutter lässt sich nicht mehr auferwecken. Die Magie, die sie viel zu lange am Leben erhielt, ist längst verflogen. Wenn man sie jetzt zurückholen würde, würde sie lediglich verschrumpeln und erneut sterben.«
»Wozu habt Ihr dann das da?«, wollte Quenthel wissen. Sie zeigte auf die Kiste und wagte sich etwas näher heran, um den schauerlichen Kopf genauer zu betrachten.
»Erst war es nur eine Kuriosität«, sagte Gromph. »Hattet Ihr Euch nicht immer wieder über meine Sammlungen beschwert?«
»Das hier übersteigt selbst Eure morbiden Vorlieben«, erwiderte Quenthel trocken.
Der Erzmagier zuckte lächelnd mit den Schultern. »Da mögt Ihr recht haben, aber …« Er nickte vielsagend an seiner Schwester vorbei. Quenthel drehte sich um und sah, dass der Illithide hochgradig erregt war. Er hüpfte zitternd herum und besabberte dabei seine weiße Robe.
Wütend funkelte Quenthel ihren Bruder an. »Ich verlange eine Erklärung!«, herrschte sie ihn an. »Wie schändlich …«
»Es sieht so aus, als hätte ich mehr als den rein körperlichen Kopf unserer toten Mutter konserviert«, erwiderte Gromph gelassen. »Denn wie ich von Kimmuriel Oblodra von Bregan D’aerthe erfuhr – und er von den Illithiden –, ist das Gehirn wohlgeordnet. Es setzt sich aus kleinen Verbindungen zusammen, die Erinnerungen speichern.« Während er dies sagte, schwebte die Scheibe auf seinen Wink hin an Quenthel vorbei und auf Methil zu, dessen Tentakel schon gierig waberten.
»Das wagt Ihr nicht!«, sagte die Oberinmutter zu beiden.
»Das habe ich bereits viele Male gewagt«, antwortete Gromph. »Zu Eurem Nutzen, denke ich.«
Quenthel bedachte ihn mit einem zornigen Blick.
»Die Spinnenkönigin weiß davon«, erklärte er. »Das jedenfalls sagte die Meisterin von Arach-Tinilith, mit der ich gesprochen habe.«
Quenthels Augen blitzten vor Wut, und ihre Hand glitt zur Peitsche, doch alle fünf Schlangen kreischten in ihrem Kopf auf, sie solle sich beherrschen. Zutiefst ergrimmt, weil sie die Vertraute ihres ränkeschmiedenden Bruders nur zu gut kannte, biss die Oberinmutter die Zähne zusammen und zischte: »Ihr habt Minolin Fey eingeweiht – vor mir?«
»Auf Befehl von Lolth«, sagte er mit größtem Selbstvertrauen.
Quenthel schrie auf und fuhr gequält herum. Dann wich sie einen Schritt zurück, weil sie sah, wie Methil über der offenen Eisenkiste hing, seine sich windenden Tentakel hineinstreckte und sie in den Schädel von Oberinmutter Yvonnel Baenre schob.
»Natürlich habe ich gegenüber der guten Minolin keine Einzelheiten erwähnt«, fuhr Gromph in aller Ruhe fort. »Nur gewisse allgemeine Andeutungen.«
»Ihr zieht das Haus Fey-Branche dem Haus Baenre vor?«
»Ich habe eine mächtige Meisterin aus Arach-Tinilith zurate gezogen, in einer Angelegenheit, die für die Spinnenkönigin von höchster Wichtigkeit ist. Minolin Fey ist bewusst, dass jeglicher Verrat ihrerseits sich nicht gegen Haus Baenre richten würde, sondern gegen Lolth. Ihr müsst verstehen, Oberinmutter, dass der Zorn der Spinnenkönigin nicht mir gilt. Angesichts der heutigen Reaktion der Zofe gegenüber Sos’Umptu und Myrineyl gehe ich vielmehr davon aus, dass die Herrin Lolth diesen Schritt längst erwartet hat, ihn gutheißt und möglicherweise sogar selbst in die Wege geleitet hat. Und letzten Endes ist es Eure eigene Schuld, liebe Schwester.«
Quenthels Augen glitzerten wütend. »Minolin Fey ist ein Schwächling«, sagte sie. »Eine Närrin höchster Güte, zu dumm, um ihre eigene Dummheit zu begreifen.«
»Ja, akzeptiert die Wahrheit in meiner Beleidigung«, entgegnete Gromph furchtlos. »Wie beurteilt Ihr Eure Regentschaft als Oberinmutter von Menzoberranzan?«
»Wer seid Ihr, dass Ihr mir eine solche Frage zu stellen wagt?«
»Ich bin der Erzmagier. Ich bin Euer Bruder und Verbündeter.«
»Die Stadt floriert!«, betonte Quenthel. »Auf mein Betreiben hin expandieren wir nach Gauntlgrym.«
»Wollt Ihr mich überzeugen oder Euch?«, fragte Gromph listig, denn sie kannten beide die Wahrheit. Seit dem Ende der Zauberpest fanden rundherum gewaltige Umwälzungen statt, und im Reich der arkanen Magie war die Herrin Lolth persönlich involviert. All das wusste Gromph, und doch hatten die Bewohner von Menzoberranzan die ganze Zeit nur einen Zuschauerplatz eingenommen.
Und während Haus Baenre die Stadt oberflächlich betrachtet fest im Griff zu haben schien, kannten die Angehörigen dieses Hauses die Wahrheit. Der Abzug von Haus Xorlarrin, dem Dritten Haus der Stadt und dem mit der mächtigsten Magie, war ein enormes Risiko, das ganz Menzoberranzan in Aufruhr versetzen könnte. Baenres stärkste Rivalin, Oberin Mez’Barris Armgo vom Haus Barrison Del’Armgo, konnte das als willkommene Gelegenheit betrachten, endlich den Titel zu erobern, den Yvonnel und jetzt Quenthel so lange innegehabt hatten.
Insgeheim wusste Quenthel es ebenso gut wie Gromph: Menzoberranzan stand kurz vor dem Bürgerkrieg.
»Unser Freund ist bereit für Euch«, sagte Gromph.
Quenthel blickte ihn fragend an. Als sie begriff, was er damit meinte, riss sie die Augen auf, fuhr herum und sah den Illithiden, der jetzt direkt hinter ihr stand. Sie wollte zurückspringen, aber Gromph war schneller und hielt sie mit einem einfachen Zaubertrick fest. Auf die Oberinmutter von Menzoberranzan hätte dieser Zauber keinerlei Wirkung haben dürfen.
Wenn die Herrin Lolth es nicht zugelassen hätte, wie Quenthel entsetzt begriff, als sie erstarrte.
Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die Magie an, während Methil El-Viddenvelp bereits mit seinen widerwärtigen Tentakeln ihre zarte Haut abtastete, ihren Hals und ihr Gesicht berührte und sich in ihre Nasenöffnungen schob.
