Das Dritte Reich - Richard J. Evans - E-Book

Das Dritte Reich E-Book

Richard J. Evans

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Beschreibung

»Beeindruckend und scharfsinnig: Die umfassendste Geschichte der verhängnisvollen Epoche des Dritten Reiches, die jemals geschrieben wurde« Ian Kershaw

Im abschließenden Band seines gefeierten Monumentalwerks zum Dritten Reich widmet sich Richard J. Evans der Zeit des Zweiten Weltkriegs und damit dem Aufstieg und Fall der deutschen Militärmacht: von den schnellen Siegen zu Beginn des Krieges bis zur bedingungslosen Kapitulation im Frühjahr 1945, von der totalen Mobilisierung der Deutschen bis zur Bombardierung deutscher Städte und massenhaften Flucht, von der Ghettoisierung und Deportation der europäischen Juden bis zu ihrer massenhaften Ermordung in den Vernichtungslagern.

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Seitenzahl: 1918

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Buch

Im abschließenden Band seiner Trilogie „Das Dritte Reich“ widmet sich Richard Evans der Zeit des Zweiten Weltkriegs und damit Aufstieg und Fall der deutschen Militärmacht: von den schnellen Siegen zu Beginn des Krieges bis zur bedingungslosen Kapitulation im Frühjahr 1945, von der totalen Mobilisierung der Deutschen bis zur Bombardierung deutscher Städte und massenhaften Flucht, von der Ghettoisierung und Deportation der europäischen Juden bis zu ihrer Ermordung in den Vernichtungslagern.

Autor

Richard J. Evans, geboren 1947, war Professor of Modern History von 1998 bis 2008 und Regius Professor of History von 2008 bis 2014 an der Cambridge University. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Wolfson Literary Award for History und die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. 2012 wurde Evans von Queen Elizabeth II. zum Ritter ernannt. Zuletzt sind von ihm erschienen »Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch – 1815–1914« (DVA 2018), »Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910« und »Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen« (beide Pantheon 2022).

Richard J. Evans

Das Dritte Reich

Band III

KRIEG

Aus dem Englischen von UDO RENNERTund MARTIN PFEIFFER

Pantheon

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Third Reich at War. How the Nazis led Germany from Conquest to Disaster bei Allen Lane in London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 by Pantheon Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Richard J. Evans 2008

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009

by Deutsche Verlags-Anstalt, München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Redaktion: Jan Schleusener, Berlin

Karten: Peter Palm, Berlin, unter Verwendung einer Vorlage von András Bereznay

ISBN 978-3-641-30696-0V001

www.pantheon-verlag.de

Für Matthew und Nicholas

Inhalt

Vorwort

 

1. »Tiere in Menschengestalt«

Blitzsieg

Die neue Rassenordnung

»Ein entsetzliches Pack«

»Lebensunwertes Leben«

2. Kriegsglück

»Das Werk der Vorsehung«

»Krankhafter Ehrgeiz«

Unternehmen Barbarossa

Auf den Spuren Napoleons

3. »Endlösung«

»Kein Mitleid. Nichts«

Der Beginn eines Völkermords

Die Wannsee-Konferenz

»Wie Schafe zur Schlachtbank«

4. Die Neuordnung Europas

Kriegswirtschaft

»Nicht besser als die Schweine«

Unter der Knute des Nationalsozialismus

Totaler Krieg

5. »Der Anfang vom Ende«

Deutschland in Flammen

Der lange Rückzug

»Die Hölle ist los«

Eine neue »Kampfzeit«

6. Deutsche Ethik

Angst und Schuldgefühle

Kulturen der Zerstörung

Tödliche Wissenschaft

Widerstand

7. Der Untergang

»Ein letzter Hoffnungsfunke«

»Wir werden eine Welt mitnehmen«

Die endgültige Niederlage

Nachwehen

 

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Kartenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Sachregister

Personenregister

Orts- und Kartenregister

Vorwort

In diesem Buch wird die Geschichte des Dritten Reiches, des von Hitler und seinen Nationalsozialisten geschaffenen Regimes, vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 bis zu seinem Ende am 8. Mai 1945 erzählt. Man kann es als ein selbständiges Werk lesen, als eine Geschichte Deutschlands während des Krieges. Doch es ist zugleich der dritte und letzte Teil eines mehrbändigen Werks, beginnend mit Das Dritte Reich. Aufstieg, das die Ursprünge des Nationalsozialismus, die Entwicklung seiner Ideen und seinen Aufstiegs zur Macht 1933 behandelt. Der zweite Band, Das Dritte Reich. Diktatur, befaßt sich mit den Friedensjahren von 1933 bis 1939, als Hitler und die Nationalsozialisten Deutschland zu militärischer Stärke führten und auf den Krieg vorbereiteten. Der allgemeine Zugang zu den drei Bänden ist im Vorwort von Das Dritte Reich. Aufstieg nachzulesen und muß hier nicht bis in die Details wiederholt werden. Alles in allem besteht das Ziel dieses Unternehmens in einer umfassenden Darstellung Deutschlands unter dem Nationalsozialismus.

Eine Darstellung der Geschichte des Dritten Reichs während des Zweiten Weltkriegs sieht sich mit zwei speziellen Problemen konfrontiert. Das erste ist vergleichsweise harmlos. Nach 1939 zeigten Hitler und seine führenden Anhänger eine zunehmende Zurückhaltung in der Verwendung des Begriffs »Drittes Reich« und zogen statt dessen die Bezeichnung »Großdeutsches Reich« vor, um die Aufmerksamkeit auf die enorme Ausdehnung seiner Grenzen zu lenken, die sich in den Jahren 1939/40 vollzogen hatte. Im Interesse von Einheitlichkeit und Konsistenz habe ich mich gleich anderen Historikern entschlossen, auch weiterhin vom Dritten Reich zu sprechen; schließlich haben die Nationalsozialisten selbst es vorgezogen, den Begriff stillschweigend aufzugeben und ihn nicht offen zu verwerfen.

Das zweite Problem ist gravierender. Das wesentliche Interesse dieses Buchs gilt Deutschland und den Deutschen; es ist keine Geschichte des Zweiten Weltkriegs und nicht einmal des Zweiten Weltkriegs in Europa. Dennoch ist es natürlich unerläßlich, den Fortgang des Krieges zu erzählen und die deutsche Verwaltung der von Deutschland eroberten Gebiete in Europa zu behandeln. Selbst in einem so umfangreichen Buch wie diesem ist es nicht möglich, auf jede Phase und jeden Aspekt des Krieges die gleiche Aufmerksamkeit zu richten. Ich habe es deshalb vorgezogen, mich auf die entscheidenden Wendepunkte zu konzentrieren – die Eroberung Polens und Frankreichs und die Luftschlacht um England im ersten Kriegsjahr, die Schlacht um Moskau im Winter 1941/42, die Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 und den Beginn der anhaltenden strategischen Bombenangriffe auf deutsche Städte 1943. Dabei habe ich mich bemüht, etwas von der Atmosphäre zu vermitteln, die während der Kriegsjahre unter den Deutschen herrschte, soweit sie uns in Tagebüchern und Briefen von Soldaten und Zivilpersonen begegnet. Die Gründe für diese Konzentration auf entscheidende Wendepunkte werden, wie ich hoffe, im Laufe der Lektüre dieses Buchs deutlich werden.

Im Zentrum der deutschen Geschichte während des Krieges steht der Massenmord an Millionen Juden, von den Nationalsozialisten als die »Endlösung der Judenfrage in Europa« bezeichnet. Dieses Buch enthält eine umfassende Darstellung der Entwicklung und Verwirklichung dieser Politik eines Genozids, eingebettet in den umfassenderen Kontext der nationalsozialistischen Rassenpolitik gegenüber den Slawen und gegenüber Minderheiten wie Zigeunern, Homosexuellen, Kleinkriminellen und »Asozialen«. Ich habe versucht, die Zeugnisse einiger Betroffener – sowohl von Überlebenden als auch von Umgekommenen – mit denen einiger Täter zu verknüpfen, darunter einige Kommandanten großer Vernichtungslager. Die Deportation und Ermordung von Juden aus westeuropäischen Ländern haben ihren Platz in dem Kapitel über die »Endlösung«, während die Reaktionen der Deutschen in der Heimat und das Ausmaß dessen, was sie über den Völkermord wußten, in einem späteren Kapitel über die »Heimatfront« behandelt werden. Der Umstand, daß der Massenmord an den Juden in fast jedem Teil dieses Buchs zur Sprache kommt, von der Geschichte der Einrichtung von Ghettos in Polen im ersten Kapitel bis zu der Darstellung der »Todesmärsche« 1945 im Schlußkapitel, macht ihren zentralen Stellenwert für so viele Aspekte der Geschichte des Dritten Reichs im Krieg deutlich. Wohin man auch blickt, selbst beispielsweise in der Geschichte der Musik und Literatur im 6. Kapitel, ist dies ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Geschichte. Dennoch muß nochmals daran erinnert werden, daß dieses Buch in all seinen Aspekten eine Geschichte NS-Deutschlands ist; es ist nicht vor allem eine Geschichte der Judenvernichtung, so wenig wie es wie gesagt eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist, auch wenn beides darin eine wesentliche Rolle spielt.

Das Buch beginnt dort, wo der Band Das Dritte Reich. Diktatur aufhört, mit der Invasion in Polen am 1. September 1939. Das erste Kapitel erörtert die Besetzung Polens durch die Deutschen und insbesondere die Mißhandlung, Ausbeutung und Ermordung Tausender Polen und polnischer Juden vom ersten Tag der Besatzung bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Für die Nationalsozialisten und überhaupt für viele Deutsche waren Polen und »Ostjuden« »Untermenschen«, und diese Einstellung galt auch, wenngleich mit signifikanten Unterschieden, für Geisteskranke und Behinderte in Deutschland selbst, deren Ermordung unter dem Euphemismus »Euthanasie« von der Kanzlei des Führers in Berlin aus betrieben wurde. Im zweiten Kapitel geht es in der Hauptsache um den Fortgang des Krieges, von der Eroberung Westeuropas 1940 bis zum Rußlandfeldzug 1941. Dieser Feldzug bildet den wesentlichen Hintergrund für die Ereignisse, die im dritten Kapitel behandelt werden, in dem es um die Planung und Realisierung der sogenannten »Endlösung der Judenfrage in Europa« geht. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Kriegswirtschaft und mit der Frage, wie das Dritte Reich mit den besetzten Ländern Europas verfuhr: dem Einsatz von Millionen Menschen als Zwangsarbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie und der Verhaftung, Deportation und Ermordung der Juden, die innerhalb des Machtbereichs der von den Deutschen besetzten Gebieten lebten. Dieses Imperium begann mit der folgenschweren deutschen Niederlage in Stalingrad im Frühjahr 1943 zu zerfallen, die im abschließenden Teil des Kapitels beschrieben wird. Ihr folgten noch im selben Jahr Rückschläge in vielen Bereichen des Krieges, von der Zerstörung deutscher Städte durch die alliierte strategische Bomberoffensive bis zur Niederlage der Armeen Rommels in Nordafrika und dem Abfall des hauptsächlichen europäischen Verbündeten, des faschistischen Italien, unter Mussolini. Diese Ereignisse stehen im Zentrum des fünften Kapitels, in dem des weiteren untersucht wird, in welcher Weise sie sich auf die deutsche Wehrmacht und die Führung des Krieges in Deutschland selbst auswirkten. Das sechste Kapitel befaßt sich hauptsächlich mit der »Heimatfront« und den Interaktionen zwischen dem religiösen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Leben und dem Krieg. Es schließt mit einer Darstellung des aufkommenden Widerstands gegen den Nationalsozialismus, insbesondere innerhalb des Dritten Reichs selbst. Das siebte Kapitel geht zunächst auf die »Wunderwaffen« ein, die Hitler zufolge den militärischen Zusammenbruch Deutschlands in einen Sieg ummünzen sollten. Es folgen eine Schilderung der Art und Weise, wie das Dritte Reich schließlich besiegt wurde, und eine knappe Skizze der unmittelbaren Nachkriegsereignisse.

In jedem einzelnen Kapitel werden thematische Aspekte in eine fortdauernde Erzählung der militärischen Ereignisse eingewoben, so daß das erste Kapitel die Militäraktionen von 1939 behandelt, das zweite die des Jahres 1940 und eines Teils von 1941. Das dritte befaßt sich mit weiteren militärischen Ereignissen von 1941, das vierte mit denen des Jahres 1942, das fünfte mit dem Krieg zu Land, zu Wasser und in der Luft 1943, das sechste enthält das militärische Geschehen im Jahr 1944, und das Schlußkapitel schildert die letzten Monate des Krieges bis zum Mai 1945.

Dieses Buch ist dazu gedacht, vom Anfang bis zum Ende gelesen zu werden, als eine durchgehende, wenngleich komplexe Erzählung, durchsetzt mit Darstellungen und Analysen; ich hoffe, daß die Art und Weise, wie die verschiedenen Teile der Geschichte durch ihre Interaktionen miteinander verknüpft sind, den Lesern mit fortschreitender Lektüre deutlich wird. Die Überschriften der einzelnen Kapitel sollen eher das Nachdenken über ihren Inhalt befördern, als ihren Inhalt möglichst präzise zu erfassen; in manchen Fällen sind sie bewußt mehrdeutig oder ironisch. Für jene Leser, die dieses Buch lediglich als Nachschlagewerk benutzen möchten, empfiehlt es sich, zunächst das Register aufzuschlagen, wo die Stellen der hauptsächlichen Themen, Akteure und Ereignisse im einzelnen angeführt sind. Das Literaturverzeichnis enthält lediglich die Veröffentlichungen, die in den Anmerkungen angegeben sind; es ist kein umfassender Wegweiser zu der fast unübersehbaren Literatur zu den in diesem Buch behandelten Themen.

Ein Großteil dieses Buchs befaßt sich mit Ländern in Mittel- und Osteuropa, wo Städte eine Vielzahl von Namen und Schreibweisen in unterschiedlichen Sprachen haben. So schreibt sich die Stadt Lwiw in Polen Lwów und in Rußland Lwow, während sie in Deutschland ganz anders, nämlich Lemberg, heißt; Ähnliches galt und gilt für das litauische Kaunas, das polnisch Kowno und deutsch Kauen geschrieben wurde, oder das tschechische Terezin, deutsch Theresienstadt, oder das estnische Tallinn, im Deutschen Reval. Die NS-Behörden tauften zum Beispiel das polnische Łódź in Litzmannstadt um, so daß der neue Name in nichts mehr an seine polnische Identität erinnerte; ähnlich verfuhren sie etwa mit Chelmno, deutsch Kulmhof, oder Oswiecim, deutsch Auschwitz. In dieser Situation ist es unmöglich, eine Konsistenz zu erreichen, und ich habe mich für jene Schreibweisen entschieden, die in der Zeit des Dritten Reiches in Gebrauch waren, und die alternativen Bezeichnungen in Klammern dahinterzusetzen. In der deutschen Übersetzung dieses Buchs werden die etwa im Polnischen gebräuchlichen Sonderzeichen einschließlich der Akzente auf Konsonanten beibehalten.

Bei den Vorarbeiten zu diesem Buch profitierte ich von dem unschätzbaren Vorteil, daß mir die großartigen Sammlungen der Universitätsbibliothek in Cambridge sowie der Wiener Library und des German Historical Institute in London zur Verfügung standen. Die Universität Melbourne verhalf mir zu einem Miegunyah Distinguished Visiting Fellowship im Jahr 2007, so daß ich die dortige hervorragende Forschungssammlung zur neuzeitlichen deutschen Geschichte benutzen konnte, die aus der Hinterlassenschaft des verstorbenen und schmerzlich vermißten John Foster für die Universitätsbibliothek angekauft worden war. Das Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg und die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg erlaubten mir freundlicherweise den Einblick in die unveröffentlichten Tagebücher von Luise Solmitz. Die Ermutigung vieler Leser, zumal in den Vereinigten Staaten, hat mich angespornt, das Buch abzuschließen, auch wenn dies länger gedauert hat als ursprünglich beabsichtigt. Der Rat und die Unterstützung vieler Freunde und Kollegen haben mir sehr geholfen. Mein Agent Andrew Wylie und der Cheflektor im Penguin Verlag, Simon Winder, und ihre Mitarbeiter haben mich nach Kräften unterstützt. Chris Clark, Christian Goeschel, Victoria Harris, Sir Ian Kershaw, Richard Overy, Kristin Semmens, Astrid Swenson, Hester Vaizey und Nicholaus Wachsmann haben frühe Entwürfe gelesen und zahlreiche nützliche Anregungen gegeben. Victoria Harris, Stefan Ihrig, Alois Maderspacher, David Motadel, Tom Neuhaus und Hester Vaizey haben die Anmerkungen durchgesehen und mich vor vielen Fehlern und Irrtümern bewahrt. András Bereznáy hat Karten gezeichnet, die an Klarheit und Exaktheit nichts zu wünschen übriglassen; die gemeinsame Arbeit daran war für mich äußerst lehrreich. Die Fachkenntnis meines Lektors David Watson war für mich unverzichtbar, und es war mir ein Vergnügen, bei der Auswahl der Abbildungen mit Cecilia Mackay zusammenzuarbeiten. Christine L. Corton hat sich der Lektüre der Fahnen angenommen und meine Arbeit auch sonst in jeder erdenklichen Weise unterstützt. Unsere Söhne Matthew und Nicholas, denen dieses letzte Buch ebenso wie die vorangegangenen gewidmet ist, haben mich während der Niederschrift eines Buchs, dessen Inhalt mich an vielen Stellen zutiefst erschüttert und deprimiert hat, immer wieder aufgemuntert. Ich möchte allen Genannten meinen tief empfundenen Dank aussprechen.

Cambridge, 8. Mai 2008

1. KAPITEL

»Tiere in Menschengestalt«

Blitzsieg

I

Am 1. September 1939 überschritt die erste von nicht weniger als 60 Divisionen der deutschen Wehrmacht die Grenze zwischen Deutschland und Polen. Fast 1,5 Millionen Mann unterbrachen nur für kurze Zeit ihren Marsch, um den Kameraleuten des Reichspropagandaministeriums unter Joseph Goebbels die Möglichkeit zu geben, die zeremonielle Öffnung der Zollschranken durch grimmig dreinblickende Soldaten der Vorhut zu filmen. Angeführt wurde der Vormarsch von fünf Panzerdivisionen mit jeweils rund 300 Panzern, begleitet von vier voll motorisierten Infanteriedivisionen. Hinter ihnen marschierte das Gros der Infanterie, deren Artillerie und sonstige Ausrüstung in der Hauptsache von Pferden gezogen wurden, für jede Division rund 5000, alles in allem gut 300 000 Tiere. So beeindruckend dies sein mochte, die entscheidende Technik, die von den Deutschen eingesetzt wurde, befand sich nicht auf dem Boden, sondern in der Luft. Im Versailler Vertrag war den Deutschen die Produktion von Militärflugzeugen verboten worden, so daß die deutsche Luftfahrtindustrie gezwungen war, fast ganz von vorn anzufangen, nachdem Hitler nur vier Jahre vor dem Beginn des Krieges die entsprechenden Klauseln des Vertrags nicht mehr anerkannt hatte. Die deutschen Flugzeuge waren nicht nur modern in ihrer Konstruktion, sie waren sogar im Spanischen Bürgerkrieg von der Legion Condor eingesetzt und getestet worden, und viele ihrer Angehörigen saßen jetzt am Steuerknüppel der 897 Bomber-, Jagd- und verschiedener Aufklärungs- und Transportflugzeuge, die nun den Luftraum über Polen beherrschten.1

In der Hoffnung, daß die Invasion durch eine anglofranzösische Intervention aufgehalten würde, und darauf bedacht, nicht die Weltmeinung gegen sich aufzubringen, wenn sie den Anschein erweckte, die Deutschen zu provozieren, schob die polnische Regierung eine Mobilisierung bis zur letzten Minute auf. Somit waren die Polen mehr als schlecht darauf vorbereitet, gegen die plötzliche, massive Invasion deutscher Truppen Widerstand zu leisten. Sie konnten 1,3 Millionen Soldaten aufbieten, besaßen jedoch nur wenige Panzer und verfügten nur über geringe Mengen an moderner Ausrüstung. Die deutschen gepanzerten und motorisierten Divisionen waren den polnischen Verbänden im Verhältnis 15:1 überlegen. Die polnische Luftwaffe konnte gegen die deutschen Kräfte nicht mehr als 154 Bomber- und 159 Jagdflugzeuge einsetzen. Die meisten Maschinen, vor allem die Jagdflugzeuge, waren veraltet, während die polnischen Kavalleriebrigaden erst kurz zuvor begonnen hatten, ihre Pferde durch Panzer zu ersetzen. Geschichten von polnischen Reiterschwadronen, die deutschen Panzern mit eingelegter Lanze entgegenstürmten, dürften erfunden sein, was jedoch nichts an der krassen Diskrepanz im Hinblick auf Material und Ausrüstung ändert. Die Deutschen schlossen Polen von drei Seiten ein, nachdem sie früher im selben Jahr die Tschechoslowakei zerschlagen hatten. Im Süden bildete der deutsche Satellitenstaat der Slowakei das wichtigste Sprungbrett für die Invasion, und die slowakische Regierung entsandte sogar einige Militäreinheiten, die an der Seite der Deutschen in Polen einmarschierten, verlockt durch die Zusage der Übertragung eines kleinen Teils polnischen Territoriums nach einem Sieg über Polen. Weitere deutsche Divisionen überquerten von Ostpreußen aus die nördliche Grenze Polens, während wiederum andere von Westen heranrückten und durch den polnischen Korridor marschierten, der durch die Friedensverträge geschaffen worden war, um Polen einen Zugang zur Ostsee zu verschaffen. Die polnischen Streitkräfte waren zu schwach verteilt, um alle diese Grenzabschnitte wirksam zu verteidigen. Während Sturzkampfbomber (»Stukas«) die an der Grenze auseinandergezogenen polnischen Armeen aus der Luft angriffen, durchbrachen deutsche Panzer und deutsche Artillerie ihre Abwehrstellungen, schnitten sie voneinander ab und unterbrachen ihren Fernsprechverkehr. Innerhalb weniger Tage wurde die polnische Luftwaffe außer Gefecht gesetzt, und deutsche Bomber zerstörten polnische Rüstungsbetriebe, griffen die zurückströmenden Truppen im Tiefflug an und versetzten die Einwohner Warschaus, Krakaus und anderer Städte in Angst und Schrecken.2

Allein am 16. September 1939 warfen 820 deutsche Flugzeuge insgesamt 328 000 Kilogramm Bomben auf die wehrlosen Polen ab, denen im ganzen Land gerade einmal 100 Flugabwehrgeschütze zur Verfügung standen. Diese Angriffe wirkten derart deprimierend, daß in manchen Regionen polnische Soldaten ihre Waffen wegwarfen und deutsche Befehlshaber am Boden darum ersuchten, die Bombenangriffe einzustellen. Ein typischer Angriff wurde von dem amerikanischen Zeitungskorrespondenten William L. Shirer beobachtet, dem die Deutschen die Erlaubnis erteilt hatten, deutsche Truppen beim Angriff auf den polnischen Ostseehafen Gdingen (Gdynia) zu begleiten:

»Die Deutschen setzten alle Arten von Waffen ein, große und kleine Geschütze, Panzer und Flugzeuge. Die Polen besaßen nichts außer Maschinengewehren, Karabinern und zwei Flugzeug-Abwehrgeschützen, die sie verzweifelt als Artillerie gegen deutsche MG-Nester und Panzer einzusetzen versuchten … [Die Polen hatten] zwei große Gebäude, eine Offiziersschule und die lokale Radiostation, in Festungen verwandelt und feuerten mit MGs aus mehreren Fenstern. Nach einer halben Stunde wurde das Dach der Schule von einer deutschen Granate getroffen und in Brand gesetzt. Dann erklomm die deutsche Infanterie den Hügel, unterstützt – durch die Gläser sah es sogar aus, als würden sie geführt – von Panzern, und umzingelten das Gebäude … Ein deutsches Wasserflugzeug kreiste über der Nehrung und bestimmte Ziele für die Artillerie. Später kam ein Bomber hinzu, beide beschossen im Tiefflug aus ihren Bord-MGs die polnischen Linien. Schließlich tauchte eine ganze Staffel Nazibomber auf. Es war eine hoffnungslose Situation für die Polen.«3

Ähnliche Aktionen wiederholten sich während des deutschen Vor-marschs im ganzen Land. Innerhalb einer Woche befanden sich die polnischen Truppen in vollständiger Auflösung, und ihre Befehlsstruktur lag in Trümmern. Am 17. September floh die polnische Regierung nach Rumänien, wo ihre unglücklichen Minister umgehend von den Behörden interniert wurden. Damit war das Land völlig führungslos. Eine am 30. September auf Initiative polnischer Diplomaten in Paris und London gebildete Exilregierung war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Ein einziger wütender polnischer Gegenangriff in der Schlacht von Kutno am 9. September konnte lediglich die Einkesselung Warschaus um höchstens einige Tage hinauszögern.4

In Warschau selbst verschlimmerte sich die Lage rapide. Chaim Kaplan, ein jüdischer Lehrer, schrieb am 29. September 1939 in sein Tagebuch:

»Es gibt unzählige Pferdekadaver. Sie liegen mitten auf der Straße, und niemand ist da, der sie beseitigt und die Straße säubert. Sie verwesen dort seit drei Tagen und verpesten die Luft. Aber infolge der in der Stadt grassierenden Hungersnot gibt es viele, die Pferdefleisch essen. Sie schneiden sich Fleischstücke ab und verzehren sie, um ihren Hunger zu stillen.«5

Eine der lebendigsten Schilderungen der chaotischen Szenen, die auf die deutsche Invasion folgten, stammt von einem polnischen Arzt, Zygmunt Klukowski. Geboren 1885, war er bei Kriegsausbruch Leiter eines Krankenhauses in Szczebrzeszyn in der Woiwodschaft Zamosz. Klukowski führte ein Tagebuch, das er als einen Akt des Aufbegehrens und des Erinnerns in den verschiedensten Ecken und Winkeln seines Hospitals aufbewahrte. Am Ende der zweiten Septemberwoche vermerkte er die Ströme von Flüchtlingen, die vor den eindringenden deutschen Truppen mitten in der Nacht die Flucht ergriffen, eine Szene, die sich in den folgenden Jahren in vielen Teilen Europas stets aufs neue wiederholen sollte:

»Die ganze Straße war überfüllt von Militärkonvois, allen Typen von Motorfahrzeugen, Pferdewagen und Tausenden von Menschen, die zu Fuß gingen. Alle bewegten sich in eine einzige Richtung – nach Osten. Als der Tag anbrach, machte eine Masse von Menschen zu Fuß und auf Fahrrädern die Verwirrung noch schlimmer. Es war absolut unheimlich. Die ganze Masse von Menschen, von Panik ergriffen, strebte vorwärts, ohne zu wissen, wohin oder warum, und ohne jede Vorstellung, wo der Exodus enden würde. Zahlreiche Personenwagen und einige Limousinen hoher Militärs, allesamt schmutzig und von Schlamm bespritzt, versuchten an den Konvois aus Lastwagen und Fuhrwerken vorbeizukommen. Die meisten Fahrzeuge trugen Warschauer Kennzeichen. Es war eine traurige Angelegenheit, so viele hochrangige Offiziere, darunter Oberste und Generäle, gemeinsam mit ihren Familien fliehen zu sehen. Viele hielten sich an den Dächern und Kotflügeln der Personen- und Lastwagen fest. Viele Fahrzeuge hatten zerbrochene Windschutzscheiben und Fenster, beschädigte Motorhauben oder Türen. Wesentlich langsamer kamen die verschiedensten Bustypen voran, neue Stadtbusse aus Warschau, Krakau und Łódź und alle vollgestopft mit Fahrgästen. Ihnen folgten Pferdewagen jeglicher Bauart, beladen mit Frauen und Kindern, allesamt sehr müde, hungrig und schmutzig. Auf den Fahrrädern saßen zumeist junge Männer; nur gelegentlich war eine junge Frau darauf zu sehen. Diejenigen, die zu Fuß gingen, waren Menschen ganz unterschiedlicher Art. Die einen waren zu Fuß aufgebrochen, andere mußten ihren Wagen herrenlos zurücklassen.«6

Klukowski schätzte, daß bis zu 30 000 Menschen auf diese Weise vor den heranrückenden Deutschen die Flucht ergriffen hatten.7 Es sollte noch schlimmer kommen. Am 17. September 1939 hörte Klukowski über einen deutschen Lautsprecher auf dem Marktplatz von Zamosz die Bekanntmachung, daß die Rote Armee mit Zustimmung Deutschlands die Ostgrenze Polens überschritten hatte.8 Kurz vor der Invasion hatte Hitler sich die Nichteinmischung des russischen Diktators Josef Stalin gesichert, indem er am 24. August 1939 einen deutsch-sowjetischen Pakt unterzeichnete, dessen geheime Zusatzklauseln die Teilung Polens zwischen den beiden Staaten entlang einer vereinbarten Demarkationslinie vorsahen.9 In den beiden ersten Wochen nach der deutschen Invasion hatte Stalin sich zurückgehalten, während er seine Streitkräfte aus einem siegreichen Konflikt mit Japan in der Mandschurei zurückzog, der erst Ende August beendet wurde. Als jedoch deutlich wurde, daß der polnische Widerstand gebrochen war, gaben die Sowjetführer der Roten Armee grünes Licht für einen Einmarsch in das polnische Nachbarland. Stalin nutzte nur zu gern die Gelegenheit, ein Territorium zurückzugewinnen, das vor der Revolution von 1917 zu Rußland gehört hatte. Es war das Objekt eines erbitterten Krieges zwischen Rußland und dem neugeschaffenen polnischen Staat in den unmittelbaren Nachwehen des Ersten Weltkriegs. Jetzt konnte er es zurückgewinnen. Angesichts eines Zweifrontenkriegs führten die polnischen Streitkräfte, die auf einen solchen Fall überhaupt nicht vorbereitet waren, einen verbissenen, aber vergeblichen Rückzugskrieg in dem Bemühen, das Unvermeidliche wenigstens aufzuschieben.

Es sollte bald genug eintreten. Eingezwängt zwischen zwei haushoch überlegenen Armeen, hatten die Polen keine Chance. Am 28. September 1939 legte ein neuer Vertrag die endgültige Grenze fest. Zu diesem Zeitpunkt war der deutsche Angriff auf Warschau beendet. 1200 Flugzeuge hatten enorme Mengen Brand- und anderer Bomben über der polnischen Hauptstadt abgeworfen und eine riesige Rauchglocke erzeugt, die genaue Zielabwürfe unmöglich machte; infolgedessen fanden zahlreiche Zivilisten den Tod. Angesichts der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage hatten die Befehlshaber in der Stadt am 27. September einen Waffenstillstand ausgehandelt. 120 000 polnische Soldaten der Garnison in der Stadt kapitulierten, nachdem man ihnen zugesichert hatte, daß sie nach einer kurzen und formellen Gefangenschaft als Kriegsgefangene nach Hause gehen könnten. Die letzten polnischen Militäreinheiten ergaben sich am 6. Oktober 1939.10

Das war das erste Beispiel des noch lange nicht perfektionierten »Blitzkriegs« Hitlers, eines Kriegs mit schnellen Bewegungen, angeführt von Panzern und motorisierten Divisionen in Verbindung mit Bombenflugzeugen, die feindliche Truppen terrorisierten, die Luftstreitkräfte des Gegners lähmten und diesen, anders als ein konventioneller Krieg, durch die schiere Schnelligkeit und Wucht seines Durchbruchs durch die feindlichen Linien überwältigten. Die Effizienz des Blitzkriegs ließ sich an den Vergleichszahlen der Verluste auf beiden Seiten ablesen. Alles in allem verloren die Polen rund 70 000 Soldaten im Kampf gegen die Wehrmacht und weitere 50 000 im Kampf gegen die Sowjetarmee. Die Zahl der Verwundeten betrug im ersten Fall mindestens 133 000, im zweiten war sie nicht zu ermitteln. Die Deutschen nahmen an die 700 000 Polen als Kriegsgefangene, die Russen weitere 50 000. Rund 150 000 polnische Soldaten der Bodentruppen und der Luftwaffe entkamen ins Ausland, vor allem nach England, wo sich viele von ihnen den britischen Streitkräften anschlossen. Die Deutschen hatten 11 000 Gefallene und 30 000 Verwundete sowie 3400 Vermißte zu beklagen; die Verluste auf sowjetischer Seite betrugen nicht mehr als 700 Gefallene und 1900 Verwundete. Die Zahlen verdeutlichen anschaulich das ungleiche Verhältnis der Gegner in dem Konflikt; andererseits waren die Verluste auf deutscher Seite keineswegs unerheblich, und dies nicht nur im Hinblick auf die Verluste an Menschenleben, sondern auch an Material und Ausrüstung. Nicht weniger als 300 Panzerfahrzeuge, 370 Geschütze und 5000 sonstige Fahrzeuge waren zerstört worden neben einer beträchtlichen Anzahl von Flugzeugen, und diese Verluste wurden nur zu einem Teil wieder wettgemacht durch erbeutete oder übergebene (zumeist beträchtlich weniger wertvolle) polnische Äquivalente. Das waren kaum ins Gewicht fallende, aber dennoch dunkle Vorzeichen für die Zukunft.11

Vorläufig sollten solche Bedenken Hitler nicht beunruhigen. Er hatte den Feldzug von seinem mobilen Hauptquartier aus in einem Panzerzug verfolgt, der zunächst in Pommern und später in Oberschlesien stand, von dem aus er gelegentliche Ausflüge mit dem Auto machte, um die Kampfhandlungen aus sicherer Entfernung zu verfolgen. Am 19. September fuhr er in Danzig ein, der ehemaligen deutschen Stadt, die nach dem Friedensvertrag den Vereinten Nationen unterstand, wo er von ekstatischen Mengen von Volksdeutschen begrüßt wurde, die ihrer Begeisterung darüber freien Lauf ließen, von einer Fremdherrschaft befreit zu werden. Nach zwei kurzen Flügen zur Inspektion der von seinen Armeen und der Luftwaffe angerichteten Zerstörungen in Warschau kehrte er zurück nach Berlin.12 Es gab keine Paraden oder feierliche Reden in der Hauptstadt, doch der Sieg fand allgemeine Zustimmung. »Ich muß den Deutschen erst noch finden – selbst unter denen, die das Regime nicht mögen –, der irgend etwas schlecht findet an der Zerstörung Polens durch Deutschland«, schrieb Shirer am 20. September 1939 in sein Tagebuch.13 Sozialdemokratische Agenten berichteten, daß die große Masse der Bevölkerung den Krieg nicht zuletzt deshalb unterstütze, weil sie glaube, die unterlassene Unterstützung Polens durch die Westmächte bedeute, daß Frankreich und England bald um Frieden bitten würden, ein Eindruck, der durch ein propagandistisch groß aufgemachtes »Friedensangebot« Hitlers an die Franzosen und Engländer Anfang Oktober verstärkt wurde. Obwohl diese Offerte sogleich abgelehnt wurde, hielt die Tatenlosigkeit der beiden Staaten Hoffnungen lebendig, man könne sie dazu bewegen, sich aus dem Krieg herauszuhalten.14 Gerüchte von einem Friedensabkommen mit den Westmächten hatten zu diesem Zeitpunkt Konjunktur und führten sogar zu spontanen Freudenkundgebungen auf den Straßen Berlins.15

Inzwischen hatte Goebbels’ Propagandamaschine einen Schnellgang eingelegt, um die Deutschen davon zu überzeugen, daß die Invasion unvermeidlich gewesen sei, da den Volksdeutschen in Polen ein Genozid gedroht habe. Das nationalistische Militärregime in Polen hatte während der Zwischenkriegszeit die volksdeutsche Minderheit systematisch diskriminiert. Zu Beginn der deutschen Invasion im September 1939 befürchtete sie Sabotageakte hinter den Linien und verhaftete 10 000 bis 15 000 Volksdeutsche und ließ sie in den Osten des Landes marschieren, wobei die Nachzügler mißhandelt und viele von denen erschossen wurden, die vor Erschöpfung nicht mehr weitergehen konnten. Es gab zudem vielfach Angriffe auf Angehörige der volksdeutschen Minderheit, von denen die meisten kein Hehl aus ihrem Wunsch machten, seit der gewaltsamen Eingliederung in Polen nach dem Ersten Weltkrieg in das Deutsche Reich zurückzukehren.16 Alles in allem kamen durch Massenerschießungen und die Strapazen der Märsche etwa 2000 Volksdeutsche um. Etwa 300 verloren am 3. September 1939 in Bromberg (Bydgoszcz) ihr Leben, wo volksdeutsche Einwohner einen bewaffneten Aufstand gegen die Garnison der Stadt organisiert hatten, da sie glaubten, der Krieg sei praktisch beendet, und von den aufgebrachten Polen getötet wurden. Diese Ereignisse wurden vom Reichspropagandaministerium in zynischer Weise dazu benutzt, in der deutschen Bevölkerung ein Höchstmaß an Zustimmung zur Invasion Polens zu erreichen. Viele Deutsche ließen sich überzeugen. Melita Maschmann, eine junge BDM-Führerin, war überzeugt davon, daß der Krieg nicht nur angesichts des Unrechts des Versailler Vertrags gerechtfertigt war, mit dem deutsches Territorium an den neugeschaffenen polnischen Staat hatte abgetreten werden müssen, sondern auch aufgrund von Presse- und Wochenschauberichten über polnische Gewalttaten gegenüber der deutschsprachigen Minderheit. Für sie stand zweifelsfrei fest, daß beim »Bromberger Blutsonntag« 60 000 Volksdeutsche von den Polen brutal ermordet worden waren. Wie konnte man Deutschland einen Vorwurf daraus machen, daß es etwas gegen diesen Haß und diese Greueltaten unternahm?17 Goebbels hatte ursprünglich die Gesamtzahl der getöteten Volksdeutschen auf 5800 beziffert. Erst im Februar 1940 wurde diese Ziffer, vermutlich auf eine persönliche Anweisung Hitlers, willkürlich um das Zehnfache erhöht, und auf diese Zahl bezog sich Melita Maschmann offenbar.18 Diese Phantasiezahl überzeugte nicht nur die meisten Deutschen davon, daß die Invasion gerechtfertigt war, sondern nährte auch den Haß und den Groll der volksdeutschen Minderheit in Polen gegenüber ihren früheren Herren.19 Unter den Befehlen Hitlers wurde diese Erbitterung umgehend in den Dienst einer Kampagne der ethnischen Säuberung und von Massenmorden gestellt, die weit über alles hinausgingen, was nach der deutschen Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei 1938 geschehen war.20

II

Die Invasion Polens war de facto die dritte erfolgreiche Annexion fremden Territoriums durch das Dritte Reich. 1938 hatte Deutschland die unabhängige Republik Österreich annektiert. Später im selben Jahr war es widerstandslos in die deutschsprachigen Grenzregionen der Tschechoslowakei einmarschiert. Doch diese Schritte waren durch internationale Vereinbarungen sanktioniert und wurden im großen und ganzen von den Einwohnern der betroffenen Gebiete begrüßt. Man konnte sie als vertretbare Revisionen des Versailler Vertrags hinstellen, der die nationale Selbstbestimmung als allgemeines Prinzip verkündet, dieses jedoch den deutschsprachigen Minderheiten in Teilen Ostmitteleuropas als solchen verweigert hatte. Doch im März 1939 hatte Hitler unstreitig die internationalen Vereinbarungen des Vorjahres gebrochen, als er in die »Rumpftschechoslowakei« einmarschiert war, diese zerstückelt und aus dem tschechischen Teil das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren gezimmert hatte. Zum ersten Mal hatte das Dritte Reich ein beträchtliches Gebiet Ostmitteleuropas unter seine Herrschaft gebracht, das nicht hauptsächlich von deutschen Muttersprachlern bewohnt war. Das war tatsächlich der erste Schritt zur Erfüllung eines langgehegten NS-Programms der Eroberung eines neuen »Lebensraums« für Deutsche in Ostmittel- und Osteuropa, wo der ansässigen Bevölkerung nur noch der Status von Arbeitssklaven und Lieferanten von Nahrungsmitteln für die deutschen Herren zugedacht war. Die Tschechen wurden im neuen Protektorat als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt, und diejenigen, die als dringend benötigte Land- und Industriearbeiter zwangsverpflichtet wurden, unterstanden hinfort einem besonders harten Justiz- und Polizeiregime, das noch drakonischer ausfiel als jenes, das die Deutschen im Altreich unter Hitler erdulden mußten.21

Gleichzeitig hatte man den Tschechen zusammen mit den nunmehr (auf dem Papier) unabhängigen Slowaken eine eigene Zivilverwaltung, Gerichte und andere Institutionen gestattet. Zumindest einige Deutsche hegten eine gewisse Achtung gegenüber der tschechischen Kultur, und die tschechische Wirtschaft war unbestritten weit entwickelt. Deutsche Vorstellungen von Polen und seinen Einwohnern waren wesentlich negativer. Das unabhängige Polen war im 18. Jahrhundert zwischen Preußen, Österreich und Rußland aufgeteilt worden und erlangte seinen unabhängigen Status erst zum Ende des Ersten Weltkriegs. Während der ganzen vorhergehenden Zeit waren deutsche Nationalisten in der Regel davon überzeugt, daß die Polen aufgrund ihres Naturells nicht imstande seien, sich selbst zu regieren. »Polnische Wirtschaft« war eine gängige Redensart für Chaos und Unfähigkeit, und in Schulbüchern wurde Polen zumeist als wirtschaftlich rückständig und im katholischen Aberglauben befangen dargestellt. Die Invasion Polens hatte wenig zu tun mit der Lage der dort lebenden deutschsprachigen Minderheit, die nur drei Prozent der Bevölkerung ausmachte, im Gegensatz zur Tschechoslowakischen Republik, wo die Volksdeutschen fast ein Viertel der Bevölkerung gestellt hatten. Unterstützt durch eine lange Tradition der Literatur und Lehre über dieses Thema waren die Deutschen davon überzeugt, daß sie Jahrhunderte lang in Polen die Bürde einer »zivilisatorischen Mission« auf sich genommen hätten und daß jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, es abermals zu tun.22

Vor dem Krieg fiel Hitler zu Polen und seinen Bewohnern wenig ein, und seine persönliche Haltung ihnen gegenüber schien in mancher Hinsicht unklar im Unterschied zu seiner langgehegten Antipathie gegenüber den Tschechen, die bereits im Wien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg genährt worden war. Was Hitlers Denken allein beschäftigte und erbittert gegen die Polen richtete, war die Weigerung der Militärregierung in Warschau, auch nur die geringsten Konzessionen gegenüber seinen territorialen Forderungen zu machen, während die Tschechen 1938 unter internationalem Druck zuvorkommend nachgaben und ihre Bereitschaft bekundeten, mit dem Dritten Reich bei der Zerstückelung und schließlichen Unterdrückung ihres Staates zu kooperieren. Was die Sache noch schlimmer machte, war die Weigerung Englands und Frankreichs, Polen zu drängen, in Forderungen wie die nach einer Rückgabe Danzigs an Deutschland einzuwilligen. 1934, als Hitler mit Polen einen zehnjährigen Nichtangriffspakt geschlossen hatte, schien es noch möglich zu sein, daß Polen in einer künftig von Deutschland dominierten europäischen Ordnung zu einem Satellitenstaat werden könnte. Doch 1939 stellte das Land ein ernsthaftes Hindernis für die Expansion des Dritten Reiches nach Osten dar. Deshalb mußte es von der Landkarte ausradiert und rücksichtslos ausgebeutet werden, um die Vorbereitungen auf den bevorstehenden Krieg im Westen mitzufinanzieren.23

Die Entscheidung darüber, was unternommen werden sollte, war noch nicht gefallen, als Hitler am 22. August 1939, während die letzten Vorbereitungen für die Invasion getroffen wurden, vor seinen führenden Generälen darlegte, wie er sich den kommenden Krieg mit Polen vorstellte:

»Unsere Stärke ist die Schnelligkeit und unsere Brutalität. Dschingis Chan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt, bewußt und fröhlichen Herzens. Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatengründer … Ich habe Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert –, daß das Kriegsziel nicht im Erreichen bestimmter Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken … Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt.«24

Die Polen waren, wie Hitler gegenüber Goebbels erklärte, »mehr Tiere als Menschen, gänzlich stumpf und amorph … Der Schmutz der Polen ist unvorstellbar.«25 Das Land müsse rücksichtslos unterworfen werden. »Die Polen«, sagte er zu Alfred Rosenberg am 29. September 1939, seien »eine dünne germanische Schicht, unten ein furchtbares Material … Die Städte starrend von Schmutz … Hätte Polen noch ein paar Jahrzehnte über die alten Reichsteile geherrscht, wäre alles verlaust und verkommen, hier könne jetzt nur eine zielsichere Herrenhand regieren.«26 Hitlers Selbstbewußtsein nahm rasch zu, als im September 1939 erst Tage, dann Wochen vergingen, ohne daß von Briten und Franzosen ein Zeichen für eine wirksame Intervention gekommen wäre, um den Polen zu Hilfe zu kommen. Der Erfolg der deutschen Armeen verstärkte nur noch sein Gefühl der Unverwundbarkeit. Bei der Schaffung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren hatten strategische und wirtschaftliche Überlegungen die Hauptrolle gespielt. Mit der Besetzung Polens jedoch waren Hitler und die Nationalsozialisten zum ersten Mal bereit und in der Lage, die ganze Wucht ihrer Rassenideologie zu entfesseln. Das besetzte Polen sollte das Versuchsgelände für die Schaffung der neuen Rassenordnung in Ostmitteleuropa werden, ein Modell für das, was Hitler anschließend mit der übrigen Region vorhatte – in Weißrußland, Rußland, den Baltenstaaten und in der Ukraine. Im westlichen Teil Polens sollte vorgeführt werden, was der nationalsozialistische Begriff des »Lebensraums« für die Deutschen im Osten in der Praxis bedeutete.27

Karte 1: Polen und Ostmitteleuropa unter dem Stalin-Hitler-Pakt 1939–1941

Anfang Oktober 1939 hatte Hitler seinen ursprünglichen Gedanken aufgegeben, den Polen eine eigene Regierung in einem Rumpfstaat zuzugestehen. Weite Teile polnischen Territoriums wurden von Deutschland annektiert, um die neuen Reichsgaue Danzig-Westpreußen unter Albert Forster, Gauleiter von Danzig, und Posen (bald darauf in Wartheland umbenannt) unter Arthur Greiser, ehemals Präsident des Danziger Senats, als »Reichsstatthalter« zu bilden. Weitere Teile Polens wurden den bereits bestehenden Gauen Ober- und Unterschlesien zugeschlagen. Mit diesen Maßnahmen verschob das Dritte Reich seine Grenzen gegenüber 1914 rund 150 bis 200 Kilometer weiter nach Osten. Alles in allem wurden dem Reich 90 000 Quadratkilometer Territorium eingegliedert mit rund zehn Millionen Menschen, von denen 80 Prozent Polen waren. Das übrige von Deutschland besetzte Polen, das jetzt als »Generalgouvernement« bezeichnet wurde, kam unter die autokratische Herrschaft von Hans Frank, dem juristischen Experten der NSDAP, der sich während der zwanziger Jahre als Verteidiger von Nationalsozialisten in Strafprozessen einen Namen gemacht, den »Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen« gegründet hatte und schließlich 1934 zum Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung ernannt wurde. Trotz seiner bedingungslosen Loyalität gegenüber Hitler war Frank immer wieder mit Himmler und der SS aneinandergeraten, die mit juristischen Formalitäten laxer umgingen als er selbst, und seine Versetzung nach Polen war ein bequemes Mittel, ihn auszumanövrieren. Außerdem schien er aufgrund seiner juristischen Erfahrung der geeignete Mann zu sein, um quasi aus dem Nichts eine neue Verwaltungsstruktur aufzubauen. Über elf Millionen Menschen lebten im Generalgouvernement, zu dem der Distrikt Lublin und Teile der Regierungsbezirke Warschau und Krakau gehörten. Es war kein »Protektorat« wie Böhmen und Mähren, sondern eine Kolonie, außerhalb des Reichs und seiner Gesetze, seine polnischen Bewohner waren praktisch staaten- und rechtlos. In der Position einer fast unbegrenzten Machtfülle, die er als Generalgouverneur genoß, ging Franks Neigung zu einer brutalen und gewalttätigen Rhetorik bald in die Wirklichkeit eines brutalen und gewalttätigen Handelns über. Mit Forster, Greiser und Frank auf den führenden Verwaltungsposten befand sich das gesamte Gebiet des besetzten Polens in den Händen hartgesottener »Alter Kämpfer« der NS-Bewegung, was die schrankenlose Verwirklichung einer extremen NS-Ideologie bedeutete, die das Leitprinzip der Besatzung werden sollte.28

Hitler gab seine Absichten am 17. Oktober 1939 in einer Besprechung mit dem Chef des OKW bekannt. Das ehemalige Polen solle »selbständig gemacht werden«. Die Durchführung der Ziele »bedingt einen harten Volkstumskampf, der keine gesetzlichen Bindungen gestattet. Die Methoden werden mit unseren sonstigen Prinzipien unvereinbar sein.« »›Die polnische Wirtschaft‹ … muß zur Blüte kommen«. Es sei Vorsorge zu treffen, »daß das Gebiet als vorgeschobenes Glacis für uns militärische Bedeutung hat und für einen Aufmarsch [gegen die Sowjetunion] ausgenutzt werden kann. Dazu müssen die Bahnen, Straßen und Nachr. Verbindungen für unsere Zwecke in Ordnung gehalten und ausgenutzt werden.« Andererseits müßten »alle Ansätze einer Konsolidierung der Verhältnisse in Polen beseitigt werden«. Die Verwaltung habe »nicht die Aufgabe, … das Land wirtschaftlich und finanziell zu sanieren«. Die Polen dürften sich keinesfalls wirtschaftlich wieder erholen. »Es muß verhindert werden, daß eine polnische Intelligenz sich als Führerschicht aufmacht. In dem Land soll ein niederer Lebensstandard bleiben; wir wollen dort nur Arbeitskräfte schöpfen.«29

Diese drastischen Maßnahmen wurden teils durch lokale Milizen und teils durch SS-Einsatzgruppen durchgeführt. Schon in den ersten Tagen des Krieges befahl Hitler die Aufstellung eines »Volksdeutschen Selbstschutzes« in Polen, der bald darauf der SS unterstellt wurde. Diese Miliz wurde organisiert und in Westpreußen geführt von Ludolf von Alvensleben, dem ersten Adjutanten Himmlers. Am 16. Oktober 1939 äußerte er vor seinen Männern: »Jetzt seid ihr das Herrenvolk. Mit Weichheit und Schwäche wurde noch nichts aufgebaut … Seid nicht weich, seid erbarmungslos und räumt mit allem auf, was nicht deutsch ist und uns beim Aufbau hindern kann.«30 Die Miliz veranstaltete in zahlreichen Ortschaften organisierte Massenerschießungen polnischer Zivilisten, ohne jede Autorisierung durch die Militär- oder Zivilbehörden, als Vergeltung für angebliche polnische Greuel an den Volksdeutschen. Bereits am 7. Oktober 1939 meldete Alvensleben, 4247 Polen seien den »schärfsten Maßnahmen« ausgesetzt worden. In der Zeitspanne eines Monats, vom 12. Oktober bis zum 11. November 1939, wurden allein an die 2000 Männer, Frauen und Kinder in Klammer (Distrikt Kulm) von der Miliz erschossen. Nicht weniger als 10 000 Polen und polnische Juden wurden von Milizen nach Mniszek in der Gemeinde Dragaß aus den umliegenden Ortschaften gebracht, mußten sich an den Rand von Kiesgruben stellen und wurden erschossen. Weitere 8000 wurden von den Milizen unter Mitwirkung deutscher Soldaten in einem Wald in der Nähe von Karlshof im Landkreis Zempelburg am 15. November 1939 erschossen. Bis diese Aktionen im Frühjahr 1940 beendet wurden, waren Tausende weitere Polen dem Wüten der Milizen zum Opfer gefallen. In der westpreußischen Stadt Konitz beispielsweise begann die lokale protestantische Miliz, aufgehetzt durch Haß und Verachtung gegenüber Polen, Katholiken, Juden und all denen, die den nationalsozialistischen Rassenidealen nicht entsprachen, am 26. September, 40 katholische und jüdische Polen ohne auch nur den Anschein eines Gerichtsverfahrens zu erschießen. Bis zum folgenden Januar war die Zahl ihrer Opfer auf 900 gestiegen. Von den 65 000 nichtjüdischen und jüdischen Polen, die in den drei letzten Monaten des Kriegsjahrs getötet wurden, war etwa die Hälfte durch Milizen umgekommen, manche unter bestialischen Umständen; es waren die ersten Massenerschießungen von Zivilisten im Krieg.31

III

Während des Jahres 1939 hatten Himmler, Heydrich und andere führende Figuren in der SS eine ausgedehnte Debatte geführt über die beste Möglichkeit, die verschiedenen Ämter und Institutionen zu organisieren, die ihnen seit dem Beginn des Dritten Reiches unterstellt waren, darunter der SD, die Gestapo, die Kriminalpolizei und eine Vielzahl von spezialisierten Ämtern. Ihre Diskussionen mußten mit der Aussicht auf eine bevorstehende Invasion Polens zu einem Ergebnis kommen, da sich deutlich abzeichnete, daß die Zuständigkeiten und Abgrenzungen zwischen der Polizei und dem SD neu definiert werden mußten, wenn sie sich wirksam gegenüber der machtvollen Stärke der deutschen Wehrmacht behaupten wollten. Am 27. September 1939 schufen Himmler und Heydrich das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), in dem all die verschiedenen Bestandteile der Polizei und SS unter einer einzigen, zentralisierten Leitung zusammengefaßt wurden. Als Ergebnis der Erörterungen bestand dieses Hauptamt schließlich aus sieben Ämtern. Zwei davon (Amt I und II) übernahmen die Bereiche Personal (Amt I), Organisation, Verwaltung und Recht (Amt II). Der ursprüngliche Leiter von Amt II, Werner Best, wurde im Juni 1940 von seinem Rivalen Heydrich verdrängt, und seine Ressorts wurden zwischen weniger ehrgeizigen Figuren aufgeteilt. Die Ämter III und VI, Inlands- und Auslandsnachrichtendienst, unterstanden Heydrich. Amt IV, zuständig für Gegner-Erforschung und -Bekämpfung, war die Zentrale der Gestapo, deren Abteilungen sich mit politischen Gegnern (Referat IV A), den Kirchen und Juden (Referat IV B), »Schutzhaft« (IV C), den besetzten Gebieten (IV D) und Spionageabwehr (IV E) befaßten. Amt V war das Reichskriminalpolizeiamt, und Amt VII (»Weltanschauliche Forschung«) beschäftigte sich mit »gegnerischen« Ideologien. Das gesamte ausgedehnte Gefüge befand sich in einem fortwährenden Wandel, wurde von internen Rivalitäten zerrieben und durch periodische Wechsel des Personals unterminiert. Trotzdem sorgten einige Schlüsselpersonen für ein gewisses Maß an Kohärenz und Kontinuität – insbesondere Reinhard Heydrich, der Chef des RSHA, Heinrich Müller, der Gestapochef, Otto Ohlendorf, der die Abteilung III leitete, Franz Six (Abteilung VII) und Arthur Nebe (Abteilung V). Es war in jeder Hinsicht eine unabhängige Behörde, die ihre Legitimität aus Hitlers persönlicher Prärogative ableitete, personell ausgestattet nicht mit traditionellen, juristisch ausgebildeten Beamten, sondern mit ideologisch fanatischen Nationalsozialisten. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Grundprinzipien bestand in der Politisierung der Polizei, in der viele hohe Offiziere, darunter auch Müller, verbeamtete Polizisten und keine verbohrten Nationalsozialisten waren. Von den traditionellen Verwaltungsstrukturen abgekoppelt, griff das RSHA in jeden Bereich ein, in dem nach Heydrichs Ansicht eine aktive, radikale Präsenz erforderlich war, vor allem im Hinblick auf die rassische Neuordnung im besetzten Polen.32

Das alles ging jetzt zügig voran. Bereits am 8. September 1939 wurde Heydrich mit den Worten zitiert: »Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen und Juden müssen aber umgebracht werden«. Außerdem äußerte er seinen Unwillen gegenüber der Wehrmacht – »es ginge alles viel zu langsam!!! Täglich fänden 200 Exekutionen statt. Die Kriegsgerichte arbeiteten aber viel zu langsam. Er würde das abstellen. Die Leute müßten sofort ohne Verfahren abgeschossen oder gehängt werden.«33 Franz Halder, Generalstabschef des Heeres, war überzeugt, »es sei Absicht des Führers und Görings, das polnische Volk zu vernichten und auszurotten«.34 Am 19. September 1939 hatte Heydrich laut Halder angekündigt, es werde eine »Flurbereinigung (geben): Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel«. 60 000 Namen von polnischen Freiberuflern und Intellektuellen waren vor dem Krieg gesammelt worden; sie sollten alle umgebracht werden. Eine Besprechung zwischen Brauchitsch und Hitler am 18. Oktober bestätigte, daß es darum ging »zu verhindern, daß polnische Intelligenz sich zu einer neuen Führerschicht aufwirft. Niederer Lebensstandard soll erhalten bleiben. Billige Sklaven. Aus deutschem Gebiet muß alles Gesindel heraus. Schaffung einer totalen Desorganisation.«35 Heydrich sagte vor seinen unmittelbaren Untergebenen, Hitler habe die Deportation der Juden Polens in das Generalgouvernement befohlen, zusammen mit den Angehörigen der freien Berufe und den gebildeten Polen, mit Ausnahme der politischen Führer, die in Konzentrationslager eingesperrt werden müßten.36

Auf der Grundlage der Erfahrungen während der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei und auf Hitlers ausdrückliche Befehle stellte Heydrich fünf Einsatzgruppen auf, deren Zahl später auf sieben erhöht wurde, die dem Heer nach Polen folgen und dort die weltanschaulichen Ziele der Nationalsozialisten in die Tat umsetzen sollten.37 Ihre Führer wurden von einer speziellen Behörde ernannt, die von Heydrich geschaffen worden war, und unterstanden Werner Best.38 Die Männer, die diese Einsatzgruppen und deren Einheiten (Einsatzkommandos) führen sollten, waren hohe Offiziere des Sicherheitsdienstes (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo), zumeist gebildete Männer aus den bürgerlichen Schichten zwischen 35 und 40 Jahren, die sich während der Weimarer Republik der äußersten Rechten zugewandt hatten. Viele der älteren Offiziere hatten in den frühen zwanziger Jahren in den gewalttätigen paramilitärischen Einheiten der Freikorps gedient. Eine beträchtliche Zahl von ihnen, wenngleich nicht alle, hatten als Angehörige paramilitärischer Einheiten in den Konflikten in Oberschlesien 1919–1921, als Einwohner von Gebieten, die durch den Friedensvertrag an Polen abgetreten werden mußten, oder als Polizeibeamte entlang der deutsch-polnischen Grenze starke antipolnische Ressentiments entwickelt. Best erwartete von seinen Untergebenen nicht nur gute Kenntnisse und Erfahrungen in der Verwaltung, sondern auch militärische Erfahrungen gleich welcher Art.39

In vieler Hinsicht typisch für diese Männer war Bruno Streckenbach, ein SS-Brigadeführer, 1902 als Sohn eines Zollbeamten in Hamburg geboren. Zu jung, um am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, schloß Streckenbach sich 1919 einer Freikorpseinheit an und war an Kämpfen mit linken Revolutionären in Hamburg beteiligt, bevor er sich dem Kapp-Putsch im März 1920 anschloß. Nachdem er in den zwanziger Jahren verschiedene Bürotätigkeiten ausgeübt hatte, trat Streckenbach 1930 in die NSDAP und 1931 in die SS ein, in der er Karriere machte und 1936 schließlich zum Chef der Staatspolizei in Hamburg ernannt wurde; er galt in diesen Jahren als ausgesprochen rücksichtslos. Das empfahl ihn bei Best, der ihn 1939 zum Leiter der Einsatzgruppe I ernannte. Streckenbach fiel insofern aus dem Rahmen, als er eine lediglich geringe Bildung mitbrachte; mehrere der ihm unterstellten Beamten hatten hingegen promoviert. Was sie jedoch miteinander gemeinsam hatten, war eine Vergangenheit mit einer gewalttätigen Bindung an die extreme Rechte.40

Streckenbach und die Einsatzgruppen, insgesamt rund 2700 Mann, hatten den Auftrag, die politische und wirtschaftliche Sicherheit der deutschen Besatzung im Gefolge der Invasion herzustellen. Dazu gehörte nicht nur die Ermordung der »führende(n) Bevölkerungsschicht in Polen«, sondern auch die »Bekämpfung der reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe«.41 In der Praxis bot dies den Einsatzgruppen einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Die Einsatzgruppen unterstanden formell dem Heer, das Befehl hatte, sie zu unterstützen, soweit die taktische Lage es erlaubte. Das war insofern sinnvoll, als die Einsatzgruppen gegen Spionage, Widerstand, Partisanen und dergleichen vorgehen sollten, doch in der Realität machten sie sich weitgehend unabhängig, als die SS ihre umfassende Kampagne mit Verhaftungen, Deportationen und Morden entfesselte.42 Die Einsatzgruppen waren mit Listen versehen, auf denen die Namen von Polen vermerkt waren, die auf die eine oder andere Weise gegen die deutsche Herrschaft in Schlesien während der Unruhen gekämpft hatten, von denen die Völkerbund-Plebiszite am Ende des Ersten Weltkriegs begleitet waren. Polnische Politiker, führende Katholiken und Wortführer einer polnischen nationalen Identität wurden gezielt verhaftet. Am 9. September 1939 traf Roland Freisler, Staatssekretär im Reichsjustizministerium, in Bromberg ein, um eine Reihe von Schauprozessen vor einem Sondergericht zu inszenieren, das bis Jahresende von 168 Angeklagten 100 Männer zum Tode verurteilte.43

Der Krankenhausdirektor Dr. Zygmunt Klukowski begann in seinem Tagebuch Massenhinrichtungen von Polen durch Deutsche in seinem Distrikt zu verzeichnen, denen höchst fadenscheinige Beschuldigungen zugrunde lagen – beispielsweise im Januar 1940 17 Personen.44 Als gebildeter Akademiker war er besonders gefährdet. Klukowski lebte in beständiger Furcht, verhaftet zu werden, und schließlich wurde er im Juni 1940 von der deutschen Polizei aus seinem Krankenhaus abgeholt und in ein Internierungslager gebracht, wo die Polen mörderische Leibesübungen auszuführen hatten, »mit Stöcken, Peitschen oder Fäusten« geschlagen wurden und in Schmutz und unsäglichen sanitären Verhältnissen vegetieren mußten. Während einer Vernehmung sagte er den Deutschen, in seinem Krankenhaus grassiere Typhus, und er müsse dorthin zurück, weil es sonst eine Epidemie geben werde, von der auch die Deutschen selbst erfaßt werden könnten (»innerlich sagte ich mir: ›ein Hoch auf die Laus‹«, schrieb er später in sein Tagebuch). Er wurde sofort wieder entlassen, um in sein, wie er den deutschen Behörden gegenüber behauptete, durch und durch verseuchtes Krankenhaus zurückzukehren. Er hatte großes Glück gehabt, sagte er sich; er hatte keine Mißhandlungen zu erdulden, mußte nicht bis zur Erschöpfung auf der Aschenbahn laufen, und man hatte ihn sehr bald wieder entlassen. Diese Erfahrung, schrieb er, »übertraf alle Gerüchte. Bislang war ich unfähig gewesen, mir eine systematische Mißachtung der Menschenwürde vorzustellen, daß man menschliche Wesen schlimmer behandeln könnte als Tiere, während die sadistische Lust, mit der die körperlichen Mißhandlungen verübt wurden, deutlich auf den Gesichtern der deutschen Gestapo abzulesen war. Doch … das Verhalten der Häftlinge war großartig. Niemand bat um Gnade, niemand zeigte auch nur Anzeichen von Feigheit … Alle Schmähungen, Mißhandlungen und Erniedrigungen wurden ruhig ertragen in dem Bewußtsein, daß sie dem deutschen Volk Schmach und Schande bringen würden.«45

Die Vergeltungen für trivialste Vergehen waren brutal. Über einen Zwischenfall im Dorf Wawer berichtete ein Arzt aus Warschau:

»Ein betrunkener polnischer Bauer legte sich mit einem deutschen Soldaten an, und bei der sich daraus ergebenden Rauferei verletzte er ihn mit einem Messer. Die Deutschen nahmen diesen Vorfall zum Anlaß für eine wahre Orgie willkürlicher Morde als angebliche Vergeltung für diese Tat. Insgesamt wurden 122 Menschen umgebracht. Als jedoch die Einwohner des Dorfs aus irgendwelchen Gründen die Quote der für die Exekution bestimmten Opfer anscheinend nicht erfüllen konnten, brachten die Deutschen einen Zug nach Warschau am Dorfbahnhof zum Stehen (an dem dieser Zug normalerweise gar nicht hielt), zerrten mehrere Reisende heraus, die überhaupt keine Ahnung davon hatten, was hier vorgefallen war, und erschossen sie ohne jede Formalitäten an Ort und Stelle. Drei von ihnen hängten sie am Bahnhof vier Tage lang mit dem Kopf nach unten auf. Auf einer großen Tafel an dem entsetzlichen Schauplatz erfuhr man die Geschichte der Opfer und wurde drohend darüber belehrt, daß ein ähnliches Schicksal jedes Dorf treffen werde, in dem ein Deutscher verletzt oder getötet würde.«46

Als ein 30 Jahre alter SA-Führer und kommissarischer Landrat nachts betrunken im Gerichtsgefängnis von Hohensalza die dort einsitzenden Polen »aus den Zellen holen und völlig willkürlich 55 von ihnen erschießen ließ«, verwendete sich Gauleiter und Reichsstatthalter Greiser persönlich für ihn beim Reichsinnenministerium, um eine Anklage vor Gericht zu verhindern. Der Beschuldigte habe ihm sein Ehrenwort gegeben, »zehn Jahre keinen Alkohol zu trinken«.47 Bei einem anderen Zwischenfall in in Obluze bei Gdingen (Gdynia) wurde eine Fensterscheibe der lokalen Polizeistelle eingeworfen, woraufhin 50 polnische Schuljungen verhaftet wurden. Als sie den Schuldigen nicht nennen wollten, wurde ihren Eltern befohlen, die Kinder vor der Kirche zu verprügeln. Die Eltern weigerten sich, so daß die SS-Männer die Jungen mit ihren Gewehrkolben schlugen und anschließend zehn von ihnen erschossen und die Leichen den ganzen Tag über vor der Kirche liegen ließen.48

An solchen und ähnlichen Vorfällen, die sich im Winter 1939/40 täglich ereigneten, waren reguläre deutsche Soldaten, volksdeutsche Milizen sowie Einheiten der Einsatzgruppen und der Ordnungspolizei beteiligt. Obwohl das Heer keinen Befehl hatte, die polnische Intelligenz zu töten, genügte den meisten Gefreiten und unteren Offizieren ihr Bild von den Polen als gefährlich und heimtückisch, um einen Großteil des polnischen Bildungsbürgertums unter dem Vorwand zu töten, es handle sich um präventive oder Vergeltungsmaßnahmen.49 Angesichts des entschlossenen, wenngleich wirkungslosen Widerstands, dem sie bei den Polen begegneten, waren die deutschen Generäle höchst besorgt über die Aussicht eines Freischärlerkriegs gegen ihre Soldaten und griffen zu den drakonischsten Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie es scheinbar mit solchen »Freischärlern« zu tun hatten.50 »Wird aus einem Dorfe hinter der Front geschossen«, befahl Generaloberst von Bock am 10. September 1939, »und ist das Haus, aus dem das Feuer kam, nicht festzustellen, so wird das ganze Dorf niedergebrannt«.51 Bis zum 26. Oktober 1939, als die Militärverwaltung im besetzten Polen beendet wurde, waren 531 Städte und Dörfer niedergebrannt und 16 376 Polen erschossen worden.52 Einfache deutsche Soldaten wurden von Angst, Verachtung und Wut erfüllt, wenn sie auf polnischen Widerstand stießen. In vielen Einheiten hielten die Offiziere vor der Invasion anfeuernde Reden, in denen sie die Barbarei, Bestialität und das Untermenschentum der Polen hervorhoben. Unteroffizier Franz Ortner, ein Schütze, zog in einer Meldung über die »entmenschten« Polen her, die, wie er glaubte, deutsche Verwundete auf dem Schlachtfeld mit dem Bajonett getötet hatten. Ein Gefreiter bezeichnete in einem Feldpostbrief an seine Eltern das polnische Vorgehen gegen Volksdeutsche als »viehisch«. Die Polen waren »heimtückisch«, »hinterlistig« und »niederträchtig«, sie waren geistig zurückgeblieben, feige, fanatisch, sie hausten in »stinkigen Wohnlöchern« statt in Häusern, und sie lebten unter dem »unheilvollen Einfluß des Judentums«. Die Soldaten entrüsteten sich über die Lebensbedingungen der Polen: »Überall faulendes Stroh, Nässe, schmutzige Eimer, Töpfe und Lappen«, schrieb einer, nachdem er ein polnisches Haus betreten hatte, und bestätigte alles, was er über die Rückständigkeit der Polen gehört hatte.53

Typische Beispiele für das Verhalten der einfachen Gefreiten finden sich in dem Tagebuch von Gerhard M., einem 1914 in Flensburg geborenen SA-Mann, der kurz vor Beginn des Krieges eingezogen worden war. Am 7. September 1939 traf seine Einheit auf den Widerstand »feiger Heckenschützen« in einem polnischen Dorf. Gerhard M. war vor dem Krieg Feuerwehrmann gewesen, doch jetzt brannten er und die Männer seiner Einheit das Dorf nieder.

»Brennende Häuser, weinende Frauen, schreiende Kinder. Ein Bild des Jammers. Aber das polnische Volk wollte es ja nicht besser. In einem der primitiven Bauernhäuser überraschten wir sogar eine Frau, welche ein polnisches Maschinengewehr bediente. Das Haus wurde umstellt und in Brand gesteckt. Nach kurzer Zeit versuchte die von den Flammen eingeschlossene Frau zu flüchten. Wir haben sie aber daran gehindert, so hart es war. Aber Flintenweiber dürfen nicht anders behandelt werden. Ihr Schreien gellte mir noch lange in den Ohren. Das ganze Dorf brannte. Wir mußten genau auf der Straßenmitte gehen, an den Seiten war die Hitze von den brennenden Häusern zu groß.«54

Solche Szenen wiederholten sich, je weiter die deutschen Truppen vorwärtsmarschierten. Einige Tage später, am 10. September 1939, wurde Gerhard M.s Einheit aus einem anderen polnischen Dorf beschossen und setzte dessen Häuser in Brand.

»Bald säumten brennende Häuser unseren Weg, und aus den Flammen schallte das Schreien der Versteckten, die sich nicht mehr retten konnten. Das Vieh brüllte in Todesangst, ein Hund schrie, bis er verbrannt war, aber am schlimmsten schrieen die Menschen. Es war grauenhaft … Aber sie haben geschossen und damit den Tod verdient.«55

SS-Einsatzgruppen, Polizeieinheiten, volksdeutsche Milizen und reguläre Soldaten töteten somit seit dem September 1939 überall im besetzten Polen Zivilisten. Dr. Klukowski beobachtete nicht nur Aktionen dieser Art, sondern registrierte auch eine wachsende Zahl junger polnischer Männer, die in den ersten Monaten 1940 nach Deutschland gingen, um dort zu arbeiten. Zu Beginn des Jahres hatte das Reichsministerium für Ernährung gemeinsam mit dem Reichsarbeitsministerium und der Vierjahresplanbehörde eine Million polnische Arbeiter für die Wirtschaft angefordert. Drei Viertel von ihnen sollten in der Landwirtschaft arbeiten, wo ein gravierender Arbeitskräftemangel herrschte. Diese Arbeiter, hatte Göring am 25. Januar 1940 bestimmt, sollten aus dem Generalgouvernement kommen. Falls sie nicht freiwillig kämen, müßten sie zwangsverpflichtet werden. Angesichts der entsetzlichen Zustände im besetzten Polen übte die Aussicht, in Deutschland zu leben, eine gewisse Anziehungskraft für Polen aus, so daß sich 80 000 polnische Arbeiter, die meisten aus dem Generalgouvernement und ein Drittel davon Frauen, im Februar in 154 Sonderzügen freiwillig auf den Weg nach Deutschland machten. Dort angekommen, wurden sie jedoch diskriminierenden Bestimmungen und repressiven Maßnahmen unterworfen.56 Die Nachrichten von der Art ihrer Behandlung hatten einen deutlichen Rückgang in der Zahl der Freiwilligen zur Folge, so daß Frank ab April 1940 zu einer Zwangsverpflichtung überging, um die geforderten Quoten zu erfüllen. Daraufhin flüchtete sich eine wachsende Zahl junger Polen in die Wälder, um einer Zwangsverpflichtung zu entgehen; etwa zu dieser Zeit entstand die illegale polnische Widerstandsbewegung.57 Im Januar verübten Widerstandskämpfer ein Attentat auf den Polizeichef des Generalgouvernements, und während der folgenden Wochen kam es in mehreren polnischen Dörfern zu Unruhen und Morden an Volksdeutschen. Am 30. Mai 1940 initiierte Frank eine »Außerordentliche Befriedungsaktion«, in deren Verlauf 4000 Widerstandskämpfer und Angehörige der Intelligenz, von denen sich die Hälfte bereits in »Schutzhaft« befand, ermordet wurden, zusammen mit rund 3000 Polen, die sich wegen Straftaten in Haft befanden.58 Das zeigte wenig Wirkung. Noch im Februar 1940 arbeiteten erst lediglich 295 000 Polen, die meisten von ihnen Kriegsgefangene, als »Fremdarbeiter« im Altreich. Damit ließ sich keinesfalls der Arbeitskräftemangel beheben, der durch die massenhafte Einziehung deutscher Männer in die Wehrmacht verursacht worden war. Im Sommer 1940 arbeiteten immerhin 700 000 Polen freiwillig oder gezwungenermaßen im Altreich; weitere 300 000 sollten 1941 folgen. Zu diesem Zeitpunkt teilte Frank den Ortsverwaltungen feste Quoten zu, die von ihnen erfüllt werden mußten. Oftmals umzingelten Polizisten ein Dorf und verhafteten alle jungen Männer, die sich dort aufhielten. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. In den Städten wurden junge Polen einfach von der Polizei und der SS in Kinos oder anderen öffentlichen Einrichtungen sowie auf der Straße verhaftet und ohne viel Federlesens nach Deutschland verbracht. Infolge dieser Methoden befanden sich im Oktober 1941 über eine Million polnische Arbeiter im Altreich. Nach einer Schätzung waren höchstens 15 Prozent von ihnen freiwillig dorthin gekommen.59

Die Massendeportation junger Polen als Zwangsarbeiter in das Reich hatte ihre Parallele in einer regelrechten Plünderungskampagne, die von den deutschen Besatzungsstreitkräften entfesselt wurde. Als deutsche Soldaten versuchten, sein Krankenhaus auszurauben, gelang es Klukowski, sie loszuwerden, indem er ihnen wieder einmal sagte, daß mehrere seiner Patienten Typhus hätten.60 Andere waren nicht so geistesgegenwärtig oder verfügten nicht über solche Möglichkeiten. Obwohl von den Soldaten erwartet wurde, daß sie sich vom Land ernährten, gab es keine näheren Bestimmungen über das Vorgehen bei Requisitionen. Von der Jagd auf Hühner war es nur ein kleiner Schritt zur Requirierung von Kochgeschirr bis hin zum Diebstahl von Geld und Wertsachen.61 Typisch war ein Erlebnis von Gerhard M., dessen Einheit in eine polnische Stadt kam und auf der Straße auf Befehle wartete:

»Ein findiger Kopf hat einen mit Brettern vernagelten Schokoladen-Laden entdeckt. Der Verkäufer war leider nicht zugegen. Wir räumten daher den Laden auf Kredit. Die Fahrzeuge wurden mit Schokolade beladen, bis kein Platz mehr war. Jeder Soldat lief mit vollen Backen einher und kaute. Wir freuten uns mächtig über den billigen Kauf. Ich hatte ein Lager mit wunderschönen Äpfeln entdeckt. Alles ruff uffs Fahrzeug. Eine Dose Zitronen- und Schokoladenplätzchen hinten aufs Rad, und dann ging’s weiter.«62

Bei der Plünderung des besetzten Polens übernahm der Generalgouverneur die Führung. Frank machte sich nicht die Mühe, seine Gier zu verbergen. Er bezeichnete sich selbst sogar als Räuberbaron. Er konfiszierte das Landgut der Familie Potocki, um es als ländliches Refugium zu nutzen, und fuhr in seinem Machtbereich mit einer Limousine durch die Gegend, die groß genug war, um kritische Kommentare selbst von Amtskollegen wie dem Gouverneur von Galizien auf sich zu ziehen. Hitler nacheifernd, ließ Frank in den Bergen bei Zakopane einen zweiten Berghof errichten. Die prächtigen Bankette, die er veranstaltete, ließen seinen Körperumfang so stark anschwellen, daß er kaum noch in seinen großen Dienstanzug paßte und einen Ernährungsspezialisten konsultieren mußte.63