Das Einhorn - Bernd Roling - E-Book

Das Einhorn E-Book

Bernd Roling

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Beschreibung

Alles Einhorn? Vom Wunderallheilmittel der Antike bis zum Symbol der Queer-Bewegung in der Moderne – eine spannende Reise durch die Kulturgeschichte

Aus der Wunderkammer ins Kinderzimmer, vom christlichen Motiv zum Symbol der Queer-Bewegung: Das Einhorn fasziniert die Menschen seit jeher. Während es sich heute als fantastisches Motiv auf T-Shirts tummelt, bestand in der Antike und im Mittelalter kein Zweifel an seiner Existenz. Erst im 17. Jahrhundert wiesen es Naturforscher dem Reich der Fabeltiere zu. Bernd Roling und Julia Weitbrecht erzählen von der bewegten Geschichte des Einhorns. Sie führen uns durch Naturgeschichte und Medizin, Literatur und Kunst, aber auch durch die Medienlandschaft der Gegenwart. Auf unterhaltsame Art zeigen sie: Aus unserer Vorstellungswelt ist Das Einhorn nicht wegzudenken – und seine Bedeutung erschöpft sich nicht in dem flauschigen Bild, das die Popkultur heute von ihm entwirft.

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Das ist das Cover des Buches »Das Einhorn« von Bernd Roling, Julia Weitbrecht

Über das Buch

Alles Einhorn? Vom Wunderallheilmittel der Antike bis zum Symbol der Queer-Bewegung in der Moderne — eine spannende Reise durch die KulturgeschichteAus der Wunderkammer ins Kinderzimmer, vom christlichen Motiv zum Symbol der Queer-Bewegung: Das Einhorn fasziniert die Menschen seit jeher. Während es sich heute als fantastisches Motiv auf T-Shirts tummelt, bestand in der Antike und im Mittelalter kein Zweifel an seiner Existenz. Erst im 17. Jahrhundert wiesen es Naturforscher dem Reich der Fabeltiere zu. Bernd Roling und Julia Weitbrecht erzählen von der bewegten Geschichte des Einhorns. Sie führen uns durch Naturgeschichte und Medizin, Literatur und Kunst, aber auch durch die Medienlandschaft der Gegenwart. Auf unterhaltsame Art zeigen sie: Aus unserer Vorstellungswelt ist das Einhorn nicht wegzudenken — und seine Bedeutung erschöpft sich nicht in dem flauschigen Bild, das die Popkultur heute von ihm entwirft.

Bernd Roling Julia Weitbrecht

Das Einhorn

Geschichte einer Faszination

Hanser

Einleitung

Einhorn — Keinhorn — Scheinhorn

Professor Raue-Pritsche […] führte sie an der Koppel vorbei […] und auf einen Baum am Waldrand zu. An den Baum gebunden war ein großes, schönes Einhorn. Viele Mädchen »uuuhten« bei diesem Anblick. »Oooh, ist es nicht wunderschön?«, flüsterte Lavender Brown. »Wie hat sie es gefangen? Das soll ja so unglaublich schwer sein!« Das Einhorn war so gleißend weiß, dass der Schnee um es herum grau schien. Es stampfte nervös mit seinen goldenen Hufen und warf seinen gehörnten Kopf zurück. »Jungen zurückbleiben!«, bellte Professor Raue-Pritsche und ihr ausgestreckter Arm traf Harry hart an der Brust. »Sie ziehen die Hand einer Frau vor, diese Einhörner.«1

Harry Potters viertes Schuljahr in Hogwarts wird vom trimagischen Turnier dominiert, aber für zusätzliche Aufregung sorgen die zunehmenden Differenzen zwischen den pubertierenden Jungen und Mädchen — und die wechselseitige Anziehung, die aus ihnen erwächst, wenn es darum geht, wer nun wen zum Weihnachtsball einlädt. Zum Streitfall in dieser explosiven Phase wird ausgerechnet das Fach »Pflege magischer Geschöpfe«. Es wird zunächst vom ungeschlachten Halbriesen Hagrid unterrichtet, der alle Monster und gefährlichen Kreaturen liebt, besonders Drachen, aber auch die Knallrümpfigen Kröter, die die Schülerinnen und Schüler als Schulprojekt großziehen sollen. Hagrid wird schließlich zum Opfer eines Sensationsartikels, in dem ihm vorgeworfen wird, die Kinder durch den Kontakt mit diesen »grauenhaften Kreaturen« zu gefährden. Dies wird, charakteristisch für die zunehmend bedrohliche Atmosphäre in der Welt der Zauberer, mit rassistischen Anfeindungen aufgrund seiner riesischen Abstammung verbunden. Hagrid wird daher durch Professor Raue-Pritsche abgelöst, die besonders bei den Mädchen in der Klasse Gefallen findet. »Genau so hab ich mir die Pflege magischer Geschöpfe immer vorgestellt […] richtige Tiere wie dieses Einhorn, keine Monster […]«, sagt Parvati Patil im Anschluss an die Stunde zu Harry.2

Man liest mit einigem Abstand die reizvolle, auch irgendwie altmodische Schulgeschichte mittlerweile vielleicht mit einem anderen Blick auf die Darstellung der Geschlechter. Die Autorin J. K. Rowling sieht sich in den 2020er-Jahren mit massiven Vorwürfen der Transphobie und -feindlichkeit konfrontiert. Sie wird als TERF bezeichnet, also als Feministin, die transgender Frauen nicht als Frauen anerkennt, und hat sich selbst immer wieder vehement zu einer Binarität der Geschlechter bekannt. Kritische Lektüren der Harry-Potter-Reihe haben zahlreiche Hinweise auf transphobes Framing erarbeitet, welche die Vorwürfe gegen Rowling stützen sollen. Ob das dem Gegenstand angemessen ist, kann und soll hier nicht erörtert werden. Man könnte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vielleicht einwenden, dass die magische Zauberwelt Harry Potters eigenen Gesetzen der Fiktionalität gehorcht und daher den gesellschaftlichen Konflikten des Spätkapitalismus enthoben ist. Andererseits lädt Rowling selbst die Welt von Harry Potter im Kampf des Guten gegen das ausgrenzende, totalitäre System Voldemorts durchaus mit Bezügen zur historischen Realität ideologisch auf, worin auch ein besonderer Reiz der Reihe für jugendliche wie erwachsene Leserinnen und Leser liegt. Jede Zeit hat ihre eigenen Aufklärungsdiskurse, und was im Jahr 2000, als der vierte Band der Reihe erschien, noch so emanzipiert erschien wie die kluge und mutige Hermine, wirkt heute in Bezug auf die Darstellung der Geschlechter und ihrer schulischen Sozialisierung vielleicht eher ein bisschen betulich, wie auch die harmlosen Pferdemädchen Lavender und Parvati.

Was hat das nun alles mit den Einhörnern und diesem Buch zu tun?

Sehr viel, denn die Darstellung Rowlings ist alles andere als voraussetzungslos. Die Eigenschaften, die Professor Raue-Pritsche ihre Schülerinnen in Hogwarts lehrt und die auch im Spin-off zur Potter-Serie der Phantastischen Tierwesen eine Rolle spielen, gehen auf Vorstellungen zurück, die man sich seit der Antike vom Einhorn gemacht hat und um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird.3 Dazu gehört etwa, dass sein Horn ein wirksames Gegenmittel gegen Gift darstelle, dass Einhornblut Heilkräfte besitze und dass das Tier sehr scheu sei und sich nur von einer Frau einfangen lasse.

Im Aussehen dagegen weist das in Harry Potter beschriebene Tier alle Merkmale eines »modernen« Einhorns auf: ein anmutiges pferdeähnliches Geschöpf mit einem gewundenen Horn auf der Stirn, das allen romantischen Seelen ein spontanes »Ahhh« entlockt. Ältere Menschen verbinden diese Darstellung vielleicht auch noch mit dem Animationsfilm »Das letzte Einhorn« von 1982 nach der Buchvorlage Peter S. Beagles, die 1968 erschien. Das gleißend weiße Tier ähnelt auch den unzähligen gehörnten Wesen, die in den letzten Jahren auf Rucksäcken, T-Shirts, Bettwäsche und Handyhüllen aufgetaucht und in der Masse schier explodiert sind. Diese modernen, hübschen Einhörner sind kommerziell enorm erfolgreich: Für schlappe 249 Euro kann man, wie man bei »Kalkofes Mattscheibe« erfährt, auf AstroTV ein Einhorn Super Set XXL inklusive »Ritualzubehör« und Einhorn-Spray erstehen, mit dessen Hilfe die Einhörner aus dem Reich der Legenden »wieder« zurück in unseren Alltag kommen und diesen »zum Leuchten bringen«.4

Kommerz verbindet sich hier mit einem besonderen Heilsversprechen, das auch zahlreiche Formen neuer Religiosität auf das Einhorn projizieren: Veranstalter von »Einhorn-Sommercamps« und »Einhorn-Meditationen«, die das Tier als spirituellen Energielieferanten anzapfen wollen, berufen sich auf die schamanische und in jeder Hinsicht heilende Kraft des Einhorns, ja sie erheben die Begegnung mit ihm zu einem regelrecht kultischen Ereignis. Viele dieser meditativen Entgrenzungen erinnern an klassisches Channeling und an Varianten der Engelmagie, wie sie die Esoterik seit Jahrzehnten begleiten, doch verwundert es doch, dass unser gehörntes Tier für manche Menschen fast im Alleingang imstande ist, die Sehnsucht nach Sinngebung zu stillen. Wer das fast kindliche Leuchten in den Augen einiger der Erwachsenen sieht, die an vergleichbaren Kursen teilnehmen, dem fällt es schwer, sich uneingeschränkt über diese Menschen zu amüsieren. Ihr Glaube an die spirituelle Heilkraft der Tiere zeigt jedenfalls, wie groß der Wunsch nach Sinngebung und Erfüllung ist.

Sich selbst für ein inkarniertes Einhorn zu halten, ist für die Verfasserin von Auf dem Einhornpfad. Die Reise zu meinem Seelenursprung, Julia Jannsen, ein aufrichtiges Bekenntnis. Mit gleicher Überzeugung verspricht die Amerikanerin Diane Cooper, man könne aus den »Begegnungen mit den erleuchteten Wesen der siebten Dimension« direkten Nutzen für das eigene Seelenleben ziehen. Die Autorin hat noch in diesem Jahr eine Magie der Einhörner folgen lassen, doch liegen seit Jahren schon Dutzende von Lebenshilfen vor, die das Einhorn auf dem Titel führen. Auch Sonja Ariel von Staden, deren Youtube-Kanal zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buchs 51.000 Follower hat, zeugt von der esoterischen Erfolgsgeschichte der spirituellen Einhörner. Sie inspiriert, malt und schreibt mit enormer Intensität und Frequenz seit mehr als zwei Jahrzehnten im Bereich der neuen Religiosität. Das Einhorn findet bei ihr seine Heimat zwischen Sternentoren und Engel-Botschaften. Mit Gesang begleitete Meditationsübungen, die den Kontakt zu den »Einhörnern der Weisheit« in Aussicht stellen, Amulette, Kartensets, Gemälde, T-Shirts, Tassen, Video-Botschaften, die DVDEinhörner: Vom Mythos zum Begleiter und der jährliche Engel- und Einhorn-Kalender vereinigen sich zu einem Ensemble, das alle medialen Segmente abdeckt. Angemerkt sei auch, dass die Bepreisung dieser Artikel sich in diesem Umfeld zumindest nachvollziehbarer gestaltet als im Fall des Einhorn Super Set XXL. Sonja Ariel von Stadens eigene Monografie zum Thema, die unter dem Titel Das Einhorn als Beschützer und Begleiter für die Neue Zeit firmiert, liefert zunächst eine historische Einleitung des Einhorn-Phänomens, in der viele der Erscheinungen, die uns hier interessieren, ebenfalls kurz angesprochen werden, um dann zu den »Einhörnern als Lichtwesen« überzuleiten und ihre persönlichen Begegnungen mit den gehörnten Energieträgern zu schildern. Die angehängten inspirierenden Bilderbotschaften der Einhörner, die im Channeling empfangen wurden, nehmen den Hauptteil des Buches ein. Schon ihre Titel verraten ihre große Nähe zur schon länger populären Bewegung der Engelmagie. »Alorna — Die zärtliche Einhornenergie« steht hier neben »Enclastra — Das Einhorn des Feuers« und »Empror — Mondschein-Meerestanz der Freiheit«, aber auch »Epona — die Hüterin der Pferde und der Natur«.5 Die entsprechende Göttin wurde von Kelten und Römern, wie etliche lateinische Inschriften und klassische Dichterzitate bezeugen, immerhin schon seit der frühen Antike nachweislich verehrt.

Die über Jahrhunderte postulierte Heilkraft der Einhörner, deren langes Echo uns in diesem Buch beschäftigen soll, hat sich, so entsteht zumindest der Eindruck, im Reich des Überirdischen noch einmal gewaltig vervielfältigen dürfen. Die gehörnten Tiere begleiten die Menschen mit ihrer Weisheit, wie es bei Frau von Staden heißt, damit sich deren »Bewusstsein immer weiter entwickeln« kann. Es handelt sich, so ihre für viele Vertreter der Einhorn-Religion sprechende These, bei ihnen um »freie Seelen, die sich vor langer Zeit entschieden hatten, die Erde mit ihrer Weisheit zu unterstützen«. Die Hilfe, die sich vonseiten dieser »reinen energetischen Frequenz der Einhörner« einstellt, fällt zusammen mit einer Fähigkeit zur Selbstvollendung, die einer Logik des modernen Personal Coaching entspricht. Am Ende steht, wie Frau von Staden in Interviews immer wieder bekräftigt, die Utopie einer Gesellschaft von mündigen, liebesfähigen und im Idealfall vegan lebenden Individuen, die einander ebenso respektvoll und mit Empathie begegnen wie der ganzen Natur.

Gegen die Zumutungen der ökonomisierten und offenkundig als leer empfundenen Außenwelt scheint sich hier ein wohliges Gemeinschaftsgefühl zu artikulieren, das im Glauben an die Realität der Einhörner sein verbindendes Element gefunden hat. Der Religionswissenschaftler Michael Blume hat in diesem Kontext mit William James vielleicht zu Recht von einer »Wunschreligion« gesprochen, die für die Anhänger unmittelbar persönlichkeitssteigernd wirken soll.6

Im Geschäft mit dieser Sehnsucht kann die grenzenlose Kommerzialisierung des »Unicornismus« allerdings auch auf die größten Fans des Glitzers völlig erschlagend wirken; daher findet sich unter einhornkaufen.de ein »Vergleichsportal« zu allem, »was einen Einhornfan glücklich macht«, das die zahllosen Einhorn-Devotionalien säuberlich nach Kategorien ordnet.

Was Einhornfans glücklich macht, folgt einerseits dem traditionellen Pferdetopos, wie wir ihn auch bei J. K. Rowling finden, und wird mittels inflationärer Verwendung der Farbe Pink häufig noch eindeutiger in die vermeintliche Mädchen-Ecke gerückt. Andererseits geht es aber in der Einhorn-Community immer glitzernder, schillernder und regenbogenfarbener — einfach diverser — zu. Die Pony-Freundinnen in der Animationsserie My Little Pony Friendship is Magic (seit 2010) gehören unterschiedlichen Spezies an, sie sind Pegasi, Erdponys und Einhörner, die über verschiedene, magische Begabungen verfügen — und sich in der Regel bestens verstehen. Sie sind alle Mädchen, aber die Ponys haben auch treue männliche Fans, die sich »Bronies« nennen.7

Einhorn und Geschlecht ist aber schon deshalb ein zentraler, durchaus auch politischer Aspekt der Geschichte des Einhorns, weil das Tier seit den 1980er-Jahren als Maskottchen der Pride-Bewegung auftritt. Das steht wahrscheinlich in Verbindung mit der Regenbogenflagge, die der Künstler Gilbert Baker für den Gay Freedom Day 1978 in San Francisco entwarf. Die Herleitungen für den Erfolg des Einhorns als Identifikationsfigur der LGBTQ+-Community sind ganz unterschiedlich, aber sie hängen sicherlich mit dem breiten Spektrum an Farben und Formen zusammen, das die diverse Welt der Einhörner ausmacht — und mit dem spielerischen Element, sich auszuprobieren, weil wir es mit einem Wesen zu tun haben, das vertraut ist und dabei rätselhaft. Es ist fester Bestandteil unserer kollektiven Vorstellung und bleibt uns zugleich entzogen.

Diese Ambivalenz prägt das trotzige Kleinkind-Neinhorn aus den Bilderbüchern von Marc-Uwe Kling und Astrid Henn ebenso wie den lustigen, dabei auch melancholischen Dokumentarfilm Inside London’s Hedonistic, Polyamorous Unicorn Movement, der 2015 auf der Plattform Vice veröffentlich wurde.8 Er porträtierte den charismatischen Shaft, der in England gemeinsam mit feierfreudigen Gleichgesinnten eine utopische Gemeinschaft namens Unicornia gegründet hat. Als Einhörner verkleidet ziehen sie durch das graue London und versprühen Glitzer, Glück und Liebe, lösen mitunter aber auch Irritation über die exaltierten Kostümierungen aus. Eine Existenz als »Glamicorn« verspricht, sich von allen gesellschaftlichen Konventionen in Bezug auf Geschlecht, Sexualität und Lebensentwurf zu befreien und sich als gleiche, in ihrem Freiheitsdrang unbezähmbare Einhörner zu begegnen. Leider misslingt das polyamouröse Projekt Shafts aufgrund von Eifersüchteleien am Ende, aber der kurze Film zeigt uns das ohne Häme. Es wird vielmehr ein Wunsch nach Veränderung, lustvollem Ausleben und Kreativität deutlich, der hier mit dem »Unicornismus« verbunden ist. Auch dieses Phänomen ist nicht neu — so wurde bereits 1454 in Cambrai eine »feste de la Licorne«, ein »Einhorn-Fest«, von Louis von Luxembourg, Herzog von Saint-Pol, mit großem Prunk und Aufwand veranstaltet. Insgesamt achtzig junge Hofmänner sollten hier gegeneinander antreten, doch weil viele der Eingeladenen absagten, fand das Turnier nur in reduzierter Form statt. Auch wenn mitunter unterstellt wird, die Hofleute seien sämtlich als Einhörner verkleidet gewesen, lässt sich das aus den Quellen schwer ermitteln — eine schöne Vorstellung ist es allemal.9

Nicht nur der Glaube an die Heilkraft des Einhorns, auch die symbolischen Zuschreibungen von Wandelbarkeit, Freiheit und Unangepasstheit gehen auf bis in die Antike zurückreichende Vorstellungen von einem Mischwesen zurück, das in wechselnden Formen auftritt. Wissenschaft und Religion, Sehnsucht und Sinnsuche, Verwertung und Kapitalisierung: Diese Zusammenhänge haben in Bezug auf das Einhorn eine lange Geschichte, in der es immer auch darum geht, wie der Mensch sich zur Natur positioniert und sich im Tier spiegelt.

Diese Geschichte — mit besonderem Blick auf ihre Anfänge in Antike und Mittelalter — bildet den Gegenstand unseres Buches. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt darin, dass man in dieser Zeit davon überzeugt war, dass Einhörner tatsächlich existieren. Schon die antiken Zoografen beschreiben seinen Lebensraum und verzeichnen seine Ernährungs- und Lebensgewohnheiten nach den »wissenschaftlichen« Kriterien der Zeit. Die Existenz gehörnter Wesen am Rande der bekannten Welt stand aufgrund dieser schriftlichen Autorität außer Frage, allerdings wird es im Aussehen ganz anders beschrieben als die niedlichen Einhörner der Gegenwart. Darum geht es in unserem ersten Kapitel.

Die Naturkundigen des Mittelalters greifen auf dieses Wissen zurück und legen das Einhorn als Christussymbol aus. In der christlichen Vorstellung, die wir im zweiten Kapitel behandeln, lässt sich das wilde Mischwesen nur durch eine reine Jungfrau zähmen und wird vor diesem Hintergrund zum scheuen Objekt der Begierde umgedeutet. Dabei spielen aber nicht nur religiöse Symboliken eine Rolle, sondern auch das Motiv der Jagd und die Liebessymbolik, die damit verbunden ist. Das bildet zugleich die Voraussetzung für die Karriere des Einhorns in der höfischen Kultur und Kunst des hohen und späten Mittelalters, um die es im dritten Kapitel geht.

Zum Fabeltier wurde das scheue Wesen mit dem gewundenen Horn auf der Stirn tatsächlich erst im Laufe der Neuzeit erklärt, als man allmählich herausfand, dass die zahlreichen »Einhörner« in den Wunderkammern der Klöster und Fürsten in Wirklichkeit Zähne des Narwals waren. Auch die Universalgelehrten der Frühen Neuzeit griffen auf das althergebrachte enzyklopädische Wissen zurück, unterzogen es aber im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften zunehmend der Kritik und empirischen Überprüfung — dies bildet den Kern des vierten Kapitels. Dieser Prozess führte jedoch nicht, wie man es eigentlich erwarten könnte, zur »Abschaffung« des Einhorns, sondern zunächst zur Übertragung seiner Qualitäten — etwa der Heilkraft des Hornes — auf das unicornu marinum, den Narwal. Doch auch die Spuren des »Landeinhorns« finden sich noch bis ins 19. Jahrhundert in naturkundlichen Werken und Reiseberichten.

Es ging also die längste Zeit nicht um die Frage, ob es das Einhorn gibt, sondern darum, wie es aussieht, wo man es findet und wie man es einfängt — Fragen, die sich mit Beginn der Neuzeit nicht erledigt hatten. Zum Abschluss unseres kurzen Rundganges durch die schillernde Welt der Einhörner daher noch ein Beispiel für die moderne Faszination am Einhorn: An der Affäre vom »Scheinhorn« wird deutlich, dass sich mit der naturwissenschaftlichen Abschaffung der Einhörner die Frage nach ihrer Existenz keineswegs geklärt hatte. Von dem Wunsch, dem Einhorn in Raum und Zeit nahe zu kommen, zeugt noch eine recht aktuelle Meldung des Online-Nachrichtenportals web.de vom 1. April 2016: »Lebten Menschen mit Einhörnern zusammen?«10 Die Meldung war kein Aprilscherz, sondern gab tatsächlich aktuelle paläontologische Erkenntnisse wieder: »Urzeitmenschen sind wahrscheinlich noch Einhörnern begegnet. Forscher haben in Kasachstan Überreste eines sibirischen Einhorns gefunden, das noch vor rund 29.000 Jahren gelebt hat.«

Die Existenz von Einhörnern steht offenbar noch im 21. Jahrhundert zur Debatte, wenn auch die beigegebene Illustration mit allen romantisierenden Vorstellungen vom anmutigen Fabelwesen gründlich aufräumt: Eine per Twitter-Meldung der California Academy of Sciences vom 28. März 2016 viral verbreitete Rekonstruktion11 zeigt, dass es sich bei den sibirischen Einhörnern nicht um großäugige pferdeähnliche Geschöpfe handelte, sondern vielmehr um »bisonartige[.] Urzeittiere mit Horn auf der Stirn«.12

Das ist die eine Enttäuschung in Bezug auf die Sensationsmeldung. Die zweite liegt darin, dass in der Begeisterung darüber, Mensch und Einhorn hätten gleichzeitig (und das heißt lediglich: zeitgleich, in derselben erdgeschichtlichen Periode und nicht etwa »zusammen«) gelebt, eine fehlerhafte Datierung des Knochenfundes ungeprüft veröffentlicht wurde. In einer Ausgabe des Magazins der Süddeutschen Zeitung vom 20. Juli 2018 wurde unter dem Titel »Das Scheinhorn« nachgezeichnet, dass das in einer ersten Analyse ermittelte und vorschnell publizierte Alter von 28.000 Jahren von dem Paläontologen Andrej Schipanski später korrigiert wurde: »Das gefundene Einhorn sei aber mindestens 50.000 Jahre alt. Einhorn und Mensch könnten sich demnach tatsächlich begegnet sein. Nur: Es lässt sich anhand des Knochens eben nicht bestimmen.«13 Am Ende ist die Ernüchterung durch die empirischen Wissenschaften groß — und heilsam. Ob die Meldung auch dann viral gegangen wäre, wenn sie »Urzeitmenschen lebten sehr wahrscheinlich zeitgleich mit plumpen sibirischen Antilopen« gelautet hätte?

Wir haben hier nur einige Schlaglichter auf die lange Geschichte der Faszination an den Einhörnern geworfen und im Spektrum von den antiken Naturkunden bis hin zu AstroTV gesehen, dass die Frage, ob es diese Tiere wirklich gibt, immer wieder, bis in unsere Gegenwart hinein, thematisiert wird und die Menschen bewegt.

Gustave Moreau, Les licornes (1887), Musée national Gustave Moreau, Paris

Unsere Vorstellungen vom Einhorn sind historisch gewachsen und durch Erzählungen geprägt, die bis in die Gegenwart weiterwirken. Aufgrund der dem Wesen seit jeher zugeschriebenen Scheu sind diese Narrative in erheblichem Maße von dem Wunsch bestimmt, es zu finden, zu fangen und zu zähmen — auch wenn es sich nachträglich als »Scheinhorn« erweisen sollte.

Die Frage nach der Existenz der Einhörner wird immer dann interessant, wenn wir — ob in Antike, Mittelalter oder in der Gegenwart — betrachten, auf welcher Grundlage sie beantwortet wird und welche Weltbilder und Wunschvorstellungen jeweils damit verbunden sind. Wie auch die moderne Paläontologie suchten die antiken und mittelalterlichen Gelehrten und Künstler sich dem Tier mit den ihnen zur Verfügung stehenden empirischen und hermeneutischen Methoden zu nähern. Dieser Faszinations- und Wissensgeschichte des Einhorns von der Antike bis in die Frühe Neuzeit wollen wir mit unserem Buch nachgehen.

Kapitel 1

Gehörnte Chimären, Wissen und Fantasie: Das Einhorn in der Naturkunde der Antike und ihrem Nachleben

Es ist immer schwer, nach den Anfängen zu suchen. Hatte man vielleicht nur nicht genau genug hingeschaut? Stand am Anfang der Erfolgsgeschichte unserer Einhörner vielleicht schlicht eine Antilope, deren zweites Horn die Jäger nicht wahrgenommen hatten, weil die Sonne das Licht flirren ließ? Folgte dann einfach eine gut erzählte Geschichte auf eine andere? Oder hatten die ersten Gelehrten des Altertums noch etwas gesehen, was wir ihnen heute absprechen wollen? Die antike Zoologie war keine exakte Wissenschaft im heutigen Sinne, aber sie war auch keine bloße Unterhaltungsmaschine, die dem attischen oder italischen Stadtbewohner lediglich Anekdoten aus fernen Ländern darbieten wollte, die er nicht selbst bereisen konnte. Je nach Adressatenkreis konnte die Zoologie der Alten Welt beides sein. Es kam nicht selten vor, dass antike Erzähler ihre Naturkunden mit fantastischen Elementen anreicherten, weil sie ihr Publikum unterhalten wollten. Umgekehrt wurde eine gut erzählte Begebenheit für den Leser oft auch erst dann glaubwürdig, wenn sie mit entsprechendem Material aus der Naturwissenschaft unterfüttert wurde. Zur Geschichte unseres Einhorns gehört, dass sich unser Tier beharrlich auf dem schmalen Grat zwischen Sensationsfreude und Naturempirie bewegte und sich mit großer Freude bald auf die eine, bald auf die andere Seite herabgleiten ließ. Das Einhorn war eine Projektionsfläche für den Traum vom Fremden, Fernen und Exotischen — aber schon in der Antike konnte auch diese Faszination nicht verhindern, dass die Naturwissenschaftler es doch zumindest gelegentlich etwas genauer wissen wollten.

Eine Geschichte aus Indien und ihr Erfolg

Im 5. Jahrhundert vor Christus schrieb der Mediziner Ktesias von Knidos einen kleinen Traktat über Indien, nachdem er vorher schon eine ausführliche Schrift über das persische Großreich zu Pergament gebracht hatte. Im Unterschied zu Persien, mit dem er durch jahrelangen Aufenthalt vor Ort gut vertraut war, hatte Ktesias Indien nie selbst betreten und war auf Informationen angewiesen, die man ihm zugetragen hatte. Indien war ein Weltteil, der für Ktesias alle Züge des Wunderbaren tragen durfte. Viele der Angaben zur indischen Tierwelt fallen dennoch erstaunlich exakt und nachvollziehbar aus; Papageien oder Elefanten zum Beispiel beschreibt der Autor in einer Art, die auch einer modernen Betrachterin einleuchtet. Gleichzeitig tummelten sich in Ktesias’ Indien allerdings auch gewaltige Greifen mit blauen Federn und feurigen Augen sowie hundsköpfige Wesen, die sich von Honig ernährten und bis zu zweihundert Jahre alt werden konnten.

Den größten Nachklang in der antiken Literatur fand jedoch ein anderes Tier, oder vielleicht sollte man besser sagen, eine etwas unscharf belichtete Gruppe von Tieren, deren gemeinsames Kennzeichen ein großes Horn auf der Stirn war, während die übrigen Merkmale sich durchaus wandelten. In Indien, so Ktesias, konnte man auf eine erstaunliche Kreatur stoßen, mit dunkelrotem Kopf, blauen Augen und wendiger Körpergestalt, das ein Horn von etwa einer Elle Länge auf der Stirn trug. Die Hörner waren am kopfnahen Ende von weißer Farbe, in der Mitte schwarz und an der Spitze von purpurnem Rot. Sie glänzten jedoch nicht nur in Farben, die bereits an heutige Comic-Einhörner erinnerten, sondern sie besaßen auch magische Qualitäten. Verarbeitet zu Trinkgefäßen schützten sie, wenn man Wasser oder Wein aus ihnen zu sich nahm, vor Epilepsie und Krampfanfällen, aber auch vor jeder Art von Gift. Darüber hinaus besaßen Ktesias’ Einhörner Hüftknochen von besonderer Härte und Beschaffenheit, die außen und innen in Zinnoberrot leuchteten. Dementsprechend begehrt waren die Hörner und Knochen der wundersamen Tiere, ihr Fleisch jedoch galt als bitter und völlig ungenießbar. Erlegen ließen sich die Wunderwesen allerdings ohnehin nur unter großen Mühen. Auch wenn sie im Lauf zunächst nur langsam schneller wurden, waren Einhörner in der Lage, enorme Geschwindigkeiten zu erreichen. Die indischen Jäger mussten sich daher einer besonderen Strategie bedienen, um der Tiere habhaft zu werden. Man lauerte ihnen, wie Ktesias weiß, in Tälern auf, wenn die Herden gemeinsam mit ihren Jungtieren grasten, und kreiste sie ein. Da auch Einhörner ihre Fohlen nicht im Stich lassen wollten, nahmen sie den Kampf mit den Jägern auf, statt wie gewohnt die Flucht zu ergreifen. Auch wenn sich die Tiere mit ihren spitzen Hörnern nach Kräften wehrten und viele Jäger ihnen zum Opfer fallen konnten, gelang es unter diesen Umständen in der Regel doch, einige Exemplare zu erlegen.

Ktesias’ Indienbericht ist über die Jahrhunderte nicht vollständig weitergetragen worden, sondern wurde nur in Bruchstücken überliefert. Wenig überraschend hatten sich seine Leser meist auf die besonders sensationellen Passagen konzentriert und nur diese abgeschrieben. Der Auszug zum Einhorn, den wir gerade wiedergegeben haben, geht auf einen byzantinischen Gelehrten aus dem 9. Jahrhundert zurück, Photios, den Patriarchen von Konstantinopel. Weitaus prägender für die Geschichte der Einhörner war jedoch ein anderer griechischer Schriftsteller, der eher dem Unterhaltungsgenre angehörte — Claudius Aelianus, der aus dem italischen Praeneste stammte. Seine 17 Bücher über die Eigenschaften der Tiere entstanden im 2. Jahrhundert nach Christus. Aelian hatte ein etwas anderes Publikum anvisiert, das noch fantasiebegabter gewesen sein dürfte als die Leser des Ktesias. Aelians Tiergeschichte strotzt vor zoologischem Detailwissen, aber auch vor Greifen, Flugdrachen, Meerjungfrauen und anrührenden Anekdoten von Jünglingen, die durch die Hilfe eines selbstlosen Delfins vor dem Ertrinken gerettet werden. Das ganze Werk war wie geschaffen, um am Abend bei einem Glas Wein im geselligen Kreis, mit Blick auf die Adria, vorgelesen zu werden.

Das Einhorn hat gleich mehrere Auftritte in Aelians Schriften, allerdings beginnt seine Erscheinung zu schillern und sich zu verändern und erhält auch Attribute des gewöhnlichen Nashorns, ohne jedoch völlig in ihm aufzugehen. Bei vielen Lesern Aelians sorgten diese Verunklarungen für einiges an Verwirrung. Dennoch wurde das Werk von allen großen Zoologen der Frühen Neuzeit eifrig benutzt, vor allem in der lateinischen Übersetzung von Pierre Gilles, und entwickelte sich auf diese Weise zur vielleicht wichtigsten Quelle zum Einhorn überhaupt. Neben den anschaulichen Jagdszenen, die wir bereits von Ktesias kennen, erinnert auch Aelian daran, dass die mühsam erbeuteten Hörner Gift wirkungslos machen konnten, wenn man sie zu Trinkpokalen verarbeitete. Diese Sorte Hörner, so Aelian, fand man auf der Stirn von Tieren, die Eseln oder Pferden glichen — und die sich bei Schaukämpfen großer Beliebtheit erfreuten und gemeinsam mit wilden Rindern, Elefanten, Widdern und anderen schwerer bestimmbaren Kreaturen zur Unterhaltung der Massen durch die Manegen der Rajah getrieben wurden.

Aelian kennt jedoch noch ein weiteres Tier mit einem markanten Horn, dem die Einheimischen den Namen cartazonus gegeben hatten.14 Das Wort könnte vom Sanskrit-Wort khadgadanta abgeleitet sein, aus dem dann das persische Wort kargadan hervorging. Im Altindischen hatte dieser Terminus das gewöhnliche Nashorn bezeichnet. Ins Arabische wanderte der Begriff nur leicht verändert ab und wurde zu ›karkaddan‹. Hier entwickelte der Name allerdings — mitsamt der Kreatur, die er bezeichnen sollte — ein bemerkenswertes Eigenleben, wie wir gleich sehen werden. Aelians »Horntier« ähnelte dem gewöhnlichen Nashorn nur bedingt. Das Tier sollte mindestens so groß wie ein Pferd sein, trug die Mähne eines Pferdes, ein rötliches Fell und war sehr behände. Das Horn, sein markantestes Kennzeichen, wies eine schwarze Farbe auf, war gemasert und ungewöhnlich scharf. Dazu kamen eine schrille Stimme und eine ungewöhnliche Aggressivität, die im Miteinander seiner Artgenossen bei männlichen wie weiblichen Exemplaren eine Fülle von Rangkämpfen zur Folge hatte. Nur zur Paarungszeit stellte sich bei den gehörnten Tieren eine gewisse Friedfertigkeit ein, sonst lebten sie als Einzelgänger. Auch diese »Spezies« der Einhörner gelangte, wie Aelian weiß, in die Manege der lokalen Potentaten, wo sie Zweikämpfe aller Art auszutragen hatten, doch glückte ihr Fang nur bei Jungtieren, weil die ausgewachsenen Exemplare so schnell und wild waren, dass es unmöglich war, ihnen beizukommen.

Neben Aelian