Das Ende des großen Fressens - David Kessler - E-Book

Das Ende des großen Fressens E-Book

David Kessler

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Beschreibung

Die perfiden Praktiken der Lebensmittelindustrie

Hamburger, Pizza und Schokolade haben das gleiche Suchtpotenzial wie Kokain, dennoch kann man sie in jedem Supermarkt straffrei kaufen. Diese von der Nahrungsmittelindustrie hergestellten Produkte sind angereichert mit den billigen Grundstoffen Zucker, Fett und Salz, die uns willenlos immer wieder zugreifen lassen. Dr. David Kessler deckt die skrupellosen Machenschaften der Nahrungsmittelindustrie auf, die auf Kosten unserer Gesundheit nur an der Steigerung der eigenen Umsätze interessiert ist.

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Seitenzahl: 411

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Dieses Buch ist kein medizinisches Nachschlagewerk, sondern ein Ratgeber, der seine Leser in die Lage versetzen möchte, informierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen. Es ist kein Ersatz für eine ärztliche Behandlung. Bei Verdacht auf eine Erkrankung oder gesundheitliche Beeinträchtigung, sollten Sie kompetenten ärztlichen Rat einholen.

Wenn in diesem Buch bestimmte Firmen, Organisationen oder Institutionen genannt werden, bedeutet dies nicht, dass der Autor oder der Verlag diesen in irgendeiner Form finanziell verpflichtet sind. Ebenso wenig bedeutet die Erwähnung bestimmter Firmen, Organisationen oder Institutionen, dass diese dieses Buch, den Autor oder den Verlag unterstützen.

Für Paulette, durch Dick und Dünn Und, wie immer, für Elise und Ben

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwort zur deutschen AusgabeEinleitung: Im FadenkreuzZucker, Fett und Salz
1 | Die Veränderung: Amerika verfettet2 | Taub für die Signale des Körpers3 | Zucker, Fett und Salz fordern: Immer mehr!4 | Marketing: Der optimale Reiz5 | Das persönliche Wohlfühlgewicht6 | Zucker, Fett und Salz als Appetitanreger7 | Die Beteiligung der Neuronen8 | Unsere Verdrahtung fordert den leckersten Reiz9 | Essen als Belohnung–ein übermächtiger Impuls10 | Aktivierung der Gehirnschaltkreise, die unser Verhalten steuern11 | Wie uns Gefühle ans Essen erinnern12 | Neuverdrahtung durch Belohnungshappen13 | Essverhalten ist Gewohnheitssache
Die Lebensmittelindustrie
14 | Satt, aber nicht zufrieden15 | Ganz nach unserem Geschmack16 | Was der Kunde nicht weiß17 | Die Skala der Unwiderstehlichkeit18 | Mehr Schein als Sein19 | Produktoptimierung20 | Verkaufsstrategien21 | Lila Kühe
Auf Essen konditioniert
22 | Völlerei wird gefährlich23 | Die Botschaft der Appetitzügler24 | Warum wir nicht einfach Nein sagen25 | Wie wir in die Falle tappen26 | Auf Fressen konditioniert27 | Die Wurzeln der konditionierten Esssucht28 | Angeboren oder anerzogen?29 | Warnzeichen bei Kindern30 | Die Kultur der Völlerei
Was tun? Ein Ausflug in die Lerntheorie
31 | Das Gehirn ins Boot holen32 | Die Macht der Gewohnheit umkehren33 | Neue Regeln einüben34 | Gefühle einbeziehen
Eine neue Esskultur
35 | Die Grundpfeiler36 | Ein fester Rahmen37 | Mit der Vergangenheit brechen38 | Essen, was uns guttut39 | Gefahr erkannt, Gefahr gebannt: Von fixen Ideen und Rückfällen40 | Eine Frage der Wahrnehmung
Das Ende der Völlerei
41 | »Unser Erfolg ist das Problem«42 | Die Wirtschaft hat den Code geknackt43 | Wie wir uns wehren können
SchlusswortAnhangRegisterCopyright

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Neigung zur Völlerei macht vor Staatsgrenzen nicht Halt. Die epidemische Ausbreitung der Fettsucht im ausgehenden 20. Jahrhundert nahm ihren Ursprung in den USA, doch mittlerweile sind auch viele Länder Europas in den Sog dieser Entwicklung geraten.

Hält der gegenwärtige Trend an, so rechnet man in Großbritannien bis 2025 mit 40 Prozent stark übergewichtigen Bürgern. Aus Frankreich werden ähnliche Zahlen gemeldet. Knapp 20 Millionen der etwa 63 Millionen Franzosen gelten als übergewichtig, davon knapp sechs Millionen als stark übergewichtig. Der Bestseller Warum französische Frauen nicht dick werden sollte also möglicherweise bald überarbeitet werden.

Deutschland hat einer aktuellen Studie zufolge den höchsten Anteil Übergewichtiger in ganz Europa. Gegenwärtig sind etwa 70 Prozent aller Männer und 50 Prozent der Frauen übergewichtig oder stark übergewichtig.

Doch auch heute sind die Portionen in weiten Teilen Europas noch kleiner als in den USA, Fastfood trieft nicht so vor Fett, und es gibt klarere Regeln, wo und wann gegessen wird. Die amerikanische Ernährungsweise erscheint vielen Europäern nach wie vor befremdlich. Professor Dr. Leddi Woods, eine der führenden Übergewichtsforscherinnen, erinnert sich an ihren ersten Besuch in den USA: »Es war wie ein Anschlag auf meine Sinne. Überall Essen. Wohin man auch kommt, überall lachen einem Unmengen grellbunter, übergroßer, überwältigend duftender Zuckerbomben entgegen.«

Solange amerikanische Essgewohnheiten hierzulande noch bizarr wirken, hat Deutschland eine Chance, auf die Essbremse zu treten. Doch leider scheint das nicht zu geschehen. »Seit ich gesehen habe, was sich in den USA abspielt, begreife ich in aller Deutlichkeit, welchen Weg Europa eingeschlagen hat«, erklärt Dr. Woods.

Ein anderer europäischer Kollege hat es noch treffender formuliert: »An den USA von heute sehen wir, wo Europa morgen stehen wird.«

Die Gründe für das starke Übergewicht sind praktisch überall auf der Welt dieselben, und der schwarze Peter geht an die Lebensmittelindustrie. Moderne Nahrungsmittelkonzerne wollen in erster Linie Profit machen, und das geht nur, indem sie mehr verkaufen–auch wenn die Märkte bereits im wahrsten Sinne des Wortes übersättigt sind.

In Deutschland ist das Risiko besonders hoch. Traditionell sorgen bereits Bier, Wurst, Brot und Backwaren dafür, dass sich der Bauch der Deutschen rundet. Inzwischen belastet auch die schnelle, bequeme Küche, die in der deutschen wie der amerikanischen Variante zu viel Fett, Zucker und Salz enthält, die Gesundheit der Nation. Die neue »Esskultur« trifft Deutschland an seinem wunden Punkt.

Aber die Leute müssen das doch gar nicht kaufen, oder? So einfach ist die Sache nicht. Wie die Ergebnisse in Das Ende des großen Fressens zeigen, machen Lebensmittel mit viel Zucker, Fett und Salz Appetit auf mehr davon und lassen uns somit ständig weiteressen. Die Lebensmittelkonzerne versetzen praktisch alle ihre Produkte mit Zucker, Fett und Salz, sorgen durch eine Ausweitung der Vertriebsnetze dafür, dass diese Nahrung überall erhältlich ist, und überzeugen uns durch geschicktes Marketing davon, dass Essen zu jeder Tages- und Nachtzeit sozial erwünscht ist.

All das lässt das Essen so überwältigend reizvoll erscheinen, dass unser Gehirn regelrecht gekapert wird. Und genau das ist der Punkt, den wir bisher nicht verstehen. Millionen Menschen wurden und werden gezielt auf ständiges Essen konditioniert. Unsere Neuronen werden praktisch unablässig mit Hinweisen auf zur Verfügung stehende Nahrung bombardiert. Wir haben gelernt, die Nahrungsaufnahme in denselben Gehirnregionen zu verarbeiten, in denen das Belohnungssystem sitzt.

Nahrungsmittelkonzerne verstehen vielleicht wenig von Neurowissenschaft, doch sie wissen, dass bestimmte Zusätze–insbesondere Zucker, Fett und Salz–den gewünschten Effekt erzielen: Die Menschen wollen immer mehr davon. Die Vorstände der großen Konzerne interessieren sich nicht für unseren persönlichen Kampf um die Kontrolle über unser Essverhalten, sondern dafür, wie sie den Impuls fördern können, mehr von ihren Produkten essen zu wollen.

Mit unserem Wunsch, unser Verhalten zu ändern und der Versuchung des nächsten Bissens nicht zu erliegen, stehen wir also ziemlich allein da. Um dennoch erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Einstellung zum Essen grundlegend verändern.

Einleitung: Im Fadenkreuz

Mittlerweile erkenne ich Vielesser schon auf den ersten Blick. Das ist nicht schwer, denn wer darauf konditioniert ist, zu viel zu essen, legt ein charakteristisches Essverhalten an den Tag: Er attackiert sein Essen. Diese Menschen führen die Gabel mit dem nächsten Bissen schon zum Mund, bevor sie den vorherigen geschluckt haben. Bestimmte Speisen scheinen eine magische Anziehungskraft auf sie auszuüben, und sie essen ihre Teller praktisch immer leer.

Wenn ich ein derart ungesteuertes Verhalten beobachte, gehe ich davon aus, dass im Kopf dieser Menschen ein Kampf stattfindet zwischen »Ich will« und »Besser nicht«, zwischen »Ich habe das Kommando« und »Ich kann mich nicht beherrschen«. In diesem Zwiespalt gründet eines der folgenreichsten Probleme für unsere Gesundheit.

Die Idee zu diesem Buch entstand, als ich mir die Oprah Winfrey Show ansah. Der Psychologe Dr. Phil[Ref 1] erklärte, warum Menschen Übergewicht haben und was sie dagegen tun müssten.

Als er um Freiwillige aus dem Publikum bat, stand Sarah auf, eine füllige, gut gekleidete Frau. Dr. Phil legte Sarah die Hand auf die Schulter und bat sie, offen über das selbstschädigende Verhalten zu sprechen, das–aus seiner Sicht–dazu führt, dass man zunimmt. Er wollte wissen, was sie dazu brächte, »etwas zu tun, von dem man weiß, dass man es nicht will«.

Anfangs lächelte Sarah noch, als sie von sich erzählte. »Ich esse die ganze Zeit«, gestand sie unter nervösem Kichern. »Ich esse, wenn ich Hunger habe. Ich esse, wenn ich satt bin. Ich esse, weil es etwas zu feiern gibt. Ich esse, wenn ich traurig bin. Ich esse nachts. Ich esse, wenn mein Mann nach Hause kommt.«

Dann drängte Dr. Phil sie dazu zu berichten, wie es ihr dabei ging, und ihre sonnige Miene verfinsterte sich. Sie gab zu, dass sie sich oft wie eine Versagerin fühle. Sarah fand sich »fett« und »hässlich« und erzählte, dass sie oft enttäuscht, frustriert und wütend über ihr Verhalten sei. »Ich habe das Gefühl, dass ich nicht das erreiche, was ich mir vorgenommen habe. Ich schaffe es einfach nicht, ich habe nicht die nötige Willenskraft.«

Dabei kämpfte sie mit den Tränen, als sie beschrieb, wie sie mitunter zwanghaft über ihr Essverhalten nachdächte. »Meine Gedanken kreisen nur noch darum, warum ich esse, was ich esse, wann ich esse und mit wem ich esse«, klagte sie. »Ich mag mich nicht.«

Daraufhin wandte sich Dr. Phil ans Publikum und fragte: »Wie viele der Anwesenden kennen solche Gedanken?« Etwa zwei Drittel der Zuschauer hoben die Hand. Offensichtlich kam Sarahs innerer Kampf vielen bekannt vor–auch mir.

Ich beschloss, ein Experiment durchzuführen–Versuchung gegen Willenskraft. Ich ging in eine Bäckerei in San Francisco und kaufte zwei große Cookies mit Schokostückchen. Zu Hause holte ich die Cookies aus der Tüte und legte sie knapp außer Reichweite meiner Arme auf einen Teller. Sie waren groß und zum Anbeißen lecker–die Schokoladenstückchen füllten kleine Krater oder erhoben sich zu winzigen Gipfeln.

Ich konzentrierte mich auf die Cookies und beobachtete dabei meine Reaktion. Mit einem tiefen Seufzer nagte ich an meiner Unterlippe. Mich interessierten weder die Blumen auf dem Tisch noch die gerahmten Fotos meiner Kinder daneben, sondern ich war ganz auf diese Kekse fixiert, bis ich mich zwang wegzusehen. Irgendwann stellte ich fest, dass meine rechte Hand dem Teller ein Stückchen näher gerückt war, ohne dass ich mich bewusst daran erinnern konnte, mich dazu entschlossen zu haben. Ich gab mir Mühe, mich ganz auf meine Zeitung zu konzentrieren, schielte aber immer wieder zu dem Teller hin.

Mit einem unguten Gefühl zog ich mich in mein Büro zurück, das eine Etage höher und somit so weit wie möglich von der Küche entfernt lag. Doch selbst aus dieser sicheren Entfernung konnte ich das Bild der Cookies nicht vollständig abschütteln. Schließlich verließ ich das Haus, ohne sie gegessen zu haben, und war unglaublich stolz auf mich.

Stunden später betrat ich das Caffè Greco am North Beach, wo man angeblich den besten Cappuccino der Stadt bekommt. Auf der Theke stand ein großes Glas mit Cookies. Ich bestellte einen großen Orangen-Schokoladen-Cookie, den ich sofort hastig verschlang.

Nach dieser Erfahrung wollte ich herausfinden, was diesem Verhalten zugrunde liegt. Ich wollte begreifen, warum Sarah ständig isst, obwohl es sie unglücklich macht und ihre Gesundheit gefährdet. Und ich wollte wissen, wieso meine Entschlossenheit so leicht in sich zusammengefallen war.

Mir ging es darum, Sarah, mir und Millionen anderen Menschen zu helfen. Also hörte ich genauer hin, wenn jemand mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte, so genau, wie ein Arzt es tun sollte. Ich sah aber auch genauer hin und achtete darauf, wie sie mit Essen umgehen. Bald wurde mir klar, dass Sarah nicht die Einzige war.

Meine Unterhaltung mit einem 40-jährigen Reporter, den ich hier Andrew[Ref 2] nennen werde, erinnerte mich daran, dass der Kampf weder vom Geschlecht noch von Bildung, Einkommen oder Alter beeinflusst wird. Andrew ist knapp 1,80 Meter groß und wiegt rund 110 Kilo. Er hat furchtlos von vielen Kriegsschauplätzen berichtet sowie mit Djihadisten, Selbstmordattentätern und vom Krieg gezeichneten Soldaten gesprochen. Aber als ich ihm eine Schale M&Ms hinstelle, streckt er die Waffen.

»Wenn bei einer Besprechung oder einem Interview etwas zu essen bereitsteht, denke ich einen großen Teil der Zeit nur noch ans Essen«, gibt er zu. Sein innerer Dialog schwankt dabei zwischen: »Mann, sieht das gut aus, das könnte ich essen« und »Ich werde das jetzt nicht essen, weil ich es nicht brauche«.

Sein innerer Konflikt beginnt frühmorgens und hört den ganzen Tag nicht auf. »Morgens wache ich auf und weiß, dass das Essen mein Feind ist–dass ich mein eigener Feind bin«, stellt er fest. »Es ist unkontrollierbar.«

Mittags ist es der Korb mit frisch gebackenem Brot mit Butter, der Andrew in Versuchung führt. Unterwegs hört er den Ruf von Starbucks, und zu Hause erscheint der Kühlschrank unwiderstehlich. »Es geht einfach immer so weiter«, erzählt er. Wie so viele Menschen, die ihr Essverhalten nur schwer steuern können, sind Lebensmittel für ihn wie ein Hindernisparcours, den er umschiffen muss.

Besonders kritisch sind für ihn Drogerien und kleine Supermärkte: Wenn es ihm gelingt, siegreich am Süßwarenregal vorbeizulaufen, fällt sein Blick an der Kasse auf noch mehr Süßigkeiten. Dann greift er zu, legt den Riegel wieder weg, nimmt ihn erneut in die Hand, mehrmals hintereinander. Manchmal gewinnt er den Kampf und geht ohne die Süßigkeit aus dem Laden, manchmal nicht. Wenn er ihn kauft, ist er mitunter so enttäuscht von sich, dass er die Hälfte in den Müll schmeißt–ehe er die andere Hälfte verputzt.

In seinem Kopf hört er immer dasselbe Lied: »Sobald ich meine Schale Cornflakes aufgegessen habe, denke ich: ›Und jetzt nehme ich eine Banane und einen Apfel mit zur Arbeit, damit ich mir im Büro nicht gleich einen Muffin hole.‹«

Aber jeder Erfolg ist nur von kurzer Dauer–bald kreisen seine Gedanken wieder nur ums Essen. »Ich führe Selbstgespräche«, gesteht Andrew. »Ich frage mich: ›Was bekomme ich zu Mittag?‹, ›Was ist, wenn ich um drei Uhr wieder Hunger habe?‹, ›Was gibt es zum Abendessen? Ich hoffe, es ist gut.‹«

An einem erfolgreichen Tag voller Selbstbeherrschung nimmt Andrew die von ihm angestrebte Menge von etwa 1500 Kalorien zu sich. Damit könnte er sein Gewicht reduzieren. Aber tags drauf werden es leicht wieder 5000 Kalorien. Meistens merkt er nicht, wann er satt ist, und wundert sich, wenn andere weniger aufs Essen fixiert sind.

»Ich kann mich leichter in einen Selbstmordattentäter hineinversetzen als in jemanden, der nicht ans Essen denkt«, erklärt er mir todernst.

Andrew mag am liebsten Pizza. Sobald ihm der Geruch von Pizza in die Nase weht, ist er effektiv abgelenkt. »Dann kann ich nur noch an diese Pizza denken«, gesteht er.

»Es gibt fast nichts, was mich so in den Bann ziehen kann wie Pizza. Ich sage Ihnen, Essen spricht. Jedes Essen spricht. Ich wette, ein Spieler, der ein Kasino betritt, verspürt Resignation, weil er jetzt gleich spielen und Geld verlieren wird. Ich glaube, diese Erkenntnis ist ihm unangenehm, aber sie ist auch spannend. Wenn ich in eine Pizzeria gehe, komme ich mir vor wie ein Spieler, und es scheint, als würde die Zeit stillstehen. Sie steht tatsächlich still. Man befindet sich außerhalb der Zeit und nicht mehr im eigenen Körper. Ich tue so, als würde mein Handeln folgenlos bleiben. Dann gibt es nur noch mich und diese Pizza, die Pizza und mich. Das ist das Gefühl.«

Ich hatte überhaupt nicht vorgehabt, Andrew zu quälen, als ich ihm die M&Ms hinstellte und ihn fragte, wie es ihm damit ginge.

»Sie stellen eine unglaubliche Ablenkung dar«, räumt er ein.

»Würde es Ihnen besser gehen, wenn Sie welche essen?«

Andrew erklärt, dass der erste Bissen ihm einen »Kick« geben würde. Doch wenn er eines nach dem anderen einwerfe, würde bald leichte Übelkeit folgen. »Mehr als zehn bis fünfzehn M&Ms sind einfach zu viel. Das ist, als ob der Zucker mir ein Loch in den Bauch gräbt.«

Trotzdem isst er normalerweise weiter. Ich registriere ein gewisses Maß an Selbsthass, als Andrew fortfährt: »Am schlimmsten ist es, wenn mich jemand dabei ertappt, wie ich M&Ms kaufe.« Normalerweise schiebt er seine Beute in die Tasche, sobald er durch die Kasse ist, damit es bloß niemand sieht.

»Ich bin dick«, stellt er lakonisch fest, »und wer will schon sehen, wie ein Fettkloß ungesundes Zeug isst? Das wirkt doch abstoßend. «

»Und wie geht es Ihnen nach dem Essen?«, frage ich.

»Dann sage ich mir: ›Wieder zu wenig Selbstkontrolle, wieder 240 Kalorien, die du nicht brauchst.‹ Aber gegen die Verlockung eines M&M können rationale Gedanken nichts ausrichten.«

Nichts anderes hat solche Macht über Andrew, der es doch gewohnt ist, frei über sein Leben zu bestimmen. »Ein lebloses Ding, lebloses Essen hat solche Macht«, wundert er sich leicht angewidert. Andrew durchschaut durchaus, mit welcher Belohnung das Essen lockt. »Es macht den Tag bunter«, erklärt er. Was ihn anzieht, ist: »Trost, Anregung, Beruhigung, Glück und dass der Tag etwas lustiger wird.«

In Andrews Augen ist Amerika zum »Essenstollhaus« geworden, einem »Jahrmarkt der Köstlichkeiten, lecker, fettig, salzig, voller Zucker und zudem noch überall preiswert zu haben. Wie kann man von jemandem erwarten, zum Jahrmarkt zu gehen, ohne mitzumachen? Alles ist bunt und grell, lustig und aufregend. Und überall diese Geräusche. Natürlich will man dabei sein, mitspielen, sein Geld für diese Reize ausgeben.«

»Fühlen Sie sich nach dem Essen besser?«, frage ich.

»Merkwürdigerweise ist es ja ziemlich unlogisch, endlos viel in sich hineinzustopfen, weil das Gefühl sofort verfliegt«, meint er. »Man erzeugt nur für einen kurzen Augenblick ein gutes Gefühl, aber der bleibt ja nicht.«

Das ist die klassische Beschreibung des körpereigenen Belohnungssystems. »Das gute Gefühl ist flüchtig, aber genau das verstärkt das Verhalten«, erläutere ich. »Weil es nicht andauert, will man es ständig wiederholen.«

Mich interessiert, ob Andrew klar ist, weshalb er sich nicht beherrschen kann, doch er hat keine Erklärung dafür. »Keine Ahnung«, lautet die Antwort. Aber er möchte unbedingt erfahren, warum das Essen solche Macht über ihn hat.

»Sie sind auf Essen konditioniert–und auf bestimmte Reize, die Sie an bestimmte Nahrungsmittel erinnern«, teile ich ihm mit. »Diese Signale bündeln Ihre Aufmerksamkeit, wecken Vorfreude und bauen ein Verlangen auf.« Ich möchte Andrew begreiflich machen, dass viele Menschen genauso auf Essen konditioniert sind wie er und sich genauso wenig beherrschen können.

Mit bemerkenswertem Erfolg stellt die Nahrungsmittelindustrie Produkte bereit, die Menschen wie ihn in ihren Bann ziehen. Selbst wenn Hersteller, Produktentwickler und die Gastronomie den wissenschaftlichen Hintergrund ihres Erfolges nicht kennen, wissen sie doch, dass Zucker, Fett und Salz sich gut verkaufen. Und damit nehmen sie Andrew ins Visier, als hätte er eine Zielscheibe auf der Brust.

Viele werden bei besonderen Leckerbissen schwach, doch nicht alle nehmen dabei zu. Ich sprach auch mit einer jungen Jurastudentin, die ich hier Samantha nennen möchte. Sie ist 25 Jahre alt, 1,67 Meter groß und wiegt 55 Kilo, doch ihre Worte könnten auch von Sarah oder Andrew stammen.

»Wenn man mir etwas zu essen hinstellt, kann ich mich nur mit Mühe beherrschen«, erzählt sie. »Ich gehe nur noch ungern zur Arbeit, weil überall Süßigkeiten herumstehen. Ich lerne bewusst nicht zu Hause, sondern in der Bibliothek, weil man dorthin nichts Essbares mitbringen darf.«

»Ich denke immer, es wäre doch so einfach, nur gesunde Sachen zu essen–warum kann ich das nicht? Stattdessen erfinde ich die absurdesten Ausreden, warum ich etwas esse. Meinen Freunden ergeht es genauso, und wir staunen über Leute, die anders sind. Mir ist schleierhaft, wie sie das machen.«

Samantha bleibt schlank, weil sie der Verlockung nicht immer nachgibt und intensiv Sport treibt. Aber es ist ein verzweifelter Kampf, und letztlich ist sie genauso frustriert wie die vielen Übergewichtigen, mit denen ich gesprochen habe.

»Sobald ich nicht mehr aktiv bin, überlege ich, was ich essen will. Das ist doch verrückt. Wenn ich das laut sage, komme ich mir lächerlich vor. Es sollte nicht so übermächtig sein. Ich bin doch eine intelligente Frau und habe ein erfülltes Leben. Dass ich jeden Tag stundenlang ans Essen denke, regt mich auf. Ich sollte an mein Studium denken, anstatt zu überlegen, wie viele Schokobonbons ich heute schon vertilgt habe.«

Eine Kollegin von mir–nennen wir sie hier Claudia–berichtet Ähnliches. Auf meine Frage »Was geschieht, wenn du anfängst zu essen?«, antwortet sie: »Manchmal kann ich nicht mehr aufhören. Das passiert nicht immer, aber wenn etwas Leckeres vor mir steht oder ich aus irgendeinem Grund viel ans Essen gedacht habe, esse ich immer weiter, manchmal bis mir schlecht wird.«

Auf meine Ermunterung hin, fortzufahren, erzählt sie: »Es gibt Tage, an denen ich vom Essen träume. Dann denke ich daran, wie ich mal etwas besonders Gutes hatte, und möchte wieder dieselbe Vorfreude, das Glück und die Befriedigung erleben wie damals. « Die Erinnerungen an solche Gaumenfreuden sprudeln geradezu aus ihr heraus. Ein Geburtstagsessen in einem besonderen Lokal vor fünf Jahren, ein perfektes Stück Pizza mitten in der Nacht und etwas, das sie als Charlies Cookies bezeichnet–»ein Vorgeschmack auf den Himmel auf Erden«.

Unter den Favoriten auf ihrer Liste finden sich auch Smoothies, gegrillte Maiskolben, Schokoriegel und Kartoffelchips. Bestimmte Produkte erinnern sie offenbar an ihre Kindheit oder andere glückliche Momente. Zum Beispiel diese Nudelsoße, die sie schon mit fünf am liebsten direkt aus dem Glas löffelte. »Ich bin ganz wild auf die Gerichte, die mein Vater früher für mich gekocht hat, und auf das, was es im College in der Mensa gab«, erklärt sie.

Nicht alles, was sie erwähnt, würde eine Ernährungsberaterin zusammenzucken lassen–sie hat auch mal großen Appetit auf frisches Obst oder einen guten Salat. Doch die Fixierung auf Essen, auf das, was sie mag, ist wie ein roter Faden. »Das ist es, was mich beschäftigt und warum ich es nicht erwarten kann, nach Hause zu kommen«, räumt sie ein. »Wenn ich allein bin, esse ich normalerweise unablässig.«

»Und weißt du, warum du das tust?«, hake ich nach.

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht.«

Millionen Menschen sind wie Sarah, Andrew, Samantha und Claudia. Sie haben keine der Essstörungen, die wir mittlerweile diagnostizieren und behandeln können, aber ihr Denken kreist ständig ums Essen. Und wenn sie einmal damit anfangen, können sie kaum noch aufhören. Sie essen weiter, obwohl sie schon lange satt sind. Bisher hat sich niemand der Frage gestellt, warum das so ist und wie man sein Essverhalten beherrschen lernen kann. Darum widme ich dieses Buch genau diesem Thema.[Ref 3]

Zucker, Fett und Salz

1 | Die Veränderung: Amerika verfettet

Viele tausend Jahre hindurch blieb das menschliche Körpergewicht bemerkenswert stabil.[Ref 4] Erwachsene verzehrten in der Regel nicht mehr Nahrung, als sie durch körperliche Anstrengung verbrauchten. Übergewicht war eine Ausnahmeerscheinung. Millionen Kalorien passierten den Körper, aber die breite Masse nahm weder auffällig zu noch ab. Biologisch schien das System absolut ausgewogen zu sein.

Doch in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzte eine Veränderung ein.[Ref 5] Eine der Ersten, der dieser Trend auffiel, war Katherine Flegal, die damals am amerikanischen Center for Disease Control and Prevention ein Forschungsteam leitete. Wie viele gute Wissenschaftler zweifelte sie angesichts der unerwarteten Ergebnisse zunächst an ihren Zahlen.

Flegal hatte Daten aus einer sehr umfangreichen bundesstaatenübergreifenden Umfrage zu Gesundheit und Ernährungsstatus in amerikanischen Haushalten ausgewertet. Ihre Zahlen deuteten darauf hin, dass die Zahl der Übergewichtigen dramatisch in die Höhe geschnellt war.[Ref 6]

So etwas hatte es noch nie gegeben. In früheren Jahrzehnten hatten amerikanische Erwachsene üblicherweise zwischen 20 und 40 ein paar Kilo zugelegt und diese dann zwischen 60 und 70 wieder verloren.

Der Umbruch, der Katherine Flegal aufmerken ließ, war aus den Daten einer nationalen Studie, die zwischen 1988 und 1991 erhoben worden war, ersichtlich. Sie ergaben, dass insgesamt ein Drittel der Bevölkerung zwischen 20 und 74 Jahren übergewichtig war. In nicht einmal zwölf Jahren war die Zahl der übergewichtigen Amerikaner um acht Prozent gestiegen–das sind etwa 20 Millionen Menschen und damit ungefähr die Einwohnerzahl des Staates New York.

Ausbildung und Berufserfahrung hatten Flegal gelehrt, skeptisch zu bleiben. In eine komplexe, anspruchsvolle Umfrage können sich auf vielerlei Weise Fehler einschleichen, und Daten weisen oft Ungereimtheiten auf, die bei genauerem Hinsehen wieder verschwinden. Flegal wusste, dass sie exakte Informationen brauchte, bevor sie Alarm schlagen konnte.

»Wir waren wirklich superpingelig«, erzählt sie, als sie mir beschreibt, wie ihr Team die Regionalanalysen, zeitlichen Trends und Qualitätsprüfungsmaßnahmen untersuchte.[Ref 7] Aber nichts daran war ungewöhnlich. Der Befund eines abrupten Anstiegs der Anzahl übergewichtiger Amerikaner schien zu stimmen.

Dennoch blieb sie unsicher, besonders da es offenbar niemand anderem auffiel, dass die Amerikaner als Nation an Gewicht zulegten. In der Hoffnung auf Studien, die ihre Ergebnisse bestätigten, durchsuchten ihre Mitarbeiter die aktuelle Literatur, fanden aber nur wenige relevante Artikel. Bei beruflichen Zusammenkünften fragte Flegal andere Forscher nebenbei, wie es aus ihrer Sicht um das Gewicht der Amerikaner bestellt sei, und hörte meistens: »Oh, das ist wie immer.«

Die Amerikaner legten also Kilo um Kilo zu, doch die zusätzlichen Pfunde blieben lange unsichtbar. Weder Ärzte noch Wissenschaftler oder die Regierung schienen von dem Trend Notiz zu nehmen.

Also schrieb ihr Team die Daten auf und ging damit an die Presse. Im Juli 1994 erschien die Studie im Journal of the American Medical Association. Der Artikel beschrieb, dass bei einem Vergleich gegenwärtiger und früherer Daten zum Übergewicht »in allen Bevölkerungsgruppen ein dramatischer Anstieg bei beiden Geschlechtern« zu verzeichnen sei.[Ref 8] Wenn ein angesehenes wissenschaftliches Journal den Ausdruck »dramatisch« verwendet, herrscht Alarmstufe Rot. Die Ergebnisse waren quer durch die Bank praktisch gleich: Bei Männern und Frauen, ob alt oder jung, ob schwarz oder weiß, hatte die Zahl der Übergewichtigen massiv zugenommen.

Ich rief Katherine Flegal an und bat sie, mir zu schildern, wie sich das Durchschnittsgewicht verändert hat. Ihre Kurven zeigen, dass die Menschen mit jedem Jahrzehnt dicker wurden.[Ref 9] 1960 lag das Durchschnittsgewicht der Frauen zwischen 20 und 29 noch bei 56 Kilo. Im Jahr 2000 erreichte das durchschnittliche Gewicht dieser Altersgruppe bereits 70 Kilo.

Ein ähnlicher Trend war in der Gruppe der 40- bis 49-Jährigen zu beobachten, in der das Durchschnittsgewicht zwischen 1960 und 2000 von knapp 60 auf 71,5 Kilo anstieg.

Auffällig war auch, dass wir bereits zu Beginn unseres Erwachsenenlebens deutlich schwerer sind als früher. Die Gewichtszunahme findet demnach in Kindheit und Jugend statt.[Ref 10] Und zwischen 20 und 40 legen viele weiter zu. Dabei sammeln sich beim Durchschnittsmann nicht mehr nur ein paar Pfund, sondern rund fünf Kilo an.

Flegal machte eine weitere Beobachtung: Auch wenn im Durchschnitt alle schwerer wurden, nahmen die schwersten Menschen überproportional stärker zu als die übrigen.[Ref 11] Die Kluft zwischen dem oberen und dem unteren Ende der Gewichtskurve wurde breiter. Beim Thema Übergewicht ging es in erster Linie darum, dass die Dicken noch mehr Gewicht auf die Waage brachten.

Auch in Europa verläuft die Entwicklung ähnlich, wenn auch nicht ganz so dramatisch. In den letzten 30 Jahren hat sich die Anzahl der Betroffenen in Europa verdreifacht und steigt weiterhin in alarmierendem Tempo an, besonders bei Kindern.

Deutschland nimmt dabei mit den meisten übergewichtigen bis fettsüchtigen Bürgern den Spitzenplatz ein. Seit Ende der 90er-Jahre hat sich die Anzahl der Deutschen, die zu viel auf die Waage bringen, nahezu verdoppelt. Schätzungen zufolge entfallen sieben Prozent der gesamten Gesundheitskosten in der Europäischen Union auf die Behandlung übergewichtsbedingter Erkrankungen.

Natürlich sind Nahrungsmittel seit den 70er- und 80er-Jahren leichter verfügbar. Die Portionen sind größer, überall trifft man auf Fastfood-Ketten, es gibt mehr Schnellimbisse, und wir essen seltener zu Hause. Aber dass Nahrung überall und jederzeit bereitsteht, bedeutet doch nicht, dass wir sie essen müssen. Warum schlagen wir uns so den Bauch voll?

Im Gegensatz zu früher haben wir nicht mehr zu befürchten, dass Nahrungsmittel knapp werden können. In der Bibel folgen auf sieben satte Jahre unweigerlich sieben Hungerjahre, für die wir uns mit Fettpolstern rüsten mussten. Aber in unseren Breiten, wo das ganze Jahr über Südfrüchte im Supermarkt liegen, sind solche Zeiten vorbei.

Der Drang zum übermäßigen Essen entspringt weder dem Hunger noch der Liebe zur guten Küche. Beides ist kein Grund für die unkontrollierte Esslust, die bei Sarah, Andrew, Claudia und so vielen anderen zu erkennen ist.

Zudem wissen wir, dass dieses Verhalten nicht nur Übergewichtigen zu schaffen macht. Selbst schlanke Menschen wie Samantha kämpfen mit ihrem Drang, zu viel zu essen. Nur mit eiserner Disziplin können sie ihrem schier überwältigenden Fresstrieb widerstehen.

Und Hilfe ist bisher kaum in Sicht. Familie, Freunde und Kollegen wissen oft nicht genug, um Betroffene zu unterstützen. Selbst Ärzte und andere Beschäftigte des Gesundheitssystems glauben nach wie vor, dass es Übergewichtigen nur an Willenskraft oder Selbstachtung mangle.[Ref 12] Nur wenige Mediziner, Ernährungsberater, Psychologen oder Gesundheitsexperten registrieren das typische Muster des Überessens, das so verbreitet ist. Niemand erkennt, dass der Kontrollverlust eben das Charakteristische daran ist.

Diejenigen, die vor der Anziehungskraft des Essens kapituliert haben, geben Milliarden aus, um sich von den überschüssigen Pfunden zu befreien, doch meist werfen sie ihr Geld zum Fenster hinaus, weil sie vergeblich hoffen, das mühsam erhungerte Gewicht langfristig zu halten.

Wir verstehen noch nicht, warum manche Nahrungsmittel uns dazu verleiten, immer mehr davon zu essen. Niemand begreift, was hier wirklich vorgeht. Ich möchte versuchen, das zu erklären.

2 | Taub für die Signale des Körpers

Menschen werden dick, weil sie mehr essen als Menschen, die schlank sind. Das klingt wie eine Binsenweisheit, wurde aber jahrzehntelang bezweifelt. Noch heute hinterfragen wir den Zusammenhang zwischen Nahrungszufuhr und Gewichtszunahme. Aber wir haben endlich stichhaltige Beweise, dass man in erster Linie deshalb zunimmt, weil man zu viel isst.

Die Verwirrung lässt sich zumindest teilweise darauf zurückführen, dass Menschen gebeten wurden, alles aufzuschreiben, was sie zu sich nahmen. Dabei erschien der Unterschied zwischen schlanken und übergewichtigen Personen unauffällig. Diese Beobachtung führte zu allen möglichen Theorien über den Anteil des Stoffwechsels, der Nahrungszusammensetzung und der Gene an der Gewichtszunahme. Es dauerte lange, bis wir zu der Einsicht kamen, dass die Erklärung viel einfacher ist: Die meisten Leute mogeln beim Aufschreiben, und Übergewichtige sind besonders unzuverlässig. Essen läuft weitgehend unbewusst ab, so dass wir leicht unterschätzen, wie viel Nahrung wir dem eigenen Körper tatsächlich zukommen lassen.

Die Verhaltensneurowissenschaftler Sharon Pearcey und John de Castro verglichen die Nahrungszufuhr einer Gruppe, die innerhalb von sechs Monaten mehr als fünf Prozent ihres Körpergewichts zugelegt hatte, mit einer Gruppe ohne auffällige Gewichtsschwankungen im gleichen Zeitraum.[Ref 13] Die Teilnehmer erhielten ein Tagebuch und wurden gebeten, jeden Bissen und jeden Schluck akribisch festzuhalten. Außerdem sollten sie aufschreiben, wann, wo und mit wem sie gegessen und wie hungrig, durstig, niedergeschlagen oder besorgt sie sich vor und nach dem Essen jeweils gefühlt haben. Zur noch genaueren Dokumentation bekamen alle Teilnehmer eine Kamera, mit der sie ihre Teller vor und nach dem Essen fotografieren sollten. Jedes Bild erhielt automatisch einen Vermerk mit Uhrzeit und Datum.

Das Projekt bestätigte, dass Menschen dazu neigen, ihre Nahrungszufuhr erheblich zu unterschätzen–dieses Ergebnis galt für beide Teilnehmergruppen. Es zeigte sich aber auch ein offensichtlicher und erheblicher Unterschied: Diejenigen, die zunahmen, verzehrten pro Tag im Durchschnitt fast 400 Kalorien mehr als die Vergleichsgruppe. Damit wurden sie etwa alle drei Wochen ein Kilo schwerer.

In einer anderen Studie verfolgten Forscher über mehrere Jahre die Gewichtsentwicklung einer Gruppe Kinder.[Ref 14] Dabei stellte sich heraus, dass das Gewicht der Eltern und der Energieverbrauch der Kinder nicht so entscheidend waren wie die Kalorienzufuhr. Kinder, die mehr aßen, brachten auch mehr auf die Waage.

Viel Bewegung kann zwar dazu beitragen, das Gewicht zu halten, doch Studien zeigen, dass das Level der körperlichen Aktivität nicht automatisch dazu taugt, eine Gewichtszunahme vorherzusagen.[Ref 15] Überraschenderweise liefern auch Stoffwechselerkrankungen keine Erklärung. Die meisten Studien zeigen sogar, dass fettsüchtige Personen (als fettsüchtig gilt man ab einem BMI von 30 oder mehr) oder Übergewichtige (BMI zwischen 25 und 30) mehr Energie verbrennen als normalgewichtige Vergleichsgruppen.

Je mehr wir essen, desto schwerer werden wir. Mitunter ist die naheliegendste Erklärung am Ende doch die richtige.

Über 100 Jahre vermutete die Wissenschaft beim Menschen biologische Regelkreise, welche die konsumierten Kalorien (unsere Energiezufuhr) und die verbrannten Kalorien (unseren Energieverbrauch) im Gleichgewicht halten. Angeblich sorgt dieser dynamische Prozess dafür, dass der Fettanteil im Körper halbwegs stabil bleibt und es nicht zu größeren Gewichtsschwankungen kommt.

Wir sind davon ausgegangen, dass der Körper sich durch ein internes Rückmeldesystem, die Homöostase, reguliert.[Ref 16] So wie der Körper versucht, Temperatur oder Blutdruck in relativ engen Grenzen zu halten, müsste auch dem Energiehaushalt ein homöostatischer Prozess zugrunde liegen, der die Energiespeicher des Körpers stabilisiert. Über enge Wechselwirkungen zwischen Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch gestattet uns diese biologische Strategie, jedes Jahr Unmengen Kalorien zu konsumieren, ohne dass sich das Gewicht grundlegend verändert.

Dieses hochkomplizierte System lässt sich ganz einfach erklären: Viele Teile des Körpers kommunizieren miteinander. Das Gehirn ist die Kommandozentrale eines ausgefeilten Kommunikationssystems zur Regulierung des Energiehaushalts.[Ref 17] Zu diesem System gehören Gehirn, zentrales und peripheres Nervensystem, Magen-Darm-Trakt, Hormonsystem und Fettgewebe. Der Hypothalamus im Gehirn empfängt Signale von allen Beteiligten, analysiert die Informationen und entscheidet, was zur Erhaltung des Körpergewichts erforderlich ist.[Ref 18]

Mittlerweile hat sich jedoch herausgestellt, dass dieses homöostatische System weniger wirksam ist, als viele Wissenschaftler glaubten. Wenn der menschliche Körper den Energiehaushalt effektiv steuern könnte, würden wir nicht so stark zunehmen. Wir würden einen Ausgleich finden, entweder durch höheren Kalorienverbrauch oder durch Appetitverlust. Diese Reaktionen bleiben jedoch aus.

In den letzten zehn Jahren suchte die Wissenschaft daher nach Fehlern im homöostatischen System, um dieses Phänomen zu erklären. Die Ergebnisse waren enttäuschend. Es wurden zwar verschiedene genetische und chemische Defekte entdeckt, doch diese sind selten und können die üblichen Formen starken Übergewichts nicht erklären.

Robert De Niros Bemühungen, für den Film Wie ein wilder Stier (1980) erst zu- und dann wieder abzunehmen, zeigen die Grenzen des homöostatischen Systems. Hollywoodstars scheinen mit einem Durchschnittsmenschen wenig gemeinsam zu haben, aber die Extreme, die De Niro für diese Rolle durchleben musste, verhalfen uns zu Informationen, die wir durch andere Experimente kaum hätten bekommen können.

Zuerst legte De Niro für den Film 30 Kilo zu, indem er sich mit kalorienreichem Essen vollstopfte, dann verlor er einen Großteil dieses Gewichts wieder.[Ref 19]

Als ich ihn fragte, wie ihm das gelungen sei, erklärte er, dass die ersten 15 bis 20 Kilo ganz leicht waren: »Ich habe den Gummi ausgedehnt und wieder zurückschnellen lassen.«

Die letzten zehn Kilo hingegen waren viel schwieriger. Sein Körper schien sich bei einem höheren Gewicht einpendeln zu wollen. Um zu seinem Ursprungsgewicht zurückzukehren, musste De Niro unablässig auf der Hut sein. Er verglich die ganze Prozedur mit der Mühe eines Alkoholikers, trocken zu bleiben. Ohne Kenntnis der biologischen Abläufe hatte De Niro bemerkt, dass das homöostatische System kein Selbstläufer ist.

Trotz aller Studien zum körpereigenen Gleichgewicht wird die Nahrungsaufnahme nicht nur dadurch reguliert. Die Forschung zeigt, dass unsere Nahrungsauswahl nicht nur von Signalen aus dem Gehirn zur Gewichtserhaltung abhängt. Es ist noch eine zweite Gehirnregion mit anderen Schaltkreisen beteiligt, die oft das Kommando übernimmt, und zwar das Belohnungssystem. Und im Kampf zwischen Energiegleichgewicht und Belohnung erweist sich das Belohnungssystem als siegreich.

Wie das homöostatische System will auch das körpereigene Belohnungssystem unser Überleben sichern und ermuntert uns daher zu so angenehmen Dingen wie Sex und Essen. Dabei sind wichtige biologische Faktoren im Spiel, die dazu führen, dass wir uns etwas so stark wünschen, dass wir uns dafür anstrengen, und dass wir uns kurzfristig besser fühlen, sobald wir es bekommen. Die Motivation zum Handeln erwächst aus der Erwartung einer Belohnung.[Ref 20]

Die Motivationsschaltkreise im Gehirn haben sich über Jahrtausende entwickelt, um uns am Leben zu erhalten. Sobald sie durch Umweltreize aktiviert werden, erzeugen sie eine emotionale Reaktion, die unser Verhalten antreibt. Mit anderen Worten: Wir erhalten eine Information und handeln entsprechend. Wenn die Botschaft lautet »Das ist gut«, trauen wir uns näher ran, um davon zu profitieren; lautet die Botschaft »Das ist gefährlich«, ziehen wir uns eher zurück.

Durch Tierversuche ist belegt, dass sich die Belohnungszentren im Gehirn auch künstlich durch Elektroden stimulieren lassen. Eine Studie ergab, dass Tiere bei einer Stimulation im Bereich des seitlichen Hypothalamus kräftig weiterfraßen, obwohl sie normalerweise längst aufgehört hätten.

Eine andere Studie demonstriert die Macht des Belohnungssystems noch deutlicher. In diesem Fall wurde der Boden des Versuchsraums unter Strom gesetzt, so dass die Tiere einen unangenehmen Schlag bekommen würden. Am anderen Ende des Raumes gab es Nahrung. Die Tiere mussten also über den elektrifizierten Boden laufen, um ihr Futter zu erreichen. Der Elektroschock war stark genug, um ein Tier, das eine Weile nichts gefressen hatte, davon abzuhalten, für Futter über den Boden zu laufen. Unter normalen Umständen war der Hunger angesichts der absehbaren Folgen also kein ausreichender Handlungsanreiz. Bei Stimulierung der Belohnungszentren ergab sich jedoch genau das Gegenteil: Jetzt liefen selbst Tiere, die gar nicht hungrig waren, über den elektrifizierten Boden, um ihre Belohnung zu ergattern. [Ref 21]

Jenseits von Laborbedingungen gibt es natürlich andere Reize. Und daraus erwachsen für die Wissenschaft provozierende Fragen. Können auch diese Reize die Belohnungszentren im Gehirn ansprechen? Ist es möglich, dass bestimmte Speisen uns so stark reizen, dass wir weiteressen–und einfach nicht mehr aufhören können?

3 | Zucker, Fett und Salz fordern: Immer mehr!

Um zu begreifen, wie Essen mehr Essen fördert–und warum die Homöostase ständig unter Beschuss steht–, müssen wir erst einmal das Konzept von »Schmackhaftigkeit« aus wissenschaftlicher Sicht verstehen. Im normalen Sprachgebrauch bedeutet »schmackhaft«, dass etwas angenehm schmeckt. In der Wissenschaft hingegen bezieht sich dieser Begriff in erster Linie auf die Fähigkeit eines Nahrungsmittels, den Appetit anzuregen und uns zum Weiteressen zu animieren. Schmackhaftigkeit hat natürlich mit dem Geschmack zu tun, aber insbesondere auch mit der Motivation, sich diesen Geschmack zu sichern. Sie ist der Grund, weshalb wir mehr wollen.

Schmackhaftigkeit beruht weitgehend darauf, wie umfassend unsere Sinne angesprochen werden. Besonders schmackhafte Speisen enthalten in der Regel eine gewisse Menge an Zucker, Fett und Salz. Alle Eigenschaften schmackhafter Speisen, die unsere Sinne ansprechen–die angenehm kalte Cremigkeit von Vanilleeis, der Duft von frisch gebackenem Schokoladenkuchen, die knusprige Haut eines Hähnchenflügels mit einem Klecks Honigsenfsauce –, regen den Appetit an. Nicht der Hunger, sondern diese Stimulierung–oder die Erwartung dieser Stimulierung–veranlasst uns dazu, weiter Nahrung in den Mund zu schieben, obwohl unser Kalorienbedarf längst gedeckt ist. »Schmackhaftes Essen macht Appetit«, erklärt Peter Rogers, Biopsychologe an der englischen Universität Bristol. »Es ist ein Anreiz zu essen.«[Ref 22]

Unsere Vorliebe für Süßes überrascht wenig. Neugeborene, die kleine Tropfen Zuckerlösung erhalten, verziehen erfreut das Gesicht. Je süßer die Lösung, desto besser wird sie angenommen.

Adam Drewnowski von der Universität Washington in Seattle untersucht seit 30 Jahren menschliche Vorlieben für bestimmte Geschmäcker und Lebensmittel sowie das entsprechende Auswahlverhalten. [Ref 23] Wie viele seiner Kollegen konzentrierte er sich anfänglich auf Zucker, war aber bald davon überzeugt, dass Zucker nicht der einzige Grund ist, warum wir so stark auf Süßes reagieren. In diesem Fall würden nämlich mehr Leute einfach eine Packung Zucker aufreißen und in sich hineinlöffeln.

Erst in den 80er-Jahren begann man das Fett genauer unter die Lupe zu nehmen. »Man achtete nur auf die Belohungsreaktion auf Zucker, als wäre Zucker der einzige Bestandteil im Essen, auf den Menschen reagieren«, erzählt Drewnowski. Weil er sicher war, dass mehr dahintersteckte, forschte er weiter und fand heraus, dass wir nicht nach Zucker an sich gieren, sondern nach Zucker in Kombination mit Fett. »Das Fett«, so schreibt er, »bestimmt die charakteristische Konsistenz, den Geschmack und das Aroma vieler Nahrungsmittel und damit in hohem Maße auch die Schmackhaftigkeit der Nahrung.«

Weil Fett im Mund so viele unterschiedliche Gefühle hervorruft, können wir nicht immer feststellen, welche Speise am meisten Fett enthält oder warum wir eine Zucker-Fett-Mischung einer anderen vorziehen. Aber wir können in jedem Fall auf das zeigen, was wir am liebsten mögen.

Drewnowski führte eine Studie durch, in der er fünf verschiedene Milchprodukte unterschiedlich stark zuckerte–Magermilch, Vollmilch, Kaffeesahne, Schlagsahne und Schlagsahne mit Distelöl. Magermilch enthält praktisch kein Fett mehr, die Sahne-Öl-Mischung hingegen über 50 Prozent. Auf die Frage, welches Produkt am besten schmecke, erhielten die gesüßten Magermilchprodukte (viel Zucker und wenig Fett) und die ungesüßte Sahne (viel Fett, wenig Zucker) die schlechtesten Punktzahlen. Wenn fettarme und fettreiche Produkte dieselbe Menge Zucker enthielten, wählten die Testpersonen unweigerlich die fettreichere Variante. Demnach beeinflussen Fett- und Zuckergehalt unsere Vorlieben.

Menschen bevorzugen demnach Kombinationen aus Zucker und Fett, und das essen sie auch am meisten. Gaumenfreuden sind in hohem Maß eine Frage der optimalen Kombination aus beidem. Damit kann ein Gericht nicht nur schmackhaft, sondern »hyperschmackhaft« werden.

Es ist jedoch auch möglich, etwas zu süß, zu fett oder zu salzig zu machen. Viele Menschen haben ihren persönlichen »Kulminationspunkt«, den Punkt, an dem wir aus Zucker, Fett oder Salz den größten Genuss ziehen.[Ref 24] In der Wissenschaft wird dies als umgekehrte U-Kurve dargestellt: Je mehr Zucker zugesetzt wird, desto angenehmer schmeckt eine Speise, bis wir ganz oben auf der Kurve den Kulminationspunkt erreichen. Anschließend geht der Genuss wieder zurück. Bei gesüßten Getränken liegt dieser Punkt bei etwa zehn Prozent. Getränke mit mehr Saccharose empfinden wir in der Regel als zu süß und damit als weniger schmackhaft.

Laut Auskunft des Industrieexperten Dwight Riskey, der einst bei Frito-Lay beschäftigt war, verläuft die Salzkurve ähnlich, jedoch steiler.[Ref 25] Eine kleine Veränderung der Salzkonzentration hat größere Auswirkungen als eine vergleichbare Veränderung der Zuckerkonzentration. Deshalb kann man ein Essen so leicht versalzen. Der Kulminationspunkt für Salz richtet sich allerdings auch nach der jeweiligen Speise: Eine Suppe sollte beispielsweise weniger salzig sein als Kartoffelchips oder Cracker. Welche Salzmenge uns schmeckt, kann auch mit frühkindlichen Geschmackserlebnissen zusammenhängen.

Wenn jedoch die Mischung stimmt, regt Nahrung den Appetit an.[Ref 26] Speisen mit viel Zucker, Fett und Salz steigern das Verlangen nach Speisen mit viel Zucker, Fett und Salz, wie Studien an Mensch und Tier belegen.

Der Arzt Barry Levin, Professor an der New Jersey Medical School, hat dieses Prinzip an Ratten demonstriert. Er hatte zwei Zuchtlinien: Die eine überfraß sich, wenn kalorienreiche Nahrung bereitstand, neigte also zum Übergewicht. Die zweite fraß in der Regel nicht zu viel, war also gegen Übergewicht resistent. Wenn die Ratten aus der resistenten Gruppe eine Zeit lang zu viele Kalorien fraßen, schränkten sie ihren Futterkonsum viel schneller ein als die Ratten mit der Veranlagung zum Übergewicht.

Bot man jedoch beiden Rattenpopulationen eine wohlschmeckende, sahnige Flüssigkeit mit viel Zucker und Fett an, änderte sich dieses Verhalten, und alle Tiere fraßen wild drauflos. Angesichts einer so schmackhaften Kombination »stopfen sie sich einfach nur noch voll«, so Levin. Wenn bei einer resistenten Ratte nur der Fettgehalt der Nahrung erhöht wird, frisst dieses Tier nicht zu viel und wird auch nicht fett. Bei einer Ernährung mit viel Fett und viel Zucker hingegen wird sie genauso fett wie eine übergewichtsanfällige Ratte bei kalorienreicher Ernährung.

Abwechslung und einfache Verfügbarkeit sind weitere Faktoren, die zum Überfressen beitragen.[Ref 27] Anthony Sclafani forschte Ende der 60er-Jahre an der Universität Chicago und bemühte sich um ein genaueres Verständnis, welche Faktoren einen übermäßigen Verzehr von Nahrung begünstigen. Als er Tieren fettreiches Futter verabreichte, nahmen diese stärker zu als Tiere, welche die üblichen, eher langweiligen Pellets für Laborratten bekamen, doch die Ergebnisse waren nicht besonders auffällig.

Dann setzte er eine Ratte im Labor zufällig neben einen heruntergefallenen Froot Loop–reichlich Kalorien und jede Menge Zucker. Er war fasziniert, wie schnell das Tier nach dem Getreideprodukt schnappte und zu fressen begann.

Sclafani verwandelte diese Zufallsbeobachtung in ein echtes Experiment. Nachdem er Versuchstiere mit dem Geschmack von Froot Loops vertraut gemacht hatte, ließ er sie auf einem Feld frei laufen. Ratten bleiben normalerweise lieber in den Ecken und würden sich kaum auf freies Gelände wagen, um Pellets zu fressen, doch wenn es Froot Loops gab, liefen sie sofort dorthin.

Als Nächstes prüfte Sclafani die Wirkung der typischen »Supermarktnahrung«. Was er seinen Tieren anbot, war in jedem Laden erhältlich: gesüßte Kondensmilch, Schokoladenkekse, Salami, Käse, Bananen, Marshmallows, Milchschokolade und Erdnussbutter. Nach zehn Tagen wogen die Tiere mit der Supermarktkost deutlich mehr als andere, die ihr Einheitsfutter bekamen. Und die Ratten mit der Supermarktdiät nahmen weiter zu, bis sie schließlich doppelt so schwer waren wie die Tiere der Kontrollgruppe. Sclafani folgerte daraus, dass eine »abwechslungsreiche, schmackhafte Ernährungsweise mit Lebensmitteln aus dem Supermarkt« bei erwachsenen Ratten »besonders effektiv zu ernährungsbedingtem Übergewicht« führt.

Warum fraßen sie weiter? Was war mit der homöostatischen Fähigkeit, Energiezufuhr und Energieverbrauch aufeinander abzustimmen? Warum waren die Ratten gegen die Gewichtszunahme machtlos?

Diese Fragen beantwortet Sclafani mit einem einzigen Satz: »Für eine normale Ratte reicht der freie Zugang zu schmackhaftem Futter aus, um Übergewicht zu begünstigen.«

Zusammen mit den Ergebnissen anderer Forscher stützen Sclafanis Erkenntnisse die Vorstellung, dass das biologische System zur Aufrechterhaltung der Energiebilanz durcheinandergeraten kann, wenn Tiere leichten Zugang zu unterschiedlichen Nahrungsmitteln mit viel Zucker und Fett haben.

Experimente mit Menschen ergaben weitgehend dasselbe, besonders wenn man den Versuchspersonen Dinge anbot, die sie mochten.[Ref 28] In einer Studie wurden die Teilnehmer gebeten, sieben Tage lang alles aufzuschreiben, was sie verzehrten, und parallel dazu auf einer Skala von 1 bis 7 anzugeben, wie gern sie es aßen. Die meisten Menschen gaben Lebensmitteln mit hohem Fett-und Zuckergehalt eine höhere Punktzahl. Es überrascht wenig, dass sie auch mehr davon aßen, und zwar fast 44 Prozent mehr bei den Speisen, die sie bei 7 einstuften, als bei denen, die sie mit 3 oder weniger bewertet hatten.

In einer anderen Studie mussten männliche Teilnehmer auf einer Station bleiben, wo ihre Nahrungszufuhr überwacht werden konnte.[Ref 29] In den ersten Tagen erhielten die Männer eine Ernährung, mit der sie ihr gegenwärtiges Gewicht halten sollten. Da viele von ihnen deutlich übergewichtig waren, bedeutete das durchschnittlich knapp 3000 Kalorien pro Tag, von denen etwa 50 Prozent aus Kohlenhydraten stammten, 30 Prozent aus Fett und 20 Prozent aus Eiweiß. Anschließend gestattete man den Teilnehmern freien Zugriff auf zwei Lebensmittelautomaten mit den unterschiedlichsten Gerichten und Zwischenmahlzeiten. Auf diese Weise hatten sie 24 Stunden am Tag Zugang zu Fleisch, Käse und Brot, Tortillas mit Bohnen, Frühstücksflocken, Kuchen und Desserts, Pommes frites, Popcorn und Chips, aber auch Obst, Gemüse, Nüssen und Getränken. Die Teilnehmer wurden gebeten, sich so normal wie möglich zu ernähren.

Das Ergebnis ist leicht zu erraten. Sobald die Teilnehmer nach Belieben essen konnten, konsumierten sie im Durchschnitt 4500 Kalorien am Tag, also 150 Prozent von dem, was sie brauchten, um ihr Gewicht stabil zu halten. Einer aß fast 7000 Kalorien–das entspricht mehr als 20 Cheeseburgern. Insgesamt nahmen die Teilnehmer während des unreglementierten Zeitraums erheblich mehr Fett und weniger Eiweiß zu sich. Die typische Auswahl bestand zu 48 Prozent aus Kohlenhydraten, zu 40 Prozent aus Fett und zu zwölf Prozent aus Proteinen.

All dies ist der wissenschaftliche Beweis für das, was die meisten Menschen aus Erfahrung wissen: Angesichts eines mannigfaltigen Angebots und großer Portionen zucker-, fett- und salzreicher Nahrung schlagen viele von uns nur allzu bereitwillig über die Stränge.

4 | Marketing: Der optimale Reiz

»Mehr Zucker, Fett und Salz steigern den Appetit«, erklärt mir eine hochrangige Führungskraft der Lebensmittelindustrie.[Ref 30] Das wusste ich bereits aus der wissenschaftlichen Literatur und aus Gesprächen mit Neurowissenschaftlern und Psychologen. Jetzt sagte ein Insider dasselbe.

Meine Quelle ist ein führender Lebensmitteldesigner–ein Henry Ford der Massenproduktion von Lebensmitteln, der bereit war, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern und zu verraten, wie es in seinem Metier zugeht. Aus Rücksicht auf seine Kundenbeziehungen bat er darum, anonym zu bleiben.

Danach jedoch erläutert er mit bemerkenswerter Offenheit, dass die Lebensmittelindustrie ihre Gerichte anhand der »drei Punkte auf dem Kompass« maßschneidert. Zucker, Fett und Salz machen Speisen unwiderstehlich. Sie machen uns nachsichtig und verleihen dem Lebensmittel einen hohen Lustwert.

»Achten Sie beim Lebensmitteldesign gezielt auf einen hohen Lustfaktor?«, frage ich.

»Aber natürlich«, antwortet er ohne jedes Zögern. »Wir werfen so viel wie möglich davon in die Waagschale.«

Während der letzten 20 Jahre ist unser Zugang zu immer schmackhafteren und immer preisgünstigeren Lebensmitteln explosionsartig in die Höhe geschnellt. Im Epizentrum dieser Explosion stehen Schnellrestaurants, wo Amerikaner inzwischen die Hälfte ihres täglichen Lebensmittelbudgets ausgeben. (Auch in Deutschland hat sich die Zahl der Außer-Haus-Esser seit 1996 mehr als verdoppelt.)

Die vielen amerikanischen Schnellketten, die inzwischen auch in Deutschland allgegenwärtig sind, optimieren ihre Produkte gezielt auf den Wunsch, mehr zu essen. Dabei geht es nicht nur um mehr Fett, Zucker und Salz, um die intensive Verarbeitung, die das Kauen vor dem Schlucken praktisch überflüssig macht, oder um die allgegenwärtige Verfügbarkeit solcher Gerichte. Es ist die Kombination all dieser Faktoren–und mehr.

Ich bat den Lebensmitteldesigner, mir die typischen Gerichte von Kentucky Fried Chicken (KFC) zu erklären. Für ihn war diese Form der Zubereitung von Hähnchenfleisch »geradezu die Quintessenz« für den erfolgreichen Versuch, uns mehr Fett auf den Teller zu bugsieren. »Sie haben das Panieren optimiert.«

Der alles übergreifende Ansatz für die Lebensmittelverarbeitung bei KFC ist »ein optimiertes Fettaufnahmesystem«, erklärt er. Mit Mehl, Salz, Natriumglutamat (= Geschmacksverstärker), Maltodextrin (= Stärke-Zucker-Gemisch), Zucker, Maissirup (= Zucker) und Gewürzen enthält die frittierte Panade Geschmacksbestandteile, die alle drei Kriterien (süß, salzig und fett) ansprechen und dem Konsumenten zugleich noch den Eindruck vermitteln, er hätte ein gutes Geschäft gemacht–ein großer Berg Nahrung für wenig Geld.

»Wenn Sie all die Panade vom Fleisch abkratzen und daneben legen, wird Ihnen auffallen, wie klein das Stück Hähnchenfleisch ist, das sich in dem Produkt befindet«, fährt er fort zu erläutern. »Der Ansatz von KFC ist in allen Schnellrestaurants zu beobachten, weil er nicht nur den Fettgehalt erhöht, sondern das eigentliche Produkt auch größer aussehen lässt.«

Ursprünglich servierte KFC ein ganzes Hähnchen mit Beilagen, und die Hähnchenkruste war aus »Unmengen Panade und so knusprig und braun, dass das Hähnchen größer aussah und diesen wunderbaren Fettgeschmack hatte«.

Mit der Zeit veränderte die Firma die Grundlage dieser Panade. Im Vergleich zu einem ganzen Hähnchen enthält ein Chicken Nugget weniger Fleisch und einen größeren Fettanteil. Der eigentliche Durchbruch jedoch war »Popcorn Chicken«. »Je kleiner das Stück Fleisch, desto höher der Fettanteil der Kruste«, so der Insider. »Popcorn Chicken« ist wie ein »Home run … es übertrumpft alles.«

Für die Konzerne ist das zudem profitabler. »Wir verarbeiten schließlich viele preisgünstigere Hähnchenteile. Wenn man davon eine ganze Schachtel bekommt, hat man sofort das Gefühl: ›Wow, so viel und alles für mich!‹, aber vom Volumen her sind etwa zwei Drittel Panade.« Das Produkt wurde »in jeder Hinsicht optimiert«–Fett, Zucker und Salz in Kombination mit dem Eindruck, ein Schnäppchen gemacht zu haben, garantieren praktisch, dass der Kunde darauf anspricht.

Die Hähnchenteile bei KFC werden normalerweise mit Kartoffelbrei serviert. Um Transportkosten zu sparen und Einheitlichkeit zu gewährleisten, wird dieses hoch verarbeitete Produkt in jedem Restaurant frisch zusammengerührt, indem man den getrockneten Kartoffeln einfach Wasser hinzufügt. Dann allerdings »schmeckt es wie aufgeschäumte Stärkemasse«, wie der Lebensmitteldesigner unumwunden einräumt. Die geschmackliche Lösung ist »ein Schuss Sauce« und damit eine kräftige Portion Stärke, Zucker, Salz, Natriumglutamat, Zuckerkulör (ein Farbstoff) und Aromastoffe (ohne jegliches Eiweiß, Ballaststoffe oder Mikronährstoffe).