Das Fell - Maren Wurster - E-Book

Das Fell E-Book

Maren Wurster

2,0

Beschreibung

Vic freut sich auf die Reise mit Karl, ein paar Tage raus aus der Stadt, nur sie beide. Doch dann fährt Karl mit seiner Ex-Freundin und der gemeinsamen Tochter an die Ostsee und reagiert nicht auf Vics Nachrichten. Das erträgt sie nicht. Sie steigt aufs Fahrrad und fährt los. Ihm nach? Zunächst entlang von Kanälen, Seen, durch Wälder. Eine Übernachtung auf einem Campingplatz, eine Begegnung, zwischendurch der Blick aufs Telefon und weiter durch eine Landschaft, die immer fremder wird. "Das Fell" ist die Geschichte einer Kränkung und einer Verwandlung: Etwas verändert sich in Vic, etwas Unheimliches kommt zum Vorschein. Und ganz oben in ihrem Rucksack liegt ein Stein. In ihrem Debütroman erzählt Maren Wurster das Ende einer Liebe als Naturereignis.

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Seitenzahl: 168

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Über das Buch

Vic freut sich darauf, mit Karl zu verreisen, ein paar Tage raus aus der Stadt, nur sie beide. Doch dann fährt Karl mit seiner Ex-Freundin und der gemeinsamen Tochter an die Ostsee und reagiert nicht auf Vics Nachrichten. Das erträgt sie nicht. Sie steigt aufs Fahrrad und fährt los. Ihm nach? Zunächst entlang von Kanälen, Seen, durch Wälder. Eine Übernachtung auf einem Campingplatz, eine Begegnung, zwischendurch der Blick aufs Telefon, und weiter durch eine Landschaft, die immer fremder wird – und doch auf seltsame Weise vertraut. Etwas verändert sich in Vic, etwas löst sich ab, etwas ganz anderes, Unheimliches kommt zum Vorschein. Und am Ende blicken wir durch ihre Augen auf eine verwandelte Welt.

Hanser Berlin

Maren Wurster

Das Fell

Roman

Hanser Berlin

Es gab in mir sogar eine seltsame Genugtuung, mich »auszusetzen«, so wie es eine Genugtuung sein kann, sich der völligen Dunkelheit, dem Eiswind, auszusetzen; sich preiszugeben, zu öffnen der ärgsten der Widrigkeiten. Genugtuung? Lust. Lust? Entschlossenheit. Entschlossenheit? Daseinsbedingungsbejahung.

Man kann das freilich auch anders erzählen.

Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes

1

Der Schaumstoff knistert in ihren Ohren, quillt auf und drückt sich in den Gehörgang. Das nächtliche Brummen ist noch fein zu hören, dann nicht mehr. Stattdessen: eine hohe schwingende Frequenz in ihrem Kopf. Das Schlucken trocken. Sie spürt, wie die Oberarme sich in den Gelenken drehen und die Matratze berühren. Der Körper sinkt immer tiefer.

Ein Junge schleckt ein Eis, sein Gesicht ganz nah, sie kennt ihn irgendwoher, zwischen dem cremigen Weiß auf der Zunge schauen rosige Knospen hervor.

Ihr Kopf fühlt sich an, als sei er mit durchtränkter Watte gefüllt, das Kissen, auf dem er liegt, ist klamm. Ihr Atem ein feines Rauschen, das ausklingt, dann wird die Luft in ihre Nase zurückgezogen.

Ein Topf in ihrer Hand, sie kann ihn nicht abstellen, weil sich auf Spüle, Herd, Kühlschrank schmutzige Teller stapeln. Ein Föhn liegt dazwischen, das Luftgitter staubig.

Sie dreht sich auf den Rücken, schwerfällig öffnen sich ihre Augen. Die Lampe über ihr ein dunkles Rund. Kurz zittert der Schirm, dann ist wieder alles unbewegt. Die Augen schließen sich wieder.

Vor ihr ein breiter Betonbalken. Sie fährt mit dem Fahrrad auf dem Balken, ihr Tritt setzt sich in eine überraschende Geschwindigkeit um, viel zu schnell, doch sie kann nicht aufhören zu treten. Links, rechts, die Sohlen drücken auf die Pedale, die Kurbel rotiert. Plötzlich knickt der Balken nach links ab, hinter der Kante dunkles Nichts. Sie zieht scharf in die Kurve, Körper und Rad neigen sich. Das Hinterrad rutscht über den Rand.

Sie zuckt zusammen, so heftig, dass sie meint, die Wirbelsäule knacken zu hören, als würde sie vom Reflex der Muskeln gestaucht werden.

Durch die Jalousien fällt das Licht eines Autos, die Streifen werden breiter, länger. Einer beleuchtet längliche Flecken, faserig an den Rändern. Könnten Fingerabdrücke sein, seine vielleicht. Von der Druckerschwärze der Zeitung, die er zur Seite legte, um noch einmal Kaffee zu holen, wobei er auf dem Bettende an ihr vorbeibalancierte und sich an der Wand abstützte. Das Licht huscht zum Fenster zurück, verschwindet dahinter. Sie tastet die Bettkante ab, die staubig ist, die Verpackung einer Tablette liegt da, ein zerknülltes Taschentuch, ihr Telefon. Vier Uhr acht. Zum Entsperren streichen. Ihr Finger folgt der Schrift. Drückt auf Einstellungen, fährt über den eingeblendeten Regler. Das Flugzeugsymbol erscheint und verblasst. Der Name des Telefonanbieters, fünf schwarze Punkte daneben und der Viertelkreis für den Internetempfang. Eins, zwei, drei. In ihrem Kopf hallt die Stimme wie in einer Grotte nach. Sie zieht die Stöpsel aus ihren Ohren, dann zählt sie noch einmal. Die Stimme angenehmer. Das Display wird dunkel. Als sie die Augen schließt: ein helles Rechteck vor dunklem Hintergrund.

Mit dem Telefon in der Hand stellt sie sich ans Fenster. Häuser, Autos, Straße in unterschiedlichem Grau, das Metall glänzt feucht, der Straßenbelag ist matt. In der Wohnung gegenüber geht Licht an und sie tritt einen Schritt ins Zimmer zurück.

In der Küche streckt sie ihren Arm aus. Die Hand gleitet über die Tapete, nach der Zimmerecke über Fliesen und Fugen, berührt die Seitenwand des Buffets und fährt sie entlang. Sie tastet die Vorderseite des Buffets ab, ein Holzrahmen, Glas, glatt, Holz, Glas, jetzt geriffelt, wieder der Holzrahmen. Die andere Seitenwand, weiter über ein Abtropfgestell, ein Regal, Gewürzstreuer drehen sich unter ihren Fingern, wieder Fliesen. Bis sie vor dem Tisch steht, darauf ein Aschenbecher, um die Zigarettenstummel herum bauschige Asche.

Sie setzt Kaffee auf, macht sich eine Zigarette an. Die feuchte Haut haftet am Holz des Stuhls. Sie dreht die Zigarettenspitze am Rand des Aschenbechers, ein glimmender Kegel entsteht. Der Qualm zieht zum gekippten Fenster, hinter dem langsam der Tag blau anhebt und das Schwarz der Nacht auswäscht. Durch den Rauch wird ihr Mund trocken. Sie drückt die Zunge an den Gaumen und schmeckt etwas Metallisches, das sich bis in den Rachen ausbreitet, als sie mit der Zunge über die Zähne fährt. Fröstelnd klemmt sie die Hand zwischen die Schenkel und betrachtet die Wand. In den Strukturen der Tapete entdeckt sie einen Fisch, er hat einen gedrungenen Körper und ein spitzes Maul. Mit dem großen Zeh streichelt sie seinen Bauch. Auf dem Herd blubbert der Espressokocher. Sie drückt mit dem Zehennagel eine Flosse für den Fisch in die Tapete. Luft pfeift aus dem Ventil des Kochers, Kaffee spritzt auf das Kochfeld, das Aluminium verdunkelt sich. Als sie zur Wand zurücksieht, ist der Fisch abgetaucht. Sie dreht den Herd aus und lässt den Kaffee im Kocher hin und her schwappen, tippt mit dem Finger an das heiße Metall. Die Haut an der Fingerspitze rötet sich, hellt dann auf und schwillt an.

Sie greift nach ihrem Telefon, spürt den Hohlraum der Blase.

mach’s gut und viel sonne. karl

Seine letzte Nachricht, an oberster Stelle. Von Mittwoch. Er nicht online. Das Profilbild unverändert: seine dunkle Silhouette aus der Untersicht vor blauem Himmel mit zwei parallel verlaufenden Stromleitungen an einer Ecke des Fotos.

Sie gießt den Kaffee auf die Tischplatte. Eine dampfende Pfütze bildet sich, in die sie mit dem verbrannten Finger fährt. Sie zieht zu allen Seiten Streifen bis an die Tischkante, dann nimmt sie wieder das Telefon in die Hand. Tippt: Fick dich. Nicht sie. Hadert. Schneidet den Text aus. Speichert ihn unter »Notizen«. Es kommen noch hinzu:

Fahren wir wenigstens danach weg? Deine Vic

Ist ja nicht das erste Mal. Als Annika damals bei dir geschlafen hat und ich morgens kam, da

Immer nur, worauf du Lust hast – es kotzt mich an!

Bitte bleib mir treu, ich möchte dich

Ihr Spiegelbild hat verklebte Wimpern und gerötete Flecken unter den Augen. Sie putzt sich die Zähne, gurgelt mit Mundspülung und reinigt die Zunge mit dem Schaber. Unschlüssig verharrt sie. Sie dreht den Kopf, presst das Kinn zum Brustkorb und befühlt den Wulst, zieht an der Haut, bis sie aus den Fingern gleitet. Sie umfasst ihre Brüste und hebt sie an. Unter einer ist eine rote Stelle. Als sie genauer hinsieht, erkennt sie den Schwarm roter Punkte, aus dem sich die Stelle zusammensetzt. Sie knetet ihren Bauch, der Nabel versinkt und wölbt sich wieder hervor. Über der Scham verläuft eine Falte, ihr Finger folgt ihr, bis sie sich wie ein Rinnsal an der Taille verliert. Sie dreht sich um und betrachtet ihren Hintern, klatscht mit der Hand auf eine Backe.

Der Vorhang in Karls Schlafzimmer ist zugezogen, hinter dem Wohnzimmerfenster sieht sie die obere Reihe des Bücherregals, die gelbe Lampe hängt von der Decke. Auch wenn sie es nicht sehen kann, weiß sie, dass sich Staub auf dem Schirm gesammelt hat und auf dem Kabel, was aussieht, als wüchse ihm ein Flaum. Sie zieht die Fersen an den Bordstein und legt den Kopf auf die Knie, ihre Haare kitzeln ihr Schienbein. Am Heck des Autos neben ihr klebt ein Sticker, in schwarzer Fraktur und vor rotem Hintergrund steht da »La vida loca«. Erst ritzt sie mit dem Fingernagel in den Aufkleber, dann mit dem Schlüssel in die Lackierung hinein, überkratzt die Worte mit ungelenken Buchstaben, am Ende der Kratzer ballen sich Lack und Klebepartikel: »Die rote Zora«. Als sich Karls Haustür öffnet, erschrickt sie. Zwei Jungen, einer zieht am Schulranzen des anderen, der sich wegdreht und zurück in den Hausflur geht. Sie steht auf, rennt über die Straße und erwischt die Tür, bevor sie wieder ins Schloss fällt. Vor Karls Wohnung verharrt sie eine Weile, bis ihr Atem sich beruhigt. Zieht die Schuhe aus. Stellt sich barfuß an seine Tür und lauscht. Vorsichtig öffnet sie ihre Tasche, zieht langsam den Geldbeutel heraus, die Kreditkarte. Sie steckt sie in den Türspalt, hört und schaut ins Treppenhaus. Zieht die Karte langsam nach unten, das Plastik schabt über Holz. Am Schloss geht es nicht weiter. Sie ruckelt ein wenig an der Karte, die sich biegt. Im Stockwerk über ihr öffnet sich die Tür. Heiß schießt das Blut in ihr Gesicht. Sie zieht ruckartig die Karte raus, greift nach den Schuhen und springt die Treppen hinunter.

Die Haut auf dem Kaffeerest reißt, als sie ihn ausschüttet, und hängt vom Tassenrand. Sie dreht den Hahn auf, die Haut fließt zäh in den Abfluss.

»Victoria, Sie sehen ja gar nicht gut aus«, sagt ihr Chef, als sie ihm einen neuen Kaffee bringt, ein Drittel Milch, drei Löffel Rohrzucker.

»Ihr Geschirr auch nicht.« Sie stellt die Tasse ab.

»Bitte?«

»Ach nichts.«

Sie greift nach den Dokumenten für die Ablage, locht sie. Auf einer Rechnung verschwindet eine Ziffer im ausgestanzten Rund, so dass sie die Summe nicht in die Rechnungsdatei übertragen kann. Sie schüttet die Schnipsel aus dem Locher, tippt sie einzeln mit der Fingerkuppe an, bis sie haften, dreht manche um und schnippt sie dann weg. Nach einer Viertelstunde findet sie eine Fünf, die sich mit dem Bauch an den Rand des Kreises schmiegt. Sie schreibt eine Sechs auf die Rechnung, neben das Loch. Streicht sie durch, eine Fünf, streicht sie wieder durch, eine Vier. Legt das Papier ins Fach für die Wiedervorlage.

Im Internet sucht sie nach Annikas Nachnamen und »Ferienhaus«. Gleich an erster Stelle der Ergebnisse erscheint ein Inserat. »Urlaub für die ganze Familie an der Ostsee.« Drei Zimmer, Haus fußläufig zum Meer, Garten mit großer Terrasse, Waschmaschine, Spülmaschine, Fahrräder, Reinigungsservice auf Wunsch, Haustiere erlaubt. Der Kalender zeigt, dass das Haus erst Ende August wieder gebucht werden kann. Es gibt keine Bilder der Unterkunft, dafür einige Bewertungen, durch die sie klickt. »Perfekt eingerichtet und alles da, wir haben uns sehr wohl gefühlt«, schreibt elisabeth65.

Und auf Annikas Facebook-Seite, die Vic öffnet, heißt es »Urlaaaaaaaaub«, gestern kurz nach zehn veröffentlicht. Das Foto zeigt eine Frau von der Seite, der Wind bläst ihr die dunklen Haare ins Gesicht, sie lacht und hält mit der einen Hand die Strähnen fest. Auf dem Handrücken ein ovaler Leberfleck. Schmale Nase. Lotta hat sie von ihr. Im Hintergrund hellblauer Himmel, ein runder Blendenfleck am Bildrand. Einmal hat Vic sie auf der Fanliste eines »Wein trifft Käse«-Abends in der Markthalle entdeckt, sie kennt ihre Einträge zu Restaurants, Bewertungen für Konzerte, von Baby Universal und Kiki Bohemia. Auf Karls Seite gibt es keine neuen Posts. Vor einigen Monaten hat er sein Profilbild geändert: Lotta, die vor einem Teller Pasta sitzt und eine Nudel in den rot verschmierten Mund zieht. Karl betrachtet seine Tochter vom Rand des Bildes mit einem ernsten, vielleicht auch ratlosen Gesichtsausdruck. Die dunklen Haare hat er hinters Ohr geklemmt, der Bart ist länger als heute.

Vic rechnet die Fahrtzeit aus. Sie könnten noch unterwegs sein: Vater, Mutter, Kind. Zwei lange Striche und ein kurzer, fast ein Stummel. Zusammengelegt ergeben sie ein Dreieck und die Winkel in der Summe immer hundertachtzig Grad, auch wenn der kleine Strich wächst und die Schenkel auseinanderdrückt. Fast schon obszön, denkt Vic. Und: Ordnung der Mathematik. Ordnung des Lebens. Vielleicht sitzen sie aber auch schon vor dem Haus. Lotta spielt auf der Terrasse mit Steinen. Sie stellt sich Terrakottafliesen vor und sieht die zarten Füße des Kindes über den Ton rutschen. Karl und Annika schauen auf das Meer. Annika greift nach Karls Hand, wie früher, weil die Berührung so vertraut ist.

Ihre Brüste ragen wie kahle Inseln aus dem schaumigen Wasser, die Warzenhöfe zwei seltsame, dunkel abgegrenzte Aussichtspunkte mit jeweils einem Turm. Sie streicht mit den Fingerkuppen darüber, drückt die aufgestellten Warzen zusammen. Ihre Finger wandern zu den Schamlippen. Sie hebt den Schamhügel mit den zu einem schmalen Streifen rasierten Haaren aus dem Wasser, Schaumblasen bleiben darin hängen, platzen und werden zu schmierigen Seifenresten. Senkt das Becken wieder. Mit der Hand schlägt sie auf die Wasseroberfläche.

Die Wärme des Tages strahlt vom Asphalt, Vics Sandalen schlagen zwischen dem Boden und ihren Fußsohlen hin und her. Der Kioskverkäufer greift nach ihrer Zigarettenmarke, noch bevor sie etwas sagt, und lächelt. Sie fährt sich durch die feuchten Haare, ein paar bleiben an ihrem Ring hängen, sie zieht, reißt sie aus, dünn und lang, im Gegenlicht ist der rötliche Ton auszumachen. Sie kauft noch eine Tüte Chips. Drei Jugendliche mit Bierflaschen in der Hand drängen sich an das Verkaufsfenster des Büdchens. Das Mädchen kreischt. Der Junge lacht, fasst ihm in den Nacken und schüttelt seinen Kopf. Der Rock des Mädchens wippt und Vic sieht einen Strapshalter. Der andere Junge fragt in gebrochenem Deutsch nach Zigaretten und rülpst. Er schaut seine Freunde an, sie lachen. Auf der Straße ein Paar auf Fahrrädern, Satteltaschen sind links und rechts an den Gepäckträgern befestigt, am Lenker der Frau flattert eine schwedische Flagge. Die Frau trägt ein ärmelloses Oberteil, ihre Arme sind braungebrannt. »Heimat«, hört Vic den Mann sagen und sieht den beiden nach, wie sie in eine Seitenstraße biegen, beide gleichzeitig und nebeneinander.

Den Schlüssel in der Wohnungstür, sie stockt und atmet durch. Ihr Ärmel bleibt am Türgriff hängen, es ratscht. Sie zündet sich eine Zigarette an und hält das Feuerzeug an einen gerissenen Faden, der rasch absengt. Sie drückt ihre Finger auf die Lunte, ein schwarzer Krümel brennt sich in die Haut. Sie schabt ihn ab, die Stelle riecht synthetisch.

Auf dem Küchenfenster haben Regentropfen den Staub zu kleinen Halbmonden zusammengeschoben. Sie schaut zur Fassade des Hinterhauses, die Flecken werden unscharf, sie fokussiert sie wieder. Mit der Zunge drückt sie die Chips gegen den Gaumen, bis sie brechen, kaut sie zu einer pampigen Masse, die zwischen ihren Zähnen klebenbleibt. Karl kocht gerne für sie. Fish and chips, wenn Lotta dabei ist, oder Pfannkuchen. Wenn sie zu zweit sind, weil das Kind bei Annika ist, oftmals Pasta mit Oliven und Kapern in Tomatensoße – »nach Hurenart«, sagt Karl dazu und: »unser Essen«. Sie schaut ihm zu, wie er mit schiefgelegtem Kopf die Pfeffermühle dreht. Dabei presst er rhythmisch die Lippen aufeinander, entspannt sie wieder und presst sie wieder zusammen. Und sie nimmt nie eine zweite Portion.

Wie ist es in eurem Urlaub? Alles Liebe, Vicki. Sie zögert, drückt dann auf »Senden«.

Steht auf, geht durch die Wohnung, legt sich aufs Bett und schaut die Decke an, dreht sich auf die Seite, der Heizkörper, darüber das Fenster. Sie raucht eine Zigarette auf dem Balkon, dabei zupft sie die vertrockneten Margeriten ab und wirft die Blüten auf die Straße. Sie beginnt, die Kosmetikartikel im Bad wegzuräumen, um die Flächen reinigen zu können, mittendrin lässt sie es bleiben und setzt sich in die Küche. Raucht und starrt auf das Telefon. Bis es vibriert, mit kurzer Verzögerung klingelt. Ein Foto des Vaters ist auf der Anzeige, grauhaarig und bärtig, schmales Gesicht, wache blaue Augen. Sie sind von Falten gesäumt, die bis zum Haaransatz gehen. Seine Stimme klingt verzerrt.

»Vicki, hallo, hier ist Papa.«

»Hallo.« Das O gerät etwas tief.

»Was ist los?«

»Nichts.«

Der Vater spricht mit der Mutter, sagt irgendetwas mit »komisch«. Es raschelt.

»Victoria, was ist los?« Die Stimme der Mutter immer etwas schrill.

»Ich langweile mich. Karl ist nicht da und …«

»Wo ist Karl?«

»Weggefahren.«

»Was hast du denn wieder gemacht?«

»Nichts.«

Die Mutter flüstert mit dem Vater.

»Wie geht es euch denn?«

»Gut. Peter geht morgen auf dieses Satsang mit diesem –«

»Noah.«

»Ja, der. Ich geh shoppen. Kopenhagen ist eine tolle Stadt, diese Meeresluft und die Brücken.«

Sie schweigen beide eine Weile. Dann sagt die Mutter: »Tu was, Victoria, geh joggen, fahr Fahrrad. Warte mal …«

Der Vater wieder. »Vielleicht machst du wirklich einen Fahrradausflug und kriegst den Kopf frei.«

»Ich denk darüber nach.«

»Nicht denken, tun.«

»Okay.«

»Du, wir müssen los. Louise winkt dir. Ich gebe sie dir.«

Die Mutter. »Melde dich, wenn was ist, ja?«

»Ja, danke Mama. Lou.«

Das war ein Wunsch der Mutter, so genannt zu werden, als Vic zehn oder elf Jahre alt war.

2

Sie hält den Lenker, stellt den Fuß aufs Pedal und stößt sich mit dem anderen vom Boden ab. Das Fahrrad holpert über den Bordstein, sie hebt den Hintern und wippt in den Knien nach. Dann tritt sie in die Pedale. Wie oft ist sie diesen Weg schon mit Karl gefahren. Er radelt meist voraus, nach vorne über den Lenker gebeugt, sein T-Shirt etwas hochgeschoben. Dunkle Haare, die vom Saum der Jeans nach oben gedrückt werden. Einmal fuhr sie so nah an ihn heran, dass sie die Haare berühren konnte. Karl wendete den Kopf, lächelte. Ihr Lenker stieß an seinen Arm, das Vorderrad stellte sich schief und sie stürzte. Ihre Hände scheuerten über den Boden, Steinchen gruben sich in die Flächen und hinterließen eine blutige Spur. Lebenslinie mehrfach durchkreuzt, dachte sie und sah Karl an, der abgestiegen war und auf sie zukam.

Die Straße zieht sich gerade, rechts eine eingezäunte Brache, auf der Büsche wachsen, stachelige Gräser, daneben eine industrielle Anlage mit matten großen Fenstern, links Bürogebäude, die ihre tristen Fronten vom Gehsteig hochziehen, das bunt bemalte Tor wie ein Fremdkörper dazwischen. Sie schließt das Fahrrad an einer Laterne an. Musik wummert auf die Straße. Der Mann am Eingang fixiert sie, ein Netz mit fetter Spinne ist auf seinen Hals tätowiert, die Haare kleben an seiner Kopfhaut. Sie bleibt vor ihm stehen und sieht ihm in die Augen. Sein Blick rutscht zu ihrer Brust, sie verschränkt die Arme und er tritt zur Seite. Ihre Tasche wird durchsucht, im Lichtkegel einer Taschenlampe: ihr Geldbeutel, eine Zigarettenpackung, ein Lippenstift, ein Papierfetzen, Tabakkrümel. Sie schiebt Geld über einen Tresen, ein Stempel wird auf ihren Handrücken gedrückt. »Welcome to the dollhouse.«

Sie geht über einen Holzsteg, dann kommt sandiger Boden. In einem Holzverschlag legt ein DJ Musik auf, einige tanzen vor der Bude, auf Sofas liegen Menschen, am Rand des Teichs sitzen zwei Jungs, bespritzen einander, die Wassertropfen glitzern im Sonnenlicht. Sie steigt über die Beine eines Mannes. Er lehnt mit dem Rücken an einem Balken und blickt mit wippendem Kopf in den Himmel, die Augen gerötet. Zwei Mädchen wanken an ihr vorüber. Die eine hält sich am Arm der anderen fest, beugt sich nach vorne und lacht. Sandkörner kleben an den nackten Waden der anderen. Auf der Tanzfläche hämmert eine Frau im Bikini mit den Armen in die Luft. Als ein Wassersprenger angeht, jubeln einige. Ein Mann legt den Kopf in den Nacken und geht mit geöffnetem Mund dem Strahl nach, stößt dabei an andere und bahnt sich seinen Weg.

Sie trinkt rasch hintereinander zwei Wodka-Cola und spürt die saure Wärme im Magen. Mit einem Eiswürfel kühlt sie die verbrannten Stellen auf ihren Fingern. Auf dem Weg zur Toilette fragt ein Mann sie nach Ketamin. Sie schüttelt den Kopf. Als seine gierigen Augen sich bereits an einen anderen heften, zupft sie ihn am Ärmel, holt seinen Blick zurück und fragt nach MDMA. So einfach geht das und sie hält einen gefalteten Papierfetzen in der Hand. Karl macht das sonst. Die kristallinen Krümel bleiben an ihrer feuchten Fingerspitze kleben, sie schiebt sie in den Mund und schluckt. Auf der Zunge ein pelziger Geschmack, dann Taubheit. Sie schluckt einige Male, um sicherzugehen, dass der Reflex noch funktioniert.

Mit einem Bier in der Hand stellt sie sich auf die Tanzfläche,

in das stickige Gedränge der Körper,

in die Musik, die sie aufnimmt,

in sie reingeht,

in ihr vibriert.

Ihre Schamlippen pulsieren, als ein Lichtpunkt über ihre Brüste streicht.

»Geile Scheiße!«