Das Floß der Medusa - Franzobel - E-Book

Das Floß der Medusa E-Book

Franzobel

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Beschreibung

18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Diese historisch belegte Geschichte bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Wie hoch ist der Preis des Überlebens?

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8. Juli 1816, elf Uhr vormittags: Vor der Westküste Afrikas entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt.

Diese historisch belegte Geschichte, eine der größten Katastrophen der Seefahrt, bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Was bedeutet Moral, was Zivilisation in einer extremen Situation, in der es um nichts anderes mehr geht als um das bloße Überleben?

Zsolnay E-Book

Franzobel

DAS FLOSS DER MEDUSA

Roman nach einer wahren Begebenheit

Paul Zsolnay Verlag

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien und des Landes Oberösterreich.

ISBN978-3-552-05843-9

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2017

Umschlag: Anzinger und Rasp, München

Motiv: Das Floß der Medusa von Théodore Gericault,

Foto: © akg-images

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Water, water, every where,

And all the boards did shrink;

Water, water, every where,

Nor any drop to drink.

Samuel Taylor Coleridge

Wenn der Mensch diesen Grund erreicht hat, ist ihm nichts mehr begreiflich zu machen; seine Instinkte werden die eines Raubtieres, und man muss sich darauf gefasst machen, sich gegen ihn verteidigen zu müssen, wie man sich gegen ein beleidigtes wildes Tier verteidigen würde.

Alexandre Dumas

Ein fetter Morgen

Dreimal neun ist Donnerstag, und der 18. Juli des Jahres 1816 war ein herrlicher Donnerstag. Kein Wölkchen trübte den azurblauen Himmel, die Sonne blendete, und selbst die Luft, sonst dunstig, war klar wie ein Kristall. Etwa dreißig Seemeilen vor der Küste Westafrikas glitt die Brigg Argus durch die glatte See. Tümmler und Delphine sprangen neben ihr her, Möwen umkreisten das Kielwasser, zogen Bögen, hoben und senkten sich, berührten mit den Federspitzen fast das Wasser. Die Bewegungen an Bord griffen so harmonisch ineinander wie bei einem komplizierten Räderwerk. Keine Anstrengung war zu spüren.

Dann geriet ein Sandkorn ins Getriebe. Es war elf Uhr vormittags, die Argus war einige Meilen über Nouakchott, mittlerweile Hauptstadt von Mauretanien, ungefähr auf Höhe von Portendick, da meldete der Toppsmatrose zwei Strich Steuerbord ein seltsames Objekt. Niemand ahnte, was das bedeutete. Am wenigsten wir, doch werden wir es bald erfahren.

Was für ein Objekt? Der Kapitän, Léon Parnajon, zog an seiner Pfeife, ließ sich das Fernrohr reichen und konnte nichts entdecken – weder ein Schiff noch eine Insel. Treibgut? Erst Minuten später geriet etwas in die kleine Fernrohrwelt, sah der Kommandant eine schwimmende Plattform mit einem Zelt darauf. Mauren? Berber? Andere Kameltreiber? Eine abgetriebene Behausung der Wüstenbewohner? Geflohene Sklaven? Es kam zu jener Zeit ständig vor, dass Schwarze ihre Aufseher überwältigten und absurd anmutende Fluchtversuche unternahmen. Als der Kapitän noch nach einer Erklärung suchte, sah er eine taumelnde Gestalt. Sie stellte sich an den Rand der Plattform, bog den Kopf nach hinten und … ja, kein Zweifel, der Mann urinierte – so, wie es aussah, in die Hand und … ja, das gibt’s doch nicht, er trank das Zeug. Sobald der Pisskopp aufblickte und die Segel der Argus sah, begann er wild zu hüpfen und zu winken. Jetzt kletterte er gar auf den Mast, schwenkte ein Tuch.

Immer mit der Ruhe, Pisskopp. Wir haben dich bereits gesehen.

Der Kerl konnte sich nicht lange halten, glitt den Mast hinunter und verschwand im Zelt. Jetzt kamen andere heraus, winkten ebenfalls. Als sie sahen, dass die Argus näher kam, sie entdeckt waren, fielen sie einander um den Hals, umarmten sich.

Nein, das sind keine geflohenen Sklaven. Keine Darkies. Vielleicht Schiffbrüchige? Von der Medusa? Unmöglich! Die Medusa ist vor zwei Wochen gestrandet, jetzt kann man mit Glück Überlebende an der Küste finden, vielleicht das Wrack.

Eine halbe Stunde später hatte die Argus das seltsame Gefährt erreicht. Offensichtlich ein Floß. Oder die Zugbrücke einer Burg? Jedenfalls hatte das Vehikel, da hatte sich der Kapitän nicht getäuscht, einen kleinen Mast und ein Sonnenzelt. Der Schiffsjunge zählte dreizehn, vierzehn, fünfzehn ausgemergelte Gestalten. Die meisten waren nackt, trugen aber Stiefel, die an den dünnen Beinen komisch wirkten – wie Kinderfüße in zu großen Schuhen. Wandelnde Skelette! Einer hatte eine Flachsperücke auf, gelbe Uniformjacke und einen Säbel umgebunden. Sein Dreispitz wies ihn als Angehörigen der Armee aus. Franzosen? Oder Piraten? Nur fünf konnten sich auf ihren Beinen halten, die anderen lagen oder kauerten. Man ließ das Beiboot zu Wasser und ruderte zu ihnen hin.

– Seid vorsichtig, rief Parnajon. Vielleicht ist es eine Falle. Vielleicht …

Nein, keine Falle. Als man nahe genug war, sah man hohle Augen, das Gestrüpp stacheliger Bärte, ausgedörrte Lippen, trocken wie Pergamentpapier. Verbrannte Schultern, abgeschälte Haut, alles voller Wunden, Blasen. Nein, das waren keine Sklaven, keine Berber und auch keine Piraten, sondern Europäer. Pissköpp! Aber was für welche! Skelette mit hervorstehenden Brustkörben, harfenförmigen Beckenknochen und fladenartigen, nur noch aus Hautlappen bestehenden Arschbacken. Ihr Haupthaar, starr vom Salz, glich alten Polstersesselfüllungen. Und die Augen? Düster verschleiert, wahnsinnig. Was waren das für welche? Wandelnde Leichen? Was hatten die erlebt? Wir wissen es noch nicht, aber gemach, wir werden es erfahren.

Ein jämmerliches Bild. Totengesichter, kraftlose dünne Arme, zerschlissene Kleider, Fetzen. Ein erbärmlicher, abstoßender Anblick. Dagegen sieht sogar das Lumpengesindel von Paris noch nobel aus. Der Kapitän, selbst nur eine Randfigur in unserer Geschichte, ließ sie an Bord bringen und befahl, ihnen Fleischbrühe und Wein zu reichen. Außerdem Cognac mit verrührten Eiern.

Kapitän Parnajon wie alle anderen an Bord der Argus wussten, diese ausgemergelten Gestalten, diese wandelnden Leichen waren die Schiffbrüchigen, die Überlebenden des Floßes der Medusa. Die Totgeglaubten, die letzten fünfzehn von ursprünglich hundertsiebenundvierzig Menschen, die dreizehn Tage auf diesem Floß überlebt hatten. Dreizehn Tage! Er zog an seiner Pfeife und sah auf die dilettantische Bretterkonstruktion, auf das zeltähnliche Segel. Unglaublich, wie sich dieses Ding so lange über Wasser halten konnte. Was er dann sah, ließ ihm das Blut gefrieren, es war ein Fuß, der zwischen zwei Brettern steckte, abgeschlagen oberhalb des Knöchels. Das Fleisch war graugelb, aufgedunsen, die ganze Form verschwommen, schwammig, doch der Fuß war zu erkennen. Und Parnajon, wir können seinen Namen bald wieder vergessen, sah noch etwas, kleine graue Streifen, die an Seilen hingen. Getrockneter Fisch? Alter Frühstücksspeck? Nein, der Kapitän wusste, das war Menschenfleisch! Wie sonst hätten diese fünfzehn fast zwei Wochen überleben können? Die Pissköpp hatten nicht nur ihren Urin getrunken, sondern sich auch gegenseitig aufgefressen. Parnajon, von dessen Existenz wir ohne diese Überlebenden nichts mehr wüssten, verschluckte sich am Pfeifenrauch und hustete. Ob er ahnte, dass es dieser Tag war, dieses Floß, diese grauen Fleischstreifen, die ihm eine Randnotiz in den Geschichtsbüchern sicherten? Einen Platz bei den Fußnoten im Buch Unsterblichkeit.

Kannibalismus war unter Seeleuten nichts völlig Abwegiges, solange die Regeln eingehalten wurden. Sogar die allerheiligste katholische Kirche duldete den Verzehr von Menschenfleisch in Extremsituationen. Aber fünfzehn Überlebende von hundertsiebenundvierzig? Waren hier die Regeln eingehalten worden? Oder hatte man nur eine Regel gekannt, die des Stärkeren? Hatte man sich gegenseitig abgeschlachtet und dann aufgefressen?

Kaum waren die Geretteten an Bord, fielen welche auf die Knie und dankten Gott dem Herrn. Einer umarmte den Schiffsjungen, ein anderer den Kapitän, der ihn aber eingedenk der Urinszene leicht angeekelt auf Distanz hielt. Vier waren so schwach, dass sie getragen werden mussten, und ein anderer schrie etwas von seinem Geldbeutel, der noch an Bord des Floßes sei: Mein Geld! Meine Papiere! Nur mit Mühe konnte er davon abgehalten werden, ins Wasser zu springen. Ein Nächster bestellte Champagner, Austern, Langusten, Meringue-Kuchen und eine Serviette.

– Sagen Sie der Musikkapelle, sie darf ruhig lauter spielen. Und bitten Sie die Damen, sich zu gedulden. Ich werde bald mit ihnen tanzen. Kein Zweifel, er hatte den Verstand verloren. Ein weiterer, es war der Geologe Alexandre Corréard, auf den wir noch zurückkommen werden, meinte trocken:

– Meine Herren, ich bin außer mir, Sie kommen um ganze zehn Minuten zu spät. Nennen Sie das Pünktlichkeit? Schlamperei! Wenn das in Mode kommt … Er versuchte zu lächeln, und als niemand auf den Scherz, den er sich tagelang zurechtgelegt hatte, reagierte, brach er zusammen.

Es waren Scheintote mit stumpfen Augen. Augen, die zu viel gesehen hatten. Nur einer stach hervor, wirkte kräftiger, gesünder: der mit der gelben Uniformjacke, der Flachsperücke und dem Dreispitz, den er nun an seine Brust drückte. Er hatte einen dichten, stacheligen Bart, ein fleischiges, rosafarbenes Gesicht und stechend blaue Augen. Sah man genauer hin, erkannte man, dass auf seiner zerschlissenen Uniformjacke die Knöpfe fehlten und das Leder seiner Stiefel zerbissen war, mit Salzkrusten geädert.

– Jean Baptist Henri Savigny, Zweiter Schiffsarzt der Medusa. Mit einer tiefen Verbeugung stellte er sich vor, nicht nur Kapitän Parnajon, auch uns, der Welt. Dann holte er tief Luft und sagte mit erstaunlich kräftiger Stimme:

– Die Welt muss wissen, und sie wird erfahren, was wir erlebt haben … Wir sind am Leben, weil es unsere Pflicht gewesen ist zu überleben, der Menschheit unser Schicksal darzulegen … Er sprach von der Strandung der Medusa auf der Arguin-Sandbank, von Rettungsbooten, die sie verlassen hatten, einer Meuterei. Wie ein Wasserfall sprudelten die Wörter aus ihm heraus. Gekapptes Tau, Stürme, ein Schmetterling, fliegende Fische, Haie, eine zweite Meuterei, zerschlagene Wasserfässer, Weinrationen und so weiter.

– Sie müssen Josephine verständigen, meine Verlobte. Sagen Sie ihr, ich lebe, und sie soll Limonade machen. Eine große kalte Limonade. Ein Fass voll Limonade. Zwölf Scheffel! Und ein Cassoulet mit einer Gans. Ragout. Tarte Tatin – nein, die wird erst achtzig Jahre später erfunden werden, also Apfelkuchen. Crème brûlée, Profiteroles, Gefrorenes …

Erst als Parnajon die Hände hob und ihm bedeutete, er solle sich das für später aufbewahren, spürte auch er, wie ihm die Sinne schwanden. Er bat den Kapitän, einen Zug von der Pfeife nehmen zu dürfen, »darauf freue ich mich seit zwei Wochen«, dann, der Schiffsführer gab sie ihm widerwillig, sank er zusammen, musste gestützt werden, sprach aber immer noch von Josephine:

– Sie ist nicht schön, und ihre Intelligenz lässt zu wünschen übrig, sie ist außergewöhnlich gewöhnlich, keine Prinzessin, aber ich liebe sie. Ich …

– Was haben Sie gegessen?, wollte der Kapitän wissen. Er fixierte den Geretteten mit seinem Blick, nahm die Pfeife wieder an sich, wischte sie ab.

– Gegessen? Savigny blickte in den Himmel, lachte. Einen unwiderstehlichen Kuhschwanz mit Kalbsbäckchen in Terrine und Käse überbacken, Schweineknie mit Linsen, Milzschnitten, geschmorte Nieren, Brot mit dem Mark von Ochsen, Gänseleber, gefüllte Karpfen, Birnenkuchen … Er sah zu Parnajon, folgte seinem Blick, sah die grauen Fleischstreifen am Floß und wusste, was der Kapitän der Argus dachte. Es würde schwierig werden, der zivilisierten Welt zu erklären, was auf dem Floß geschehen war. Würde das jemand verstehen? Oder war es ein Skandal, der mit allen Mitteln vertuscht werden musste? Eine Sache, die die Welt niemals erfahren durfte?

Diese ausgemergelten Gestalten hätten keinen weiteren Tag auf See überlebt, und obwohl Parnajon glücklich war, fünfzehn Menschen vor dem Tod gerettet zu haben, mischten sich dunkle Ahnungen in sein Hochgefühl. Waren das arme, vom Schicksal misshandelte Geschöpfe, oder wilde, entmenschlichte Bestien, Pissköpp!, die er an Bord geholt hatte, um sie der Zivilisation zurückzugeben? War bei denen, wie sein alter Lehrer immer gesagt hatte, dreimal neun Donnerstag?

Etwas ist eigenartig, die großen Katastrophen geschehen oft im Verborgenen. Wie bei den Konzentrationslagern, Völkermorden, Foltergefängnissen oder Tragödien um die Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer bekam die Öffentlichkeit auch vom Unglück der Fregatte Medusa zunächst nichts mit. Erst im September 1816 gelangte der Fall in die Zeitungen, zuerst in die französischen, bald darauf in die der Welt. Die nach Sensationen gierende Öffentlichkeit stürzte sich darauf, und es gab den Bericht der Überlebenden in der Lemberger Zeitung wie in der Gazeta Lwowska, in den Steyermärkischen Intelligenzblättern ebenso wie in der Augsburger Allgemeinen, im El Mercurio, der Times, dem Norske Intelligenz-Sedler, im Sankt-Peterburgskie Vedomosti wie in hundert anderen.

Davor aber dauerte es auf den Tag genau zwei Monate, bis zum 18. September 1816, bevor der französische Marineminister General Bouchage, der Name bedeutet Verstopfung, an König Ludwig XVIII. schreiben konnte: »Ich erspare Eurer Majestät die Schilderung der entsetzlichen, von Hunger und Verzweiflung verursachten Szenen, die sich auf diesem Floß abgespielt haben. Und ich erspare Eurer erhabenen Durchlaucht auch die Beschreibung der Gräuel, die in den dreizehn Tagen der Verlassenheit begangen worden sind. Dagegen bedaure ich nach wie vor zutiefst, dass die Journalisten Geschehnisse enthüllt haben, die besser für alle Zeiten der Menschheit hätten verborgen bleiben sollen.«

Drei Jahre später äußerte sich der alte gichtkranke König, ein feister, quallenartig aufgedunsener Mensch mit weißem Haar und einer Vorliebe für große Orden und helle Schuhe, Hoffnung der Royalisten, selbst zu diesem, wie er ihn nannte, Vorfall. Anlässlich der Eröffnung des Pariser Kunstsalons 1819 sagte er zu einem jungen Maler, der in einem übermenschlichen Kraftakt die Geschehnisse auf eine riesige Leinwand gebannt hatte: »Herr Géricault, Ihr Schiffbruch da, das ist nichts für uns!« Der fette Herrscher machte noch eine abfällige Geste, dann trottete er mitsamt seiner Entourage behäbig weiter, während der junge Maler, der für sein Bild mit Überlebenden gesprochen und sich aus den anatomischen Instituten Leichen ins Atelier hatte bringen lassen, zerstört zurückblieb. Dass sein Bild Berühmtheit erlangen und noch zweihundert Jahre später im Louvre hängen sollte, in einem Hauptsaal gegenüber Jacques-Louis Davids »Krönung Napoleons«, konnte er nicht ahnen.

Noch einmal hundertsiebzig Jahre später gab es den Plan, die Geschichte zu verfilmen, aber die Welt wollte von diesem »Vorfall« immer noch nichts wissen. Der Hurrikan Hugo vor Guadeloupe zerstörte den Nachbau der Medusa, und dem iranisch-französischen Filmemacher Iradj Azimi wurden so viele Prügel in den Weg gelegt, dass er darüber fast zerbrochen wäre. Letztlich musste er sich vor dem Kulturministerium in Paris die Pulsadern aufschneiden, um 1998, fast zehn Jahre nach seiner Entstehung, den Film »Le Radeau de La Méduse«, der sich nicht durchsetzen sollte, endlich in die Kinos zu bringen.

Aber was sind das für Geschehnisse, die der Menschheit für alle Zeit verborgen bleiben sollten? Was ist das für eine scheinbar mit einem Fluch behaftete Geschichte, die hinter diesen fünfzehn ausgemergelten Gestalten steht? Ist sie etwas für uns? Ein Versuch, den Menschen vor Gott zu rechtfertigen? Etwas Erhabenes? Erhebendes? Niederschmetterndes? Nun, das werden wir noch sehen. In jedem Fall ist dieser »Vorfall« etwas, das am französischen, ja, am europäischen Nationalstolz kratzt, weil er Abgründe des Menschen offenbart, zeigt, was mit dieser Spezies alles möglich ist. Nichts für frankophile, Rotwein trinkende, Käse degustierende Modefuzzis. Gut, die Sache liegt mittlerweile mehr als zweihundert Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders, bei uns kommt sowas nicht vor. Doch ist das wirklich so?

Der Schlammmann

– Genau davor habe ich Angst, knarzte eine raue Stimme. Genau davor. Seit Tagen ahne ich so etwas. Seit Tagen habe ich es im Urin … Aber nicht mit mir!

Es war der 22. September 1816, vier Tage, nachdem der französische Marineminister namens Verstopfung seinem aufgequollenen König den besagten Brief übergeben hatte. Der Schiffsarzt Savigny, der mit dem gelben Uniformrock und der Flachsperücke, hatte in den zwei Monaten seit seiner Rettung dreißig Kilo zugelegt, war mittlerweile nach Frankreich zurückgekehrt und hatte dort erfahren, dass die Admiralität an seiner Geschichte kein Interesse hatte. Im Gegenteil, man wollte die Angelegenheit unter den Teppich kehren. Dem Schiffsarzt wurde mitgeteilt, er habe in der Marine keine Zukunft und brauche auf keine Entschädigung zu hoffen.

– Es ist im staatlichen Interesse, sich nicht über das auszulassen, was Sie gesehen haben. Am besten, Sie verkriechen sich und lassen nichts mehr von sich hören. Man hängt mich zum Trocknen an die Luft, behandelt mich wie einen lausigen, wurmzerfressenen Bittsteller. Aber das war nicht nach dem Geschmack des Henri Savigny, dafür hatte er sich uns nicht vorgestellt. Er wollte es hinausschreien, die ganze Welt an seinem Schicksal teilhaben lassen. Er hatte doch nicht dreizehn Tage lang die Hölle überlebt, um dann zu schweigen. Wenn da nur nicht dieser unsägliche Appetit gewesen wäre, dieser Drang, alles in sich hineinzustopfen: Eintöpfe, Fleisch, Kartoffeln, Brot, Käse, Bohnen, Butter schleckte er mit den Fingern, Kuchen, Pasteten mit dem Löffel, Pudding, Melasse. Und natürlich Limonade. Er fraß wie ein Verrückter, trank wie ein Wasserbüffel.

– Du wirst noch platzen, sagte Josephine.

– Das verstehst du nicht. Du hast nicht dreizehn Tage lang dem Tod ins Aug gesehen. Er wartete darauf, dass sich jemand bei ihm meldete, jemand, der seinen durch eine Indiskretion an eine Zeitung gelangten Bericht gelesen hatte, jemand, der ihm zu dem verhalf, was ihm unbestreitbar zustand, zu Ruhm und Anerkennung. Aber nichts geschah. Niemand interessierte sich für ihn. Seine Geschichte war zu abenteuerlich, zu verstörend, haarsträubend.

Die Mehrheit der Geretteten befand sich noch im Senegal, untergebracht in einem Hospital in Saint-Louis, in einem großen feuchten Raum mit alten Matratzen, löchrigen Moskitonetzen und einem roten Lehmboden, aus dem ständig neues Ungeziefer quoll – stechende, beißende Flug- und Krabbelmonster, jedes einzelne Exemplar ein perfider Meister im Nervtöten.

Fünf von den Geretteten hatten den Sommer nicht überlebt, und auch die meisten anderen dämmerten dahin, hatten Halluzinationen oder das, was man heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen würde: Aggression, Suizidversuche, Depression. Außer dem Schiffsarzt hatten nur der ständig betende, in religiösen Wahn verfallene Leutnant Coudein und der Vollmatrose Hosea Thomas, bei dem sich erste Anzeichen einer Katatonie zeigten, die Rückfahrt nach Frankreich angetreten. Während der dreiwöchigen Seereise wechselten sie mit Savigny kein Wort. In Brest gingen sie an Land. Coudein wollte unverzüglich zu Papst Pius VII., um die Heiligsprechung eines toten Schiffsjungen zu erwirken, und Hosea machte sich auf den Weg, ein Versprechen einzulösen – ein Versprechen, das er auf dem Floß gegeben hatte. Für den Schiffsarzt hatte er nur wenige Worte übrig:

– Ich will Sie nie mehr wiedersehen. Nie mehr. Will ich.

Während Savigny den Drang zu reden hatte, unaufhörlich von den dreizehn Tagen auf dem Floß erzählte, wollte Hosea davon nichts mehr wissen. Er, ein Mensch mit kräftiger Konstitution, hatte seit ihrer Rettung kaum gesprochen, saß meist nur da, machte ein vertrottelt grinsendes Gesicht und schwieg. Auch er aß viel, rauchte und trank, als ob er sich vernichten wollte. Aber er sagte nichts. Wenn ihn auf der Fahrt nach Brest andere gefragt hatten, wie das auf dem Floß gewesen sei, schüttelte er nur den Kopf und brummte:

– Das willst du gar nicht wissen, willst du nicht.

An dieser Stelle müssen wir, um Hosea Thomas hinterherzukommen, einen kleinen Sprung in das Herz Frankreichs machen, nach Limoges: Ein kalter Sonntagmorgen im September – zwei Monate nach der Katastrophe, von der die Welt noch nicht viel wusste. Auf einer Straße am Stadtrand hielt ein Ochsengespann, um einen Liegenden nicht zu überrollen.

– Brrr, machte der Kutscher. Ein kleiner, feister, rotgesichtiger Mensch mit glänzender Haut, ein eingefettetes Osterei auf zwei Beinen. Er schüttelte den Kopf, strich sich über die Wülste im Nacken und brummte: Nicht mit mir. Genau davor habe ich Angst. Genau davor … Mit so etwas fängt alles an, der Jüngste Tag …

Die kühle Luft roch bereits nach Winter, und die hohen Wolkentürme versprachen Regen. Dabei hatte es den ganzen Sommer über nur geschüttet. Regen seit April.

Die Hähne hatten schon gekräht, das Gezwitscher der Spatzen und das Gegurre der Tauben war nicht zu überhören, doch die Menschen machten sich einen fetten Morgen, schliefen noch. Der dicke Kutscher, ein Bauer aus dem nahen Dorf Pressac, hatte den vergangenen Tag am Markt zugebracht und nachts den halben Erlös seiner Ernte gleich wieder verzecht. Ernte? Außer ein paar zu klein geratenen Kohlköpfen und lächerlichen Rüben hatte dieser vermaledeite Sommer nichts gebracht. Die Kürbisse waren kaum größer als Kinderfäuste, das Getreide war auf Kniehöhe verfault. Die Kartoffeln hatten Walnussgröße, und selbst die Hühnereier waren in der Dimension von Knabenhoden. Dieser verdammte Regen! Drecksommer! Nicht mit mir!

Nun plagte den Presssack Sodbrennen – vom mit Schwarzpulver und Cayennepfeffer verschnittenen Branntwein, aber auch vom schlechten Gewissen gegenüber seiner Frau. Diese Krautstauden! Gewürznelke! Als er nun den quer über die Straße liegenden Menschen sah, hingestreckt wie ein erlegtes Wildschwein, stieß er Flüche aus.

– Weg da, Unglückswurm, grauslicher. Mit so etwas fängt alles an, aber damit brauchst du gar nicht anfangen. Mit sowas musst du mir nicht kommen. Mir nicht!

Wahrscheinlich wäre er selbst gerne so gelegen, friedlich schlafend, ohne Sodbrennen und der Gewissheit eines nahen Ehestreits. Dabei war die Straße matschig, manchenorts so sehr, dass die Ochsen stecken blieben.

– Genau davor habe ich Angst, vor solchen Kellerasseln, die den Jüngsten Tag einläuten. Aber damit brauchst du mir nicht kommen.

Da der Liegende nicht reagierte, dafür aber Fensterläden aufgingen und sich Köpfe herausschraubten, die »Ruhe«, »Sonntag ist. Wir wollen schlafen« und »Das sage ich Hochwürden« keiften, stieg der feiste Bauer vom Bock, stapfte durch den Matsch und stieß den Betrunkenen unsanft in die Seite. Nicht etwa mit seinen fetten Füßen, die auf der verschlammten Straße schmatzende Geräusche erzeugt hatten, sondern mit einem Stock, an dessen Spitze ein geschmiedeter Nagel steckte. Ein Stock, den er sonst den Ochsen, wenn sie nicht spurten, in die Bäuche stieß – gut genug auch für das Rindvieh, das da mitten auf der Straße lag.

– Aufstehen, Kerl! Sonst reiß ich dir die Ohren ab! Eine Straße ist kein Hurenbett. Straße? Ein versumpfter Weg! Schlaf deinen Rausch woanders aus. Heute ist Sonntag, und Gott liebt nur eines, nämlich Ordnung. Oder bist du hin? Nein! Nicht bei mir. Du atmest. Also hoch mit dir. Was ist? Bist du taub, du Saustallkreatur?

Weil der Mensch noch immer keine Regung zeigte, zog der Bauer, von der allgemeinen Aufmerksamkeit erregt, eine Schau ab. Er führte sich auf wie ein Prediger zu Pestzeiten, beklagte sein Schicksal, die schlechte Ernte, machte große Gesten. Schließlich aber packte er seine Rute aus, um diesem menschlichen Ochsen zu zeigen, was er von solchen Straßensperren hielt. Einen Moment lang musste er sich entspannen, aber dann gab seine Blase nach und ihren Inhalt frei.

Kaum hatte der dünne, warme Strahl den Kopf des Daliegenden erfasst, kaum floss der dampfende Agrarier-Urin wie das Gift in Hamlets Vaters Ohr, kam Regung in den Leib. Schon wurde die Nase hochgezogen, kam ein Glucksen aus dem Mund und öffneten sich Augen, dann rieb er sich den Bauch und gab ein grässliches Gestöhn von sich. Der Bauer musste lachen, so sehr, dass sich der Schließmuskel seiner Harnröhre verkrampfte. Auch aus den Fenstern der umliegenden Häuser kam Gelächter. Als sich der Geweckte aber hochrappelte, sein langes, verfilztes und nun auch nasses Haar aus der Stirn strich und sich mit seinen Fingern erst über die nasse Wange fuhr, sie dann abschleckte, trat eine beängstigende Stille ein. Der Bauer hatte schon allerhand erlebt, eigenhändig Schweine erschlagen, Kälber aus Kühen gezogen, Gänsen den Kopf abgedreht, aber so etwas war ihm noch nie passiert: zwei verrückte Augen, die sich ihm wie glühende Schwerter in die Haut brannten.

Er beeilte sich, seinen kleinen Freudenspender einzupacken und auf den Karren, fürwahr keine Limousine, sondern ein robustes Gefährt, mit dem sich Kohlen transportieren ließen, zu springen.

– Nicht mit mir! Hüha! Hüha!

Der Fremde starrte mit unbewegter Miene auf die rosafarbenen Nüstern der Ochsen, aus denen warmer Atem kam, auf den nagelbesetzten Stock, der einer Walfängerharpune glich, den Bauern, seine mit Dreckspritzern übersäten Stiefel.

– Vorwärts! Hüha!

Brust und Oberschenkel des Geweckten waren mit Schlamm bedeckt, an seinem Körper klebten Erdkrumen, kleine Klumpen getrockneten Matsches fielen zu Boden – ein Golem. Da fielen dem Bauern die Tätowierungen dieses Hünen auf, erkannte er eine Schlange, die sich um einen Anker wand, und einen Dolch, der eine Schriftrolle durchbohrte: »Davy Jones sein Liebling«, stand darauf. Der Bauer hörte den schweren Atem dieses Fremden und bekam es mit der Angst zu tun. Solche wie den müsste man einsperren, enthaupten. Schade, dass es das Vierteilen nicht mehr gibt. Er umfasste mit seinen kurzen, zu Klauen verkrümmten Fingern die Zügel, schrie und pikste seine Tiere. »Hüha! Vorwärts! Nelson! Napoleon!« Er hatte tatsächlich seine Ochsen nach diesen Persönlichkeiten benannt. Doch Nelson und Napoleon reagierten nicht – der eine war wie tot und der andere im Exil. An den Rändern ihrer großen schwarzen Augen saßen Fliegen, und ihr warmer Atem roch nach Heu und Stall und Kuhgedärm.

Der Geweckte rührte sich noch immer nicht. Sein langer, mit Schlammkrusten verklebter, sandfarbener Bart verlieh ihm etwas Furchterregendes. Vor allem aber war es dieser Blick, der einem Schauer über den Rücken jagte. Der Blick eines Besessenen, eines Menschen, der geradewegs aus der Hölle kam. Es war Hosea Thomas, Vollmatrose der Medusa, wir kennen ihn bereits, einer der Geretteten, einer der fünfzehn Überlebenden. Nur hatte er nicht seinen Hut gezogen und sich bei seiner Vorstellung auch nicht verbeugt, im Gegenteil, er hatte seine Rettung völlig regungslos, mit tiefsitzender Gleichgültigkeit hingenommen.

– Savigny, du Zecke, sagte er jetzt, da er den Bauern ansah, mit tonloser Stimme. Du wirst büßen für das, was du uns angetan hast. Ich werde dich vernichten, Flachsperücke, Kurpfuscher. Da setzte Regen ein, prasselten fette Wassertropfen vom Himmel, wurde über alles ein grauer Dunstvorhang gezogen.

Savigny selbst war nicht einmal in der Nähe dieses Schauspiels. Er befand sich in Paris und hatte sich vor dem Marineminister zu verantworten. Das soll einer der Überlebenden sein? Warum ist der so dick wie Ludwig XVIII.? Hat der alle Leichen alleine gefressen?

Hosea aber hatte auf dem Weg nach Limoges nicht nur die meisten seiner klaviertastengroßen Zähne, sondern auch den Verstand eingebüßt. Nicht, dass der Vollmatrose, Sprössling von Austernzüchtern der Île-d’Aix, jemals besonders intelligent gewesen wäre, aber nun tobten Stürme in seinem Kopf. Es war, als hätte sich sein ohnehin nur mittelmäßig ausgeprägter Geist wie ein Schalentier verschlossen, als würde sein Verstand unter Wasser gehalten und dürfte immer nur für Augenblicke auftauchen. Nun stand er da mit starrem Blick, grunzte und stieß einen schrillen, kollernden Schrei aus, der klang, als würde ein Schwein geschlachtet.

– Nichts für ungut, murmelte der feiste Bauer, aber ich bin nicht die Sabine oder wer auch immer, und mitten auf der Straße schläft man nicht … Das gehört sich nicht, nicht bei mir … Genau vor so etwas habe ich Angst, das ist ein Zeichen … Die Welt geht unter … Das ist, wie wenn man unter einer Leiter durchgeht, wie eine schwarze Katze, oder … An irgendwas muss es ja liegen, dass wir heuer keinen Sommer hatten … Er mühte sich, seine Ochsen in Bewegung zu setzen. Doch Nelson und Napoleon waren erstarrt, als wäre ihnen der Teufel mit glühenden Gabeln in die Eingeweide gefahren. Schließlich besannen sie sich ihrer bovinen Bestimmung und trotteten davon.

Hosea Thomas stand wie angewurzelt auf der lehmigen Straße. Schlammig braunes Wasser lief über sein Gesicht, löste die Krumen im Bart, tropfte auf die Brust, lief weiter über Bauch und Beine.

Er mochte um die dreißig sein, seine Wangen waren eingefallen und das Gebiss löchrig, aber seine Statur war mächtig. Breite Schultern, Muskeln und ein dicker, von blauen Adern durchzogener Hals. Seine Kleidung war zerschlissen und für dieses nasskalte Wetter viel zu leicht. Fleckiges Leinenhemd und schmutzstarre Hose – beide wie in Milchkaffee getunkt. Jetzt, da ihm der Regen den Dreck vom Körper spülte, sah man, seine Füße waren nackt und voller Abschürfungen, die Haut gegerbt. Am rechten Schulterblatt, wo sein Hemd zerrissen war, prangte ein mit Asche tätowierter Jesus, der ihn vor dem Auspeitschen bewahren sollte. Wäre der Bauer geblieben, er hätte hören können, wie die aufgesprungenen Lippen »Viktor, Viktor« murmelten. In Hoseas Kopf irrlichterten Bilder vom Floß, von der azurblauen See und vom Senegal. Er sah Eingeborene mit samtig dunkler Haut, bunt gekleidete Frauen, den Kapitän der Medusa und immer wieder Leichen, zerschnittene Körper, tranchiert wie filet de boeuf, und Savigny, der von verschiedenen, mit Urin gefüllten Blechtassen kostete und dabei wie ein Sommelier Grimassen schnitt.

Ein Verrückter, dachte eine junge Magd, der nicht gefiel, wie Hoseas Augen hin und her zuckten. Ein Idiot, war eine Alte überzeugt, die ihren Nachttopf entleerte und ihn dann mit Regenwasser spülte. Ein Trottel, brummte ein Mann, der es eilig hatte, Gemüseabfälle zum Hühnerstall zu bringen. Ein Landstreicher, dachten alle drei, einer, den man einsperren oder besser noch gleich enthaupten müsste. Schade, dass es das Schleifen, Rädern und Verbrennen nicht mehr gibt. So eine ordentliche Hinrichtung ist nämlich ein Spektakel. Wenn der Henker mit glühenden Zangen kommt und dem Delinquenten die Brustwarzen abzwickt …

Hosea aber schien von diesen Menschen, diesen blasierten Kleinbürgern, keine Notiz zu nehmen, ebenso wenig von den Kindern, die ihn trotz des Regens mit Kieselsteinen bewarfen, aber davonliefen, sobald er sich umdrehte. Er stand den ganzen Vormittag nur da, blickte ins Narrenkästchen und murmelte immer wieder »Viktor, Viktor. Musst durchhalten, die Schiffe sind schon unterwegs.« Die meisten, die sich trotz dieses Sauwetters auf die Straße wagten, hielten ihn für einen übergeschnappten Soldaten, den die Kriegswirren hierher gespült hatten, und der nun immer noch vom Sieg phantasierte. Wer hätte auch die Katastrophe ahnen können, der dieser bärtige Schlammmensch entronnen war, eine Katastrophe, die sich zwei Monate davor im Atlantik vor der Küste Westafrikas ereignet hatte, und von der die meisten noch nichts wussten – auch wir nicht.

Gegen Mittag läuteten Glocken.

– Sechs Glasen, acht Glasen. Hundswache, murmelte Hosea.

Wenig später kam ein Hochzeitszug. Ausgelassene Sänger und Musikanten mit Lauten, Dudelsäcken, Geigen und Schalmeien, denen der Regen nichts anzuhaben schien. Weiber küssten ihn spöttisch und stellten naserümpfend fest, dass er sich seit Wochen nicht gewaschen hatte – und daran war nicht nur der Urin des Bauern schuld. Sogar die Bettler und Invaliden, die ihn zum Hochzeitsmahl mitnehmen wollten, weil es auch eine Ausspeisung für die Ärmsten gab – Gerstenbrei, Kraut und fettes Fleisch –, ließen, da er keine Regung zeigte, wieder von ihm ab.

– Komm mit, Bursche, zischte ein zahnloses Weib, es gibt Bier, Branntwein und Birnen. Sie entblößte ihre Brust:

– Gute Liebe. Na komm, beweg deine Spazierhölzer. Er aber zeigte keine Regung, stand nur da, starrte ins Nichts und brüllte unverständliche Sätze, in denen die Wörter »Sandbank«, »Medusa«, »Floß« und »William Shakespeare« vorkamen.

Das Jahr 1816 war schrecklich. Der Sommer war nicht, wie es im Lied heißt, mit Zimt gekommen, sondern überhaupt nicht. Ein Jahr voller Hungersnöte und Katastrophen, ein Jahr, in dem chiliastische Sekten Konjunktur hatten, die das Weltenende verkündeten, die Wiederkehr des Erlösers und das Abschlachten aller Sünder. Man sprach von einer Strafe Gottes, den apokalyptischen Reitern und vom Ende aller Tage, weil die wahre Ursache nicht zu erkennen war. Ja, dieser Sauwetter-Sommer hatte einen Grund: In Indonesien war im April 1815 der Vulkan Tambora ausgebrochen (oder eher explodiert) und hatte umliegende Inseln mit einer meterhohen Ascheschicht bedeckt. Daraufhin war ein Tsunami über den Pazifik gefegt und hatte ganze Landstriche weggewaschen. In der Atmosphäre blieb eine gigantische Aschewolke zurück, die langsam über die Erde trieb und sich ein Jahr später über Europa legte. Darum ging 1816 in die Geschichte ein als das Jahr ohne Sommer. Regen von März bis November. Heute würde man so etwas dem globalen Klimawandel anrechnen und sich auf ein monatelanges Flugverbot einstellen, damals aber schob man es auf die Gottlosen, die Sünder, die den König stürzen wollten.

Dazu kamen die Folgen jahrelanger Kriege. Napoleon befand sich seit fast einem Jahr auf St. Helena, und die Regenten und ihre Diplomaten tanzten in Wien, aßen Tafelspitz mit Spinat, Erdäpfelschmarren und Linzer Schnitten. Die Städte Europas aber waren voller Invaliden, Bettler, Deserteure und Kriegstraumatisierter. Ehemalige Kürassiere und Karabiniers, die zerfetzte Fahnen von Wagram oder Austerlitz umhängen hatten, Infanteristen und Artilleristen, die immer nur murmelten, »Napoleon, das ist ein großer Mann! Er kommt zurück!«, Ulanen, Kosaken, Kroaten, Dalmatiner, Preußen, Elsässer, Österreicher: Sattler, Schuster, Feldköche, die stotterten oder wie Zweijährige grinsten. Manchen fehlte ein Bein, ein Arm, anderen eine Gesichtshälfte, einige zitterten, hatten Anfälle. Niedrige Aggressionshemmung, hohe Gewaltbereitschaft. Die, die ein Stadtrecht besaßen, wurden im Armenhaus untergebracht, alle anderen aber ausgewiesen. Wenn einer randalierte, wurde er in Eisen gelegt, an den Pranger gestellt, zur Galeere verurteilt und manchmal auch geköpft. So wäre es unter normalen Umständen auch Hosea Thomas ergangen. Arretiert oder der Stadt verwiesen. Man hätte ihn auch für einen Spion oder Deserteur halten, foltern und erschießen können.

Heute aber war nichts normal, befand sich Limoges doch im Ausnahmezustand, weil die Tochter eines reichen Kornhändlers den Bund fürs Leben einging und ein großes Hochzeitsfest ausrichtete. Selbstverständlich waren auch der Stadtrichter und alle anderen Honoratioren dabei, weshalb Hosea, der sich den Gendarmen nicht widersetzte, einem jungen Arzt namens Jacques Schulze vorgeführt wurde.

Regen trommelte aufs Fensterbrett, die nicht eingehängten Fensterläden wurden vom Wind bewegt und quietschten. Im Arztzimmer hingen Schautafeln über den Blutkreislauf, und in einem Eck stand ein Skelett. Schulze, ein Elsässer, war gerade dabei, den Schädel eines Mörders zu vermessen, als ihm der Bärtige gebracht wurde. Sobald Hosea den Arzt sah, setzten Krämpfe ein, begann er zu schreien und auf den Mediziner loszugehen. Die Gendarmen waren von diesem plötzlichen Gemütswandel derart überrascht, dass sie nur zusahen, wie der Hüne über den Arzt herfiel und ihn würgte. Schulze ließ den Totenschädel fallen, der sogleich zu Bruch ging. Die Polizisten erlebten, bevor sie sich besannen, einen kurzen Moment der Genugtuung, ein befriedigendes Gefühl, wie es sich immer einstellt, wenn jemand auf die Obrigkeit losgeht. Doch bis sie den Wütenden bändigen konnten, war der Kopf des Mediziners schon rötlich blau wie ein Neugeborenes. Sie stießen Hosea Thomas die Gewehrkolben in die Nieren und zerrten an seinen Händen, aber der Schlammmann hatte sich bereits in Schulze festgekrallt. Und hätte nicht der Arzt selbst ein Glas mit einem konservierten Hydrocephalus zu fassen gekriegt und dieses dem Rasenden gegen den Schädel gedonnert, er hätte bald keine Gelegenheit mehr gehabt, von Elsässer Flammküchli zu träumen und über den Zusammenhang zwischen Anatomie und Charakter nachzudenken. So aber konnten die Gendarmen, rotgesichtige Bauernburschen, ihm noch ein paarmal in den Bauch schlagen. Einer hob ihn sogar an, um ihm mit dem Knie gegen das Gesicht zu treten.

– Arschloch!

Der benommene Patient wurde gefesselt und mit kaltem Wasser übergossen. Aber erst als ihm der Arzt Kampfer unter die Nase hielt, kam er wieder zu sich, knurrte, sah sich bösartig um und fiel im nächsten Moment erneut in einen lethargischen Zustand. Seine Augen rollten, und aus dem Mund kam Blut.

– Sollen wir ihn in Eisen legen oder … ihn von hinten? Ein Gendarm formte seine Hand zu einer Pistole. Auf der Flucht erschossen.

– Nichts davon. Ausziehen und reinigen, krächzte Schulze mit einer Stimme irgendwo zwischen Falsett und Krähenschrei. Die Ordnungshüter murrten. Lieber wären sie zur Hochzeit gegangen, als diesen Landstreicher anzufassen.

– Der hat sicher Läuse, Milben, Krätze. Warum sich unnötige Arbeit machen, wenn er sowieso …

– Ruhe. Er hat nichts getan. Der Arzt griff sich an den Hals, spürte Würgemale, ein Kratzen in der Kehle und schüttelte den Kopf. Ja, der Stadtrichter würde ihn auspeitschen lassen oder Schlimmeres, aber er war Arzt.

Schulze war klar, der Fremde war ein Seemann. Er wusste, was das tätowierte Schwein auf dem einen und das Huhn auf dem anderen Schienbein bedeuteten – Schutz vor dem Ertrinken. Auch die Narben an den Waden und Oberschenkeln waren typisch für Matrosen, eine Berufskrankheit vom ständigen Auf- und Abentern. Außerdem fiel ihm eine verschorfte Stelle an der linken Schulter auf, die eine Krankenschwester zurückschrecken und etwas von Teufelskralle murmeln ließ. 1816 hatte sich die Aufklärung noch nicht durchgesetzt, glaubten viele an Hexen und Wetterzauber, an dunkle Mächte, Amulette und den bösen Blick. Unter den Galgen und Guillotinen grub man nach Alraunen, und den Haaren von Gehängten oder Geköpften schrieb man schützende Wirkung zu, ihre Penisse hielt man für ein probates Mittel gegen Unfruchtbarkeit.

Schulze aber war Humanist, vermutete das Organ der menschlichen Seele im Gehirn – nämlich (cartesianisch) in der Zirbeldrüse. Er war sich nicht sicher, ob es sich hier um einen Simulanten handelte, oder ob tatsächlich eine vollständige Gemütszerrüttung vorlag. Auf der Hinterbacke entdeckte er eine große, frisch verheilte Bisswunde, die zweifelsfrei von einem Menschen stammte. War er unter Kannibalen gewesen?

– Reden Sie, Mann. Wie heißen Sie? Wo kommen Sie her?

Aber Hosea saß nur da, stumm wie ein Rettich, und stierte ins Narrenkästchen. Manchmal murmelte er »Viktor, Viktor!«. Sonst war nichts aus ihm herauszubekommen. Man durchsuchte die Taschen seiner Hose und fand ein Messer ohne Spitze, drei verschrumpelte Kastanien, einen Tabakbeutel sowie ein Büchlein, in dem jemand mit ungelenker Schrift Fremdwörter gekritzel und durchgestrichen hatte: Intention, Admira, Phobie, heterogen, Thorax, somatisch …

Und Viktor? War das der vielbeschworene Sieg? Aber wenn so der Sieg aussah, konnte man darauf verzichten. Ein Leben ohne Verstand?

– Verlorene Liebesmüh, bemerkte ein Gendarm. Ist wie bei Nüssen: Die mit der dicksten Schale sind meistens hohl.

– Sie sind nicht gefragt. Schulze sah den Ordnungshüter böse an und entschied, den Verrückten ins Armenspital bringen zu lassen, weil er hoffte, ihn irgendwann für Experimente heranziehen zu können.

Im Spital wurde Hosea geschoren und rasiert, gebadet und in ein frisches Leinenhemd gesteckt. Die Insassen waren in einer großen Säulenhalle untergebracht und schliefen auf dem mit Stroh ausgelegten Boden. Wimmern und Wehklagen bildeten einen dicht gewobenen Geräuschteppich, außerdem stank es nach Eiter, Fäkalien und Kampfer. Die Schwestern des Karmeliterordens taten zwar alles, wozu sie fähig waren, fütterten die Patienten mit dünnen Suppen, wechselten ihre Verbände, reinigten sie und beteten, was das Zeug hielt, aber eine medizinische Versorgung konnten sie nicht leisten. Ärzte ließen sich nicht blicken. Die Armenhäusler waren es nicht wert, dass man hier jemanden zur Ader ließ oder schröpfte, sie waren es nicht wert, Medikamente zu bekommen – allenfalls zerstampfte Kreide.

Einzig der vom Forscherdrang beseelte, an der Phrenologie interessierte Schulze sah in ihnen Objekte seiner Wissenschaft. Als er sich Wochen später nach dem Bärtigen erkundigte, bekam er zu hören, sein Zustand sei unverändert. Noch immer zeigte er keine Reaktion, noch immer blickte er ins Leere, war außer »Viktor, Viktor« nichts aus ihm herauszubekommen. Nur einmal, als die Schwester Oberin zur Zerstreuung der Kranken aus der Zeitung vorgelesen hatte, war er schreiend aufgesprungen und wie toll herumgerannt. Es hieß, er hätte wie am Spieß gebrüllt und sei nur mit Mühe zu bändigen gewesen.

Schulze ging zu dem Patienten, der mit seiner Stoppelglatze und dem glattrasierten Gesicht aussah wie ein Sträfling. Der Arzt blickte ihm in Augen, Mund und Ohren, klopfte mit einem kleinen Hammer gegen seine Knie, keine Reaktion, und ließ sich Zeitungen bringen. Nun befahl er, den Viktor, wie er ihn nannte, festzubinden, was dieser widerstandslos geschehen ließ. Aber der Patient zeigte keine Reaktion, als ihm von einer Reise des Königs nach Metz vorgelesen wurde, der sich »im erwünschtesten Zustand seiner Gesundheit« befand. Keine Reaktion auch bei der Mitteilung, dass ein Grundbuchverwalter eine Sternwarte erbaut und die Sonnenzeittafel neu berechnet hatte. Der junge Arzt las weiter, doch der Geschorene schien unberührt, ließ den Schwall an Nachrichten völlig gleichgültig über sich ergehen. Selbst bei den Spielplänen der diversen Bühnen, die gerade Händels Oratorium »Joseph und seine Brüder«, Rousseaus »Pygmalion« und Shakespeares »Sturm« zum Besten gaben, rührte er sich nicht.

– Wahrscheinlich besteht zwischen dem Anfall und der Zeitung kein Zusammenhang, verkündete Schulze. Oder wissen Sie noch, was Sie damals vorgelesen haben.

– Und ob ich das weiß, machte die Schwester Oberin ein schnippisches Gesicht und brachte die entsprechende Zeitung. Sie hatte keine Mühe, in dem nur aus zwei Bögen bestehenden Blatt jene Stelle zu finden, die die Reaktion ausgelöst hatte. Ich denke …

– Was Sie denken, interessiert mich nicht, brummte der junge Arzt und begann zu lesen: »Das Journal des Débats vom 8. September teilt über die Rettung der fünfzehn Personen aus dem Schiffbruche der französischen Fregatte Medusa folgende schauderhafte Erzählung eines Augenzeugen (des Schiffschirurgen Savigny) mit, der mit vierzehn seiner Unglücksgefährten dem augenscheinlichen Tode gleichsam durch ein Wunder entronnen ist. Die Erzählung hebt von dem Augenblicke an, wo die Medusa gescheitert war und die Mannschaft auf die Rettungsboote und auf ein in Eile aus den Masten und Segelstangen zusammengefügtes Floß verteilt werden musste …«

Da haben wir sie also, unsere Geschichte! Aus Hosea kam ein Schrei, der das Armenspital fast zum Einsturz brachte. Seine Augen drehten sich ins Innere des Kopfes. Schulze fasste mit beiden Händen seinen kahlrasierten Schädel, sah den Mann an und sagte:

– Was hat das zu bedeuten? Erzähl mir, was du weißt.

Aber der Patient, dessen Augen weit aufgerissen waren, schwieg. Was in seinem Kopf vorging, konnte der Arzt nicht einmal erahnen.

– Ich denke, der viele Regen dieses Jahr ist ein Vorbote auf das Strafgericht Gottes, sagte die Schwester Oberin. Und an diesem Sünder hat er ein Exempel statuiert.

– Und ich sage Ihnen, was Sie denken, interessiert mich nicht. Schulze warf ihr einen bösen Blick zu.

– Pff! Die Schwester verdrehte die Augen. Eingebildeter Idiot. Dann brauchst du auch nicht zu wissen, dass man den da morgen vor den Stadtrichter führt. Wird ihn wahrscheinlich verurteilen. Landstreicherei, Spionage … Die Leute lieben es, wenn sie den Aufbau eines Podestes sehen, die Handwerker frühmorgens hämmern, um die Guillotine aufzubauen … Sie mögen es, fallenden Köpfen zuzusehen, aufzukreischen, wenn eine Blutfontäne aus dem Körper schießt.

Drei Stunden sprach Schulze auf den Fremden ein, doch dieser zeigte keine Reaktion. Erst als der Arzt entnervt hinausging und dabei pfiff, rührte sich in Hosea Thomas etwas.

– Nicht pfeifen, sagte er mit gehauchter Stimme. Pfeifen lockt schlechte Winde an. Das aber hörte Schulze nicht mehr. Auch nicht, was die Schwester Oberin ihm hinterherschickte. Doch bevor wir uns um Hoseas weiteres Schicksal kümmern können, machen wir erst einmal drei Schritte zurück, nach Rochefort zum Auslaufen der Medusa, womit wir endlich, von hinten kommend, ganz am Anfang der Geschichte stehen.

Keine Ratten

Die Charente brachte milchkaffebraunes Wasser nach Rochefort – nicht verwandt oder verschwägert mit dem für seine Blauschimmelkäsehöhlen bekannten Roquefort zwischen Pyrenäen und Zentralmassiv. In Rochefort an der Atlantikküste lebten damals zwanzigtausend Menschen. Die langgestreckte Hafenanlage war bestimmt von der Kaserne, den königlichen Seilereien und zwei Windmühlen, die kleine, mit Pflügen ausgestattete Boote durch die Docks zogen, um den Schlamm aus den Fahrrinnen zu entfernen. Außerdem gab es die herrschaftliche Residenz der Hafenkommandantur, den mit einer Platanenallee durchschnittenen Volksgarten, eine Werft mit Sägewerken, Gießereien, Werkstätten, ein von der Gattin des Hafenkommandanten angelegtes Labyrinth aus Buchsbaumsträuchern sowie das Gefängnis für die Bagnards, wie man Zuchthäusler damals nannte.

Rochefort-sur-Mer, eine am Reißbrett entworfene Kleinstadt, fünfzehn Kilometer vor der Atlantikmündung gelegen, hatte sich an das 1666 gegründete Arsenal gepflanzt. Während das rechte Ufer von der Hafenanlage dominiert war, von Docks und aufgebockten Schiffsrümpfen, ja, sogar einen kleinen Triumphbogen hatte man errichtet, war das linke Ufer unbefestigtes Ödland. Auf dem schmalen Treppelweg schleppten Zuchthäusler Schiffe, die es mit der Flut nicht bis in den Hafen geschafft hatten, stromaufwärts. Da es keine Galeeren mehr gab, wurden die je zwei und zwei zusammengeschmiedeten Bagnards zu den schwersten und gefährlichsten Arbeiten auf der Werft herangezogen.

Kreischende Möwen jagten nach Abfällen, und auf der Medusa, einem schlanken Schiff von siebenundvierzig Meter Länge, herrschte die nervöse Aufregung eines nahen Abschieds. Wir kennen diese aufgekratzte Stimmung von Flughäfen, nur dass man damals keine Sicherheitskontrollen passieren musste. Die einen waren erregt und überdreht, andere hatten Reiseangst, verkrochen sich in Gebeten. Von all den Menschen an Bord, letztlich sollten es vierhundert sein, wollen wir uns zuerst die Picards ansehen. Familie Picard, ein Name, dem man auf dem Friedhof von Rochefort oft begegnete und der sogar in einem der bunten Kirchenfenster prangte.

– Charlotte! Wo bleibst du? Das Schiff wird ohne dich fahren. Beeil dich! Charles Picard, Notar und Besitzer einer Baumwollpflanzung in Afrika, ein Mann mit langem, schmalem Gesicht, zwiebelschalenfarbener Haut und zu früh ergrautem Haar, trug einen weißen Leinenanzug samt Strohhut. In seinem zufriedenen Gesicht steckte eine glimmende Zigarre. Endlich ging es los. Afrika! Im Unterdeck waren sicher verstaut mehrere Ballen Leinwand und einige Mehl- und Weinfässer, deren ordnungsgemäße Verladung er selbst überwacht hatte. Außerdem trug er eine kleine Ledertasche, in der neben Manuskripten auch zwei kleine Goldbarren steckten, mit denen er die Seinen zwei, drei Jahre durchzubringen hoffte – zumindest so lange, bis seine Plantagen, die er vor sechzehn Jahren erworben, aber vor sieben Jahren verlassen hatte, wieder etwas abwarfen. Gut, seine junge Frau Adelaïde machte ein missmutiges Gesicht, aber der Senegal, war Picard überzeugt, würde ihr gefallen. Der zu erwartende Reichtum! Eine Villa, Kutsche, Hausangestellte! Wir werden Zucker auf den Honig streuen! Die Zukunft lag in der Baumwolle, nicht mehr in der Leinenweberei.

– Laura! Charles! Was ist mit euch? Die beiden kichernden Kinder neckten ein Huhn im Holzkäfig. Als sie die Stimme ihres Vaters hörten, warfen sie sich verschwörerische Blicke zu. Laura war sechs und der kleine Charles nur ein Jahr jünger. Das Mädchen lächelte unschuldig. Sie beherrschte alle Tricks, während Charles junior ein stiller, verträumter Junge war, der nur hin und wieder die Ergebnisse einfacher Additionen verkündete:

– Zwei plus drei ist fünf!

Und dann gab es noch Gustavus, den Säugling, der gerade »buste«, also gierig an Adelaïdes Brust nuckelte. Charles Picard wollte nicht auch seine zweite Frau in Frankreich zurücklassen. Weil, was kam dabei heraus? Der Tod. Tuberkulose stand im Totenschein seiner ersten Frau, aber Charles war sich sicher, sie war nicht an der Lungenschwindsucht gestorben, nicht daran, dass ihre Töchter zu oft »gebust« hatten, sondern an Kummer und Einsamkeit. Charlotte und Caroline, die eine achtzehn, die andere siebzehn, waren seiner ersten Frau, ihrer Mutter, wie aus dem Gesicht geschnitten. Picard bemerkte die Blicke der Matrosen und Soldaten, die in seine aufblühenden Töchter krochen wie Wespen in Blütenkelche – auch sie wollten »busen«, aber mit m. Der Notar hatte immer gewusst, dieser Moment würde einmal kommen, nur dass er so bald da sein würde, überraschte ihn. Er lächelte ohne Ironie, verspürte keine Genugtuung. Im Gegenteil, es war ein bitteres Lächeln, dieses Aufblühen seiner Töchter machte ihm Angst, mehr Angst als die bevorstehende Reise. Aber die jungen, vor animalischer Vitalität strotzenden Männer brauchten sich nichts einzubilden, seine Töchter waren keine schnelle Beute. Außerdem war da noch, und damit wären die Picards komplett, Alphonse Fleury, der verwaiste fünfjährige Neffe des Notars, ein Kind, das seine Eltern nie gesehen hatte. Still und kränkelnd, das Gesicht immer mit Nasenschleim und Essensresten verschmiert – und dabei ungemein intelligent. Während Charles junior, sechs plus zwei ist acht, noch keinen geraden Satz herausbrachte, und auch Laura Sachen sagte wie »Wir haben dader ein Loch gegrieben«, kamen aus Alphonse Sätze wie: »Wenn wir sterben, sind wir dann wieder dort, wo wir schon vor der Geburt gewesen sind? Warum leben wir dann überhaupt? Und wenn meine Eltern so großartig sind, dass sie der liebe Gott bei sich haben muss, dann ist das ziemlich selbstsüchtig von dem …« Seine Mutter war im Kindbett gestorben, und der Vater, Picards Bruder, hatte unter Napoleon gedient, war aus Russland nicht zurückgekommen. Alphonsens blaue, von Hängelidern gedeckelte Augen wirkten melancholisch, und jeder, der ihn sah, spürte unweigerlich den Drang, ihm den Kopf zu streicheln. Armer Waise.

– Charlotte! Wo bleibst du? Das Schiff legt ab.

Endlich kam das rothaarige Mädchen über den Holzsteg gelaufen. Sie hatte Mohnblumen gepflückt – im Garten der Hafenkommandantur. Da lachte Picard. Wer weiß, wie lange es dauert, bis sie wieder Mohnblumen pflücken können wird.

– Hier, riech, hielt sie ihm die hellroten, an Krepppapier erinnernden Blütenblätter vor die Nase. Und die Kerne? Sahen aus wie kleine Seeigel. Die grünen Blätter waren fein gezackt und stachelig. Außerdem tropfte aus den Stängeln eine butterfarbige Milch. Ob die gut für die Haut ist?

– Riecht nach Mohn!

– Was machst du, Charles Picard? Rauchen! Kümmere dich lieber um eine Kajüte! Wo sollen wir schlafen? Etwa hier? Auf dem Schiffsboden? Inmitten all dieser … ungewaschenen Gesellen? Das ist unhygienisch … schon wegen der Kinder! Adelaïde rümpfte die Nase. Hier geht es zu wie bei der Eröffnung eines Gratispuffs. Ich verlange, dass uns eine Kabine zugewiesen wird. Man kann doch nicht erwarten, dass ich und Gustavus …

– Beruhige dich, brummte Picard. Man wird sich schon kümmern.

– Wie soll ich mich beruhigen, wenn wir kein Bett haben? Adelaïde war unleidlich. Ständig fand sie einen Grund zu nörgeln. Sie hatte noch immer diese großen wässrigen Augen, die er liebte, eine milchweiße Haut und den schön geformten Mund, der neuerdings von bitteren Zügen umrahmt wurde. Doch alles wurde von ihrem ständigen Gezeter überdeckt: »Wo ist die Haube für Gustavus? Ich habe dir gesagt, du sollst sie mitnehmen! Hast du sie vergessen? Willst du, dass der Kleine einen Sonnenstich bekommt? An sowas kann man sterben! Nein, ich übertreibe nicht! Und wenn ihm schlecht wird … Wirst du ihn saubermachen, wenn er sich übergibt?«

Picard, ein eleganter, schlanker Mann mit feinen Zügen, zuckte mit den Achseln. Sollte die Regierung, so nannte er seine Frau, vor ihm sterben, würde sie ihn noch aus dem Grab heraus herumkommandieren: »Hast du die Türe zugemacht? Schließ das Fenster, oder sollen wir ein steifes Genick bekommen? Wie kannst du den Kindern Melasse geben? Damit ihnen mit zehn die Zähne ausfallen? Sollen sie einmal so ein schlechtes Gebiss haben wie du …« Ihre Gehässigkeit war wie ein Kettenhund, der bis zum Anschlag zog und ihn ständig ankläffte. Picard verbarg seine Enttäuschung darüber, keine Kabine bekommen zu haben. Adelaïde hatte recht, hier inmitten all dieser groben Burschen war kein Platz für eine achtköpfige Familie – schon gar nicht für vier Kleinkinder. Die Matrosen waren raue Burschen, und erst die Soldaten? Ein Kolonialregiment – rekrutiert aus Sträflingen und Gestrandeten. Bestimmt hatten nicht wenige das Brandzeichen der Galeerensträflinge auf dem Rücken, die Lilie samt den Buchstaben GAL. Picard sah einen großen fetten Asiaten, der sich Tscha-Tscha nannte und seine Haare wie ein Büschel Schilfgras auf dem Kopf trug, einen kleinen Genuesen mit Glupschaugen namens Pampanini, der dauernd fluchte, Schwarze, einen Juden namens Kimmelblatt, eine dunkelhäutige Marketenderin und einen Pockennarbigen, der ihn mit »Kmm!« zu sich lockte, dann sein Hemd aufknöpfte und ihm lachend eine auf den Bauch tätowierte Dame präsentierte, keine hingepfuschte Arbeit eines Amateurs, sondern das Werk eines Künstlers aus Guadeloupe oder Martinique – eine Dame, die dem Betrachter ihr Hinterteil entgegenreckte, mächtige Arschbacken mit dem Bauchnabel in der Mitte. Der Pockennarbige blies sein Abdomen auf, bis der Nabel sich herausstülpte.

– Hat Hämorrhoiden, brüllte ein anderer Matrose. Hahaha.

Grobe Menschen. Derbe Witze. Picard schüttelte den Kopf. Inmitten dieser kraftstrotzenden Muskelmassen kam er sich vor wie ein Waschlappen. Egal. Wahrscheinlich würde man ihnen, war er überzeugt, über kurz oder lang die Kadettenmesse anbieten. Französische Offiziere waren Gentlemen, die nicht dulden würden, dass eine achtköpfige Familie am Kanonendeck schlief. Dabei waren sie selbst schuld. Sie hätten sich früher einschiffen müssen, nun war es zu spät. Aber Adelaïde hatte darauf bestanden, bis zum Tag der Abfahrt in der kleinen Herberge zu bleiben, das Schiff nicht zu betreten, bevor es losging. Die Picards waren der Brigg Argus zugewiesen gewesen, wir erinnern uns an Kapitän Parnajon, aber Adelaïde, dieses störrische Wesen, wollte die Reise nur mit dem größten Schiff der Flotte, der Medusa, unternehmen. Das war sicherer. Warum sonst fuhr der künftige Gouverneur von Saint-Louis auf diesem Schiff? Der reist doch auch mit Frau und Tochter! Wird schon wissen, warum.

– Wir haben es nicht notwendig, auf dieser Nussschale zu fahren! Die Argus kommt für uns nicht in Frage, hatte sie gedonnert. Wenn du uns nicht einen Platz auf der Medusa besorgst, fahren wir nicht mit. Adelaïde war sechsundzwanzig Jahre alt, kaum älter als Charlotte und Caroline, aber während seine Töchter verträumte elfengleiche Wesen waren, hatte Picards Frau etwas Herrisches, Unnachgiebiges, etwas, das den Notar manchmal zweifeln ließ, ob es richtig war, sie, die Regierung, in den Senegal mitzunehmen. Sie war hübsch, und er liebte sie noch immer, aber wenn sie ihr hysterisches Gesicht aufsetzte, glich ihre Nase einem Tomahawk und ihr Mund einer Pechschleuder: »Charlie, tu dies, Charlie, tu das!« Sie verstand es, die letzte Silbe in »Charlie!« zu einem derart schrillen Laut zu formen, dass es in den Ohren schmerzte. Außerdem hasste er diesen Kosenamen. Er war ein Charles, kein Charlie, den er mit dem schmächtigen schüchternen Jungen verband, der er vielleicht einmal gewesen war.

Also war er, Charles, dem Kommandanten der Flotte, einem eitlen Menschen namens Hugues Duroy de Chaumareys, so lange in den Ohren gelegen, bis man ihnen diesen Schiffswechsel genehmigte. Jeden Tag war er in der Kapitänskajüte gewesen und hatte ihn bedrängt, aber erst gestern, nach der Sonntagsmesse, war es ihm gelungen, das Plazet zu erwirken. Während der Predigt waren Picard die Gedenktafeln für ertrunkene Seeleute aufgefallen, die in der kleinen, dem heiligen Louis gewidmeten Steinkirche von Rochefort hingen. Er hatte sie schon oft gesehen, jedoch nie beachtet. Auch die Devotionalien, Schiffsmodelle und Spendenkörbe für Seemannswitwen sah er plötzlich mit anderen Augen. Bilder von Schiffskatastrophen, den Altar des heiligen Nikolaus und, nach der Messe, den kleinen Friedhof, wo auf jedem dritten Grabstein stand: Ist auf See geblieben. Das Meer hat ihn behalten … Da hatte Picard seiner Regierung recht gegeben, vielleicht war es wirklich sicherer, die Reise auf der größeren und schnelleren Medusa zu machen. Es war zwar absurd, denn sie segelten zu einer ungefährlichen Zeit eine harmlose Strecke. Die schweren Stürme kamen erst im August, und weder Kap Hoorn, der Ärmelkanal noch die arktischen Meere lagen vor ihnen, nicht einmal die nördliche Biskaya, die manchmal einem brodelnden Hexenkessel glich. Es war nur eine ruhige Strecke entlang der Küste Richtung Afrika. Aber die See war weiblich, unberechenbar, konnte wie seine Frau von einem Moment auf den nächsten die Stimmung wechseln, aus der friedlichsten Ruhe ins Toben kommen, Charliiie brüllen.

– Kabine kann ich Ihnen keine geben, mein lieber Freund, hatte der Kapitän, ein kleiner Mann mit großer Nase, weiß gepudertem Gesicht und dick aufgetragenem Rouge gesagt. Er trug seidene Kniehosen, einen blauen Frackrock mit ausgestopften Schulterpolstern, Schnallenschuhe mit roten Absätzen, und der gestärkte Hemdkragen reichte ihm bis zu den Ohren. Außerdem quoll aus seiner Brust eine riesige, kunstvoll gebundene Halsschleife. Ein affektierter Geck!

– Ihre Jacke ist völlig inakzeptabel, blickte er Picard herablassend an. Wenn Sie das nächste Mal in Paris sind, gehen Sie zu Staub oder wenigstens zu Hörl am Boulevard Montmartre. Davon abgesehen werden Sie samt Ihrer Familie mit dem Zwischendeck vorliebnehmen müssen, dort, wo die Mannschaft schläft. In Hängematten. Nicht einmal, wenn ich wollte, könnte ich Ihnen etwas anderes offerieren. Die Kabinen im Heck sind vergeben. Es sei denn, mein guter Richeford hier wünscht zu tauschen.

Der angesprochene Antoine Richeford lächelte. Ein riesenhafter Mensch mit Glatze, großem Mund und einem breiten, unrasierten Kinn. An seinen Lippen klebten Spuren von Rotwein, seine Stummelzähne waren braun. Ein Kerl mit der Konstitution eines Fleischhauers, vielleicht gar nicht unsympathisch, aber er erweckte den Anschein, als würde er sich über Picard lustig machen. Der Kapitän selbst, Hugues Duroy de Chaumareys, war dagegen mickrig. Schon sein Name war verunglückt. Ein Albtraum. Kein Jean Marais, sondern ein Chaumareys. Den müsste man ablegen, wenn man in die Marine eintrat. Und dann noch ein dümmliches Gesicht, hervorquellende Augen. Und diese Nase, ein Pfrnak! Selbst mit seinem Kapitänshut reichte er nur bis an das Kinn dieses Antoine Richeford. Dazu dick gepudert, Lidstriche, Lippenstift, Rouge. Und dem sollte man sich anvertrauen? Bestimmt hat der Knilch Erfahrung, hat alle Weltmeere bereist. Aber Respektspersonen sehen anders aus. Auch ein Charlie auf seine Art.

Der Knilch, äh, Kapitän, sah in seinem wattierten dunkelblauen Frack – unter der gigantischen Halsschleife versteckten sich zwei protzige Orden – wie verkleidet aus. Ein Faschingsgeneral! Selbst seine bemüht gewählte Sprache hatte ein Parfüm, roch nach Daunenbett mit seidenen Überzügen, nach mit Rosenwasser gefüllten Flakons. Ständig streute er lateinische Zitate ein, und Wörter wie superb oder Verdammung (manchmal auch damnatio), aber Erfahrung? Weltmeere bereist? Er hatte noch nie ein Schiff befehligt, geschweige denn eine ganze Flotte, kannte gerade einmal die nautischen Grundbegriffe, wie man mit einem Sextanten die Sonne schoss und daraus den Breitengrad errechnete, aber schon bei den einfachsten Segelmanövern geriet er ins Schwimmen, die Berechnung der geografischen Länge durch die Monddistanz hatte er nie verstanden – und etwas von dieser Unerfahrenheit war auch seinem teigigen, zweiundfünfzigjährigen Gesicht anzusehen, in dem die große Nase wie eine überdimensionale Zitrone prangte – als trüge er eine Sonnenuhr mitten im Gesicht. Zuletzt war er Zolloffizier in Bellac gewesen, einem kleinen Ort im Limousin, fünfundvierzig Kilometer nördlich von Limoges, wo wir drei Monate später Hosea Thomas wiederfinden werden. Aber was hatte ein Hugues Duroy de Chaumareys in diesem Kaff anderes zu tun gehabt, als Schwarzbrenner zu verfolgen? Schnapsbrenner, Revolutionäre, Anarchisten, Bonapartisten, das war für ihn, den Königstreuen, alles eins: Gesindel! In Bellac gab es so etwas nicht (abgesehen von den Schnapsbrennern). Es war ein gemütliches, kleinstädtisches Leben gewesen – inmitten von hinterwäldlerischen Banausen, Rüpeln, die sich in ihre Taschentücher schnäuzten, anstatt sie zu parfümieren, deren einziger Stolz ihre Messer waren und die sich stundenlang darüber unterhalten konnten, wie sie den Dorn dieser Messer einem Schaf, das zu viel frisches Gras gefressen und daher einen aufgetriebenen Magen hatte, in den Bauch rammten, um die Luft herauszulassen. Man stöpselt das Loch mit einem kleinen Zweiglein zu. Einmal hat einer eine Flöte hineingesteckt und so den Dudelsack erfunden.

Aber ein Hugues Duroy de Chaumareys? Hätte nicht etwas in ihm beharrlich nach Macht und Anerkennung geschrien, er würde immer noch in Bellac sitzen, sich über Wildbret, Wein und Käse freuen, den Erzählungen von den geblähten Schafen lauschen … Dann hätte sich diese Geschichte nie ereignet, hätten die Picards es nie bereut, auf den Schiffswechsel gedrängt zu haben, hätte Kapitän Parnajon nie ein Floß gesichtet, Géricault kein Bild gemalt, Azimi keinen Film gedreht, und auch Hosea Thomas wäre in keinem Armenspital gelandet. Aber nein, er, Hugo, wie man ihn als Kind genannt hatte, musste Briefe an das Ministerium schreiben, unermüdlich auf sich aufmerksam machen, auf seine Verdienste um die Monarchie, seine Treue zu den Bourbonen, weil etwas in ihm sagte, du bist zu kurz gekommen im Leben, du hast mehr verdient, dein Onkel war Generalleutnant der Marine. Ein Hugues Duroy de Chaumareys ist zu Höherem berufen als zum Zolloffizier in Bellac! Denk an deinen Onkel Louis Guillouet. Also hatte er Brief um Brief an das Ministerium geschickt, an die Admiralität, an Menschen, von denen er wusste, dass sie mit dem Minister namens Verstopfung Umgang pflegten, sogar an seine Mätressen – so lange, bis es dem zu dumm geworden war.

Und jetzt war dieser intrigante Knilch mit dem teigigen, viel zu dick geschminken Gesicht doch tatsächlich Befehlshaber einer Flotte, er, der seit Jahrzehnten nicht zur See gefahren war und ganz genau wusste, dass man ihn nur eingesetzt hatte, weil er immer königstreu gewesen war, einer, der sich vom englischen Exil aus an der Konterrevolution beteiligt hatte, zumindest mit Briefen. Tatsächlich hatte er eher die Schneider in der Bond Street unterstützt, sich bei Paynter in der Fleet Street Parkalinhandschuhe machen lassen, Hüte in der St. James Street, sich zwischen Pall Mall, Piccadilly, Rotten Row und Vauxhall herumgetrieben, die Pferderennbahn besucht oder im Tipperary unweit der Temple Bar Whist gespielt. Einer, der sich stets geweigert hatte, die abscheulichen Torheiten der Demokratie zu dulden, die in seinen Augen ein verheerender Irrtum war. Und nicht zuletzt auch deshalb, weil er der Neffe seines Onkels war. Louis Guillouet!

Jetzt war Hugo, ein feiger und zögerlicher, aber eitler Mensch, der nichts Großes an sich hatte (außer der Nase), Flottenkommandant. Und das mit weiß gepudertem Gesicht, Lippenstift, Rouge und Wimperntusche! Die Admiralität hatte ihn eindringlich vor den Sandbänken an der Westküste Afrikas gewarnt, sie hatte ihn auf die auflandigen Winde hingewiesen, ihm die Namen der Schiffe genannt, die dort in den letzten Jahren gekentert waren. 1784 war die Les Deux Amies bei Cap Blanc auf Grund gelaufen, der Kapitän hatte sich aus Angst vor Kannibalen in den Mund geschossen. 1788 die Herkules bei Kap Boujdour, 1791 ein portugiesischer Frachter, 1792 die Elvira, zwei Jahre später eine amerikanische Brigg namens Liberty. 1795 die Korvette Libussa, ein Jahr danach die Gudrun. Fünfzig Schiffbrüche in dreißig Jahren! Seit er das wusste, war Hugo ängstlich, träumte schlecht und hatte das Gefühl, mit diesem Kommando heillos überfordert zu sein. Schon aufmüpfige Passagiere wie diese Picards, kinderreiche Brut!, die mit ihrer ständigen Nörgelei seine Autorität untergruben, waren ihm ein Gräuel. Und er war weich geworden, hatte diesen Schiffswechsel genehmigt. Jetzt wusste jeder, er war schwach und biegsam.