Groschens Grab - Franzobel - E-Book

Groschens Grab E-Book

Franzobel

4,7

Beschreibung

In Wien-Ottakring wird eine entstellte Leiche gefunden: Ernestine Papouschek, 82, pensionierte Buchhändlerin und Bestsellerautorin von „Die Rübenkönigin“. Darin berichtet sie offen von ihren Erlebnissen mit Liebhabern, die sich auf die Annonce „Rüstige Pensionistin sucht Partner für Matratzensport“ gemeldet hatten. Ihr Tod führt Kommissar Groschen ins Verlagsmilieu, hinter Klostermauern, nach Sarajevo und unter ehemalige Kommunarden. Rasch gibt es eine Reihe Verdächtiger: den hünenhaften Nachbarn mit Lederjacke, den windigen Verleger und den Ex-Häftling Tode Todic. In diesem spannenden Österreich-Krimi tun sich Abgründe auf, die Einblick in den Sumpf der Wiener Gesellschaft gewähren.

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Zsolnay E-Book

FRANZOBEL

GROSCHENS GRAB

Kriminalroman

Paul Zsolnay Verlag

ISBN 978-3-552-05747-0

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Motive: © istock by Getty Images/asjaKoman, © Shutterstock/ostill, © Fotolia/Nik Merkulov

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Maxi und Mucki

Krimis sind Bücher über Menschen, die gestorben sind.

Inspektor Columbo

DER MARKT DER BÖSEN DINGE

– Eines sage ich Ihnen gleich, schrie die Frau ins Telefon, mit der Polizei will ich nichts zu tun haben. Nichts! Nur damit das klar ist. Sie müssen dieses Gespräch auch nicht zurückverfolgen, weil ich stehe in einer öffentlichen Telefonzelle … Ja, so etwas gibt es noch!

– Woher haben Sie meine Nummer? Warum rufen Sie nicht im Kommissariat an? Groschen sah auf die Uhr, es war sieben Uhr morgens. Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang heiser und überdreht, so, als ob die Frau nachts nichts geschlafen und sich Mut für diesen Anruf angetrunken hätte.

– Um als Aktennotiz zu landen? Glauben Sie, ich weiß nicht, wie es bei Ihnen zugeht? Die kleinen Beamten würden das als lächerlich abtun. Aber Sie als Kommissar, Sie werden sich darum kümmern. Sie nehmen das ernst.

– Worum geht es denn?

– Entführung! Menschenraub! Am helllichten Tag, gestern um halb fünf in der Klagbaumgasse, sagte die verrauchte, leicht hysterisch klingende Stimme. Ich bin im Rubenspark gesessen … Kennen Sie? Vierter Bezirk, Wirtschaftskammer, Mittersteig, Caritas …

– Ist mir bekannt.

– Da sehe ich eine alte Dame, ich denke mir noch, die ist aber elegant, eine richtige Lady. Plötzlich kommt ein Auto, bremst, bleibt stehen, einer springt heraus und zerrt sie in den Wagen. Sie will schreien, aber der hält ihr den Mund zu. Sie will sich wehren, aber der ist stärker. Während ich noch überlege, um Hilfe schreien will, rauscht das Auto schon davon. Und das in Wien, wo es immer heißt, hier passiert nichts, Wien ist sicher. Pha! Da sieht man ja, wie sicher Wien ist. Sie werden mich jetzt für verrückt halten, aber ich habe die Gewalt gespürt, die Verzweiflung. Das war Kidnapping! Die Stimme machte eine Pause, so als ob ihr zu Bewusstsein gekommen wäre, dass dieses Wort hier nicht recht passte. Sie wartete auf eine Reaktion, aber als nichts kam, ergänzte sie: Das wollte ich Ihnen sagen. Man ist ja Staatsbürger. Man hat ja Pflichten. Verantwortung.

– Um die Autonummer muss ich Sie nicht fragen, antwortete Groschen. Aber was für ein Wagen war es?

– Was? Woher soll ich das wissen, krächzte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war dämmrig … Da wird ein Mensch entführt und Sie fragen nach dem Auto … ein sportliches Modell, aber kein Sportwagen, auch kein Cabrio, mehr so ein Angeberschlitten, aber älter … wie aus einem Walter-Matthau-Film.

– Tja, brummte Groschen, da gibt es viele. Solange wir keine Vermisstenanzeige haben …

– Sie nehmen mich nicht ernst?

– Keineswegs. Ich danke Ihnen sehr und verspreche, mich darum zu kümmern. Der Kommissar drückte den Verbindungsknopf. Er bekam ständig Hinweise von Menschen, die irgendwo irgendwie irgendwas gesehen hatten.

– Mit wem telefonierst du denn in aller Herrgottsfrüh, fragte seine Frau, nahm das Kaffeehäferl, das Groschen aus Gewohnheit an die Tischkante gestellt hatte, rückte es in die Mitte.

– Eine Wichtigtuerin, murmelte der Kommissar.

Groschen war missmutig. Er hatte eine Allergie auf sich selbst. Diesmal war es kein Nesselausschlag, der rote Quaddeln bildete und ihm mit starkem Jucken das Leben unerträglich machte, diesmal war es der Geruch. Seit Tagen bekam der Kommissar den seltsamen Geschmack nicht aus der Nase. Ein Geruch, der nach nichts Bestimmtem schmeckte und doch lästig war. Wenn er ihn seiner Frau beschrieb, sprach er von einem metallischen Kitzeln, als ob man mit der Zunge über polierten Stahl schleckte. Eine Mischung aus Autowerkstatt, Verwesung und abgestandener Luft.

– Das hast du jetzt davon, sagte seine Frau mit leichter Genugtuung. Du trinkst zu viel, schläfst zu wenig und ernährst dich falsch. Jetzt erlebst du einen Altersschub. Dir wachsen Haare auf der Nase, und die Sinne schwinden.

– Möglich, runzelte Groschen die Stirn. Möglich. Dabei wusste er genau, dieser Geruch war er selbst. Er konnte sich nicht riechen. Oder war es eine Ahnung seines nahen Endes? Kommissar Falt Groschen, ein großer und robuster Mensch, hatte Ängste, und er fürchtete den Tod, der ihn unvermittelt aus dem Leben reißen könnte. Er fürchtete ihn so sehr, dass diese Angst ihn lähmte. Nichts freute ihn mehr. Erst unlängst hatte der Fünfundvierzigjährige einige graue Haare auf dem Kopf entdeckt. Die kleinen Fältchen um die Augen traten deutlich hervor, sein Bauch nahm Formen an, und jedes Mal, wenn er in den Spiegel blickte, sah er die Züge seines Vaters. Groschen wusste, ein paar Jahre noch, und er war ein alter Mann. Unzufrieden, mürrisch und gequält wälzte er die schwärzesten Gedanken.

Selbst den Bettler, der sich neuerdings beharrlich auf seinem Weg zum Kommissariat postiert hatte, ignorierte er an diesem Morgen. Es war seine Frau gewesen, die diesem Mann vor Monaten ein paar Münzen gegeben hatte. Seither grüßte er den Kommissar jedes Mal frenetisch und strahlte ihn an wie ein Kind vor einem Spielwarengeschäft die Dinge in der Auslage. Manchmal warf ihm Groschen etwas Kleingeld in den Becher. Wenn er seinen Klingeltag hatte, auch mehr. Sogar wenn er ihn wie heute völlig ignorierte, lächelte der Bettler, entblößte seine goldenen und schwarzen Zähne und murmelte Segenswünsche:

– Alles Gute, auch für Frau, Gesundheit.

Eine Unruhe hatte den Kommissar erfasst, die er nicht zu deuten wusste. Alles schien zu seiner Beklemmung beizutragen, das nasse Herbstwetter, die Baustellen, der Donaukanal mit seinen Graffiti, die die Stadt zu einem Schulheft machten, sogar die Anrufe der Wichtigtuer – nur die Drohbriefe, die er seit Wochen bekam, spielten keine Rolle. Er hielt sie für harmlos, obwohl ihm darin ein langsamer, quälender Tod versprochen wurde. Darin war von Enthauptung die Rede, von einem Herausziehen der Zähne und Gedärme, von Kastration, Häutung und allerlei anderen unappetitlichen Behandlungen, die ihm der Briefschreiber ankündigte. Groschen tat diese Elaborate als Streiche ab, ja, er hielt es nicht einmal für notwendig, sie zum Erkennungsdienst zu bringen.

– Bitte! Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Der Kommissar zuckte zusammen. Er sah das schwarzgoldene Gebiss des Bettlers, ein zerfurchtes Gesicht mit gutmütigen braunen Augen. Und er fuchtelte mit irgendetwas, hielt es dem Kommissar entgegen. Ein abgegriffenes Briefkuvert.

– Das ich gefunden. Sie Polizei. Muss haben. Schauen.

Der Kommissar öffnete den Umschlag, nahm einen Reisepass und einen Führerschein heraus, ausgestellt auf eine alte Dame, deren Name ihm nichts sagte.

– Ist vielleicht passiert etwas, muss prüfen, sagte der Bettler.

– Ist gut. Groschen steckte den Umschlag ein. Ich trage ihn zum Fundbüro.

Im Kommissariat in der Vorlaufstraße war nichts los, das den übellaunigen Kommissar auf andere Gedanken hätte bringen können. Nur die tägliche Polizei-Routine. Eifersuchtsmorde, erschossene Einbrecher, Drogentote. Kupferdiebe waren unterwegs, die Kabelrollen von Baustellen entwendeten. In Simmering war ein deutsches Ehepaar samt seinem achtjährigen Sohn erschossen worden – ein Fall, bei dem die Polizei nicht weiterkam. Was wollten Touristen aus Detmold ausgerechnet in der Ignaz-Weigl-Gasse, einer Gegend, die so völlig abseits vom Schuss lag, dass sich dort nicht einmal ein Wiener hin verirrte?

Auf Groschens Schreibtisch türmten sich forensische Gutachten, Anfragen von Gefängnisdirektoren, Aufrufe der Polizeigewerkschaft. Einladungen zu Benefizveranstaltungen. Nichts Interessantes. Nichts, das ihn von seinem Geruch in der Nase ablenken konnte. Er war gereizt wie damals, als ihn der Nesselausschlag überfiel und seine Haut in die eines Krokodils verwandelte, was sich anfühlte, als ob er in Brennnesseln gebadet hätte.

Draußen verloren die verkrüppelten Bäume ihre letzten braunen Blätter, warme Föhnwinde wechselten sich mit Regenwolken ab, und der Himmel war verwaschen schmutzig, grau wie ein alter Blechnapf. Vorzeichen? Wofür? Groschen wusste, wenn er nicht aufpasste, bekam er eine veritable Herbstdepression. Die Aussicht auf fünf nasse, kalte und dunkle Monate bedrückte ihn fast noch mehr als die Angst vor einer jähen, unheilbaren Krankheit. Er hätte Lust gehabt, auf die Malediven oder in die Karibik zu fliegen, dafür aber fehlte ihm das Geld. Wegfahren wollte er, dieses durch und durch graue Wien mit seinen grauen Häusern, seinem grauen Himmel und seinen grauen Menschen hinter sich lassen, aber dafür fehlte ihm die Zeit, die Kraft, der Mut. Was, wenn sich die Schmerzen, die ihn einmal im Bauch und einmal im Kopf stachen, die einmal seine Nieren, einmal seine Hoden und dann wieder die Bauchspeicheldrüse betrafen, ihm Tumore und Metastasen versprachen, mehr waren als Einbildung? Dann wäre ihm weder in der Karibik noch auf den Malediven zu helfen. Lieber schleppte er sich durch den langen Tunnel einer dunklen, nassen Jahreszeit, der erst im nächsten Frühjahr enden würde. Lieber riskierte er, dass sich hinter den Drohbriefen doch echte Gefahr verbarg.

In den Gängen des Kommissariats unterhielten sich Inspektoren lautstark über die Fußballspiele des Wochenendes, stritten über Abseitstore, rote Karten und Elfmeter. Bürodiener karrten Akten durch die Gänge, und auf den Bänken wetzten unruhige Zeugen, die auf ihre Einvernahme warteten, Hosenböden wund.

– Wie geht’s, Chef? Gordon Zwilling lächelte. Der kleine impulsive Inspektor mit den aschgrauen Haaren war guter Laune, strotzte vor Gesundheit und verschlang gerade eine Wurstsemmel. Was wusste der von Groschens Sorgen? Wahrscheinlich hatte er das Wochenende im Fitnessstudio verbracht und fühlte sich nun stark genug, um Wände einzureißen.

– Schlecht, sagte der Kommissar. Mir ist es noch nie so schlecht gegangen.

– Noch immer der Geruch?

– Mhm, nickte Groschen. Dabei wusste er genau, der Geruch war nur zum Teil an seiner Laune schuld. Genauso waren es die Ängste und das Wetter, die Sonne, die seit Tagen nicht zu sehen war, sein Chinese, der wegen Renovierungsarbeiten geschlossen hatte, ihm für eine ganze Woche sein Menü Nummer zehn vorenthielt. Am meisten aber ärgerte ihn die bevorstehende Ordensverleihung. Nicht ihm, Groschen, wurde, wie man in Wien sagt, eine Pletschn umgehängt, sondern dem Staatsanwalt Döblinger. Für Verdienste um die Sicherheit und den Kampf gegen das Verbrechen sollte der morgen das Silberne Ehrenzeichen der Stadt Wien verliehen bekommen. Wofür? Was tat so ein Schreibtischhengst von Staatsanwalt? Fälle studieren und entscheiden, wo recherchiert wurde und wo nicht. Hausdurchsuchungsbefehle, Personenfahndungen und Zeugenschutzprogramme absegnen.

Answer Döblinger, Justizbeamter, dieser feiste Mensch mit den weichen Gesichtszügen, hatte die besten Gymnasien besucht, beeindruckte mit klassischer Bildung, würzte seine Sätze mit altgriechischen Zitaten und sagte Stehsätze wie »die normative Kraft des Faktischen«. Ein Mensch, der keinen Augenblick an sich zweifelte. Er verachtete alles Plebejische, auch in Groschen erkannte er einen ungehobelten Proletarier. Für den Kommissar dagegen war dieser Staatsanwalt eine angefettete Speerspitze des Biedersinns, einer aus der besseren Gesellschaft – schon Döblingers Vater und Großvater waren Richter gewesen –, einer, der ständig in der Zeitung nach seinem Namen suchte, einer, der sich bei gesellschaftlichen Ereignissen in den Mittelpunkt drängte, einer der oberen Zehntausend, das genaue Gegenteil von Groschen. Der Kommissar verabscheute diesen untrainierten Menschen mit seinen ruckartigen Bewegungen, er hasste seine Art zu sprechen, die, obwohl er dabei den Mund weit aufriss, immer ein wenig nach unterdrücktem Aufstoßen klang. Zudem verlieh ihm die wulstige, wie aufgeblasen wirkende Unterlippe das Aussehen eines schmollenden Kindes. Außerdem hatte dieser frühreife, viel zu bald gealterte Großbürger X-Beine, die sein Gehen zum Watscheln einer Ente machten. Gut, Döblinger war intelligent, kultiviert, sprachbegabt, er besaß eine ausgezeichnete Kombinationsgabe und hatte Verbindungen in die höchsten politischen Kreise, und doch fehlte ihm etwas, das für einen Menschen seiner Position unerlässlich war, nämlich Verständnis. Verständnis für die Täter wie auch für die Opfer – ganz zu schweigen von einem Verständnis für seine Zuarbeiter. Für ihn waren der Kommissar und seine Inspektoren bloß Reste eines veralteten Systems – ein notwendiges Übel. Groschen verlangte kein Mitgefühl, das besaß er nämlich selbst nicht, zumindest behauptete das seine Frau, die den Kommissar gerne mit einer 300 Kilo schweren, russischen Balletttrainerin verglich, die alleine nicht aus dem Sessel kommt, aber trotzdem den Nachwuchs-Ballerinas alles abverlangt.

– Du predigst Mitgefühl, das dir selber fremd ist, pflegte seine Frau zu sagen. Aber auch wenn sie damit nicht unrecht hatte, besaß Groschen Verständnis und Einfühlungsvermögen. Er konnte sich in Täter hineinversetzen, konnte nachvollziehen, warum es zu einem Mord kam. Für Döblinger waren das alles Menschen zweiter Klasse. Untermenschen, die seine eigene Gesellschaftsschicht nicht tangierten – und wenn, dann höchstens als subalterne Handlanger.

Nein, Groschen konnte den Staatsanwalt nicht leiden. Jede seiner Fasern sträubte sich gegen diesen Menschen, der ihm seine Grenzen aufzeigte, weil er erfolgreicher, klüger und gewandter war. Und wenn er an die morgige Ordensverleihung dachte, wurde ihm übel. Das spürte auch Inspektor Zwilling, der sich samt seiner Wurstsemmel gleich wieder verzog.

– Kaffee? Es war die spitze Stimme der deutschen Aushilfskraft Julia Schäfer, die Groschen auf andere Gedanken brachte. Kaffee war gut für die Lebensgeister, oder wie seine Frau zu sagen pflegte, »Kaffee, dir lebe ich, Kaffee, dir sterbe ich«. Aber Kaffee war schlecht fürs Herz, reizte die Magenschleimhaut und die Speiseröhre. Trotzdem war es Kaffee und wurde in Wien auch wie ein solcher ausgesprochen, mit langem e am Schluss wie Schnee oder Juchee, und meist sogar mit einem Schuss Milch als Kaffeetscherl, aber sicher nicht wie von dieser piefkinesischen Aushilfskraft, die aus dem wienerischen Kaffeeee einen Affen mit K machte: Kaffe.

Groschen blickte auf und sah die dralle, blonde Sekretärin mit der schlagobers-, nein sahneweißen Haut und dem roten Lippenstift, ein veritables Marilyn-Monroe-Gesicht. Ihr Anblick konnte einen Mann in den Zustand schmerzhafter Dauererektion versetzen. Sie trug ein schwarzweiß kariertes Kostüm. Ihre Brüste waren stramm und spitz wie umgedrehte Trichter. Lächelnd stellte sie dem Kommissar einen ungezuckerten Milchkaffe auf den Schreibtisch, der so schmeckte, wie sie ihn artikuliert hatte: Abwaschwasser. Und während sich Groschen noch über das Häferl ärgerte, auf dem »Feminist« stand, schritt sie resolut zum Fenster und öffnete es.

– Etwas Luft wird hier nicht schaden.

Nein, wollte Groschen schreien. Von diesem Frischluftwahn hielt er nichts. Doch er blieb still. Diese Karenzvertretung aus Aschaffenburg nötigte ihm einen gewissen Respekt ab. Außerdem war er so schlecht gelaunt, dass er Angst hatte zu explodieren.

– Übrigens – Fräulein Schäfer hatte nun auch das zweite Fenster aufgerissen –, was ist mit dem Plakat?

– Was für ein Plakat?

– Tun Sie nicht so unschuldig. Sie wissen genau, wovon ich spreche. Julia Schäfer zeigte auf ein Bild hinter Groschen, das fünf liegende, nur mit Strumpfhosen bekleidete Models zeigte.

– Das hängt seit fünfzehn Jahren da. Der Kommissar warf der Büroaushilfskraft einen grimmigen Blick zu. Die Werbekampagne eines Strumpfhosenherstellers. Ist doch … ästhetisch.

– Ästhetisch? Wenn das nicht verschwindet, muss ich es beim Gleichbehandlungsbeauftragten melden. Die Reserve-Monroe stand mit verschränkten Armen da und hob ihr Kinn.

– Das? Aber das ist lächerlich. Nur weil man ein paar Frauenbeine sieht, ist daran nichts Diskriminierendes. Groschen spürte, wie ihm die Galle hochstieg. Er war kurz vorm Platzen, aber bevor er die passenden Worte fand, war die resolute Bürohilfskraft schon an der Tür, wo sie mit Martin zusammenstieß.

– Schnell. Wir haben was, brüllte Martin Zakravsky und stürmte bei der Tür herein.

– Na, na, na, immer mit der Ruhe, Junge, rümpfte Fräulein Schäfer ihre Nase.

Der Inspektor aber war erregt, mehrere Worte gleichzeitig wollten über seine Lippen, verhedderten sich. Als er den Mund öffnete, kamen »im«, »Tote«, »Bezirk«, »eine« und »Siebzehnter« heraus.

Eine Tote? Also doch! Groschens Ahnung hatte ihn nicht getäuscht, der Geruch in seiner Nase war eine Warnung gewesen, aber nicht ihn, sondern eine Unbekannte hatte es erwischt. Seine Gesichtszüge hellten sich auf. Eine Tote! Eine Unbekannte! Endlich war etwas los. Er schälte sich aus der Kruste seiner üblen Laune und strahlte. Eine Tote!, sprang er hoch, nahm einen Schluck von dieser Brühe, die plötzlich doch nach Kaffee schmeckte, riss das Plakat mit den Models von der Wand, zerknüllte es und warf es elegant in den Papierkorb. Dann zog er seine braune Raulederjacke mit dem Pelzkragen an, schloss beide Fenster, umarmte den verdutzten Martin, küsste ihn und verließ mit ihm das Büro.

– Eine Tote! Wunderbar! In den Gängen saßen Zeugen wie im Wartezimmer eines Arztes. Manche standen vor den Korkwänden und betrachteten die Aushänge, aber alle wunderten sich über diesen Kommissar, der wie berauscht jubelte:

– Eine Tote. Bravo. Ich wusste es. Eine Tote. Endlich. Herrlich! Aber wo?

– Wurlitzergasse. 17. Bezirk. Gleich hinter der Wattgasse.

– Kenne ich, sagte Groschen, habe selbst einmal in Hernals gelebt.

– Wenn wir ein Taxi nehmen, müssen wir den Ring umrunden, überlegte Martin. Besser, wir gehen zum Schottenring, fahren mit der U-Bahn zur Universität und von dort mit dem 43er … Aber da hatte Groschen schon einem Taxi gewunken. Diese Sparmaßnahmen waren ihm zuwider. Energiesparlampen? Sparmodus? Einsparungen? Wozu? Damit man dem Staatsanwalt noch mehr Orden umhängt?

DIE RÜBENKÖNIGIN

Groschen und sein Inspektor hatten schon unzählige Leichen zu Gesicht bekommen; Erschossene, Erhängte, Erstochene, Vergiftete, Aufgeschlitzte, welche, die noch lebendig aussahen ebenso wie fürchterlich Entstellte. Die Polizeibeamten waren abgehärtet, abgesehen von den Kinderleichen waren diese Toten selten eine Belastung, nichts, was ihnen dunkle Träume bescherte, und trotzdem ließ sie die Erwartung verstummen. Wie war die Tote ums Leben gekommen? Wie war sie zugerichtet? Inspektor Zwilling würde jetzt derbe Witze machen, etwas sagen wie »Die Restfetten kann das Fest retten« oder »Masturbieren macht taub …« Um kurz darauf »Was?« zu brüllen. Groschen und Zakravsky aber saßen nur da und blickten aus dem Fenster. Der Inspektor machte ein ernstes Gesicht, und Groschen dachte an den letzten Drohbrief, den er vor drei Tagen erhalten hatte. »Kennst du die radikalen Islamisten«, war darin gestanden, »hast du gesehen, was die mit ihren Geiseln machen? Genau so werden wir auch dir die Rübe absäbeln, du primitives Arschloch. Wir werden dir die Kehle aufschlitzen und deinen blöden Schädel abschneiden, um damit Fußball zu spielen … Oder wir öffnen deine Schädeldecke und löffeln dein Gehirn aus … Zuvor werden wir dir den Bauch aufschlitzen und dich mit deinen eigenen Gedärmen knebeln … Mit freudigen Grüßen dein Todesengel.« Angeber, dachte der Kommissar, der nicht einmal darüber nachdachte, wer dahinterstecken konnte. Wahrscheinlich ein von ihm überführter Verbrecher, der sich rächen wollte.

Sie fuhren an den großen Ringstraßenpalais vorbei, auf deren Fassaden Schriftzüge von Banken und Versicherungen prangten, vorbei an der Votivkirche, die Groschen bei seinem allerersten Wien-Aufenthalt glatt mit dem Stephansdom verwechselt hatte. Damals, er war gerade achtzehn Jahre alt, hatte er eine Verabredung beim Wahrzeichen der Stadt gehabt und in der Straßenbahn gefragt, wie er am schnellsten vom Schottentor zum Stephansdom käme. Per pedes, wurde ihm mitgeteilt, da geht man keine Viertelstunde. Als er dann ausstieg und die Votivkirche gegenüber der Station erblickte, dachte er »von wegen Viertelstunde« und eilte zu dem neugotischen Gebäude. Freilich kam ihm diese Kirche seltsam vor, kleiner als angenommen, und auch mit dem Dach und den Türmen stimmte etwas nicht, aber erst nachdem er die Kirche dreimal umrundet und auf einem Schild die Geschichte dieses Gebäudes gelesen hatte, erbaut, um des gescheiterten Attentates an Kaiser Franz Joseph zu gedenken – ein ungarischer Schneidergeselle hatte den Monarchen erdolchen wollen, doch sein Adjutant und ein zufällig anwesender Fleischhauer hatten das verhindern können –, dämmerte ihm, dass er bei der falschen Kirche war. Das fiel ihm jetzt im Taxi wieder ein. War es bei Kriminalfällen nicht genauso? Man erhoffte sich eine Abkürzung, war schnell zufrieden und landete bei falschen Verdächtigen, bei der Votivkirche statt beim Stephansdom?

Sie fuhren die Alser Straße hinauf, er sah hippe Suppenküchen und Geschäfte für vegetarische Sandwiches, ein Bonbongeschäft, eine Bar namens Camp David, die Humanic-Haltestelle, das St. Anna Kinderspital und schließlich die grünen Eisenbrücken der U6. Am Gürtel den Queen Club und gegenüber den Holland Blumen Mark, der am Ende kein t führen durfte, was aber kaum jemandem auffiel. Alle lasen Holland Blumen Markt. Auch das war wie bei schlechten Kriminalisten, sie lasen, was sie lesen wollten, nahmen nur wahr, was zu ihrer Theorie passte – und landeten am Schluss bei der Votivkirche, um steif und fest zu behaupten, das wäre der Stephansdom.

Jenseits des Gürtels waren die Menschen schlechter angezogen, auch verschleierte Frauen gab es mehr. Das im Wienerlied oft besungene Hernals war alles andere denn lieblich. Eine jener tristen Vorstädte, in die die Städteplaner mit ihren Betonaquarien und protzigen Dachausbauten noch nicht vorgedrungen waren. Hier dominierten die vierstöckigen Gründerzeithäuser mit den Kassetten-Fassaden, manchmal war auch ein schlichtes einstöckiges Haus aus dem 17. oder 18. Jahrhundert darunter. Der Bezirk verband den Wienerwald mit der Inneren Stadt. Noch immer gab es einen Weinberg und Heurige, die erahnen ließen, wie es hier einmal ausgesehen hatte: Felder und Weinstöcke, Lehmwege und Buschenschanken. Erst mit dem erhöhten Bauaufkommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Mietskasernen errichtet worden, Zinshäuser für die Arbeiter.

Als Groschen vor fünfundzwanzig Jahren hier gelebt hatte, war es eine florierende Gegend mit Bäckern, Fleischhauern, Restaurants und gut besuchten Weinhäusern gewesen. Es hatte bürgerliche Restaurants, große Supermärkte und Sportgeschäfte gegeben. Nun waren die meisten Lokale geschlossen, die Auslagen mit Plakaten überklebt. Eine tote Gegend. Gut, es gab türkische Greißler, vor denen sich Orangen und Krautköpfe stapelten, Nagelstudios mit glitzernden Fingernägeln in den Auslagen, afrikanische Friseure, Wettbüros und Sonnenstudios, aber das waren nur Hilfeschreie eines sterbenden Ortes. Die Menschen wirkten in ihren Trainingsanzügen, Leggins, Kunstlederjacken und Badeschlapfen allesamt wie Gastarbeiter im Krankenstand, Tote auf Urlaub. Eine fremdartige, graue Stadt, gefüllt mit schlecht gekleideten Menschen, die sich von Sonderangeboten aus Supermärkten ernährten. Bleiche Kinder mit blauen Lippen, kaum fähig, die Augen offen zu halten, weil ihre kleinen Körper nie etwas anderes bekommen hatten als Fastfoodprodukte.

Die Wurlitzergasse war eine unbelebte Vorstadtgasse, in der die Zeit stehengeblieben war. Die Häuser grau oder verwaschen gelb, schmucklos und mit fleckigem Putz, der an eine Hautkrankheit erinnerte, an Groschens Nesselausschlag.

– Bestimmt nach dem Erfinder der Jukebox benannt, meinte Groschen.

– Keineswegs, sagte der Chauffeur, der die ganze Fahrt geschwiegen hatte. Paul Wurlitzer war der erste Kaffeehausbesitzer in der Vorstadt.

– Ein Studierter, schnalzte Martin mit der Zunge.

– Steirermatura, erwiderte der Fahrer. Führerschein und Tanzkurs.

Sie bezahlten das Taxi, stiegen aus und wurden von einer eigentümlichen Geruchsmischung aus zerlassener Schokolade und Biermaische überrascht. Es waren die Ausdünstungen einer nahen Brauerei und einer großen Süßwarenfabrik. Groschen ahnte, seine Freude könnte verfrüht gewesen sein. Instinktiv hatte er mit einer spannenden Geschichte gerechnet, mit einem verzwickten Fall. Was aber, wenn die Tote eine Türkin war? Nur kein Eifersuchtsdrama und bitte auch kein Mord wegen eines nicht gehaltenen Eheversprechens. Das würde die Mitarbeit eines Dolmetschers erfordern. Es gälte, eine Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Wenn der Kommissar etwas nicht leiden konnte, dann waren es Morde unter Türken, Chinesen oder anderen Ausländern. Da fehlte ihm der Durchblick. Aber vielleicht war es ein banaler Eifersuchtsmord? Oder eine Fehde unter Betrunkenen? Die meisten Morde waren völlig reizlos, bedurften keinerlei kriminalistischer Aufklärung und hatten mit dem, was man ständig im Fernsehen oder in Kriminalgeschichten serviert bekam, nicht das Geringste zu tun. Groschens Hoffnung auf einen interessanten Mordfall war ohne Grund optimistisch gewesen. Jetzt, als er diese triste Gegend sah, begann sie zu schwinden. Sogar der unangenehme Geruch in der Nase war wieder da, auch wenn er sich gegen die Schokolade und die Biermaische kaum durchzusetzen vermochte.

Auf dem Gehsteig standen Müllsäcke, eine alte Waschmaschine und Fernseherschachteln. Darüber prangte das Plakat einer bürgerlichen Partei mit dem Slogan: »Ich will eine Stadt, in der Erfolg Anerkennung bringt – und keinen Neid.« Na, das hing hier gerade richtig. Inspektor Martin Zakravsky ging voraus, und Groschen hatte Mühe, nicht zu weit zurückzufallen. Als er auf einem Straßenschild »16. Bezirk« las, war er verwundert.

– Ottakring? Ich dachte, wir wären in Hernals.

– Muss die Bezirksgrenze sein, sagte Martin. Sie sahen den nahen Wilhelminenberg und, am Ende der Wurlitzergasse, eine Straßenbahnremise.

Als der Inspektor in einen Wohnblock mit der Ausstrahlung eines niedersächsischen Amtes für Verkehrsplanung ging, war für den Kommissar endgültig klar, er hatte sich zu früh gefreut. Es roch nach gedünstetem Kraut und nassen Hunden. Groschen wusste, in Gemeindebauten passierten nur Alkohol-Geschichten. Sie gingen durch ein modernes Stiegenhaus mit weiß geäderten Bodenfliesen und einem schmucklosen Geländer. An den Wohnungstüren waren aus Salzteig gebrannte Türschilder und Marienkäfer-Aufkleber angebracht. Vor manchen Türen standen Winterschuhe und Kinderwägen. Daneben Fußabtreter aus Sisalhanf, auf denen »Herzlich Willkommen« stand.

Im zweiten Stock lehnte ein uniformierter Polizist am Geländer und spielte mit seinem Handy. Als er die beiden Kriminalbeamten sah, beeilte er sich, das Telefon verschwinden zu lassen. Er richtete sich auf und salutierte. Groschen blickte in ein rotwangiges, einfältiges Gesicht, wie es Sprösslinge von Weinbauern besaßen – ein Mistelbacher, so hießen früher alle Wiener Polizisten, weil sie aus Mistelbach, Gänserndorf, Tulln oder anderen tristen Gegenden Niederösterreichs stammten. Groschen hätte nicht sagen können, weshalb, aber dieses gut durchblutete Polizistengesicht erinnerte ihn an Wein und Bratlfett. Bratlfett, Nebenprodukt des Schweinsbratens, eine Mischung aus gestocktem weißem Fett und brauner, gallertartiger Zwiebelmasse, dieses Yin und Yang der Österreicher, das man keinem Ausländer erklären konnte, war in manchen Gegenden eine Art Grundnahrungsmittel. Groschen bekam plötzlich große Lust auf so ein Bratlfettbrot mit Salz und frischem Zwiebel darauf, dazu ein Glas trockenen Weißwein, bei dem es einem den Mund zusammenzog.

– Hier?, fragte der Inspektor.

Der Polizist mit der Heurigenausstrahlung öffnete die weißlackierte Tür, an deren unterer Hälfte ein paar Kratzspuren waren. Das verzinkte Schloss schien unversehrt. Auch die Ketten der Sicherheitsschlösser wiesen keinerlei Beschädigungen auf.

Das Erste, was dem Kommissar in der Wohnung auffiel, war ein starker Geruch. Nach Bratlfett? Nein, es war eine Mischung aus Inkontinenz, Mottenpulver, Medikamenten, Magensäure und Gebissreiniger. Er sah eine kleine, dunkle Garderobe mit grauen Staubmänteln. Darunter standen absatzlose, graue und braune Damenschuhe mit Silberschnallen, wie sie alte Frauen oder Nonnen trugen. Man merkte gleich, hier hatte alles seine Ordnung, hier wohnte eine Oma. Na, zum Glück, durchfuhr es Groschen, ist die Tote keine Türkin oder Chinesin. Wahrscheinlich eine Pensionistin, die ein Erbschleicher ums Eck gebracht hat. Die slowakische Pflegerin? Der drogensüchtige Enkel? Eine polnische Haushaltshilfe? Ermordete Rentnerinnen kamen in der Beliebtheitsskala gleich nach den Eifersuchtsmorden.

Im Wohnraum lag ein abgetretener Perserteppich. Ein großer Tisch mit Häkeldecke, darauf ein mit Papier umwickelter Blumenstrauß. Rote Rosen. Ob die vom Mörder stammten? Am Heizkörper hing ein Luftbefeuchter. In der Ecke eine ziegelrote Couch, davor ein kleines Tischlein mit einer grauen Schreibmaschine. Ein Blatt Papier war eingespannt, »M.S.« stand darauf. M.S.? Was sollte das bedeuten? Multiple Sklerose? Daneben lag ein getipptes Manuskript. Groschen nahm es und las: »Sein Schwanz glitt wie ein Eislutscher in meinen Mund. Er hatte meine Brüste gepackt und knetete sie wie Kuchenteig, während er versuchte, mit seinem Mund an meine feuchte, süße Gletscherspalte zu gelangen. Ich spreizte die Beine, und sein Gesicht beugte sich zu meiner Ritze hinunter. Zuerst küsste er sie, dann leckte er die Schamlippen entlang, bevor er sie in Richtung Popoloch …«

Himmel und Holunderstrauch! Groschen fuhr es durch den Bauch, und er spürte, wie in seine Därme Bewegung kam. Was war das? Ein österreichisches Kamasutra? Sofort verging ihm der Appetit auf Bratlfett. Überrascht von so viel Direktheit las er noch ein paar Sätze, in denen von Körpersäften und Kopulationsstellungen die Rede war, es nur so spritzte und schmatzte. War die Tote Autorin von Pornogeschichten, der Fall interessanter als vermutet? Hängebrücke? Ziege auf der Klippe? Von diesen Stellungen habe ich noch nie etwas gehört. Er reichte Martin das Typoskript. Dem Inspektor trieb es beim Lesen gleich die Schamesröte ins Gesicht. Solche Texte hätte man hier, in dieser biederen Omawohnung, nicht vermutet. Auf einer Anrichte standen ein paar vergilbte Familienfotos. Ein streng dreinblickender Mann mit dichten Augenbrauen und eine verhärmte Frau auf einem Motorrad, wahrscheinlich die Eltern des Opfers. Daneben ein blonder Knabe mit schelmischem Grinsen. Auf einem weiteren Bild war der Bursch noch einmal zu sehen, diesmal umarmte ihn seine Mutter, eine Frau mit onduliertem Haar und dicken Hornbrillen. Überall gehäkelte Deckchen, Pölster, Puppen und andere Biedermeierinsignien. Ausgerechnet hier wurde Pornographie produziert? Der Kommissar war überwältigt. Aber wo war die Verfasserin dieser literarischen Ergüsse? Wo war die Leiche? Und vor allem, wo war das Klo? Groschen spürte einen Stuhldrang.

Da bewegte sich etwas hinter der weißen Gardine. Martin schob sie zur Seite, und aschblondes Haar wurde sichtbar. Inspektor Gordon stand mit dem Kollegen von der Spurensicherung am Balkon, lachte und rauchte. Wie hatte der es geschafft, vor ihnen hier zu sein? Als Gordon Zwilling seinen Chef erblickte, steckte er die Zigarette in einen Blumentopf und trat ins Zimmer. Der von animalischer Gesundheit strotzende Inspektor war aufgedreht wie eine Rollladenfeder, fuchtelte herum.

– Ernestine Papouschek, las Gordon seine Notizen von einem kleinen Zettel. Die Tote heißt Ernestine Papouschek. Eine pensionierte 82-jährige Buchhändlerin, die mit ihren Büchern über Sex im Alter bekannt geworden war. Mit dem hier, hielt der Inspektor eine Gießkanne in die Höhe, hat sie Masturbieren gelernt.

– Im Ernst? Groschen betrachtete das grüne Gefäß.

– Mit dem Schnabel. Ich habe das Buch gelesen, fügte Zwilling hinzu. Nach einer gescheiterten Ehe war sie jahrelang ohne Sex, bevor sie mit 75 im Internet eine Kontaktanzeige aufgegeben hat: Rüstige Pensionisten sucht Partner für Matratzensport, keine finanziellen Interessen …, woraufhin sich hunderte potentielle Freier meldeten. Ihre Erlebnisse hat sie in dem Buch »Die Rübenkönigin« beschrieben.

Gordon reichte dem Kommissar die Gießkanne, der aber sträubte sich, sie zu berühren. Er war weder prüde noch verklemmt, aber diese explizite Pornographie widerte ihn an. Seit er die Vierzig überschritten hatte, wollte er nicht mehr wissen, wer es mit wem und wie trieb. Diese ganzen Schwulenparaden und Regenbogenumzüge, diese ständigen öffentlichen Entblößungen und Demonstrationen freier Sexualität, die in plakatierten Zwitterwesen und bärtigen Sängerinnen fröhliche Urständ feierten, nervten ihn. Musste er sich jetzt auch noch mit einer nymphomanischen Großmutter beschäftigen?

– Und wo ist …? Groschen wollte nach dem Klo fragen, sah die leere Couch, eine saubere Kochnische, Gartenbücher und Regale voller Nippes. Eine Vitrine voll mit Bleikristallgläsern und Kaffeegeschirr mit Goldrand. Für eine Schriftstellerin, selbst für eine von drittklassiger Schundliteratur, gab es erstaunlich wenige Bücher. Ein paar Reader’s-Digest-Hefte, Kochbücher, Katzenkrimis, aber sonst nichts.

– Die Rübenkönigin ist im Schlafzimmer, sagte Gordon und deutete in Richtung Garderobe. Im Fernsehen hatten die Menschen von der Spurensicherung immer weiße Ganzkörperanzüge an, aber der hier anwesende, ein unrasierter Mensch mit großer Nase, stand in Jeans und Vliesjacke da, als ob er Lehrer an einer Forstwirtschaftsschule wäre.

– Rechts beim Eingang.

Tatsächlich war da hinter den Staubmänteln, dem Rollator und der Einkaufstasche auf Rädern, hinter den grauen Schuhen und den karierten Schals der Eingang ins Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt, und Groschen spürte, wie sein Adrenalinspiegel anstieg, sein Puls sich beschleunigte, sein Atem rascher ging, sein Herz etwas lauter pochte und der Druck in den Gedärmen fester wurde. Um keine Fingerabdrücke zu zerstören, stieß er die Tür mit dem Knie auf. Dahinter stand ein großes Doppelbett, Stilrichtung spätes Resopal. Eben jetzt brach die Sonne durch das Fenster, zeigte sich seit Wochen erstmals wieder und flutete das Schlafzimmer. Es war, als wollte auch die gute alte Frau Luna sehen, was hier geschehen war. Die Laken des ungemachten Bettes waren strahlend weiß mit rötlich braunen Flecken. Der Kommissar war von dem grellen Licht geblendet, brauchte ein paar Augenblicke, bis er die ganze Szenerie erkennen konnte. Dann sah er das, was er seit Tagen fürchtete, was sich mit dem Geruch in der Nase angekündigt hatte, den Tod. Hier hatte er gewütet und sich eingenistet, hier war er zu Gast.

Groschen, der nicht hinsehen wollte, aber musste, sah einen halb entblößten, am Bauch liegenden Frauenkörper. Der Kopf blickte zur Seite. Mächtige Brüste, die bestimmt einmal manch neugierige Blicke angezogen hatten, quollen hervor. Groschen sah einen riesigen Warzenhof, groß wie ein Bierdeckel, darüber weiches Fleisch, feste Backen, ein Doppelkinn und dünne Beinchen. Irgendwie erinnerte ihn diese Gestalt an eine Kaulquappe.

– Erdrosselt, sagte Gordon und deutete auf das Verlängerungskabel, das der Toten um den dicken Hals geschlungen war.

Die Bluse war hinten aufgerissen, und in das schwammige, mit Blutergüssen und Totenflecken übersäte Rückenfleisch hatte jemand ein Kreuz geschnitten, das dunkelrot, fast schwarz, gleich dem deutschen Wappen auf einem Doppeldecker prangte. Auf dem geblümten Leintuch waren Blutspritzer. Auch die milchkaffeebraune Hose der Toten hatte ein paar Flecken abbekommen. Aber viel weniger, als man angesichts der kreuzförmigen Wunde hätte erwarten dürfen. Wahrscheinlich hatte der Täter das Kreuz erst geschnitten, als das Herz der Toten schon aufgehört hatte zu schlagen. Die zierlichen nackten Füße der Leiche, bläulich weiß und wächsern, hingen über die Bettkante, darunter lagen zwei Gesundheitsschlapfen mit Korksohle. Die ganze Szenerie sah unwirklich und arrangiert aus – wie in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Für die Polizisten war das Routinearbeit, die keinerlei Gefühlsregung aufkommen ließ. Sie empfanden etwa so viel Mitleid wie beim Anblick eines plattgefahrenen Frosches.

– Bestimmt, meinte Gordon, hat die Tote ihren Mörder hereingebeten, die Blumen auf den Tisch im Esszimmer gelegt und sich dann mit ihm ins Schlafzimmer begeben, wo sie von hinten erdrosselt worden ist. Wir sollten ihre Freier überprüfen, das Kabel nach Fingerabdrücken untersuchen.

– Du sollst nicht spekulieren, sagte ein mürrischer Groschen. Wir sind nicht an der Börse.

Die meisten Leichen, besonders wenn er sie nicht gerade auf nüchternen Magen zu Gesicht bekam, gingen dem Kommissar nicht wirklich nahe. Wenn er sie aber in ihren privaten Räumen sah, in der biederen Häuslichkeit, in der sie eben noch gelebt hatten, setzte ihm das immer zu. Mit dieser aber hatte es noch eine andere Bewandtnis. Zum einen wirkte die ganze Wohnung unwirklich und inszeniert, zum anderen war da noch etwas. Etwas, das er nicht recht fassen konnte. Es dauerte, bis er merkte, was es war, zu sehr war er auf das wie herausgeschnitzt wirkende Kreuz im Rücken konzentriert, auf die Blutspritzer. Ein Ritualmord? Das Kreuz glich einer Intarsie. Jemand hatte mit einem scharfen Messer die Kontur ins Fleisch geritzt und dann die Fett- und Hautschicht herausgelöst, ja regelrecht abgeschabt. Ob diese herausgeschnittene Haut noch in der Wohnung war?

Auf dem Nachtkästchen standen eine halbvolle Whiskyflasche der Marke Jameson und ein halbleeres Glas – der Kommissar hatte Lust, daran zu nippen. Aber das war es nicht. Auch nicht die leicht verrutschte schwarze Perücke, die rotlackierten Zehennägel, der kleine Kotfleck an ihrem Hinterteil, der mit dunklem Rand versehene Urinfleck zwischen ihren Beinen. Es war der Gesichtsausdruck, die seltsame Leere, die sich in den Gesichtszügen dieser Toten spiegelte. Ihr Kopf lag seitlich, das Verlängerungskabel um den Hals. Ein nichtssagender, unendlich leerer Ausdruck, der Groschen an den Geschmack in seiner Nase erinnerte. Und jetzt sah er auch, warum. Es waren die Augen oder vielmehr die Nicht-Augen. Zuerst dachte man, die Lider wären geschlossen oder die Haut wäre an der Stelle so geschwollen, dass die Augen nicht zu sehen waren. Wenn man aber genauer hinsah, erkannte man: Die Augenhöhlen waren leer. Kleine, mit Blutkrusten gefüllte, golfballgroße Löcher waren das, die von schlaffen Augenlidern nur zum Teil bedeckt wurden. Eine weißgraue, klebrige Masse war daraus getropft und festgetrocknet. Irgendjemand hatte der Leiche oder der Lebenden? die Augäpfel herausgenommen, so dass an ihrer Stelle nur verwaiste, dunkle Höhlen waren. Kleine Bombentrichter mitten im Gesicht.

– Nach Raubüberfall sieht das nicht aus, murmelte der Kommissar. Wo ist übrigens …? Der Drang seiner Gedärme war stärker geworden.

– Die DNA-Tests werden bald ausgewertet sein. Ich bin überzeugt, der Mörder hat Spuren auf dem Whiskyglas hinterlassen, aber schauen Sie mal hier, Chef, zog Gordon den Kommissar aus dem Schlafzimmer zum anderen Ende des Ganges in ein kleines gekacheltes Badezimmer mit WC. Na endlich. Groschen sah eine Einstiegshilfe für die kleine Badewanne, einen Plastikvorhang. Auf der Klomuschel war ein hellgrauer Aufsatz, wie man ihn in Spitälern und Seniorenheimen verwendete. Im Wandschrank lagen jede Menge Medikamente. Ein Pulver zur Gebissreinigung, Bürsten voller Haare, Rasierer. Aber egal, hier würde er Erleichterung finden.

– Da, das meine ich. Gordon warf seinem Chef einen auffordernden Blick zu und deutete in die Toilette.

Der Kommissar, schon ganz auf Erleichterung eingestellt, erbleichte. Er wusste, was ihn erwartete, der Anblick von Fäkalien. Aus irgendeinem Grund schissen Einbruchmörder nach getaner Tat oft noch dem Opfer in die Wohnung. Das bedeutete, die Toilette war gesperrt, durfte nicht benutzt werden. Doch in der Klomuschel war was zu sehen? Ein großer brauner Haufen? Nein, Fehlanzeige, da schwamm nur Wasser. Gott sei Dank, schöpfte Groschen Hoffnung. Allerdings? Was lag da im Abfluss?

– Ist es das, was ich denke?

– Schaut so aus.

Tatsächlich lag da am Grund des Klos eine kleine Kugel, ungefähr in der Größe eines Tischtennisballs. Erst bei genauer Betrachtung erkannte man rotes Geäder, einen Knopf. Es war … ja, wirklich, das, wonach es aussah, ein Augapfel. Der Kommissar sah seine Inspektoren an und sagte mit bitterem Geschmack im Mund:

– Das ist ja hübsch. Nun war eine Klobenützung natürlich völlig ausgeschlossen.

– Es gab schon einmal eine Tote mit herausgestochenen Augäpfeln und einem Zeichen im Rücken, sagte Martin, der sich bei diesem Anblick ziemlich beherrschen musste.

Während Gordon einen Schöpflöffel aus der Küche holte und ihn mit einer Todesverachtung, die seinesgleichen suchte, in das Klowasser tauchte, um den Augapfel herauszufischen, hatte Inspektor Martin Zakravsky ein heftiges Würgen in der Kehle. Der Augapfel glänzte wie ein frisch ausgeweidetes Organ.

– Hatten wir das nicht schon einmal, schluckte Martin.

– Und ob, brummte Groschen. Das ist Jahre her. Damals war ich noch ein blutiger Anfänger, und ihr beide seid noch in die Baumschule gegangen.

– Natürlich, schlug sich Gordon ins Gesicht und ließ dabei fast den vollen Schöpflöffel fallen. Warum ich da nicht früher draufgekommen bin? Der Tode!

Tode Todic, ein aus Jugoslawien stammender Musiker, war vor 18 Jahren für den Mord an seiner Frau verurteilt worden. Der Fall hatte für Aufsehen gesorgt, auch damals gab es ausgestochene Augen und ein Zeichen im Rücken. Bei der Gerichtsverhandlung wurde eine lebenslängliche Einweisung für geistig abnorme Rechtsbrecher gefordert, er kam aber ins Gefängnis, wo er sich bekehrt und gebessert haben soll. Theologiestudium. Vor wenigen Wochen wurde er wegen guter Führung entlassen. Die Bevölkerung war, aufgehetzt von den Boulevardzeitungen, dagegen, organisierte Proteste, verfasste Schreiben an Politiker, affichierte sogar Flugblätter mit seinem Konterfei an Laternenpfähle und Bäume. Im Fernsehen sprach der Führer einer neu formierten Bürgerinitiative, machte sich für eine Haftverlängerung stark, sagte, dass lebenslänglich auch lebenslänglich bedeuten müsse, die Sicherheit der Bevölkerung gefährdet sei. Wenn so ein Verrückter frei herumlaufe … Man ließ Todic dennoch frei. Das Gesetz sah es so vor. Er wollte in ein Kloster eintreten.

– Da haben wir wieder ein Beispiel unserer Justiz. Gordon trat gegen den Türstock. Darum laufen so viele perverse Arschlöcher herum! Vorzeitige Entlassung? Und was kommt heraus? Das da! Er ließ den Augapfel im Schöpfer kreisen. Diese Schreibtischhengste haben noch nie dem Tod ins Angesicht gesehen. Die können schnell jemanden entlassen. Und wer hat dann die Drecksarbeit? Wer?

– Wir können nicht alle Menschen für immer und ewig wegsperren. Jeder hat eine zweite Chance verdient, sagte Groschen, bückte sich und hob etwas Haariges hoch. Es war ein behaarter Streifen, sah aus wie ein sehr ausgedünnter, breiter Pinsel: falsche Wimpern. Er gab sie Martin, der nicht wusste, was er damit anfangen sollte.

– Wer hat die Tote gefunden?

– Der Nachbar, deutete Gordon in eine Richtung. Ich hab ihm gesagt, er soll sich zur Verfügung halten.

– Wissen wir, wo diese … Wie heißt sie?

– Ernestine Papouschek.

– Wo diese Papouschek ihre Ersparnisse aufbewahrt hat?

– Nein, zuckte Gordon mit den Achseln, aber ich habe nicht den Eindruck, dass hier viel gestohlen worden ist.

– Weil nichts durchwühlt worden ist? Macht schon mal die Formalitäten und findet heraus, mit wem die Dame befreundet war. Lebensgefährten, Familie, Verleger … Groschen nahm eine »Rübenkönigin« von einem Bücherstapel und ging damit zur Tür.

– Und was ist mit Tode?, rief ihm Zwilling hinterher.

– Den meinetwegen auch, erwiderte Groschen. Wir sehen uns dann in der Vorlaufstraße.

– Aber brauchen wir für den nicht sofort einen Haftbefehl? Sollen wir ihn denn nicht einnähen?

– Immer mit der Ruhe, Kinder. Immer mit der Ruhe. Der Kommissar drehte sich um und ging hinaus.

MORAL AUF VERLORENEM POSTEN

Am Gang stieß Groschen auf den Amtsarzt, der ein angewidertes Gesicht machte und etwas von schlechtem Wochenbeginn murmelte. Der Kommissar nickte, hob die Hand zum Gruß und klingelte beim Nachbarn. »Zsack« stand da an der Tür. Mit dem hellen Glockenton erklang ein seltsam gequältes Krächzen. Gleich darauf scharrte etwas an der Tür. Man konnte Kratz- und Knurrgeräusche hören, dazu eine Stimme, die Platz! und Sitz! befahl. Dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Groschen sah einen großen schwarzgekleideten Glatzkopf mit langem Kinnbart und Silberringen in den Lippen und Augenbrauen. Über einem Nietengürtel wölbte sich ein kugelförmiger Bauch. »Monster« stand in Runenschrift auf seinem T-Shirt. Die Arme über und über tätowiert, sah dieser Herr Zsack aus wie eine Mischung aus Türsteher, Motorradrocker und Neonazi. Auf seinem Hals stand etwas, das Groschen erst für einen Namen hielt, Harald Biber, nein, es hieß Hardcore Biker.

Der Schwarzgekleidete mühte sich nach Kräften, den jungen Rottweiler, der noch immer äußerst seltsame Töne von sich gab, zurückzuhalten. Groschen war unheimlich zumute; wie diesen fetten Glatzkopf mit seinem Untier stellte er sich den Wächter des Hades vor. So einer konnte eine alte Pensionistin leicht erwürgen – auch ohne Verlängerungskabel.

– Aha, sagte der Hüne abschätzig, der Kommissar. Die Stimme des Rockers war weicher und angenehmer, als man erwartet hätte.

– Immer nur hereinspaziert. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ziehen Sie die Schuhe aus. Groschen, etwas irritiert, stieg aus seinen Segelschuhen, die für diese Jahreszeit viel zu sommerlich waren. Er stellte sie neben die Doc Martins, die es hier in allen Ausführungen und Farben gab. Der Rocker reichte ihm Filzpantoffeln.

Im Inneren der Wohnung hingen zwar überall Poster von Heavy-Metal-Bands, ein paar E-Gitarren und Verstärker standen herum, aber insgesamt war es recht gepflegt.

– Darf ich Ihre Toilette benutzen?

– Aufs Häusel wollen Sie? Bitteschön, deutete der Rocker auf eine Tür, an der ein Bild von Banksy hing: Mona Lisa, die das Kleid gehoben und ihr Hinterteil entblößt hatte. Das Badezimmer war mit schwarzen Fliesen gekachelt, auf denen kleine japanische Drachen abgebildet waren. Auf der ebenfalls schwarzen Klomuschel befand sich eine durchsichtige Klobrille mit eingelassenem Stacheldraht. Während Groschen sich erleichterte, sah er eine schwarze Zahnbürste mit Totenkopfemblem und einen kleinen Plüschteppich, auf dem »Death Metal« stand. Und während draußen der Hund Geräusche von sich gab, die an ein gackerndes Huhn erinnerten, hielt der Kommissar eine Lagebesprechung mit sich selbst: Es gab eine ermordete Porno-Schriftstellerin. Die Auffindsituation der Leiche wies eindeutig auf den eben aus der Haft entlassenen Tode Todic. Der Fall schien klar. Oder war dieser Todic eine Votivkirche, ein falscher Verdächtiger? Groschen wollte sich bereits erheben, da fiel sein Blick auf den weißen Umschlag, der aus seiner Hose schaute. Das Geschenk des Bettlers. Darauf hatte er ganz vergessen. Gedankenverloren zerknüllte er das Kuvert und warf es in den schwarzen Mistkübel. Dann nahm er Pass und Führerschein, blätterte darin herum und betrachtete die Automatenbilder einer Frau mit Hochzeitstortenfrisur und dunklen Hornbrillen. Geboren neunzehnhundertdreiund… Irgendwie kam ihm die bekannt vor. Als er den Namen las, erschauerte er, eine Gänsehaut rann über seinen Rücken.

Da klopfte es, und die Stimme des Rockers war zu vernehmen:

– Alles roger in Kambodscha? Oder sind Sie eingeschlafen?

– Nein, bin gleich fertig, gab der Kommissar zurück.

In Pass und Führerschein stand der Name Ernestine Papouschek. Die Papiere der Toten! Aber wie war der Bettler an die gekommen? Hatte er sie tatsächlich gefunden, wie er gesagt hatte? Dann waren Fingerabdrücke des Mörders darauf. Oder sollte der Bettler mit dem Mord etwas zu tun haben?

Groschen steckte die Dokumente ein, erhob sich, spülte und bemerkte, dass hier sogar die Seife schwarz war. Mit feuchten Händen verließ er das WC und musste den seltsamen Hund abwehren, der ihn sofort ansprang und piepsende Geräusche von sich gab.

– Adolf! Platz!, brüllte Zsack. Platz! Ein Bier? Der Rocker hatte zwei Flaschen in der Hand.

– Danke, lehnte Groschen ab. Nicht im Dienst. Er hatte große Lust darauf, und wäre es ihm in einer Nobelvilla oder in einer Gartenhaussiedlung angeboten worden, hätte er ohne Zögern zugegriffen, so aber hielt ihn etwas davon ab. Wahrscheinlich, weil er sich nicht korrumpieren lassen wollte. Dem Rocker war’s egal, er öffnete eine Flasche mit den Zähnen, zündete sich eine Zigarette an und trank. Nachdem ein Ahhhh aus seinem Mund entwichen war, ging er ins Wohnzimmer, warf sich auf die Couch und bat Groschen, es ihm gleichzutun. Es war ein seltsamer Anblick, zwei gestandene Männer in Filzpantoffeln, der eine mit Bart und Tätowierungen, der andere massig und ziemlich mürrisch. Und dazwischen dieser große schwarze Hund, aus dessen Maul nur piepsende und gackernde Geräusche kamen.

– Was ist denn los mit diesem Tier? Hat man ihn hypnotisiert und glaubt er jetzt, ein Huhn zu sein? Hat er eine Quietschente verschluckt?

– Der Tierarzt meint, das ist ein Stresssymptom.

– Dann müsste ich auch solche Geräusche von mir geben, sagte Groschen.

– Sie kommen wegen der Papouschek?

– Na, wegen einem Zeitschriften-Abo bin ich nicht hier. Der Kommissar lächelte.

– Also gut. Der Nachbar ist ein Auszufragender. Ich war heute Morgen mit dem Adolf draußen. Der Adolf ist ein Auszuführender.

– Was? Groschen hob die Brauen.