Einsteins Hirn - Franzobel - E-Book

Einsteins Hirn E-Book

Franzobel

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Beschreibung

Wie im „Floß der Medusa“ erzählt Franzobel eine neue erfundene wahre Geschichte: Der Pathologe Thomas Harvey stiehlt Einsteins Hirn und behält es sein Leben lang.

Am 18. April 1955 kurz nach Mitternacht stirbt Albert Einstein im Princeton Hospital, New Jersey. Seinem Wunsch entsprechend wird der Körper verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verstreut. Vorher jedoch hat der Pathologe Thomas Harvey Einsteins Hirn entfernt, danach tingelt er damit 42 Jahre durch die amerikanische Provinz. Mit ihm erlebt Harvey die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten und die erste Landung auf dem Mond, Woodstock und Watergate und das Ende des Vietnamkriegs; und irgendwann beginnt das Hirn, mit Harvey zu sprechen.
Franzobels neuer Roman ist ein hinreißender Trip durch wilde Zeiten und zugleich die Lebensgeschichte eines einfachen, aber nicht gewöhnlichen Mannes, den Einsteins Hirn aus der Bahn wirft.

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Das ist das Cover des Buches »Einsteins Hirn« von Franzobel

Über das Buch

Am 18. April 1955 kurz nach Mitternacht stirbt Albert Einstein im Princeton Hospital, New Jersey. Seinem Wunsch entsprechend wird der Körper verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verstreut. Vorher jedoch hat der Pathologe Thomas Harvey Einsteins Hirn entfernt, danach tingelt er damit 42 Jahre durch die amerikanische Provinz. Mit ihm erlebt Harvey die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten und die erste Landung auf dem Mond, Woodstock und Watergate und das Ende des Vietnamkriegs; und irgendwann beginnt das Hirn, mit Harvey zu sprechen.Franzobels neuer Roman ist ein hinreißender Trip durch wilde Zeiten und zugleich die Lebensgeschichte eines einfachen, aber nicht gewöhnlichen Mannes, den Einsteins Hirn aus der Bahn wirft.

Franzobel

Einsteins Hirn

Roman

Paul Zsolnay Verlag

Es ist jedoch die Wahrheit, auch wenn es gar nicht passiert ist.

Ken Kesey, Einer flog über das Kuckucksnest

Nichts ist Nichts

Nur Kinder und Narren fürchten sich vor Engeln und Agenten. Alle anderen ängstigt die Schwerkraft der Geldnot, die Gravitation von Krankheit und Tod, der unerbittliche Lauf der Welt, der sämtliches Unglück anzieht. Dabei ist Schwerkraft bloß das Heimweh der Dinge, die zurück zu ihrem Ursprung wollen, in einen Zustand gegenseitiger Durchdringung. Genauso ist es mit Geschichten, auch sie werden von unsichtbaren Kräften getrieben. Nun hat aber jeder nur eine Erzählung, eine einzige, die wahrhaftig ist und es verdient, ausgebreitet zu werden — die eigene. Hier ist meine. Sie handelt von Engeln, Agenten und … manchmal … der Überwindung der Schwerkraft.

Doch der Reihe nach: Thomas Stoltz Harvey hieß mein Mann. Eisgraue Wolfsaugen, dünne Lippen. Er stotterte etwas, blinzelte nie, lachte oft grundlos und hatte Angst vor Pferden, obwohl er nie geritten ist. Man nannte ihn den Schweiger oder Weißer Hase. Etwas größer als der Durchschnitt, wohlgeformtes Gesicht, hoher Haaransatz — nicht unattraktiv. Thomas Stoltz Harvey hieß der Mann.

Dies ist die Geschichte von einem Schiffbruch ohne Schiff, einer Strandung ohne Strand, einem Untergang ohne Wasser. Von diesem Schiffbrüchigen haben Sie noch nie gehört, obwohl es ihn gegeben hat.

Thomas Harvey ist an keiner Steilküste zerschellt, sondern an einer weichen grauen Masse, einem Hirn. An einem Denkorgan, das sechsundsiebzig Jahre im Kopf des Physikers Albert Einstein gewesen ist und Gedanken wie die allgemeine Relativitätstheorie ausgebrütet hat. Dieses Hirn war Thomas Harveys Untergang, wegen dieses Eiweißklumpens hat er den Verstand verloren, aber auch Weisheit gefunden, Liebe, Glaube und zuletzt sich selbst. Thomas Harvey hieß der Mann, Thomas Harvey hieß mein Mann.

Ich war für ihn verantwortlich. Ich, Sam Shepherd, der ihn im Auftrag des FBI beschatten musste, hätte der Geschichte eine völlig andere Wendung geben können, aber das entsprach nicht meinem Naturell. Agenten müssen ihr Land beschützen, und Sie können sicher sein, dass sie alles wissen, alles sehen. Mein Land war damals die USA und nicht das Himmelreich. Lassen Sie mich erklären, wie das gekommen ist.

In Thomas Harveys Geschichte geht es um Physik und Religion. Von Ersterer habe ich wenig Ahnung, beschränken sich doch meine Mathematikkenntnisse auf Punkt- und Strichrechnungen, was hingegen die Religion angeht, steht außer Frage, dass die Menschen nicht mehr glauben. Und damit meine ich nicht, dass man sich über Märtyrer lustig macht, die man gehäutet, gegrillt oder gevierteilt hat. Nicht, dass man Gott für tot erklärt hat, ist die Katastrophe, sondern der verlorengegangene Glaube. Gott wird nicht mehr gedacht oder gelebt, jeder glaubt nur an sich selbst, zimmert sich mit Esoterik, asiatischer Küchenphilosophie und Astrologie etwas zusammen, das die Welt erträglich macht.

Die einen bekennen sich zu Real Madrid, die anderen zur String-Theorie. Die Nächsten beten den Börsenindex an, manche Kurt Cobain, abstrakte Malerei, Kernfusion oder Fusion Kitchen. Aber das ist falsche Frömmigkeit.

Der Glaubende ist glücklicher, selbst wenn er Humbug glaubt. Glaube gibt Stärke und Zuversicht. Aber wir erleben eine Zeit des Zweifels, eine Zeit der Konfusion. Die Gottesidee gab dem Universum Sinn. Nun haben wir Zersplitterung, ist alles Religiöse angreifbar — wird vulgär begrapscht, verhöhnt und ausgelacht. Was würden heutige Menschen tun, kämen sie in den Himmel? Ein Selfie würden sie machen, um es auf sozialen Netzwerken zu teilen! Das ist traurig, aber so ist der Mensch nun mal.

Da Kunst und Literatur auch den einfachen Menschen feiern soll, erzählt diese Geschichte von einem gewöhnlichen Kerl, einem Gläubigen oder Gerechten, der von einem Engel … Halt! Ich will nicht zu viel vorwegnehmen. Lassen Sie sich nicht durch die Tatsache abschrecken, dass ich damals, als diese Geschichte anfing, Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, für das Federal Bureau of Investigation tätig war. Heute bin ich an solchen Wahrheiten oder Diskussionen über Richtig und Falsch nicht mehr interessiert, doch Sie können mir glauben, dass der Unglaube für Menschen dieselbe Katastrophe ist, wie es der Kometeneinschlag für die Dinosaurier war. Denn eines ist gewiss, wir werden gläubig sein oder gar nicht mehr. Aber solange es Schwerkraft gibt, die Dinge Heimweh nach ihrem Ursprung haben, bin ich nicht ohne Hoffnung.

Thomas Harvey hieß der Mann, der Albert Einsteins Hirn gestohlen hat. Ein Hirn, das irgendwann zu sprechen anfing.

Stunden sind so lang wie Straßen, Tage gleichen Plätzen, Jahre Städten. Die Zeit ist immer unzufrieden mit sich selbst, vielleicht nur Illusion, aber das weiß der Körper nicht, er altert, verfällt und stirbt.

Es ist Montag, der 18. April 1955. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind zehn Jahre vergangen, die USA haben in Korea einen neuen Militärspielplatz gefunden, und vor drei Tagen wurde in Des Plaines das erste McDonald’s-Franchise-Restaurant eröffnet, aber wir sind nicht in Illinois, sondern in New Jersey, genauer gesagt in Princeton. Ein verschlafenes Städtchen mit zwei Verkehrsampeln, vierhundertsiebzig Telefonanschlüssen, zwölf Kirchen, einer Kathedrale, zwei Supermärkten und einem Spital. Dort liegt der Anfang unserer Geschichte, in Zimmer 42 des Princeton-Hospitals an der Witherspoon Street.

Um Mitternacht hatte die Nachtschwester noch einmal nach dem Patienten gesehen. Überall Vasen mit Schnittblumen, und neben den Bonbonschachteln stapelten sich Manuskripte über die vereinheitlichte Feldtheorie, an denen bis zuletzt gearbeitet worden war. Auf dem Stuhl lag der Geigenkasten des Professors, worin Lina wartete, das Instrument, Einsteins größte Liebe. Der Physiker hatte die Schwester mit glasigen Augen angeblickt, Augen so tief wie das Universum, mit weicher Stimme einen Satz auf Deutsch gemurmelt, Schupfnudeln, Siach und spukhafte Fernwirkung kamen darin vor. Die Schwester hatte verlegen gelächelt. Das meiste, was Einstein zeitlebens gesagt hatte, blieb unverstanden. Vielleicht hatte er sich deshalb Zeit gelassen, bis er zu sprechen anfing? Ein mittelmäßiger Schüler soll er gewesen sein, aber das ist eine Legende, die von Lernunwilligen vorgeschützt wird, um ihre Faulheit zu begründen.

Kaum war die Krankenpflegerin aus dem Zimmer, breitete ein großer schwarzer Vogel seine Schwingen aus und kam mit furchteinflößendem Schnabel angeflogen. Das dunkle Tier durchdrang hohle Bäume, dicke Mauern und Kamine, lauerte auf Friedhöfen und in modrigen Kellern, nahm den Menschen alles, was sie hatten.

Durch die Gänge aber schlich ein Schatten und huschte in den Raum des Sterbenden. Der dazugehörige Mann war groß, hatte ein kantiges Gesicht, und seine Nase verdiente die Bezeichnung Pfrnak oder Zinken. Das war ich — Sam Shepherd. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, so einen auffälligen Kerl wie mich beim FBI zu vermuten. Ich hatte Einstein jahrelang beschattet, um dem Genius unamerikanische Umtriebe nachzuweisen. Nun, da alle wussten, es ging zu Ende, wollte ich mich verabschieden. Also ging ich in das überheizte Einzelzimmer Nummer 42, nicht viel größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Bevor ich Einsteins nasse Stirn tätschelte, blickte ich unters Bett, um nachzusehen, ob sich dort die Rote Armee versteckte. Hinter dem milchigen Plastikvorhang war nur eine Toilette. Beinahe wäre ich über den verchromten Ständer, der die Glasflasche mit der Kochsalzlösung hielt, gestolpert und hätte mir an der Kurbel zur Kopfverstellung die Hose aufgerissen. Dann betrachtete ich den Physiker und war an ein zu schnell gealtertes Kind erinnert.

— Ich glaube, wir sind ans Ende gekommen, Professor. Ich bekreuzigte mich, zündete mir eine Zigarette an, klopfte auf das weißlackierte Stahlrohrbett und sah den Schriftzug auf dem groben Leinenüberzug — Eigentum des Princeton-Hospitals. Auch Genies sterben nicht in weichen Satindecken. Ich schlich hinaus.

Wenig später machte der Physiker Bekanntschaft mit dem größten Geheimnis des Universums, dem Nichts. Und dieses Nichts hatte wenig zu tun mit Löchern in Socken oder Hohlräumen im Emmentaler, von denen manche meinten, sie seien wichtiger als der Käse selbst.

Dieses Nichts war das Nichtsein, aber keine Leerstelle, keine Abwesenheit von Nicht-Nichts, sondern leerer Raum, was nicht nichts ist. Darum gelangte der Sterbende auch nicht in unser Nichts, sondern in einen Zustand, wo es weder Raum noch Zeit gibt. Da es im Kosmos aber überall Raum und Zeit gibt, außer im Schlund von schwarzen Löchern, kann der Ort der Toten nur außerhalb des Universums sein. Nicht?

Sterben ist die Beseitigung aller Zweifel. Vielleicht ist es wie die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling? Etwas ändert sich grundlegend, und plötzlich gibt es keine Skepsis mehr, ist alles fraglos so, wie es ist. Der Sterbende überquert den Styx und gelangt an einen Ort, der kein Ort ist, in einen Raum, der kein Raum ist, wo es keine Zeit gibt … von wegen Straßen, Plätze, Städte … keine Gravitation oder Schwerkraftgesetze, nicht einmal Masse. Niemand hat Gewichtsprobleme, es gibt nur Ungeborene und Tote.

Physiker behaupten, dass im Vakuum Materie und Antimaterie aufpoppen können, um sofort wieder zu verschwinden. Vielleicht ist auch das menschliche Leben kurz auftauchende Materie? Der Sterbende erlangt also das Nichts, das vollkommene, reine Nichts, wo es keinen Raum gibt, keine Zeit und auch keine Gesetze. Etwas, das der Mensch nicht denken kann, und wenn er es kann, bleibt es ihm unbegreiflich. Ein Paradies? Jedenfalls ein Ort, an dem es keine Zweifel gibt.

Es war ein Uhr fünfzehn, ich längst draußen, als vom diensthabenden Arzt Einsteins Tod diagnostiziert wurde. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Der Mediziner wusste, was das bedeutete, die Presse würde wie eine Horde Barbaren über die Witherspoon Street hereinbrechen, und im Nichts des Princeton-Hospitals würde das Interesse der Weltöffentlichkeit aufpoppen. Radio- und Fernsehmenschen würden kommen, sich wie Sendboten der Hölle gebärden und das beschauliche Spital auf den Kopf stellen.

— Ich habe kein Mitleid mit dem alten Knaben. Er ist für die Atombombe verantwortlich, von der es heißt, dass sie heller ist als tausend Sonnen. Die Nachtschwester goss Kaffee ein und reichte dem diensthabenden Arzt die Tasse.

— Er hat die Relativitätstheorie gefunden. Die Augen des Mediziners flackerten.

— Was soll das sein?

— Professor Einstein ist Gott auf die Schliche gekommen. Er hat festgestellt, dass Raum und Zeit nicht konstant sind. Im Gebirge vergeht die Zeit schneller als auf Meereshöhe, in einem Flugzeug verstreicht sie langsamer. Natürlich so unmerklich, dass es uns nicht auffällt. Raumzeitkrümmung. Soweit ich das verstanden habe, kreisen die Planeten in einer Art Bobbahn um die Sonne, weil der Raum gekrümmt ist. Die Zeit vergeht verschieden schnell, wenn sie überhaupt vergeht.

— Das heißt, der Nachtdienst könnte ewig dauern? Die Schwester machte ein besorgtes Gesicht. Und wozu soll das gut sein?

— Das weiß nur der Teufel. Der Arzt trat ans Fenster, blickte in die Dunkelheit der Nacht und sah, wie draußen die Glut einer Zigarette aufleuchtete. Professor Einstein ist tot, und wir haben die Bescherung.

Minus

Das Leben ist wie diese Bilder in Malbüchern, bei denen man eine Reihe nummerierter Punkte verbinden muss. Man fährt sie ab, ohne zu wissen, was dabei herauskommt. Sobald man es erkennt, ist es zu spät.

Der Morgen des 18. April war frühlingshaft und klar. Meisen und Rotkehlchen zwitscherten, Knospen traten aus den Zweigen, und die Sonne stand feist am Horizont. Nichts deutete darauf hin, dass Thomas Harvey das Bild erkennen und Schiffbruch erleiden würde.

Oberflächlich betrachtet war sein Leben auf Kurs. Drei Söhne, eine stille, liebende Frau, in der die Hefe von vierzehn Jahren Ehe nur unmerklich gärte. Harveys Leben tümpelte in ruhigen Gewässern vor sich hin. Pathologe, Quäker, Vater. Ich kann Ihnen versichern, dass ich selten einen langweiligeren Menschen kennengelernt habe als diesen Harvey — gutmütig, ohne einen Funken Bosheit, wie alle religiösen Leute ein bisschen ranzig in den Lenden. Seine Hoffnungen waren zurechtgestutzt, doch damit hatte er sich abgefunden. Thomas Harvey hieß der Mann. Nichts deutete auf den Orkan, der ihn in den Untergang reißen würde.

Die kleine Familie saß beim Frühstück, und Elouise, Harveys Frau, sah ihren jüngsten Sohn strafend an. Der Knabe hatte Haferbrei auf seinem Leibchen kleben.

— Robert! Musst du immer kleckern?

— Entschuldigung. Der Neunjährige versuchte, die gräuliche Masse abzukratzen. Seine Brüder lachten. Kaum wandte sich ihre Mutter wieder der Pfanne mit den Spiegeleiern zu, deren schleimige Haut sie mit einem Föhn bearbeitete … ja, wirklich mit einem Föhn …, schnitten die Burschen Grimassen. Thomas junior war dreizehn und Arthur elf.

— Ihr müsst mir ein Pony kaufen, brüllte der Jüngste.

— In China haben alle Menschen Kiemen, verkündete der Mittlere.

— Gib mir die Milch, befahl der Älteste.

Alle drei waren lebhaft wie Eichhörnchen auf Speed — nur dass man sie nicht am Fluss aussetzen konnte, wie es Harvey mit den pelzigen Tierchen machte, die in seine Käfigfalle liefen.

— Erschlagen Sie die Viecher, sagten Nachbarn. Diese Baumratten fressen alles kahl, haben Tollwut. Erschlagen? Niemals. Harvey war einer, der Fliegen fing und aus dem Fenster warf, Vögel fütterte und nicht einmal Mücken erschlug. Wie sollte er da Eichhörnchen töten?

— Könnt ihr nicht in Ruhe frühstücken? Thomas, sag etwas. Elouise sah zu ihrem Mann, der geistesabwesend Zeitung las, sich Schlafsand aus den Augen rieb und Unverständliches murmelte.

— Thomas! Die Frau legte den Föhn weg und verlieh ihrer Forderung Nachdruck.

— Churchill ist zurückgetreten, Eisenhower hat etwas abgesegnet, und ein Schauspieler verweigert die Aussage vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe.

— Ich will ein Pony!

— Du sollst auf die Kinder aufpassen. Elouise fauchte.

Harvey blätterte zu den Sportseiten, weil er wissen wollte, wie die Dodgers gespielt hatten.

— Thomas!

— Was? Harvey war keine Geistesgröße, wusste aber, dass er gleich in Schwierigkeiten stecken würde. Er legte die Zeitung beiseite, stand auf, stützte seinen linken Ellbogen auf die Tischplatte und bewegte die Finger wie einen Vogelschnabel:

— Was muss ich hören? Ihr Knaben seid unfolgsam.

— Das stimmt nicht, Minus.

Minus war Harveys linke Hand, die von seinen Söhnen als vollwertiges Familienmitglied akzeptiert wurde. Egal, ob es um Schlafenszeiten, Menüpläne oder sonst etwas ging, Minus wurde gefragt, was davon zu halten war. Minus hatte den Kindern das Zähneputzen beigebracht und ihnen Einschlafgeschichten erzählt, er hatte sie getröstet und unterstützt. Die Buben mochten ihn, obwohl sie wussten, dass Minus bloß die linke Hand ihres Vaters war. Zu Weihnachten bekam Minus Geschenke, meist Handschuhe, und zu Thanksgiving wurde ihm ein Teller mit Truthahn und Püree hingestellt. Nur wenn er eine Nachspeise wollte, brüllten alle:

— Du bist doch Papas Hand!

Jetzt stürzten sich alle auf die Spiegeleier — auch Minus, zumindest tat er so. Sie waren gestern spät von einem Ausflug nach Hause gekommen. Die Burschen hatten Steine, Stöcke, tote Käfer und Kiefernzapfen mitgebracht, die verstreut im Wohnzimmer lagen.

Nichts wies darauf hin, dass dieser 18. April 1955 der wichtigste Tag im Leben des Thomas Stoltz Harvey werden sollte. Das Leben des zweiundvierzigjährigen Pathologen hatte pflichtschuldigst seine nummerierten Punkte abgefahren, und heute würde die Linie ein Bild erkennen lassen. Der schweigsame Mann sah aus wie ein verweichlichter Clint Eastwood, nein, eher wie Tom Hanks.

Thomas Harvey hieß der Mann. Seine größte Sorge war, frühzeitig kahl zu werden. Er hatte eine einigermaßen glückliche Kindheit auf dem Land verbracht, wo seine Familie von der Wirtschaftskrise bloß gestreift worden war, man ihn als Stotterer gehänselt hatte. Trotzdem hatte alles lange so ausgesehen, als ob er seinen Lebenstraum — Berufswusch Kinderarzt — erfüllen könnte. Dann kam die Katastrophe, als man 1939 Tuberkulose diagnostizierte. Während der Kur im Sanatorium lernte er Elouise kennen, und nun, sechzehn Jahre später, lebten sie mit drei Söhnen in einem schmucken Haus in Princeton. Schmuck? Ein dreistöckiger Ziegelbau mit verglastem Anbau, Terrasse und großem Garten. In ihrer Straße, der Jefferson Road, hatte man Platanen gepflanzt, und die Gegend machte einen so ruhigen und wohlhabenden Eindruck, dass man meinen könnte, im Vorhof des Paradieses zu sein. Über die penibel geschnittenen Rasenflächen staksten Wanderdrosseln, in den Bäumen hockten rote Kardinäle, und die Stare und Streifenhörnchen fühlten sich wohl wie alle anderen Tiere. Eine amerikanische Vorzeigedurchschnittsfamilie mit gesunden Vorzeigedurchschnittskindern. Zwei Leidenschaften hatte Thomas sich bewahrt — den Football- und Baseballspieler Albie Booth und das Quäkertum, das die meisten nur von Frühstücksflocken kannten und für scheinheilige Frömmlerei hielten, für quakende Quatschköpfe, obwohl sich die Bezeichnung von quake — erzittern — ableitet.

— Wenn ein Engel käme, Papa, sagte jetzt Robert, und dich mitnehmen wollte … du müsstest dein Leben aufgeben, würdest aber alle Wahrheiten erfahren … Würdest du?

— Darf er zurückkommen?, rief Arthur dazwischen.

— Natürlich nicht, erwiderte Robert.

— Alle Wahrheiten? Harvey schmunzelte. Würde ich nie gegen euch eintauschen. Außerdem wäre dann Minus fort.

Die Kinder hatten Eidotter an den Wangen, und Elouise ging mit einer feuchten Serviette reihum. Harveys Frau war oft zerstreut. Sie las viel und träumte von einer Karriere als Dichterin. Aber hatten Jane Austen, Pearl S. Buck oder Jane Bowles mit lärmenden Rabauken zu kämpfen gehabt? Mussten die großen Schriftstellerinnen Männer bekochen, Wäsche machen und Kinderzimmer aufräumen? Oder ein Ernest Hemingway, dem man vergangenes Jahr den Nobelpreis zugesprochen hatte? Da kann man leicht von Großwildjagden, Stierkämpfen und alten Fischern schreiben.

— Thomas! Sag etwas.

— Die Erlichs haben uns eingeladen. Harvey wischte Brot durch den zerlaufenen Eidotter und stopfte es sich in den Mund.

— Nicht zu den Erlichs. Seine Kriegsgeschichten langweilen mich zu Tode. Und sie ist eine Ziege. Muss das sein? Elouise räumte die Teller ab und gab Robert einen Klaps, weil er Milch verschüttet hatte. Dann blieb sie versonnen stehen, räumte die Teller in das Eisfach und stellte Butter in die Spüle. Vermutlich, weil ihr ein poetischer Satz eingefallen war. Seit sie als Aushilfsbibliothekarin arbeitete, lebte sie nur noch in Büchern. Gesellschaften waren ihr ein Gräuel, besonders die von Sully Erlich und seinen Kriegsgeschichten. Elouise war wie Licht, von dem man nicht wusste, ob es aus Wellen oder Teilchen bestand. Wurde sie beobachtet, war sie eine fleißige Hausfrau und Mutter, doch kaum waren alle außer Haus, verwandelte sie sich zu einer Welle, die durch die Welt der Literatur mäanderte.

— Kannst du dich an die Scheune erinnern? Harvey hatte die Zeitung in der Hand und blickte zu seiner Frau, in deren Gesicht ein großes Fragezeichen stand. Natürlich verband sie mit dem Wort Scheune nur einen einzigen Ort, den Geräteschuppen im Park des Sanatoriums, wo sie sich in ihrer Sturm-und-Drang-Phase geliebt hatten. Diese Scheune war ein bisschen unheimlich gewesen. Es hieß, dass man dort zwei Schwestern vergewaltigt und ermordet habe, die seither darin spukten.

— Lies das. Aber erst, wenn du alleine bist. Harvey deutete auf das Foto eines Schwarzen, faltete die Zeitung zusammen, erhob sich, strich seinen Söhnen durchs Haar, ließ Minus winken, gab Elouise einen hingehauchten Kuss und verließ das Haus. Thomas war zufrieden. Seine Frau hatte nicht bemerkt, dass er etwas im Schilde führte. Wie würde sie schauen, wenn er in wenigen Stunden wieder an der Türe stand, dann mit Blumen in der Hand, um ihr zum Hochzeitstag zu gratulieren. Letztes Jahr hatte er darauf vergessen, und sie war monatelang beleidigt gewesen. Diesmal würde er sie mit roten Rosen überraschen und zum Essen ausführen. Sie würden sich lieben, bevor die Kinder nach Hause kamen, und so glücklich sein wie damals in der Scheune.

Harvey streichelte die Kühlerhaube seines Ford-Kombis, klopfte gegen einen Weißwandreifen, wischte Erdklumpen von der hölzernen Seitenverkleidung, bestieg das Gefährt, drehte den Zündschlüssel und vernahm das angenehme Schnurren des Motors. Die Stimme aus dem Autoradio wünschte einen wunderschönen mächtigprächtig guten Morgen und sagte, dass das nächste Lied von einem jungen Sänger namens Elvis Presley stamme, der zu einer sich gurgelnd anhörenden Country-Gitarre von einem blauen Mond über Kentucky sang.

— Elvis Presley. Diesen Namen wird man sich merken müssen, meinte die Stimme von Mister Mächtigprächtig, aber Harvey vergaß ihn auf der Stelle. Manche Mütter mochten solche Sänger für Vorboten des Weltuntergangs halten, Harvey waren sie egal. Er war der Letzte in seiner Straße, der einen Fernseher gekauft hatte, und seine Söhne waren erst vor kurzem dem Mickey-Mouse-Club beigetreten, aber ein Autoradio musste sein. Auf Presley folgten Bill Haley, Nat King Cole und Frank Sinatra — mächtigprächtig.

Der Parkplatz vor dem Spital war gut gefüllt, da standen Chevrolets und Chryslers, Fords und DeSotos, alle mit verchromten Stoßstangen, Haifischflossen und schwanger aussehenden Kühlerhauben. Wenn man sich die strahlend neue Zeit vergegenwärtigen wollte, musste man nur diese Autos ansehen — Höhepunkte der Designkunst. Harvey genoss die würzige Frühlingsluft und trippelte leichten Fußes zum Haupteingang. Heute würde er bloß kurz hierbleiben und dann Hochzeitstag feiern.

Unter dem Portal war eine kleine Menschenansammlung, und Thomas wäre ausgewichen, aber da kam Direktor Blummenfelt und warf einen Satz aus wie ein Netz, in dem Harvey sich verfing.

— Einstein ist gestorben. Hier sind sein Sohn und der Testamentsvollstrecker. Blummenfelt, ein rotgesichtiger Pykniker mit flaumigem, strohblondem Haar, der einen weißen Cowboyhut und Lederstiefel trug, deutete auf einen hageren alten Mann mit Nickelbrille und Halbglatze, der neben einem Kerl stand, der ungefähr in Harveys Alter war. Dann waren da zwei Frauen, dazu Einsteins Hausarzt sowie sein Spitalsarzt. Alle machten Gesichter, als wäre gerade die Hauskatze überfahren worden. Harvey nickte ihnen zu, verstand Satzfetzen, in denen Wörter wie »Operation«, »unausweichlich« und »schmerzlos« vorkamen.

— Wollen Sie die Autopsie vornehmen?

Harvey ging dem Direktor so gut es ging aus dem Weg, weil er wusste, Blummenfelt zog Unglück an. Alles ging schief, was der Direktor anfasste, Menschen, die ihm nahestanden, waren verloren. Seine Frau musste sich jährlich Geschwülste entfernen lassen, seine Schwiegermutter hatte ihr Vermögen an einen Heiratsschwindler verloren, und wenn ein Ast von einem Baum brach, konnte man sicher sein, dass er Blummenfelts Wagen durchbohrte. Nahm er ein Flugzeug, gingen beim Start die Triebwerke kaputt, und machte er eine Urlaubsreise in ein fernes Land, brach dort garantiert eine Revolution aus. Eigentlich ein Wunder, wie so jemand Spitalsdirektor werden konnte. Erstaunlicherweise wirkte sich dieser Unglücksrabe kaum auf die Sterblichkeitsrate aus. Oder doch? Blummenfelt machte einen gehetzten Eindruck, auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

— Ich? Die Autopsie? Heute geht es nicht … meine Frau. Harvey sah aus wie ein Auflauf, der zu kurz im Ofen gewesen war.

— Dann muss ich jemanden aus New York kommen lassen.

— Es tut mir leid, aber heute ist mein Hochzeitstag.

— Macht nichts. Der Direktor legte ihm seine dickfingrige Hand auf die Schulter. Jeder andere Pathologe wird sich freuen, wenn er Einstein aufschneiden darf.

Einstein? Ausgerechnet heute? Ich könnte … wenn ich mich beeile …

— Ich mache es!, verkündete Harvey mit der unbefangenen Selbstsicherheit des naiven Durchschnittsmenschen. Lieber hätte er sich glühende Eisendorne in die Zehen rammen lassen, als auf diese Gelegenheit zu verzichten. Wie hatte sein Sohn gefragt? Wenn ein Engel käme und man die ganze Wahrheit gezeigt bekäme … Ja! Ich mache es!

— Und Ihr Hochzeitstag?

— Wird nicht mein letzter sein.

Der Einschnitt

Es war, als hätte eine Raumzeitkrümmung Thomas Harvey geradewegs hingelenkt. Eine Autopsie an Einstein? Das also war das Bild, das die nummerierten Zahlen ergaben. Das Schicksal hatte ihm mit Tuberkulose den Traum von der eigenen Kinderarztpraxis zerstört, aber nun gab es ihm die Chance, sich etwas zurückzuholen.

Es war, als hätte eine Axt in Harveys gefrorenes Leben gehackt. Einstein! Dieser faszinierende Name war die Nabe, um die sich plötzlich alles drehte. Ich! Natürlich! Harvey wimmelte den Direktor ab, wich rauchenden Rollstuhlfahrern aus, sah in der Eingangshalle Patienten und Schwestern, diensthabende Ärzte in den Gängen. Der übliche Spitalsbetrieb, wo Krankheit und Tod Routine waren. Niemand schien zu wissen, dass ein Genie gestorben war, das er, Thomas Harvey, gleich sezieren würde.

— Der Tod will es selbst machen. Blummenfelt schob den Hut nach oben, zog seine Hose hoch und zündete sich eine Zigarette an. Einen Augenblick lang genoss der Direktor die Aufmerksamkeit der Trauernden, bevor er ergänzte: Thomas Harvey heißt der Mann. Wir nennen ihn Tod, weil er als Pathologe nur mit Leichen zu tun hat — aber ein guter Mensch, anständig, ohne Fantasie, ohne Leidenschaft, genau der Richtige. Die Angehörigen nickten gedankenverloren. Der Tod Einsteins hatte sie nicht unvorbereitet getroffen, und doch waren sie nicht ganz bei sich. Seit sie am frühen Morgen die Nachricht erhalten hatten, war alles anders.

Eine Obduktion an Einsteins Leichnam? Was sagt man dazu? Harvey hatte sich nie als Pathologe gesehen. Es war Zufall, dass er zu einem geworden war. Sein Büro im ersten Stock war bescheiden. Der Mediziner sah zum gerahmten Foto von Albie Booth, ballte die Faust und murmelte »Ich! Jawohl!«, dann wechselte er das Jackett gegen den weißen Arbeitskittel und hetzte in den Autopsiesaal, wo der unverfälschte, natürliche, unverfrorene Geruch von totem Fleisch in der Luft lag, der einzigartige Geruch einer Leiche.

Einsteins Körper lag auf dem Metalltisch wie eine Auster in der Schale. Harvey war nicht überrascht. Es war ihre zweite Begegnung. Die erste lag fünf, sechs Monate zurück. Damals hatte der Physiker den Mediziner gefragt, ob er sein Geschlecht gewechselt habe. Ja, das war Einsteins Begrüßung gewesen: »Haben Sie Ihr Geschlecht gewechselt?« Harvey hätte darauf sagen können, dass alles relativ sei. Er hätte einen Scherz mit Raum und Zeit machen können, aber nichts dergleichen war ihm eingefallen, also hatte er wie so oft in seinem Leben geschwiegen.

Thomas Harvey hatte damals Blut- und Urinproben des Wissenschaftsgottes geholt. Etwas, das wöchentlich geschah und normalerweise von einer Assistentin erledigt wurde. Die jungen Dinger rissen sich darum, Einstein Blut abzuzapfen und ihn in ein Glas pinkeln zu lassen. Vergangenen Herbst war Harvey selbst in die Mercer Street 112 gepilgert. Das Haus des Nobelpreisträgers sah von der Frontseite bescheiden aus, hatte aber einen ausladenden Anbau und rückseitig eine große Terrasse. Ein sogenanntes Farmhaus, von denen es alleine in New Jersey zigtausende gab.

Einstein war in der dunklen Festung seines massiven Bettes gelegen, von Manuskriptstapeln umgeben, die seine Geistes-Burg wie Zinnen sicherten. Der Pathologe hatte dem alten Mann den Arm abgebunden, ihm eine Spritze in die Vene gestochen, Blut herausgezogen und den Einstich mit einem Wattebausch betupft. Dann hatte er das Urin-Fläschchen gereicht, und der Physiker hatte gelacht.

Albert Einstein war ein alter schnauzbärtiger Mann mit Tränensäcken und gutmütigem Dackelblick, um den ein verrückter Personenkult betrieben wurde. Er hatte die Welt vom Irrglauben der Newton’schen Gravitation befreit und eine Erlösung verkündet, die niemand verstand. Er anerkannte nur einen Gott, die Lichtgeschwindigkeit, nur ein Evangelium, die Raumzeitkrümmung, und die ganze Welt rannte diesem neuen Messias hinterher, betete ihn an. In seiner Bettfestung aber war er ein klappriger alter Mann, umwölkt von einer Geruchsmischung aus leichter Inkontinenz, Gelenksalbe, Kampfer und Mundgeruch, gewesen.

Harvey hatte wissen wollen, wie er lebte. Besaß der berühmte Wissenschaftler Roboter als Butler und eine Automatenküche? Nein, es gab nur einen Hausdrachen namens Helen Dukas, Einsteins Sekretärin, die die herbe Ausdünstung einer Gouvernante verströmte, und deren Kinn von einer Warze geziert wurde, aus der antennenartig ein einziges drahtiges Haar ragte. Doch ein Roboter? Die Inneneinrichtung zeigte ihren Stil — streng mit schweren Möbeln, als hätte alles die Unterwäsche der Jahrhundertwende angezogen —, bieder und steif wie Reifröcke aus Fischbein. Kein Wunder, dass Einstein nichts mehr zusammenbrachte. Harvey fand ihn sympathisch, aber er spürte, der große Geist war an seiner eigenen Berühmtheit erstickt.

Nun lag dieser Wissenschaftsgott auf dem polierten Stahltisch. Kein appetitlicher Anblick. Ein junger Körper mit Pfirsichhärchen an den Pobacken wäre erfreulicher.

Nackt mit langem, weißem Haar und friedlichem Gesichtsausdruck. Knubbelige Nase über dem Schnauzbart, faltenzerfurchte Stirn und ein Netz an Krähenfüßen um die Augen. Niemand hatte Albert Einstein die Lider geschlossen oder ihn rasiert — weiße Bartstoppeln funkelten wie Eisenspäne auf dem Kinn, den Wangen. War das der festgefrorene Augenblick, an dem er begriff, dass es ihn nicht mehr geben, das Universum aber weiterexistieren würde? Einer der größten Denker des Jahrhunderts. Oder der ausgebuffteste Scharlatan? Wüsste man es nicht besser, könnte man ihn für einen Obdachlosen halten, der hier seinen Rausch ausschlief.

Thomas betrachtete den Toten mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Sensationslust — als hätte ihm jemand das Holzgebiss George Washingtons in die Hand gedrückt. Er wusste, dass er den Toten gleich so nackt sehen würde wie niemand zuvor oder danach. Er nahm das Laken, das den Körper bedeckte, beiseite und wunderte sich, dass er keine Hochstimmung empfand.

Einsteins wenig behaarter Körper war weiß wie Mozzarella. Spaziergänge mit Kurt Gödel waren ihm nicht mehr vergönnt, auch keine Segelturns um Long Island, nicht einmal ein Mittagsschläfchen. Niemand würde ihn mehr schimpfen, weil er sich im Juni einen Sonnenbrand eingefangen oder im Dezember an Weihnachtskeksen überessen hatte. Da waren dünne Beine mit knotigen Knien, unter einer leichten Fettschicht die Hüftknochen, ein vorgetriebener Bauch. Das Glied lag verschrumpelt im Nest einer ergrauten Scham. Na, Professorchen, Sie haben das Geschlecht nicht gewechselt. Die Brustwarzen waren erstaunlich groß und leberfarben. Harveys Zeigefinger berührte den Leichnam, als wollte er sich versichern, dass er wirklich da war, wirklich tot. Tatsächlich, das Fleisch fühlte sich kalt an.

— Keine Angst, Herr Einstein, es tut nicht weh.

Die Szene besaß nichts von der Kreuzesabnahme Christi, keine Spur von Maria oder Maria Magdalena. Nur Harvey, der die Patientenakte studierte und die Daten in den Autopsiebericht eintrug: Albert Einstein, männlich, Alter 76, Größe fünf Fuß neun Inches, Gewicht 180 Pfund, Brustumfang 34 Zoll. Bei Jesus Christus hatte niemand die Daten aufgenommen, aber Einstein war ein Messias der Physik.

Oben rechts schrieb Harvey 55:33 für die dreiunddreißigste Autopsie des Jahres 1955. Heilige Zahlen allemal, in denen das Alter Christi, die Anzahl der Gesänge von Dantes »Göttlicher Komödie« und überhaupt die Antwort von allem steckte.

Harvey, für Zahlenmystik nicht empfänglich, ging zu dem Toten, keine Angst, Professorchen, hob seine Arme, betrachtete die Hände, sah Spuren eines müßiggängerischen Lebens. Da war eine Einkerbung am Mittelfinger der rechten Hand vom Schreiben, den straffen Armen merkte man das Geigenspielen an, Nagelpilz an den Zehen, harte Sohlen und an den Fersen dicke Hornhaut, die vom Barfußlaufen stammte … Es hieß, Einstein sei sogar der Queen sockenlos begegnet. Wenn man seine Kleidung sehen wolle, könne man ja den Schrank öffnen, soll er gesagt haben. Jeder in Princeton kannte Einstein und seine Schrullen — man sah ihn im Lahiere’s, dem einzigen Fünf-Sterne-Restaurant weit und breit, oder im Balt ein Eis essen … Manche hielten ihn für den lieben Gott persönlich, für andere war er ein ausgemachter Schwindler. Aber die Welt mochte diese Mischung aus Charlie Chaplin und Pablo Picasso, die für Frieden und Abrüstung eintrat. Nur wenige ahnten seine Tragik, wussten von den neuen Erkenntnissen, die er ständig ankündigte, und die sich dann zuverlässig als Luftschlösser erwiesen. Da glich er einem Stummfilmstar, der den Sprung zum Tonfilm verpasst hatte, nur war sein Tonfilm die Quantenphysik. Und dem Pathologen des Spitals von Princeton kam das Vorrecht zu, die leibliche Hülle dieses Genies öffnen zu dürfen. Thomas Harvey hieß der Mann, das Schicksal hatte ihm eine zweite Chance gegeben.

Immer noch verlief alles in geordneten Bahnen, deutete nichts auf einen Schiffbruch hin. Der Leichenaufschneider vermerkte seine Beobachtungen im Autopsiebericht und wandte sich gerade dem Toten zu, als er einen Schatten wahrnahm. Erschrocken blickte er sich um und sah eine dunkle Gestalt im Türstock. Harvey lief ein Schauer über den Rücken. Kurz hielt er die Figur für den Teufel oder die Seele des Verstorbenen. Im Mittelalter meinte man, die Seele wäre ein sieben Zoll großes Persönchen, das dem Mund des Verstorbenen entstieg. Pathologen glaubten so etwas nicht, waren pragmatisch, aber es gab welche, die von sonderbaren Erlebnissen berichteten, von herunterfallenden Gegenständen, stehengebliebenen Uhren, plötzlichen Windstößen … Harvey gehörte nicht dazu. Stand der Leibhaftige an der Tür? Nein, es waren wild verwucherte, buschige Augenbrauen … der Testamentsvollstrecker, von dem eine kalte Strenge ausging.

— Sie wünschen?

— Ich werde das nicht zulassen. Der kleine Mann mit dem weißen Haarkranz sprach mit deutschem Akzent und sehr bestimmt. Mein Name ist Otto Nathan, ich kümmere mich um Einsteins letzten Willen.

— Was werden Sie nicht zulassen?

— Die Autopsie. Einstein hätte das nicht gewollt. Das ist entwürdigend. Ich bin dagegen.

— Aber? Harvey war sprachlos. Es ist angeordnet. Sie können Direktor Blummenfelt fragen.

— Dann will ich zusehen.

— Zusehen? Harvey seufzte.

— Ich habe einen starken Magen. Otto Nathan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ich habe die letzten zwanzig Jahre mit Professor Einstein verbracht, ich denke, ich habe ein Recht, dabei zu sein.

— Wie Sie meinen. Harvey war versucht, seine linke Hand zu heben und mit Minus zu antworten. Stattdessen streifte er eine grüne Plastikschürze und Latexhandschuhe über. Nathan nahm Platz und machte es sich bequem wie zu einer Theatervorführung. Der Pathologe tat jetzt so geschäftig, als wäre er ein Inspizient bei Vorstellungsbeginn. Und was wurde gespielt? Romeo und Julia? Nein, Einstein und der Leichenaufschneider hieß das Stück.

— Erwarten Sie sich nicht zu viel. Die Arbeit eines Pathologen ist so spannend wie die eines Friseurs oder Bäckers. Es ist nicht viel dabei, wenn man den Bogen raushat. Wir schneiden Körper auf. Gibt es daran etwas auszusetzen?

— Ich habe nichts gesagt. Otto Nathan verschränkte die Arme.

Harvey fühlte, wie ihn eine Welle wohligen Glücksgefühls durchflutete. Keine Angst, Professorchen. Er dachte an seine Fehlschläge, an die Tuberkulose, die seinen Traum von der Kinderarztpraxis zerstört hatte, an den Krieg und all die anderen Missgeschicke seines irdischen Daseins. Nun war alles weggespült. Er fühlte den größten Moment seines Lebens nahen.

Thomas wollte sich von dem Testamentsvollstrecker nicht verunsichern lassen, alles so wie immer machen, auch wenn seine Hände zitterten. Er justierte die von der Decke hängende Waage, die an einen Krämerladen erinnerte, stellte über Einsteins Knie ein Holztischchen, um später die Organe darauf zu platzieren, breitete seine Werkzeuge auf einem Rolltisch aus: Messer, Scheren, Meißel, Handsägen, Schaber, flache Klingen, Haken, Nadel und Zwirn.

Es gab zwei Methoden des Aufbrechens, wie das Körperöffnen in Fachkreisen hieß. Die schnellere stammte von dem Wiener Carl von Rokitansky. Da Harvey keine Eile hatte, entschied er sich für die zeitaufwendigere Virchow-Methode. Keine Angst, Professorchen, Sie spüren nichts. Er begab sich zum Kopf des Toten, setzte das Messer hinter den Ohren an und sah, wie die Klinge in die Haut drückte, bevor sie … Himmel, fühlt sich das verrückt an … sie durchstieß. Harvey machte einen tiefen Schnitt … wie ein Teppichschneider …, zog das Messer über den Nacken bis zum Brustbein, weiter bis zum Nabel. Nathan zuckte kurz, als wäre auch er gestochen worden. Der Anblick seines toten Freundes war nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben. Vor wenigen Stunden hatte Einstein noch gelebt, an Dinge wie Raumzeitkrümmung, das Frühstück oder die Milchdrüsen der Krankenschwester gedacht, und nun wurde er zerlegt wie totes Vieh. Der Pathologe schien empfindungslos, ein Verkäufer an der Fleischtheke, der Schnitzel herunterscheidet.

Harvey vollführte nun denselben Schnitt vom anderen Ohr, sodass ein Y entstand, die Haut einem Hemd glich, das aufgeklappt werden konnte. Ihm war zumute wie einem Kind beim Auspacken der Weihnachtsgeschenke. Nur, was kam zum Vorschein? Lag eine elementare Wahrheit in den Eingeweiden? Eine Weltformel? Oder wehte ihm ein kalter Wind entgegen?

— Haben Sie diese Relativitätstheorie verstanden? Thomas versuchte die gespannte Stimmung aufzulockern.

— Nein. Nathans Antwort hätte knapper nicht ausfallen können. Aber nach einem schier unendlich langen Augenblick der Stille ergänzte er, dass Einstein oft versucht hatte, ihm diese Relativität zu erklären. Er sprach von abgefeuerten Revolverkugeln in fahrenden Zügen oder Menschen in Liftkabinen. Aber wer sollte das verstehen?

— Jedenfalls ist alles relativ? Nur was Harvey jetzt zu sehen bekam, war ziemlich absolut. Unter dem Brustkorb befanden sich die Organe, im Bauchraum der Magen und die Därme, daneben die Leber, dahinter die Nieren. Diese Dinger sind ständig in uns drinnen, arbeiten, und wir wissen nicht einmal, wovon sie Schluckauf bekommen. Jeder, der schon einmal einen Fisch ausgenommen hat, kann sich vorstellen, was da los war. Alles voll aufgeschäumten Blutes, als wäre der Tote von einem riesigen Barmixer durchgeschüttelt worden. Nathan musste an eine Prärieauster denken. Der Testamentsvollstrecker durchlebte einen seiner schlimmeren Momente, sein halbverdautes Frühstück stieg ihm in die Kehle und wünschte dem Gaumen einen guten Morgen.

— Alles in Ordnung? Harvey warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Es ist keine Schande, wenn Sie den Anblick nicht ertragen. Im Seziersaal gibt es reihenweise Medizinstudenten, die umkippen.

— Bestens. Nathan krächzte und spürte, wie seine Zuversicht entglitt.

Der Pathologe durchtrennte die Brustbeinknorpel und bog die Rippen hoch, wozu dem Testamentsvollstrecker nur ein Wort einfiel: ausgeschlachtet. Die Szenerie erinnerte an eine Autowerkstätte, wenn der Motor aus einem Wagen gehievt wurde. Harvey durchtrennte nun Arterien und Venen, holte wie ein Aztekenpriester das Herz des Geopferten heraus, reckte es aber nicht triumphierend in die Höhe, sondern hielt es zärtlich wie eine frisch geborene Katze. Keine Angst, Professorchen. Er betrachtete den großen roten Muskel, stocherte mit einem Holzspatel in den Öffnungen. Keine Auffälligkeiten, nur die Innenwände der Adern waren — typisch für einen Hausmannskostesser — voller Ablagerungen … belegte Abflussrohre. Der Pathologe legte das Herz auf die Ablage und wandte sich wieder dem Toten zu. Er entfernte das Bauchfett und pumpte mit einem kleinen Blasebalg dreieinhalb Liter Blut aus dem Bauchraum. Der Schlauch führte zu einer im Betonboden eingelassenen Rinne unterhalb des Tisches. Nathan gingen »Weinverkostung« und »Tankstelle« durch den Kopf. Er wusste, dass das unangemessen, ja geradezu blasphemisch war, konnte aber nichts dagegen tun.

Harvey untersuchte die Gallenblase … unauffällig, dafür war die Lunge außen geschwärzt, innen aber changierend zwischen schlammgrün und rosa — überraschend hell für einen Pfeifenraucher. Er entfernte Magen, Nieren, Milz, wog die Organe, trug ihre Gewichte in das Formular ein und betrachtete sie wie ein orientalischer Schmuckhändler Diamanten … nichts Ungewöhnliches, keine Verunreinigungen oder Einschlüsse. Schließlich schnitt er die mit Kot gefüllten Därme heraus, ging zum Waschbecken, spülte sie aus wie ein Fischverkäufer Tintenfische und hielt sie prüfend gegen das Licht, was Nathan an die Untersuchung eines kaputten Fahrradschlauches erinnerte. Auch hier keine Auffälligkeiten.

Als Nächstes nahm der Tod, wie er genannt wurde, die vergrößerte Leber, streichelte den rotbraunen Klumpen, stellte eine leichte Verfettung fest … könnte als Gänsestopfleber durchgehen … und wog sie. In den Nebennierendrüsen fand sich etwas Morphium. Und dann sah er Spuren einer Explosion — den Urknall. Einstein war nicht an einer akuten Gallenblasenentzündung gestorben, obwohl seine Schmerzen im rechten Oberbauch darauf hingedeutet hatten, sondern an einem Aortariss. Die größte Ader führte vom Herzen zu den Beinen. Einsteins Aorta glich einer Schlange, an der Mäuse gefressen hatten … ein Loch von der Größe einer Walnuss. Die Schlange vom Baum der Erkenntnis war geplatzt, der Wissenschaftler innerlich verblutet.

Aus der Krankenakte wusste Harvey, dass Einstein wegen dieses Aneurysmas, einer ballonartigen Aussackung der Aorta, behandelt worden war. Abdominales Aortenaneurysma. Der behandelnde Arzt hatte vor sieben Jahren Zellophan um den kleinen Ballon gewickelt, in der Hoffnung, dass sich damit das Gewebe verstärken und die Materialermüdung hinauszögern ließe, was auch der Fall gewesen war. Die Butterbrothülle hatte Einstein, dessen Lebenserwartung damals neun Monate betragen hatte, sieben Jahre geschenkt.

— Sind Sie fertig? Nathan hatte das Prozedere regungslos verfolgt — wie ein Flaneur, der Fischern bei der Entladung ihres Fangs zusieht. Und ja, eigentlich war Harvey fertig. Aber eine innere Stimme drängte ihn, noch einmal hinaus aufs offene Meer zu fahren, auch wenn das seinen Untergang bedeutete. Er hatte noch nie eine Vorahnung gehabt. Jetzt durchfuhr ihn etwas, das man so bezeichnen könnte. Es war etwas Unglaubliches, Unfassbares. Vergiss es, sagten Teile seines Verstandes, doch das kam zaghaft. Schließlich verkündete sein Mund:

— Noch das Hirn.

— Das Hirn? Nathan rollte das R und spuckte es aus wie ein übel schmeckendes Bonbon. Sie wollen was? Das Hirn …?

— Ist Standard. Obwohl ihm Nathan weit weg und winzig erschien, wollte Harvey keinen Zweifel aufkommen lassen. Die Entscheidung war gefallen. Dabei war es keineswegs normal, das Hirn zu untersuchen, schon gar nicht, wenn die Todesursache eindeutig feststand. Nicht, wenn es einen Stau an Toten gab und der Pathologe seinen Hochzeitstag feiern wollte.

Oft starb innerhalb einer Woche niemand, und dann gab es zehn, zwölf Leichen an nur einem Tag. Zufall? Sternenkonstellation? Die Anwesenheit des Direktors? Wäre der Tote nicht Albert Einstein, Harvey hätte keinen Anlass gehabt, das Hirn herauszunehmen. Auch wenn er ahnte, dass ihm ein zäher Kampf bevorstand, wusste er, es musste sein. Alle Jas und Abers waren verdrängt, und sein Entschluss war so unumstößlich wie die Existenz des Todes oder die Schwerkraft, das Heimweh der Dinge.

Harvey hatte keine Ahnung, dass dieses Hirn von ihm Besitz ergreifen, ihn durchdringen und in die Tiefe reißen würde. Es war, als hätte das Hirn in Einsteins Kopf sechsundsiebzig Jahre darauf gewartet, von einem Thomas Harvey ans Licht geholt zu werden.

Otto Nathan sprach einige Sätze auf Deutsch, die Harvey nicht verstand. Aber der Anblick seines toten Freundes, der auf dem Tisch lag wie eine ausgelöffelte Konservendose, schien den Testamentsvollstrecker dermaßen zu irritieren, dass er wenig entgegensetzen konnte.

Der Pathologe hatte bereits mehr als sechzig Hirne seziert und außer einer Hirnblutung nie etwas entdeckt, aber die Chance, Einsteins Denkapparat zu Gesicht zu bekommen, konnte er sich unmöglich entgehen lassen. Ohne den Testamentsvollstrecker weiter zu beachten, zog er mit spitzer Klinge einen bogenförmigen Schnitt entlang des Schädels, wischte Haare von seinen Handschuhen, überlegte, ob er welche behalten sollte, verdrängte den Gedanken, klappte eine Hälfte der Kopfhaut nach vorne, sodass sie bis über die Nase hing, schob die andere zurück und entblößte das rosa schimmernde Schädelgewölbe — ein frisch gepelltes Ei. Nun zog er mit einer kleinen elektrischen Säge einen Kreis um den Schädelknochen, ungefähr dort, wo sonst Einsteins hoher Filzhut saß. Das Geräusch, für Nathan unerträglich, glich dem eines Zahnarztbohrers, der einen Nerv traktierte. Der Testamentsvollstrecker konnte nicht zusehen, wie seinem Freund gleich einer Kokosnuss der Deckel abgehoben wurde, stand auf und beschäftigte sich mit dem Steinboden und den darin eingelassenen Rinnen. Ein Pochen ging durch seinen Kopf, und er hatte das Gefühl, von einer Migräne verschüttet zu werden. Nathan war, als würde der Pathologe nicht an Einsteins Kopf, sondern an seinem eigenen herumfuhrwerken.

Jetzt nahm Harvey den kleinen Meißel und stemmte mit sanften Hammerschlägen den Schädel auf. Ein Michelangelo, der aus einem Steinblock eine kunstvolle Pietà meißelte? Oder ein grober Steinmetz für Grabsteine? Er umfasste die Platte wie den Drehverschluss eines Marmeladenglases und hob sie an, was ploppend das Innere entblößte: eine große Walnuss ohne Schale, ein verschlungener, mit einem Aderngeflecht überzogener Klumpen. Harvey blickte zu Nathan, dessen Gesicht eine grünliche Farbe angenommen hatte. Was hast du erwartet, alter Knabe, dass ein Schokoladensoufflé zum Vorschein kommt?

Da war es also, glänzte wie ein vom Meeresgrund gehobener Schatz. Dieses Hirn hatte jahrzehntelang über das Licht nachgedacht, ohne jemals mit ihm in Berührung gekommen zu sein. Nun war es so weit, der Pathologe zog das Häutchen ab, das alles bedeckte, und Lichtphotone stürzten sich auf Einsteins gallertartige Denkermasse.

Harvey griff in den Schädel wie ein Bäcker in eine volle Kuchenform, tastete sich entlang des Steges nach unten und trennte das Hirn vom Rückenmark. Dann hob er es leicht an, durchschnitt Arterien und pumpte mit einem kleinen Sauger Flüssigkeit ab. Er durchtrennte Nerven, die das Hirn mit dem Auge verbanden, streckte seine Finger, so weit er konnte, kappte die verbliebenen Verbindungen und hob das Hirn vorsichtig wie eine Hebamme ein Frischgeborenes heraus. Es war glitschig, umsponnen von einem feinen, gazeartigen Netz an Äderchen. Er legte es auf die Waage: 2,711 Pfund.

Harvey konnte nicht glauben, was er sah, tippte auf das Glas der Anzeige, doch der Zeiger bewegte sich nicht. 2,711! Einsteins Hirn war leichter als der Durchschnitt. Diese Masse, dessen glänzendes Elfenbeinrosa bis in die Ewigkeit reichte, dieses Gewebe, worin das Universum zu Ende gedacht worden war, wog weniger als der Denkapparat eines durchschnittlichen Dorftrottels. Wie kann das sein? Harvey war kein Nachkomme der Schädelmesser, die von einem Zusammenhang zwischen Kopfgröße und Intelligenz ausgingen, weil dann wären Wale die intelligentesten Säugetiere und Grönländer die klügsten Menschen. Aber 2,711 Pfund? Er ließ das Hirn langsam in ein mit Formaldehyd gefülltes Gefäß gleiten.

Sonst würde es unter der Last seines eigenen Gewichts zusammenfallen und bald aussehen wie eine Kuhflade.

Der Pathologe nahm sein Diktiergerät und sprach Begriffe wie Läsion, Kontusion, laterale Hypothese, als Nathan erstickende Geräusche von sich gab und hinausrannte. In der Tür stieß er mit Blummenfelt und Harry Abrams, Einsteins Hausarzt, zusammen, die ihn kaum beachteten.

— Wie geht es unserem Tod? Draußen warten Presseleute. Wann sind Sie so weit? Sie müssen eine Erklärung abgeben. Der Direktor dämpfte seine Zigarette aus und steckte sich sofort eine neue an.

— Gut, sagte Harvey. Muss erst den Kopf schließen.

— Sie haben das Hirn entnommen? Blummenfelt wusste es, doch er konnte es nicht glauben. Er machte einen Zug an seiner Zigarette, ein Aschewürmchen fiel auf den Toten, der Direktor blies es weg.

Ja, es stimmte, Harvey hatte es getan. Das war der Moment, an dem seine Probleme anfingen, der Moment, an dem sein Leben in einen Schacht mit glitschigen Wänden fiel, aus dem es kein Entrinnen gab. Doch vorerst wusste er nichts davon.

— Das Hirn eines Genies. Ich habe vor, darin den Sitz der Genialität zu entdecken.

— Das könnte dem Krankenhaus einigen Ruhm einbringen. Blummenfelt grinste und streckte sich zu voller Größe, eins zweiundsechzig. Er wollte gehen, um die Journalisten zu beruhigen, als ihn Abrams an der Schulter fasste.

— Was ist mit den Augen?

— Wie? Der Direktor drehte sich um und sah den Doktor fragend an.

— Ich hätte gerne Einsteins Augen. Abrams sprach so selbstverständlich, als würde er im Restaurant eine Bestellung aufgeben. Natürlich, einmal Augen. Al dente und mit etwas Trüffel? Auf Bandnudeln oder überbacken? Ich habe Professor Einstein jahrelang behandelt. Ich habe ein Recht …

— Auf ein Souvenir? Das kam von Harvey.

— Das müssen Sie mit sich selbst ausmachen. Augen? Blummenfelt schüttelte den Kopf und ging.

Harvey dachte an Reliquien, die Menschen seit Ewigkeiten faszinierten. Das Blut Christi, die Gebeine irgendwelcher Märtyrer, Taubeneier vom Heiligen Geist. Ein Arzt besaß Napoleons Penis, ein anderer den kleinen Finger von Kaiser Karl dem Fünften. Es gab einen schwungvollen Handel mit Schädeln berühmter Komponisten, und er selbst hatte vor wenigen Momenten überlegt, ein paar von Einsteins Haaren mitgehen zu lassen. Aber Augen? Warum nicht die Zunge? Seit dem Bild, in dem sie wartenden Journalisten entgegengestreckt wurde, war sie der berühmteste Schlabberlappen der Welt.

Abrams hatte Latexhandschuhe übergestreift und ein Messer genommen. So, als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte, durchtrennte er Sehnerven und drückte die Augäpfel nach innen, wo er sie wie eine ins Loch gerollte Billardkugel auffing. Er gab sie gerade in eine kleine Metallschale, als Otto Nathan zurückkam … grün und mit Flecken auf dem Jackett. Der Testamentsvollstrecker sah den offenen Körper mit dem verunstalteten Gesicht, den leeren Schädel, Abrams mit den Augen in der Tasse. Das war zu viel! Nathan lief zur Tür, merkte, dass der Weg zu lang war, machte kehrt, sprang zum Waschbecken und übergab sich. Ein gepresster Strahl schoss hervor. Würgegeräusche waren zu hören, während Abrams die Augen in ein mit Formaldehyd gefülltes Glas kullern ließ und sich davonmachte.

Was will er damit? Harvey stopfte Holzwolle in Einsteins Schädel, strich etwas Klebstoff auf die Naht der gewölbten Platte und gab sie zurück an ihren Platz. Dann zog er Kopfhaut darüber und vernähte den Skalp. Nachdem er die Lider heruntergezogen hatte, sah der Tote aus, als würde er schlafen. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass zwei Ärzte aus ihm einen blinden Hohlkopf gemacht hatten. Einsteins Mund war leicht geöffnet und zeigte verwitterte, maisgelbe Zähne unter dem Schnauzbart. Harvey hob den Unterkiefer und packte die Innereien zurück in den Bauch. Er stopfte das herausgelöffelte Fett hinein, bog die Rippen zum Brustbein, tackerte sie fest, schloss die Haut und fixierte alles mit Nadelstichen. Zum Abschluss nahm er das weiße Laken und bedeckte den Toten.

Es war elf Uhr vormittags, die Autopsie hatte keine zwei Stunden gedauert. Der Pathologe ging zum Waschbecken, wo es stark nach Magensäure roch, wusch sich, zog die blutverschmierte Schürze aus, streifte die Handschuhe ab, besprenkelte sein Haar mit Wasser und kämmte es zurück. Nun stolzierte er Richtung Presse, sich seine fünfzehn Minuten Ruhm abzuholen.

Er schritt durch hell ausgeleuchtete Korridore, durchquerte die Eingangshalle, sah rauchende Patienten, Ärzte, dann Helen Dukas, den Zerberus, mit dem Testamentsvollstrecker, der sich etwas erholt hatte, aber immer noch ganz grün war. Auch Einsteins Stieftochter Margot stand dabei. Eine Krankenschwester sauste vorüber, und Harveys Blick blieb an ihren Brüsten hängen. Sie lächelte.

Draußen waren drei Reporter und vier Fotografen, die ihm von Blummenfelt vorgestellt wurden. Kein Fernsehen? Ein Ausdruck der Enttäuschung huschte über Harveys Gesicht. Er hob die Brust und versuchte, sich aufrecht zu halten, als Muster an Selbstbeherrschung den kritischen Blicken standzuhalten. Doch da war Druck auf seinen Schultern, ungeheurer Druck, als würde die Schwerkraft dort besonders stark wirken.

— Doktor Harvey, Sie haben den toten Albert Einstein untersucht, was können Sie uns über die Todesursache mitteilen?

— Woran ist er gestorben?

— Haben Sie etwas gefunden?

Die Reporter überschwemmten ihn mit Fragen. Harvey blickte sie lange an und schwieg.

— Doktor Harvey, bitte!

Der Pathologe dachte an die vernebelten Tage im Keller mit den Leichen, an all seine Tauchgänge an diesem Unort. Und das war der Trost? Eine Illusion! Erst nach einer halben Ewigkeit konnte er sich überwinden und sprach in knappen Sätzen von der Todesursache, erklärte, was ein Aneurysma ist und dass an der Gallenblase keine Entzündung festzustellen war. Das Hirn, sagte er, habe er für eine Untersuchung entnommen, weil er überzeugt sei, daran Merkmale der Genialität festmachen zu können. Die Reporter hingen an seinen Lippen, als würde er das Evangelium verkünden. Bevor sie nachfragen konnten, fiel ihm Blummenfelt ins Wort und machte eine derart ungeschickte Bewegung … dieser Unglücksrabe …, dass er einem Fotografen die Kamera aus der Hand schlug.

— Entschuldigung. Der Direktor bückte sich und stieß mit dem Kopf des anderen zusammen. Aua! Aber Blummenfelt war hart im Nehmen, drängte Harvey zur Seite und lobte sein Spital in höchsten Tönen. Neunzig Betten auf dem allerneuesten Stand, eine Vorzeigeeinrichtung … bald das modernste Spital in ganz New Jersey … Er sagte nichts vom defekten Lift, verschwieg, dass viele Operationen misslangen, weil Chirurgen tranken oder Schwestern das Operationsgerät nachlässig desinfiziert hatten. Auch sein Unglück verschwieg er geflissentlich. Blummenfelt hatte Jahre damit zugebracht, an die Macht zu kommen. Jetzt, die Aufmerksamkeit genießend, benahm er sich wie der Sonnenkönig.

Unter den Ärzten und Krankenschwestern hatte sich herumgesprochen, wer im Autopsiesaal lag. Immer wieder schlichen welche hin, um einen Blick auf den Genius zu erhaschen. Nicht nur einem fiel es dabei ein, dem berühmten Mann eine Locke abzuschneiden. Und wenn so etwas erst einmal losgeht … Als gegen dreizehn Uhr die Mitarbeiter des Krematoriums kamen, hatte Einstein beinahe eine Stoppelglatze. Einem Chirurgen war es in den Sinn gekommen, dem Physiker einen Zahn herauszubrechen. Auch die Männer, die den Leichnam in den Zinksarg hoben, wollten diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Der Körper wird doch eh verbrannt. Es ging zu wie zur Hochblüte des Reliquienhandels. Alle wollten ein Souvenir, ein Beweisstück des Genies. Einstein würde sich im Grab umdrehen, wenn er eines hätte. Diese Art des Kannibalismus war ihm stets zuwider gewesen.

Um sechzehn Uhr dreißig, sechszehn Stunden nach seinem Tod, wurden Einsteins sterbliche Überreste in der Feuerhalle des Ewing-Friedhofs in Trenton verbrannt. Die Angehörigen wollten die Sache schnell erledigt haben. Otto Nathan, Helen Dukas, Stieftochter Margot und Sohn Hans Albert standen da wie Planeten, denen die Sonne abhandengekommen war. Bloß keinen Presserummel. Je schneller Gras über die Angelegenheit wuchs, desto besser. Einsteins Frauen waren beide tot, sein geistig verwirrter zweiter Sohn befand sich in einem Schweizer Sanatorium, und die beiden Töchter waren zum einen nicht legitimiert und galten zum anderen als tot oder verschollen. Frieda, Einsteins Schwiegertochter, war mit dem Enkelsohn in Kalifornien geblieben. Es gab Geliebte, die aber hatten bei der Einäscherung nichts zu suchen. Keine Kränze von Physikinstituten oder pazifistischen Gesellschaften, keine Rede von einem Präsidenten oder Rektor, nicht einmal von einem Rabbi, Priester oder professionellen Trauerredner. Keine Blasmusik, keine Zeremonie. Nichts! Eine Veranstaltung so nüchtern wie die Entrümpelung einer Wohnung. Auf dem Zinksarg lagen Rosen, Otto Nathan, nun nicht mehr ganz so grün, sprach Abschiedsworte, zitierte Goethe … irgendetwas mit Ruhe über Gipfeln und einem Hauch an Wipfeln … aber niemand hatte Tränen in den Augen. Was wäre das für ein Brimborium gewesen, hätte die Öffentlichkeit davon Wind bekommen? Tausende wären hinter dem Sarg defiliert. Genau das wollten die Hinterbliebenen vermeiden.

Einsteins Körper wurde formlos den Flammen übergeben, damit seine Masse … oder Materie? … gemäß den Gesetzen der Thermodynamik in Wärmeenergie umgewandelt wurde. Das entstehende Licht — sofern es welches gab — kam nicht aus dem Ofen heraus. Jener Teil des Körpers, der sich nicht in Energie umwandeln ließ, die Asche samt den zu Metallklumpen geschmolzenen Zahnfüllungen, wurde von einem Krematoriumsarbeiter in eine Urne geleert. Es war Margot, die das warme Tongefäß entgegennahm.

— Seien Sie vorsichtig, wenn Sie die Urne nach Europa schicken. Es ist schon vorgekommen, dass man dort die Asche für Kaffee gehalten hat.

— Kaffee? Die zierliche Frau sah den Leichenverbrenner verstört an. Sie umfasste das Tongefäß und ließ es sich nicht einmal von Einsteins Sohn aus der Hand nehmen.

— Ich habe mit Onkel Albert ausgemacht, ihn zu verstreuen. Er hat mir den Ort genannt.

Die Asche verstreuen? Die Trauernden zuckten mit den Achseln.

Man fuhr zurück nach Princeton, trank Tee, aß belegte Brote und besprach, wie man mit dem Nachlass umgehen wollte. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand der Hinterbliebenen, dass Teile von Einsteins Körper nicht in den Flammen aufgegangen waren, das Hirn, die Augen, einiges Haar, ein Zahn und, vergessen wir nicht die Leute von der Feuerbestattung, der Schnauzbart. Von den Trauernden wusste nur Otto Nathan von der Entfernung des Hirns, war aber überzeugt, es wäre wieder in Einsteins Kopf gelandet. Die Dinge hatten Sehnsucht nach dem Ursprung, nach Durchdringung, nicht allen aber war es jetzt bereits vergönnt.

Ein Schadensfall

Im Radio trällerte Doris Day, und Billy Wilder sprach über einen neuen Film, der »Das verflixte 7. Jahr« hieß. Harvey saß im Autopsiesaal und betrachtete das in Formaldehyd schwimmende Gehirn — nicht wie ein Arzt, sondern wie ein Fischforscher eine gelbe Forelle mit achtundzwanzig Flossen. Etwas schwermütig, weil er wusste, dass ihm die Kenntnis fehlte, es wissenschaftlich zu untersuchen. Er war kein Oskar Vogt, der Lenins Hirn filetiert hatte. Mittlerweile gab es das Elektronenmikroskop, aber wie und wo sollte man Genialität feststellen? Die Hirnforschung steckte in den Kinderschuhen, und Harvey hockte vor dem mehlgrauen Eiweißwulst wie eine Kuh an einem Klavier. Er musste das Hirn jemandem überlassen, der kompetenter war. Thomas klopfte gegen das Glas, machte ein trauriges Gesicht, griff zum Telefon und rief Professor Zimmerman an, bei dem er studiert hatte und der mit Einsteins Denkapparat etwas anfangen würde können.

— Harvey? Der schweigsamste Student, den ich je unterrichtet habe? Sie haben was? Einsteins Hirn? Die eben noch gelangweilte Stimme des Professors klang plötzlich so hell wie nach einer Helium-Behandlung. Er war völlig aus dem Häuschen, gluckste wohlige Geräusche, sagte, dass das großartig sei, ganz großartig, er damit Fakten schaffen wolle, keine Theorien.

Zimmermans Enthusiasmus ließ in Harvey Alarmglocken schrillen. Sollte er diesen Schatz wirklich aus der Hand geben, das Hirn nach Manhattan bringen? In der besten aller möglichen Welten besteht dazu keine Veranlassung.

Zimmy, wie Harry Zimmerman genannt wurde, hatte hunderte Neuropathologen ausgebildet und war seit zwei Jahren Chefpathologe am Montefiori Medical Center in New York. Wenn jemand geeignet war, Einsteins Denkorgan zu untersuchen, dann er. In Harveys Kopf knirschte es wie Sand in einem Küchenmixer. Er warf den Hörer auf die Gabel, ließ sich nicht besonders anmutig auf einen Stuhl fallen und sah vor seinem inneren Auge, wie Zimmy nach Europa reiste und den Nobelpreis entgegennahm. Harvey würde nicht erwähnt werden.

— Was tätest du an meiner Stelle? Er sprach halblaut mit dem Hirn und bekam keine Antwort. Hast du an Gott geglaubt? Nein, nur an Gleichungen und Formeln. Physiker leben in einer eigenen Welt, trotzdem müssen sie atmen und essen und aufs Klo gehen. Am Ende liegen auch sie nackt auf einem Stahltisch. Vielleicht ist unser Universum ein Atom in einem ungeheuer großen Körper? Harvey wusste nicht viel über Physik, aber er konnte sich vorstellen, dass jedes Atom ein eigenes Universum mit unzähligen Galaxien war. Aber dann müssten wir leuchten. Sein Zeigefinger klopfte gegen das Glas, das Hirn reagierte nicht. Und wenn ein Mensch in die Sauna ginge, schmölzen die Universen seines Körpers. Oder auch nicht, weil alles in anderen Zeitdimensionen geschah. Dann gäbe es unendliche Größe und unendliche Kleinheit. Jedes Atom wäre ein Weltall, alle darin enthaltenen Atome bildeten wieder Universen und so weiter bis in alle Ewigkeit … Und über allem wachte Gott.

Thomas Stoltz Harveys Urknall fand am 10. Oktober 1912 statt. Das Sternbild Waage versprach Entscheidungsschwäche, dazu ein Fische-Aszendent, welcher ein haltloses Sich-Treibenlassen begünstigte. Jupiter stand im siebten Haus, genau in Opposition zum Merkur, was die Tendenz zu einer gewissen Vorsicht, um nicht zu sagen Feigheit erkennen ließ, dazu kam die exponierte Stellung des Saturns, während sich Mars im vierten Haus versteckte … So war der ganze Harvey in den Sternen bereits angelegt, wenn man daran glaubt.

Vielleicht waren es Zufälle, dass sich im Dezember 1911 ein Reiseversicherungsjurist mit einer verzopften Pfarrerstochter einließ. Sie mochte keine Männer mit Schwielen an den Händen, und er hatte bei ihrem Vater wegen einer Versicherung vorgesprochen. Sie hätte im Schuppen arbeiten sollen, und ihm musste der Weg gezeigt werden … Gemeinsam stapften sie über ein von Schneeverwehungen entstelltes Feld, landeten im Wald, und plötzlich war die Hand des Juristen an der Unschuld der Pfarrerstochter, versicherte sich der junge Mann des Weges und nahm eine unbekannte Abzweigung ins Gebüsch … Neun Monate später, in einer Stadt namens Louiseville, kam Thomas zur Welt, und bald war klar, dass seine Eltern, die von etwas Höherem geträumt hatten, zurechtgestutzt wurden.

Besaß dieser Thomas Harvey, in dessen Stimme noch immer eine Spur von verrotztem Schweinebauern-Akzent lag, ein Recht auf das Hirn von Albert Einstein? Er hatte keine intellektuellen Ambitionen und war so unterhaltsam, dass in seiner Gegenwart selbst Kanarienvögel auf Koks weggedämmert wären. Seine Mutter hatte stets gesagt, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Frances Stoltz, Tochter eines deutschstämmigen presbyterianischen Predigers aus Ottumwa, einem Kaff in Iowa, liebte Kleider, deren Farben an Hundefutter erinnerten, ging beharrlich zur Kirche und nahm keine Mahlzeit ein, ohne vorher ein Tischgebet gesprochen zu haben. Liebte sie ihren Sohn? Oder machte sie ihn insgeheim für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich, das sie anderen gegenüber als glücklich verteidigte? Jedenfalls sprach sie mit dem kleinen Thomas häufig Deutsch, weshalb er diese Sprache anfangs stotternd, später aber ganz leidlich beherrschte.

Harvey wurde von seinem Vater, einem Quäker, religiös geprägt. Der Versicherungsjurist glaubte, dass Pflanzen Wesen wie Tiere oder Menschen waren; in seinen Mitbürgern sah er Ebenbilder Gottes. Der alte Harvey bemühte sich, ein guter Christ zu sein, redete viel von Erlösung, Liebe und Gott als dem besten aller Versicherer, was ihn aber nicht hinderte, seinen Sohn mit einem Elektrokabel windelweich zu prügeln, wenn dieser stotterte oder, wie er sagte, vom rechten Weg abgekommen war.

Wenn ein Objekt Energie besitzt, findet die Natur Möglichkeiten, sie ihm zu entziehen. Dasselbe gilt für Menschen und ganz besonders für Kinder, denen von ihrer Umgebung alle Energie entzogen wird. Wie oft kam es vor, dass sich Thomas am Esstisch eine Ohrfeige einfing, weil er die Worte nicht schnell genug heraus- oder das Essen nicht rasch genug hinunterbekam.

Wenn irgendetwas zu Bruch gegangen war, ein unerlaubt geöffnetes Marmeladenglas auftauchte, etwas fehlte oder der alte Herr schlechter Laune war, blickte er nur streng zum Schrank, und Thomas wusste, was zu tun war. Der Junge musste das Textilkabel mit den darin verarbeiteten Drähten bringen und »Ich bitte schön um das Meinige, Herr Vater« sagen. Dann wurde ihm die Hose heruntergezogen und der Rücken entblößt, hatte er sich bäuchlings auf den Stuhl zu legen, um der Tortur ausgesetzt zu werden wie Schnitzelfleisch, das durchgeklopft werden musste. Wenn Thomas dann einen geröteten, mit Striemen überzogenen, zerschlagenen Rücken und Hintern hatte, vom Schmerz so benebelt war, dass er kaum stehen konnte, musste er »Ich danke schön für das Meinige, Herr Vater« herunterbeten und durfte sich entfernen. Nicht die Schmerzen waren das Entwürdigendste, nicht der absurde Kult, der mit dem Kabel getrieben wurde, sondern die Bezeugung dieser biblischen Strafe durch Mutter und Schwester.