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Franzobel

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Beschreibung

Der erfolgreiche Getränkehändler und Barbesitzer Malte Dinger ist ein Glückspilz. Als er jedoch unverschuldet in die Fänge der Justiz gerät, steht plötzlich seine ganze Existenz auf dem Spiel. Für den Balkan-Casanova Branko ist das Leben da schon vorbei. Vieles deutet darauf hin, dass er das Opfer abseitiger sexueller Praktiken geworden ist, doch Kommissar Groschen glaubt nicht recht daran. Das Verhältnis Brankos zu der lustig gewordenen Witwe des Bautycoons Hauenstein bringt dann die Machenschaften der neuen rechtsnationalen Regierung ans Licht, die den bevorstehenden Opernball als Propagandaspektakel inszenieren will. Franzobels neuer Krimi spielt in der Zukunft, ist aber brandaktuell.

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Über das Buch

Der erfolgreiche Getränkehändler und Barbesitzer Malte Dinger ist ein Glückspilz. Als er jedoch unverschuldet in die Fänge der Justiz gerät, steht plötzlich seine ganze Existenz auf dem Spiel. Für den Balkan-Casanova Branko ist das Leben da schon vorbei. Vieles deutet darauf hin, dass er das Opfer abseitiger sexueller Praktiken geworden ist, doch Kommissar Groschen glaubt nicht recht daran. Das Verhältnis Brankos zu der lustig gewordenen Witwe des Bautycoons Hauenstein bringt dann die Machenschaften der neuen rechtsnationalen Regierung ans Licht, die den bevorstehenden Opernball als Propagandaspektakel inszenieren will. Franzobels neuer Krimi spielt in der Zukunft, ist aber brandaktuell.

Franzobel

Rechtswalzer

Kriminalroman

Paul Zsolnay Verlag

Für alle linken Füße

Dass Politik in meinem Leben eine Rolle spielen könnte, verwirrte und ekelte mich ein bisschen. Mir war aber bereits klar geworden, dass der sich seit Jahren verbreiternde, inzwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprechen — also Politikern und Journalisten —, notwendigerweise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen musste.

Michel Houellebecq, Unterwerfung

Der Ernst des Lebens

6. September 2024, Freitag.

Dinosaurier sind Feinde Gottes. Als Beweis der Evolution stehen sie im Widerspruch zur Schöpfung. Weder in der Bibel noch in einem anderen heiligen Buch ist von der Erschaffung gigantischer Echsen die Rede. Als es in der Bibel Licht wurde, Mohammed den Koran empfing, Hinduisten die Veden aufschrieben, Joseph Smith das Buch Mormon, Zoroaster das Avesta oder Laotse das Daodejing, waren von den Dinos nur noch Knochen und versteinerte Exkremente übrig.

Aber warum sind Kinder so scharf darauf? Sehen sie in den urzeitlichen Ungetümen eine Kreuzung aus Superhelden und Schutzengeln? Fühlen sie eine Verwandtschaft zu diesen Kaltblütlern? Oder hat die von Steven Spielberg angeheizte Jurassic-Park-Industrie ihre ungeschützte Emotionalität vergiftet?

Jedenfalls hatte Carvin Dinger einen, wie sein Vater sagte, Dino-Vogel. Da riss auf seiner Schultasche ein Tyrannosaurus das Maul auf und zeigte Kuhhornzähne. Ein aus einem Elefantenkörper kommender Wurmfortsatz mit Peniskopf, der Apatosaurus, prangte auf der Federschachtel, während ein Nashornkopf mit Hämorrhoiden-Halskrause, der Triceratops, die Lunchbox zierte.

Malte Dinger, Carvins Vater, vertraute der Strahlkraft dieser Urzeitdrachen. Mögen andere Kinder Fußball- oder Star-Wars-Motive, Prinzessinnen, Disneyfiguren oder glupschäugige Hunde bevorzugen, Carvin liebte Saurier. Er bestand auf Geschirr mit urzeitlichen Echsen und versteifte sich darauf, vor dem Einschlafen eine Saurier-Geschichte erzählt zu bekommen.

Malte dachte an seinen ersten Schultag, konnte aber bloß Schatten ausmachen und den Geruch nach Kinderschweiß, Essigreiniger und Wurstbroten erahnen. Zuerst wird man von Erwachsenen mit Suggestivfragen gemartert: Ob man sich auf die Schule freue? Dann wird der Schulanfang gefeiert. Wer feiert? Die Eltern, dass sie die Verantwortung los sind? Die Kinder, denen eine Art Initiation abverlangt wird? Was bei archaischen Stämmen die Tätowierung der Geschlechtsteile, das Durchbohren der Lippen und Ohrläppchen mit großen Reifen oder das Anziehen eines mit giftigen Waldameisen präparierten Handschuhs ist, das ist in der zivilisierten Welt der Schuleintritt.

Zu Maltes Zeit gab es keine Schultüte, dafür musste man bei Erscheinen der Lehrer aufstehen und so laut »Guten Morgen!« brüllen, dass Kreidestaub von der Tafel rieselte. In den Klassenzimmern hingen Kreuze, der Bundesadler und Bilder von alten Männern, die so ernst dreinsahen, als ob sie monatelang nichts als Käserinde zu essen bekommen hätten. Statt der nun gängigen Birkenstocksandalen trug man Holzpantoffeln, die auf dem Linoleumboden klapperten wie einschnappende Mausefallen. Und dann dieses Gebrüll der Lehrer. Vogel-V, Fahnen-F, Schweineschwänzchen-Ringel-S … Irgendwann stellte man fest, die Erwachsenen hatten etwas unterschlagen, nämlich die Tatsache, dass es sich bei dieser Schule um kein solitäres Ereignis handelte, das wie Weihnachten, Ostern und der Geburtstag einmal jährlich zelebriert wurde, sondern um etwas, das wie ein Teig das bisherige Leben umhüllte, jeden Tag bestimmte, das gleichförmige Leben in Unterrichtseinheiten und Pausen zerteilte — gefüllt mit schrillem Gebimmel, das sich wie Bleistiftspitzen in die Ohren bohrte und mit Hausaufgaben, Rechenproben und Leseübungen aufgebacken wurde.

Malte hatte die Schule gehasst, er war Legastheniker und hatte schier aussichtslose Kämpfe gegen die Nicht genügend geführt, die sich schon im Herbst wie Schlangen um ihn wanden und ihm bis zum Frühjahr jede Luft nahmen, bevor sie ihn in Gestalt von Entscheidungsprüfungen fast verdauten. Schule? Kinderfabriken, in denen man nur eines lernte — Zeit totschlagen. Sinnlose Spiele: mit der Stoppfunktion der Digitaluhr eine doppelte Null erwischen … Schritte der Lehrer zählen, Kritzeleien, Vier gewinnt.

Mit Carvins Schuleintritt holte ihn das alles wieder ein: verhärmte Lehrerinnen, übergewichtig oder anorektisch, ehrgeizige Eltern, die ihre unförmigen Larven in teure Markenkleider steckten, und Schulwarte, die nur eines kannten: die Einhaltung der Hausordnung; als hinge die Sicherheit des Vaterlandes davon ab. Außerdem musste man fünfmal in der Woche gegen sechs Uhr morgens aufstehen, um den Tag mit streitsüchtigen, gemeinen, lauten, am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom leidenden Halbaffen zu verbringen, die damals Thomas und Daniel, Wolfgang, Christian, Peter oder Robert hießen und selbstgestrickte Pullover sowie Strümpfe mit Zopfmuster trugen. Heute, nachdem auch die Zeit der Fabians und Valentins vorüber war, hörten sie auf Carlos, Noah, Lionel, Leonidas oder Quirin. Die Mädchen hießen Faustina, Frida, Marie-Claire. Nur Idioten nannten ihre Kinder noch Kevin oder Jacqueline, Maurice oder Yvonne, womit sie ihnen ein Schild um den Hals hängten, auf dem stand: Wir sind gehirnbefreite Trottel mit einem jährlichen Familieneinkommen von weniger als 15.000 Euro. Die meisten wollten ihre Kinder adeln, nannten sie Leopold, Heinrich, Xavier, Ottokar, Maria-Theresia, Elisabeth, Seraphina oder nach einem anderen degenerierten Habsburger, Bourbonen oder Welfen. Auch Merle, April, Mai, Juno, Augusta oder ähnlich Idiotisches war beliebt.

Doch selbst die ausgefallensten Namen änderten nichts daran, dass man diesen eingebildeten Dauphins und Prinzessinnen, diesem hochkonzentrierten Nachwuchs (Einzelkinder!) ganzer Sippschaften ausgeliefert war. Jahrelang gab es kein Entrinnen, boten die überforderten, unzureichend ausgebildeten Pädagogen wenig Schutz. Der Schuleintritt war, als hätte jemand eine Seite im Buch des Lebens umgeblättert, von wo aus es kein Zurück mehr gab.

Malte Dinger war froh, selbst dieser Bildungseinrichtung entkommen zu sein, bemitleidete aber seinen Sohn, den er soeben samt Saurier-Schulsachen in der Klasse abgeliefert hatte, weil auf den ein System jahrelanger Drangsalierung wartete, das letztlich nur einen Zweck hatte, ihn zu einem leistungsfähigen, integrierten Mitglied der Gesellschaft zu formen.

Aber nicht nur die Kinder wurden vom Schulsystem in die Zange genommen, auch die Eltern. Vorbei war es mit faulen Vormittagen und Urlauben in der Nebensaison, vorbei mit Ausflügen und Saufgelagen bis in die Morgenstunden. Die Schule war auch über sie gestülpt, woraus es für die nächsten acht, zwölf Jahre kein Entkommen gab.

Hatte dieser Einschnitt nicht auch Positives? Hübsche Mütter? Milfs! In der Aula war ihm eine Blondine mit Kuhaugen aufgefallen. Hashtag Marilyn. Jetzt sah er eine Rothaarige, deren Teint an geschäumte Milch erinnerte. Hashtag Vielleserin. So schlenderte Malte lächelnd durch den Resselpark und überlegte, ob er sich ein zweites Frühstück gönnen sollte. Bis zu seinem Termin hatte er noch Zeit. Kaffee und Kipferl? Oder eine Leberkäsesemmel? Dieses Grundnahrungsmittel der Österreicher, das weder Leber noch Käse enthält … eine mit Antioxidationsmitteln und Natriumnitrit angereicherte, im eigenen Fermentierungssaft geschmorte und gebackene Fettmasse, die vorzüglich schmeckte — wie ein Marshmallow aus Wurst.

Nein, da kannst du dir das Fett gleich intravenös zuführen. Eine Mutter mit moosgrünen Strümpfen, Hashtag Künstlerin, die mit der einen Hand ein kauendes Kind Richtung Schule schleifte und mit der anderen ein Smartphone so nahe vor ihr Gesicht hielt, dass sie unmöglich sehen konnte, wohin sie stapfte, lief fast in ihn hinein. Eine prall gefüllte Brieftasche fiel aus einer ihrer Taschen. Malte hob sie auf und lief ihr hinterher.

— Oh. Vielen Dank. Die Grünbestrumpfte war verblüfft.

— Keine Ursache. Malte spürte ein Kitzeln in der Kehle. Er war, wie man sagt, ein guter Mensch, nicht gläubig, aber er bemühte sich, die Welt ein bisschen besser zu machen, hatte sich, als vor neun Jahren die Flüchtlingswelle in das Land geströmt war, als freiwilliger Helfer gemeldet und monatelang zwei Syrer beherbergt. Er spendete für die Entwicklungshilfe, boykottierte Großkonzerne, trennte seinen Müll, kaufte keine in Kinderarbeit hergestellte Kleidung, unterzeichnete Volksbegehren für die Gleichberechtigung der Frau und verzichtete auf Produkte aus der Massentierhaltung. Wann immer es darum ging, für den Frieden oder die Befreiung eines unterdrückten Volkes einzutreten, war er dabei. Natürlich, er war kein Heiliger, aber Menschlichkeit, Umweltschutz und Toleranz standen groß auf seinen Fahnen. Von jenen, die Menschen wie ihn als Gutmenschen oder Linksliberalen bezeichneten, ließ er sich nicht irritieren, er folgte seinem Herzen. Das straffe Law-and-Order-Programm der neuen Regierung spornte ihn an, noch aktiver zu sein.

Zwei Angehörige der Bürgerwehr, die neuerdings überall Präsenz zeigte, spielten mit ihren Gummiknüppeln. Eine feine Dame verpackte die Ausscheidung ihres kleinen Hundes, der aussah wie eine Drahtbürste auf Beinen und unbeteiligt gähnte, in ein Plastiksäckchen. Weit hat es der Mensch gebracht, klaubt die darmwarme Scheiße seiner Köter auf… Blitzkrieg fiel ihm ein, der Barsoi, den er vor Carvins Geburt besessen hatte. Damals war das Kotaufsammeln noch nicht Usus, hatte sich die Sackerl-fürs-Gackerl-Gesinnung noch nicht durchgesetzt.

Die Bäume glitzerten wie Goldwasser, und am kornblumenblauen Himmel standen Kondensstreifen. Ein wunderschöner Spätsommertag kündigte sich an, ein letztes Aufflackern einer Schönwetterperiode, bevor die Tage kürzer und kälter wurden.

Malte sprang vergnügt über Laubhaufen und stachelige Früchte, die an Seeigel und Kastanien denken ließen, hob eine auf, ließ sie wieder fallen, trat danach und sah zu, wie sie zu einer Skateboardrampe rollte. Da kreuzte ein Eichhörnchen seinen Blick, flitzte über den Platz, sprang in eine Rabatte, durch Sträucher, über eine Skulptur und war verschwunden. Das Leben ist wunderbar, alles springt und jauchzt, jubiliert und liebt, und zu Hause warten Garnelen, Mayonnaise und ein Weißwein aus dem Kamptal. Erst dank diesem fuchsbraunen Tierchen fiel Dinger die Bronzeskulptur auf, eine nackte, etwas zu üppig geratene Mutter, keine moosgrünen Strümpfe, an der ist alles sumpfgrün, kurz davor, ihrem Baby die Brust zu geben. Bestimmt ein Überbleibsel aus der Nazizeit. Darunter lag etwas: ein Smartphone. Malte, eine Woge stieg in ihm hoch, eine Mischung aus Finderglück und Neugierde, griff nach dem Mobiltelefon und überlegte, ob er es zur U-Bahn-Aufsicht bringen sollte. Wo war die? Die Station Karlsplatz war die weitläufigste der Stadt. Und als er nachdachte, wo es hier ein Büro der Verkehrsbetriebe gab und wie man es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, das Gerät nicht sofort hinzutragen, spürte er ein Vibrieren in der Hand. Gleich darauf erklang eine Mundharmonikamelodie aus »Spiel mir das Lied vom Tod«. Er klappte das Gerät auf, las »Unbekannt« auf dem Display, drückte die Taste mit dem grünen Telefonhörer und hielt es sich ans Ohr.

— Hör zu, Arschloch, sagte die Stimme im Lautsprecher. Jetzt ist es aus mit deinem Glück. Ab heute wendet es sich gegen dich, entzieht dir das Universum seine Gunst. Du bist raus, kapiert? Raus. Du hast ausgeschissen in der Welt!

— Was? Das muss ein Irrtum sein. Ich … Dinger fühlte, wie ihm eine Gänsehaut über den Nacken bis zu den Armen wuchs. Etwas schnürte ihm den Hals zu. Fühlte er sein Schicksal, das sich hier zeigte? Angst? Er rang um eine Antwort, doch da war bereits das Besetztzeichen. Was war das gewesen? Er betrachtete das Gerät. Es reizte ihn, das Handy wegzukicken wie die Nuss, doch steckte er es ein. Ich bin raus? Blödsinn! Dinger schmunzelte. Er war ein Glückspilz, auf die Butterseite des Lebens gefallen, optimistisch, immer zu Scherzen aufgelegt, beliebt, glücklich verheiratet, selbst nach zehn Jahren war seine Liebe zu Elvira noch aufrichtig, hätte nicht einmal der Fixierung durch Carvin gebraucht … ein prächtiger Junge … und seit er Lobsters Tonic Water und den Gin entdeckt hatte, florierte auch der Getränkehandel, von dem ihm viele abgeraten hatten. Sein Gin-Ding war in aller Munde, und seit die Stadtzeitung darüber berichtet hatte, wurde auch das »Dingers«, sein Comptoir, gestürmt. Bei Dingers gab es keinen ordinären Gordons oder Bombay Sapphire, wie man ihn in jedem Flughafenshop bekam, sondern Persian Peach, White Rain, Edinburgh Christmas Gin, Schwarzer oder Backwoods Vintage Dry. Gin war der neue Whisky, das hippeste Getränk, und Malte war voll drauf auf diesem Zug.

Es hatte gedauert, bis er aus seiner Prokrastination — ja, hier ist dieses Modewort angebracht — erwachte und seine Berufung für den Getränkehandel entdeckte. Seine Freunde waren alle in der Kreativwirtschaft, arbeiteten als Werbetexter oder in Designbüros, kämpften mit kleinen Filmausstattungsfirmen ums Überleben, erstellten Websites oder schrieben Artikel für Mitgliederzeitungen von Autofahrerklubs. Andere gaben Weinführer heraus, verdingten sich als Nebendarsteller oder betrieben eine Tanzschule für litauischen Tango. Jeder hatte eine Nische gefunden, in der er sich unersetzlich fühlte, nur Malte, kreativ wie eine Form zum Kekseausstechen, handelte mit Getränken, war das Bindeglied zwischen Produzenten und gerade angesagten Bars. Und von Donnerstag bis Samstag betrieb er sein Comptoir, wo es nur Gin, Prosecco und Lobsters Tonic Water gab, sich die Gäste ihr Essen selbst mitbringen konnten. Nur selten, auch das lief gut, gab es Austern aus der Bretagne. Malte brauchte kein Start-up und keine Bitcoins, keine Aktienfonds und kein Portfolio, er war mit ehrlicher, einfacher Arbeit erfolgreich — Arbeit, die kleine Destillerien förderte, die Welt vielleicht nicht besser machte, aber lebenswerter. Dazu Carvin, ein freundliches und hochbegabtes Kind, das formidabel Schach spielte, alle Strophen der Marseillaise kannte und sich bereits mit vier selbständig das Lesen beigebracht hatte. Während sich alle anderen Paare um ihn herum getrennt hatten, waren er und Elvira immer noch zusammen. Hätten sie sich von ihrem Bankberater keinen Fremdwährungskredit einreden lassen, wäre ihre Wohnung bereits abbezahlt, aber auch so war ein Ende der monatlichen Belastungen absehbar. Alles hatte sich hervorragend entwickelt, das Universum war auf seiner Seite. Butterseite!

Und nun das? Bestimmt ein Scherz. Allerdings war da der Nachhall eines dumpfen Knalls, als ob im Regal seines Kopfes ein Buch umgefallen wäre. Plötzlich tauchte eine längst vergessene Empfindung auf: Ohnmacht. Er schob dieses Gefühl zur Seite, ging Richtung U-Bahn, sah in einer Glasscheibe sein Spiegelbild, blieb stehen, betrachtete sich und war — ja, konnte man es anders sagen? — zufrieden: Ein schlanker Mann mit hängenden Augenlidern, feinen Gesichtszügen und glattem, sandfarbenem Haar, das an der Stirn schon schütter war, ein Oskar-Werner-Typ, blickte ihm da entgegen. Mit dem hellen Staubmantel, der eng geschnittenen grauen Hose samt Armani-Gürtel und den maßgefertigten spitzen Lederschuhen, vollendete Höhepunkte der sutorischen Handwerkszunft, könnte er Werbung für Kaffeekapseln machen. Er glich mehr einem Dandy oder Künstler denn einem Getränkehändler. Und das war er auch, ein Künstler. Keiner, der Bilder, Texte oder Handyfilmchen produzierte, sondern einer, der die Kunst zu leben beförderte, einer, der Leute an klischeebehaftete Produkte heranführte, etwa an Austern, die sie nur vom »Schwarzen Kameel« beim Goldenen Quartier kannten, wo sie aber nicht verkehrten. Hatte er Lust, gab es Austern Rockefeller oder eine Sauce Mignonette. Savoir-vivre.

Er strich sich durchs Haar, wischte sich Strähnen in die Stirn und genoss die Energie, die ihn durchflutete. Lächelnd trippelte er die Treppe zum U-Bahn-Perron hinunter, und wie um den Anruf Lügen zu strafen, fuhr gerade ein Zug ein. Leichtfüßig sprang Malte in den vordersten Waggon. Das Kind war abgeliefert, und er fühlte sich prächtig. Die Menschen starrten mit verschlafenen Gesichtern entweder in ihr Smartphone oder in eine Gratiszeitung. Die meisten trugen ihre dunkle Alltagsuniform, hatten ungepflegte fettige Haare, massige Figuren und Ringe unter den Augen. Einigen sah man an, dass sie eben erst aus dem Urlaub zurückgekommen waren und jetzt die farbenfrohen Kleider austrugen, die ihnen geschäftstüchtige Thai, Levantiner oder Mallorquiner aufgeschwatzt hatten. Es würde nicht lange dauern, bis sie diese Kleidung als für Wien unpassend, weil zu auffällig erachteten und zur üblichen Tarnung zurückkehrten, die die Leute in graue Mäuse verwandelte und als das zeigte, was sie waren: Sklaven, Knechte, Arbeitstiere, die auf Erlösung durch die neue Regierung hofften.

Dinger ging zu einem freien Platz, wollte einer alten Frau den Sitz überlassen, die aber abwinkte, setzte sich und sah, dass jemand »Moses« in die Fensterscheibe geritzt hatte. Moses? Ausgerechnet Moses? War das Verkehrssystem so etwas wie der Zug der Israeliten durch das Rote Meer? Gegen Wien konnte man viel vorbringen, aber der öffentliche Verkehr funktionierte vortrefflich. Doch wer ritzt »Moses« in eine Fensterscheibe? Vielleicht der alte Prediger, den er und Carvin bei der Hinfahrt beobachtet hatten? Ein kleines Männlein mit einer Lederkappe aus der Renaissance. Als der Mann dann mit fester Stimme anfing, von einem neuen Zeitalter zu phantasieren, dem Zeitalter Jesu Christi, und Malte weiße nasse Socken sah, sodass er unweigerlich an Inkontinenz denken musste, zog er Carvin ans andere Ende des Waggons.

— Und wenn die Gerechten in den Himmel kommen, hatte der Alte deklamiert, werden die aus Stolz und Eitelkeit, die aus Gier und Unmäßigkeit Blinden zur Hölle fahren, weil sie ihr Leben vergeudet haben. Carvin hatte verlegen gegrinst, und Malte war ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Moses? Jetzt war kein Prediger zu sehen. Der seltsame Anruf hallte nach. War er, Malte, ein Blinder? Einer, der sein Leben vergeudete, weil er seine Bestimmung ignorierte? Nein, er lebte das Leben eines Gerechten, und wenn Gott einen Hauch von Hausverstand besaß, würde er anerkennen, dass Dingers Dasein dem Wohl der Welt zuträglicher war als das eines Akkord-Beters — nützlich wie ein eingewachsener Zehennagel, während er, Malte, Liebe in die Welt brachte.

Er sah die verstümmelten Schlagzeilen der Gratiszeitung, durch die sein Gegenüber blätterte. Darin war von Alkolenkern, Axt-Mördern, Türken-Fliegern und Gratis-Viagra, nein, Gratisvignette die Rede. Lauter Sprachkrüppel, Versehrte aus dem Krieg gegen Zeilenüberlängen:»Wer kann Steuer?«, »Wir sind Euro«, »Haben Spaß?« …

Malte hatte lediglich ein paar Worte gelesen, als der Zug in die Station Museumsquartier einfuhr. Braune Mosaiksteine — eine Hautkrankheit, nein, diese Station sah aus, als hätte sie ein durchgeknallter Koch mit Schinkenfleckerln belegt. Große gerahmte Bleistiftzeichnungen hingen an den Wänden: Wurzelwesen, die an zusammengedrehte nasse Bettwäsche erinnerten. »Kunst im öffentlichen Raum« wurde das genannt — die Rache eines dafür zuständigen Beamten an der Welt.

Der Zeitungsleser erhob sich, und ein anorektisches Mädchen mit klobigen Schuhen und einem alten Koffer ließ sich auf den frei gewordenen Platz sinken. Hübsches Gesicht, milchweiße Haut und braune Augen, aber an ihren viel zu großen Händen wölbten sich blaugrüne Adern. Schlanke Beine, jedoch muskulös und krumm. Hashtag Landpomeranze? Nein, ein Engel. Sie öffnete den auf ihren Knien liegenden Koffer, hob den Deckel, vergewisserte sich des Inhalts und machte ein erleichtertes Gesicht. Was da drinnen ist? Speck, Käse und eine Rilke-Gesamtausgabe? Oder ein großes Schild: Gott hat dich verlassen, weil du dein Leben vergeudet hast …Sind auch ihre Strümpfe angepisst? Nein! Nun schaute sie auf, und kurz blickten sie einander in die Augen. Flash! Von wegen Gunstentzug. Für Malte war es so, als wäre die Zeit angehalten, als bewegte sich keiner der Fahrgäste, stünde der Zug irgendwo in den Tiefen Wiens, hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen. Einen Moment lang hielt das Universum den Atem an, wusste er nicht mehr, wo und wer er war. Kam er selbst gerade aus der Schule? Hatte Pink Floyd soeben »The Wall« herausgebracht? Zertrümmerten Sid Vicious und Johnny Rotten nachts ein Hotelzimmer? Wechselte Pelé zu New York Cosmos? Wurde Diego Maradonas Hand gerade göttlich? Oder feierte Justin Bieber seinen achtzigsten Geburtstag? Gab es Kolonien am Mars oder zumindest einen Lift zu einer 36.000 Kilometer entfernten Weltraumstation?

Was für ein wunderbarer Moment an einem großartigen Tag!

Der Zug fuhr in die Station Volkstheater ein. Hier gab es keine gezeichneten Bettlakenkreaturen, die Schinkenwürfel waren in ein Zwetschkenkompott gefallen. »Wählt das Leben, nicht die Urne« war an die violette Wand gesprayt. Daneben stand »Viva la Vulva!«. Dinger lächelte, sah das Plakat für eine Klimt-Ausstellung, der Blattgoldgustl, daneben Spruchbänder für ein Theater. Und dann war da noch ein riesiges Plakat der Regierung, das die beiden Parteiführer entschlossen und einträchtig zeigte: das kernige Gesicht des einen und die stechend blauen Husky-Augen des anderen. Beide blickten nach rechts oder in die rechte Zukunft? und sahen aus wie von einem stalinistischen Maler in Szene gesetzt. »Wir für Euch« stand darüber. Außerdem fiel Malte am Bahnsteig ein adipöser Mann mit Anglerjacke, kurzen Armee-Hosen, muskulösen Oberarmen und blondiertem Vokuhila auf. Daneben eine üppige Frau mit Rod-Stewart-Pusteblumen-Frisur und dem zerknautschten, großporigen Gesicht einer Alkoholikerin, die gerade einen Langstreckenflug hinter sich gebracht hat.

Die beiden sahen aus, als hätten sie sich die vergangenen zwanzig Jahre ausschließlich von Bier, Jägermeister, Currywürsten und Pommes ernährt. Das sind diejenigen, denen wir die neue Regierung verdanken. Wegen deren Gesinnung bricht Europa auseinander … Aber nein, sei nicht ungerecht, vielleicht sind das liebenswerte Zeitgenossen … Vielleicht macht die neue Regierung wirklich alles besser, bringt uns diese LIMES-Bewegung tatsächlich Sicherheit und Wohlstand und zufriedene Bürger…LIMES, die Partei für den »wahren Sozialismus«, war weder links noch rechts, sondern vor allem antiislamistisch; angetreten, um die westlichen Werte Demokratie, Toleranz und Religionsfreiheit zu verteidigen. Die beiden Parteiführer, von denen man nicht viel wusste, waren nach dem Scheitern der türkis-blauen Koalition wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten die Wahlen mit überwältigender Mehrheit gewonnen.

Malte blickte wieder zu dem Mädchen, das ihn aber nicht beachtete, aufstand und mitsamt dem Koffer in den rückwärtigen Teil des Zuges abdampfte. Als er darüber grübelte, ob er sie unverschämt angeglotzt hatte, heutzutage wird ja schon ein freundlicher Blick als sexuelle Belästigung aufgefasst, hörte er das leise, aber bestimmt gesprochene Wort:

— Fahrscheinkontrolle!

Schwarzer Freitag

Dinger wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Worte einen Geschmack besäßen, aber dieses »Fahrscheinkontrolle« schmeckte nach Rostblumen und brackigem Regenwasser. Lässig holte er seine Brieftasche hervor, um die Monatskarte der Wiener Linien herauszufischen. Er öffnete das Portemonnaie, griff nach dem Fahrschein … Nichts! Da waren ein Hundert-Euro-Schein, die zerfledderte Kopie seines Reisepasses, eine Gutschrift der Österreichischen Bundesbahnen, Bankomatkarte, diverse Ausweise … aber keine Monatskarte! Dinger spürte, wie sein Herz drei Gänge hinaufschaltete, seine Schweißdrüsen zu arbeiten begannen. Elvira! Seine Frau hatte sich gestern die Karte ausgeborgt und augenscheinlich vergessen, sie zurückzugeben.

Das Malte-Dinger-Universum schrumpfte auf diese Monatskarte zusammen. Er musste so verzweifelt dreingesehen haben, dass die Kontrolleure — jenes blondierte Duo mit der schlammgrünen Anglerkleidung — sofort und mit dem geschulten Blick Hunderttausender Überprüfungen den Schwarzfahrer erkannten.

— Was ist? Extraeinladung? Der Mann verschränkte die Arme, hob das Kinn und sah aus wie ein aus der Form geratener Schlagersänger, der sein Publikum fragte, ob er die Konzerthalle gleich oder erst bei der Zugabe in die Luft jagen solle.

Dinger brachte kein Wort heraus.

— Ein irdenes Gefäß schwebt über unseren Häuptern.

— Bitte?

— An Scherben haben mir auf!

— Ich … einen was?

— Einen Potschamper.

— Nachttopf, ergänzte die Blondierte.

— Keine Tanz. Kommen S’, sagte der aufgepumpte Mensch mit sanfter Stimme in breitem Wienerisch. Auf dem Ausweis, der um seinen Hals baumelte, konnte Malte den Namen Walter Hirm lesen.

— Ich … das heißt … bitte … Dinger rang um Worte, überlegte, ob er einen Ausländer spielen sollte, der nicht verstand, zu spät! Er wollte lächeln und sagen, dass er mit fremden Menschen nicht mitgehen dürfe, brachte aber nur unzusammenhängende Satzfetzen zustande, immer dieses Sich-klein-Fühlen vor Autoritätspersonen, und stieg, »Kommen S’«, mit den beiden Bratwürsten aus.

Die Station Rathaus, diesmal graue Schinkenwürfel, war fast menschenleer, nur ein Straßenmusiker lehnte an einer vertäfelten Säule und sang »Hey Jude«.

— Kein Fahrschein … Macht hundertdrei Euro, raspelte die Dame mit Reibeisenstimme. Auf ihrem Ausweis stand Brigitte Cicivarek. Hirm und Cicivarek …hört sich nach dem Refrain eines tschechischen Kinderliedes an.

— Ich besitze eine Monatskarte, es ist nur so, meine Frau, Elvira … ich weiß nicht, wieso … Frauen! … Ständig verlegt sie Schlüssel, die Brieftasche, ihre Handtasche gleicht dem Bermudadreieck …

— Was glauben Sie, wie viele Ausreden wir täglich hören.

— Und wissen Sie, was wir davon halten? Notorische Schwarzfahrer, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Volksschädlinge!

— Aber … ich. Es stimmt wirklich. Volksschädling ist ein Naziwort, aber sag jetzt nichts. Seit die neue Regierung im Amt ist, sind solche Ausdrücke wieder salonfähig, allerdings nur in Bezug auf Moslems. Ständig ist davon die Rede, dass Christen und Juden im Koran als »Brennstoff des Höllenfeuers« gelten, »Dār as-Salām«, das Haus des Friedens für Moslems, erst erreicht wird, wenn die ganze Welt an den Islam glaubt. Ständig heißt es, der Koran sei Mohammeds »Mein Kampf«, Muslime besäßen die Lizenz zum Lügen, wenn es der Verbreitung des Glaubens diene … und wenn wir uns nicht zur Wehr setzten, würden sie uns vernichten … Aber jetzt gibt es ja LIMES, die Partei zur Bekämpfung dieser Volksschädlinge …

— Ein irdenes Gefäß schwebt über unseren Häuptern.

— Wie?

— An Scherben ham mir auf! Der Muskelprotz lächelte. Auf seinem Unterarm war ein Bikerspruch tätowiert.

— Bezahlen Sie gleich oder mit Erlagschein?

— Gleich. Kein Grund zur Panik. Beim Schwarzfahren erwischt, unnötigerweise eine Strafe bezahlt, schuld ist Elvira. Aber es gibt Schlimmeres, eine Krebsdiagnose oder wenn Carvin etwas zustieße, undenkbar … Dagegen ist das nur ein kleiner Obolus an das Universum, dafür, dass alles weiter seinen gewohnten Gang geht … Dinger griff nach seiner Brieftasche und wusste, es waren zweihundert Euro drinnen. Doch als er sie öffnete, fuhr es wie ein Blitz in ihn, sie enthielt nur noch einen Schein. Hundert Euro waren in der Schule geblieben — Carvins Schulmilch, weil selbst ein von Sauriern protegierter Knabe Calcium und Eiweiß brauchte. Die Lehrerin hatte gefragt, ob er den Jahresbetrag gleich bezahlen oder überweisen wolle. Gleich, hatte er gesagt. Und jetzt? Jetzt hatte er den Salat.

— Mir fehlen drei Euro.

— Also mit Erlagschein? Der muskulöse Hirm stand so nahe neben Malte, dass sich dieser vom bitteren, nach Zigarettenrauch, Kaffee und Magensäure riechenden Atem beinahe übergeben musste.

— Die drei Euro können Sie mir nicht erlassen? … Ich besitze eine Monatskarte … Kann man das nicht überprüfen? Dinger lächelte. Er hatte noch nie Probleme mit Autoritäten gehabt, wusste, wenn man die Amtsgewalt akzeptierte und sich subaltern verhielt, gab es in Österreich immer ein Hintertürchen, ein Augenzudrücken und Durchwinken. Deshalb liebte er Wien, hier ließ sich alles amikal regeln — man musste den Beamten nur zeigen, dass man einer von ihnen war, kein arroganter Schnösel, der die Nase im vierten Stock trug.

— Na ja. Der Muskelprotz kratzte sich am Ohrläppchen.

— Kommen Sie, ich gebe Ihnen den Hunderter, und wir vergessen die Geschichte.

— Ich habe bereits alles eingegeben, widersprach die Cicivarek und zeigte auf das Display ihres schwarzen Kastens — ein Gerät, wie es Kellner, Schaffner und Parksheriffs verwendeten. Bald werden auch Ärztinnen, Kindergärtner, Busfahrerinnen … wird jeder Mensch alles, was er tut, in so einem Kasten abspeichern müssen.

— Leider, zuckte Hirm die Achseln. Wenn die Chefin sagt, es geht nicht …

— Dann löschen Sie es wieder, Frau Chefin.

— Unmöglich! Der blondierte Koloss verneinte. Name? Geburtsdatum? Wohnadresse? Versicherungsnummer?, ratterte es aus der Cicivarek hervor.

— Paul Glücksmann, Anwaltssubstitut, Tendlergasse 12, neunter Bezirk. Wiener Gebietskrankenkasse 6234 06 03 84, gab er einen Phantasienamen und die Adresse eines Studentenheimes an, in dem er einmal gewohnt hatte. Fake News kann ich auch. Bei der Versicherungsnummer stimmte gar nichts, und mit der Berufsbezeichnung hoffte er auf Respekt. Er bemühte sich, ein ehrliches Gesicht zu machen, fürchtete aber zu erröten oder dass das Wort »Lügner« auf seiner Stirn aufblinken könnte.

— Sie haben sicher einen Ausweis, der das bestätigt, meinte die Dame.

— Ausweis? Hören Sie, ich habe meinen Sohn zur Schule gebracht und nicht damit gerechnet … Jetzt reicht es, schickte sich Dinger an, die beiden einfach stehenzulassen.

— Dageblieben, Freundchen.

— Was fällt Ihnen ein? Sie haben kein Recht, mich festzuhalten.

— Dürfen wir durchaus, sagte die Chefin. Sie glauben wohl, wir lassen uns verarschen. Und ehe Dinger sichs versah, hatte auch sie einen Arm gepackt.

— Wir haben das Recht, Sie bis zur Feststellung Ihrer Identität anzuhalten.

— Ich habe Ihnen alles gesagt. Malte spürte eine Welle unsagbarer Wut aufsteigen.

— Wir gehen jetzt zur Polizei und sehen im Melderegister nach. Die beiden zerrten ihn Richtung Ausgang, und der Musiker sang: »Remember to let her into your heart, then you can start to make it better …«

— Lassen Sie los. Dinger lächelte. Wir gehen zum nächsten Bankomat, dort hebe ich drei Euro ab, damit diese lächerliche Episode ein Ende findet.

— Klingt vernünftig, brummte der Muskelmann, ohne Maltes Arm loszulassen. So verließen sie die U-Bahn-Station, Dinger eingeklemmt zwischen diesen Bullen. »Yeah, yeah, yeah.« Sie landeten vor einem Café, wo auf einer schwarzen Tafel »Kaffee to go — jetzt auch zum Mitnehmen« stand, und hielten nach einem Geldautomaten Ausschau. Dort drüben! Als Dinger seine Bankomatkarte herausholte, wurde sie ihm he! von der Walküre aus der Hand gerissen.

— Paul Glücksmann also? Sie las den Namen und lächelte. Das gibt eine Anzeige wegen falscher Personalangaben, Herr Dinger. Ist das jüdisch?

— Nein. Ich …

— Wenn Sie sich kooperativ verhalten, können wir davon Abstand nehmen. Noch immer war Hirm der Freundlichere.

— Können wir nicht! Cicivarek war unerbittlich. Dinger? Sicher ist das jüdisch, so was hab ich im Urin.

— Ist es nicht, Sie Rassistin.

— Ich habe nichts gegen Juden, im Gegenteil … die lassen sich nicht beim Schwarzfahren erwischen, aber kein Wunder, von denen hat jeder einen Cousin in der Hochfinanz drüben in Amerika, was sie so weich aussprach wie ein Burger-Brötchen von McDonald’s: Ameriga.

Dinger fühlte seinen Puls. An den Schläfen klopften Schmiede mit großen Hämmern. Er war dermaßen wütend, dass er dieser widerwärtigen Kreatur, dieser aufgeblasenen Schlagersängerinnenkarikatur am liebsten gegen das Schienbein getreten hätte …Nilpferd! … steckte die Bankomatkarte in den Schlitz, tippte seinen Code und zehn Euro ein. So, gleich ist die Sache aus der Welt. Einen Augenblick später, als TRANSAKTION ABGEBROCHEN auf dem Display erschien, war er wie vor den Kopf gestoßen. Malte wusste sofort, weshalb. Vorgestern war er mit Elvira in einem Möbelhaus gewesen, hatte ein Hochbett und einen ergonomischen Schreibtisch für Carvin mit der Bankomatkarte bezahlt. Zum Schuleintritt, Elviras Ansicht, brauchte der Sprössling ein neues Kinderzimmer. »Oder soll er auf dem Wickeltisch die Hausübungen machen?« Achthundert Euro. Elvira hatte angeboten, die Hälfte beizusteuern, aber dann ihre Brieftasche nicht dabeigehabt. Achthundert Euro! Kein Vermögen, aber sein Wochenlimit! Behebungsobergrenze, damit im Falle eines Diebstahls das Konto nicht geplündert wurde. Und nun? TRANSAKTION ABGEBROCHEN.

— Ich muss meinen Bankberater anrufen, damit er das Limit hinaufsetzt. Keine Panik. Lächle. Wir haben Möbel für unser Kind gekauft, Hochbett, Schreibtisch … Dinger blickte in genervte Gesichter, holte sein Handy hervor, suchte den Namen seines Bankbetreuers, Michael Moldowan, und war froh, als er nach nur einem Tuten die vertraute Stimme hörte. Auch Moldowan schien erfreut. »Herr Dinger, was verschafft mir das Vergnügen …« Was wohl? TRANSAKTIONABGEBROCHEN!

Malte erklärte seine Situation, und der Bankmensch meinte, das sei kein Problem, allerdings dauere es ein paar Stunden, bis die neue Behebungsobergrenze im System sei.

— Lässt sich das beschleunigen? Seit dem Fremdwährungskredit schulden Sie mir was!

— Leider. Das System … Moldowan bedauerte, hoffte aber, ihn bald zu sehen, es gäbe da günstige Hedgefonds, wertgesichert …

— Scheiße. Dinger legte auf und blickte die beiden Kontrolleure verzweifelt an. Kommen Sie, ich lade Sie in mein Lokal ein, das Dingers, und wir vergessen die Geschichte. Mögen Sie Gin? Haben Sie schon einmal einen By Sea By Land getrunken? Mit Lachs-Gin, Heuessenz, Wermut und Olivenerde.

— Olivenerde? Hirm rollte mit den Augen.

— Ich halte fest, versuchte Beamtenbestechung. Cicivarek verschränkte ihre Arme.

— Das war eine Einladung!

— Sie können mit Kreditkarte bezahlen, der Muskelmann war noch immer freundlich.

— Habe ich nicht.

— Wirklich? Die Walküre sah ihn ungläubig an: Ein Jude, der keine Kreditkarte besitzt, ist wie eine Gabel ohne Zacken …

Tatsächlich hatte Dinger seine Mastercard gerade gekündigt und eine Visa beantragt.

— Jetzt ham mir den Scherben auf.

— Dann bleibt nur die Wachstube, Herr Dinger, sagte die Walküre. Müssen wir Sie wegen versuchten Betruges anzeigen.

— Was? Wachstube? Wieso Betrug?

— Falsche Personaldaten! Irreführung der Behörden!

— Bitte … Mir fehlen drei Euro. Nur keine Panik. Ruhig bleiben, mit tiefer Stimme sprechen. Drei lächerliche Euro! Malte wandte sich an den erstbesten Passanten, einen Herrn mit Lodencape, Filzhut samt grüner Kordel, Trachtenschuhen und Elektrozigarette im Mund.

— Entschuldigung, ich brauche drei Euro, weil ich meine Monatskarte vergessen habe und jetzt wegen Schwarzfahren belangt werde … Hundert habe ich selbst … Ich gebe sie Ihnen zurück … drei Euro … Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Bitte!

Der Mann beachtete ihn nicht, marschierte weiter, als hätte er nichts gehört.

— Bitte, jeder Zug an Ihrer E-Zigarette kostet mehr. Nichts! Also wandte sich Dinger an eine gebrechliche Dame mit einem Yorkshire in der Burberry-Tasche, die nur die Nase rümpfte, ihn verächtlich ansah und »Nein!« zischte. »Betrüger! Komm, Brutus.« Das Hündchen bellte.

— Wollen Sie nichts Gutes tun?

— Nein!

Da kam ein Ausländer … Nein, der hatte selbst kein Geld. Aber drei Euro? Keine Reaktion. Idiot! Ist das der Dank, dass ich Flüchtlingen geholfen habe? Der Nächste war ein Skater mit kariertem Hemd und weiter Hose. Der Bursche fuhr vorbei. Soll das cool sein? Noch ein Mann, der freundlich aussah, sich aber wegdrehte, als er Malte hörte, ein Mädchen mit rot gefärbtem Haar, eine Dame mit dem Aussehen einer Sekretärin … Niemand hörte zu, alle beschleunigten ihre Schritte, winkten ab oder gaben zu verstehen, dass sie gerade kein Geld dabeihatten.

Ist dies das goldene Wiener Herz? Nein, die Leute sind abgestumpft, haben zu viele Berichte über Trickbetrüger und die Bettlermafia gelesen.

— Pack, hauchte Dinger, herzloses. Hat denn niemand Mitleid? Alles, was ich will, sind drei läppische Euro, das ist doch nicht zu viel verlangt. Predige ich den Weltuntergang oder das Zeitalter Jesu Christi? Dinger sank auf die Knie und blickte flehentlich zum Himmel — blau, wie selbst der Himmel nur an manchen Tagen blau sein konnte. Wachstube? Anzeige? Bleib ruhig.

— Na schön, ich gebe Ihnen hundert, und den Rest bezahle ich mit Erlagschein, wandte er sich den Kontrolleuren zu. Damit haben Sie kein Risiko. Und in meinem Comptoir gebe ich Ihnen einen aus. Rhabarber-Gin? Oder einen Popeye mit Spinat?

Die Fettsäcke blickten sich an, doch Cicivarek schüttelte den Kopf.

— Nein? Dinger spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Anzeige? Er dachte an die Konsequenzen. Die Gastgarten-Begehung um elf Uhr. Und Carvin? Würde er von der Schule fliegen, wenn herauskam, dass sein Vater vorbestraft war? Dann war es vorbei mit der Paläontologen-Karriere, dann konnte er schlechtbezahlter Tierpfleger werden. Universaler Gunstentzug? Ausgeschissen? Er blickte nochmals in die Brieftasche, sah den grünen Schein, die Ausweise, den Ausdruck der Bundesbahnen.

— Ha. Ich habe einen Gutschein! Acht Euro von der ÖBB für eine Zugverspätung. Das ist ein Schwesterunternehmen! Den müssen Sie akzeptieren.

Hirm studierte das Papier und brummte:

— Könnte gehen.

Na bitte, der aus dem Leim gegangene Dieter-Bohlen-Verschnitt hatte ein Einsehen.

Nun begutachtete die Cicivarek mit lüsternen Rinderaugen den Gutschein, lächelte und schüttelte den Kopf.

— Nein, das geht nicht.

— Was? Wieso?

— Hier, lesen Sie. Die Dicke zeigte auf eine kleine Zeile: »Gültig bis 31. August 2024.« Der war vergangene Woche. TRANSAKTION ABGEBROCHEN.

— Gibt es nicht! Sie kirschkernhirnige Urschel, Sie Walross … Da hatte ja der Nazirichter Freisler mehr Sinn für Toleranz … Malte suchte nach einer weiteren Beleidigung, doch fiel ihm keine ein … Das können Sie nicht machen. Sie! Ihr Bild gehört auf Zigarettenpackungen, zur Abschreckung! Seht euch diese Steigbügelhalter an. Chauvinisten! Fagottisten! Dinger kreischte und stieß jedes Schimpfwort, das ihm einfiel, ganz egal, ob es passte oder nicht, verächtlich aus: Stalinisten! Karrieristen! Sandkisten! Katzenstreu!

Jetzt, als er brüllte, wichen ihm alle Menschen aus wie einem Wahnsinnigen, in dessen Umlaufbahn sie nicht geraten wollten. Nur einer ging direkt auf ihn zu, stellte sich breitbeinig hin und blickte ihn herablassend an, ein Polizist.

Bevor Dinger die Gestalt zuordnen konnte, quasselten schon Cicivarek und Hirm auf ihn ein, sagten etwas von Schwarzfahrer, falschen Personalangaben, Betrug, Bestechung und Beleidigung.

Die Walküre wollte Dinger bei der Hand nehmen, doch der war außer sich. Das Marihuana in seiner Tasche fiel ihm ein. Er war kein Choleriker, nicht aggressiv, verabscheute körperliche Gewalt. Jetzt fühlte er sich in die Enge getrieben, riss sich los. Mit ungeahnten Kräften schlug er um sich, traf die Bäuche der Kontrolleure. Sie packten seine Arme, drehten sie ihm auf den Rücken. He! Er schrie, wand sich, kam frei, stieß um sich, erwischte die Kappe des Polizisten, die vom Kopf fiel, hörte »Missachtung einer Amtsperson«, spürte Griffe, Schläge, Schmerzen, die sich auszubreiten begannen. Da knickten seine Beine ein, landete er auf den Knien, rappelte sich hoch, spürte einen Stich im Kreuz, was ihn nicht hinderte, die Ungetüme wegzustoßen. »Missachtung von Amtspersonen!« Behörden? Lächerlich! Er wollte die Cicivarek wegdrängen, wurde zurückgehalten, riss sich los, versuchte, sich die Häscher vom Leib zu halten, stieß mit den Ellbogen … und … traf den Polizisten. Für einen Augenblick war alles wie gefroren, erstarrt … dann griff sich der Polizist an den Mund, strich einen Blutstropfen von der aufgerissenen Lippe, tippte gegen sein Gebiss und zog einen Schneidezahn heraus.

— Widerftand gegen die Ftaatfgewalt! Daf wird teuer, Freundchen, zischte der Polizist. Dinger sah den Beamten an, typisches Landeigesicht wie eingeschlafene Füße, war verwirrt. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Er konnte nicht begreifen, wie das passieren konnte. Das war keine Absicht! Ihm wurden Handschellen angelegt, jetzt war er in ihrer Gewalt. Handschellen wie ein Verbrecher! Die beiden Kontrolleure tauschten mit dem Polizisten Daten aus, und von irgendwoher tauchte eine blonde Polizistin auf, die mit schriller Stimme brüllte und Dinger mit einem Gummiknüppel traktierte. Das Eigenartige war, diese Behandlung erregte ihn. Er sah ihre makellos geformten Hinterbacken, ihre Brüste, den offenen Mund, blitzende Vorderzähne und nahm nur verschwommen wahr, dass sie telefonierte.

— Wir sind eines gewissen Malte Dinger habhaft geworden … bisher unbescholten … Es liegt nichts gegen ihn vor, nur ein Vermerk … Wie? In einen Raufhandel verwickelt, wiederholte die Polizistin eine Information, die sie aus dem Telefon erhalten hatte.

Habhaft geworden? Beamtendeutsch.

Er ift renitent, lispelte der Polizist und pfiff durch die Zahnlücke. Fag dem Juriften, daff man den nicht auf freiem Fuff anzeigen kann. Widerftand gegen die Ftaatfgewalt. Er hielt triumphierend seinen Zahn in die Höhe, gelb wie Erbsenbrei. Schon gut, gründe eine WhatsApp-Gruppe, du Hirn.

Die Polizistin musste den Juristen am anderen Ende der Leitung nicht lange bitten. Der Tatbestand genügte. Untersuchungshaft! Das Wort schlug ein wie eine Bombe. Malte fühlte, wie sein Fundament wegbrach, dieses Wort »Untersuchungshaft« alles planierte. Gleich darauf bremste ein Einsatzfahrzeug, wie im Kino sprangen zwei Beamte aus dem Wagen, bugsierten Dinger zum Auto und fixierten ihn. Jemand tastete ihn ab, zog beide Handys und die Geldbörse aus seinen Taschen, zum Glück entdeckte man das Marihuana nicht, sagte etwas wie »zwei Handys sind typisch für Drogendealer« und schob ihn in den Fond des Fahrzeugs.

Während all dies geschah, gingen Malte die Worte der Polizistin durch den Kopf. »Vermerk, in einen Raufhandel verwickelt.« Es dauerte, bis er das verstand: Es war vor Carvins Geburt, Blitzkrieg, altersschwach und krank, schiss damals nur noch Suppe, unmöglich, diesen Kollateralschaden der Barsoi-Verdauung zu entfernen. »Lassen Sie den Wollknäuel einschläfern, der rinnt ja aus«, hatte sich ein Betrunkener beschwert und begonnen, Malte zu traktieren. Zur Verteidigung ein Rempler. Der Betrunkene stolperte, fiel unglücklich und brach sich das Fersenbein. Von der Polizei wurden die Personalien aufgenommen, zu einer Anzeige war es nicht gekommen. Das war alles, der ganze Raufhandel. Wieso ist das gespeichert? Polizeistaat!

Im Auto roch es nach verschmorten Kabeln. Das Blaulicht wurde angeschaltet, und der Wagen raste hinunter zum Ring, bog beim Schottentor nach links, und danach ging es die Maria-Theresien-Straße entlang zum Polizeianhaltezentrum, das man nach dem alten Namen der Roßauer Lände (Elisabethpromenade) schlicht »Liesl« nannte.

He, was passiert da? Um elf ist die Begehung! Da kommen Leute vom Stadtamt, um den Schanigarten des Dingers abzunehmen. Es geht zwar nur um zwei Parkplätze, aber da bringe ich im Sommer zwanzig Leute unter. Für einen Kleinunternehmer ist das lebenswichtig. Ich habe keine Zeit für eine Untersuchungshaft.

Der Wachraum dieser »Liesl« war voll mit Kreaturen der Nacht, die die Polizei aus den finstersten Löchern geschabt hatte: illegale Prostituierte und ihre Freier, kleine Drogendealer, Einbrecher, Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung, Obdachlose. Unzählige Gerüche, das Gemisch aus billigen Parfüms und altem Schweiß. Eine apathische Flüchtlingsfamilie mit Kleinkindern — die neue Regierung machte kurzen Prozess und schickte sie in ihre Heimatländer zurück, selbst dann, wenn dort Krieg herrschte. Was haben die Regierungschefs unlängst verkündet? Es spielt keine Rolle, ob jemand gut integriert ist, die deutsche Sprache beherrscht und einen Arbeitsplatz hat. Ohne Aufenthaltsberechtigung muss er abgeschoben werden, basta. Daneben ein derangierter Geschäftsmann, der seine Freilassung verlangte, dann ein Mädchen, höchstens fünfzehn, das Heroin oder zumindest Methadon brauchte. Die Regierung hatte alle Ersatzprogramme gestrichen und begonnen, sämtliche Drogenabhängigen einzusperren. Zwei kroatische Fußballfans in Hajduk-Split-Shirts.

Malte nahm die Beamten verschwommen wahr — irgendwie waren alle gleich. Er wurde fotografiert, vermessen und gewogen, was im Polizeijargon als »Aufnahme der Nämlichkeit« bezeichnet wurde. Zweiundachtzig Kilo? Wegen der Schuhe und dem Trenchcoat! Während man seine Personaldaten erfasste und er seine Finger auf einen kleinen Scanner legen musste, wurden die ersten Gefangenen nach draußen eskortiert.

— Das Krokodil legt gleich ab.

— Der geht noch mit.

— Wir sind voll.

— Dann macht er Wochenende, bleibt bis Montag. Diese Sätze schienen weit entfernt, aber das Wort »Montag« bohrte sich in Maltes Kopf.

— Bis Montag? … Hören Sie, das ist ein Missverständnis … Ich will telefonieren! Ich muss einen Termin einhalten. Malte bemühte sich, ruhig zu bleiben.

— Telefonieren? Der Beamte sah ihn gleichgültig an. Telefonieren ist nicht. Bis Montag sind Sie unser Gast, aber keine Sorge, Sie werden gut verpflegt. Er deutete zu einem Tablett mit Wurstsemmeln — vertrocknete Maschinenfabrikate mit zwei Scheiben chemisch-rosiger Extrawurst, an den Rändern farblich angerostet. Bestimmt verkeimt. Daneben ein bläulich schimmernder Wasserbehälter, eine Batterie weißer Plastikbecher. An der Wand darüber Ansichtskarten aus Jesolo, Thailand und Mallorca.

— Bis Montag?

— Maximal sechsundneunzig Stunden. Der Beamte sagte das ohne Regung.

— Sechsundneunzig? Während Malte rechnete und sich ausmalte, was es bedeutete, in diesem vergitterten Raum mit den Holzbänken vier Tage verbringen zu müssen, Transaktion abgebrochen, Totalausfall, erschien ein Wega-Polizist und rief:

— Einer geht noch.

— Na, dann werden Sie unsere Gastfreundschaft das nächste Mal genießen. Der Beamte lächelte, und Malte wollte sagen, dass es kein nächstes Mal geben werde.

Draußen sah er, was ein Krokodil war — ein Polizeibus. Dieser war nicht grün, sondern weiß, ein Albino. An seiner Flanke stand »Justiz«. Fenster besaß das Gefährt keine, nur schmale Schlitze oben an den Seitenflächen. Der Innenraum war wie der Abteilwagen eines Nachtzugs in Zellen unterteilt, sehr viel kleiner allerdings und mit Schalensitzen statt der Betten. Justizwachebeamte in voller Montur — Vollvisierhelm, Schlagstock, Pistole, kugelsicherer Weste und Maschinengewehr — halfen denen, die Handschellen trugen, beim Anlegen des Sicherheitsgurts. Den anderen wurde seine Funktion mit einem Tippen des Schlagstocks gezeigt. Im Vergleich zu dieser Truppe waren die Flugbegleiterinnen der Aeroflot zu Zeiten Breschnews mütterliche Engel.

Malte saß in einer Zelle mit dem Geschäftsmann, der panische Angst hatte, seine Verhaftung könnte ruchbar werden.

— Woher sollte ich wissen, dass Natascha minderjährig ist? Die hat das doch nicht zwischen den Beinen stehen. Glauben die, aus der tropft Zuckerwasser? Wenn man in ein Bordell geht, erkundigt man sich dann nach dem Alter der Damen? Jetzt will man mir die Verführung einer Minderjährigen anhängen. Ein Skandal! Er sah Malte aus trüben Augen an. Dinger war in seinem ganzen Leben in keinem Laufhaus gewesen, alles, was er kannte, war die Dildofee … Je länger er diesem Geschäftsmann zuhörte, desto mehr zweifelte er an seiner Integrität. Vielleicht ein Gebrauchtwagenhändler, Versicherungsmakler, Antiquitätenschacherer? Er kannte solche Typen aus dem Dingers.

Der Motor wurde gestartet, doch der Bus fuhr nicht. Gepolter setzte ein, und Malte glaubte, etwas wie »Gutmenschen-Gesindel« zu verstehen. Tatsächlich hatte sich vor dem Bus ein Sitzstreik formiert, der gegen die Abschiebung der Flüchtlingsfamilie protestierte. Ausgerechnet heute? Ich verstehe ja ihr Anliegen, auch wenn es naiv ist. Aber wenn nur die Hälfte von dem, was die Regierung über den Islam erzählt, stimmt, die Moslems sich wirklich als Soldaten des Islam mit Moscheen als Kasernen und Minarette-Bajonetten betrachten, ist es tatsächlich besser, diese Hinterwäldler abzuschieben … Doch nicht alle denken so, noch gibt es Menschenrechtsaktivisten, blauäugige Romantiker, Abschiebungsgegner, aber erstens ist das zwecklos und zweitens: Was wird aus meiner Begehung?

Parolen gegen den Innenminister wurden skandiert, worauf dumpfe Geräusche folgten, Schreie. Für eine Flüchtlingsfamilie geht man auf die Straße. Und für mich? Es ist tragisch, was mit diesen Familien geschieht, aber wenn ich die Begehung verpasse, ist der Gastgarten weg, und damit ist auch keinem geholfen.

— Als ob der Fotze das Alter auf der Stirn stünde. Der Geschäftsmann führte weiter Selbstgespräche. Minderjährig? Die wedelt dir einen runter, bevor du bis drei gezählt hast …

Nachdem die Protestierer aus dem Weg geräumt waren, keineswegs zimperlich, setzte sich das Krokodil endlich in Bewegung.

Der Wochenendreiseverkehr machte aus der Fahrt ein zuckelndes Gehopse. Dazu das Geseiere seines Nachbarn, der von Skandal und Ostnutten lamentierte, davon, dass er den Polizeipräsidenten kenne, Kontakte habe.

Malte hatte Lust, ihm eine reinzuwürgen, und sagte:

— Haben Sie nie etwas von Zwangsprostitution gehört? Diese Mädchen werden unter falschen Versprechungen ins Land gelockt, dann nimmt man ihnen die Pässe ab und zwingt sie, sich von Typen wie Ihnen vögeln zu lassen.

— Na und? Was soll daran falsch sein?

— Vielleicht, weil es gegen die Menschenwürde verstößt? Malte schüttelte den Kopf.

— Blödsinn! Das Gesetz zum Schutz der Huren, sagte der Freier, stammt aus der alten Zeit, das wird jetzt alles anders. Die Regierung räumt auf mit diesem liberalen Getue.

Ja, das glaube ich auch.

Als der Bus nach einer halben Stunde hielt und die Inhaftierten ausstiegen, erblickten sie Uniformierte, die den bunten Haufen sofort in einen Gang trieben. Malte, als gefährlich eingestuft und von vier Exekutivbeamten umkreist, sah ein großes grünes Garagentor, Betonsäulen, eine Einfahrt, die an die Lieferantenzufahrt eines Möbelhauses erinnerte.

— Wo sind wir hier? Er hatte das irrationale Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Vielleicht in einem Traum oder einem früheren Leben?

— Im Landl. Justizvollzugsanstalt Josefstadt. Wickenburggasse, sagte der Geschäftsmann, und in Malte, der an Franz Kafka und Schlachthöfe dachte, leuchtete sofort ein Satz auf: Lasset, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.

Unter Gerechten

Männer und Frauen wurden getrennt. Während es für die Prostituierten, das drogensüchtige Mädchen und die weiblichen Asylbewerber samt ihren Kindern durch eine blaue Eisentür ging, kamen die Dealer, der Geschäftsmann, die beiden Fußballfans, zwei Obdachlose, ein Transvestit und Malte in einen Raum mit dem Charme einer Umkleidekabine. Bis auf die verschraubten Holzbänke gab es hier rein gar nichts, weder Möbel noch Bilder an den Wänden, nur einen Geruch von Verfall, aber nicht nach Schimmel oder Moder, sondern von innerem Zusammenbruch. Hat da jemand eine tote Ratte in der Tasche?

Niemand sagte etwas. Alle starrten in die Fliesen, als ob dort etwas zu sehen wäre — ein Grundrecht etwa, die Aussicht auf baldige Freiheit oder zumindest eine neue Netflix-Serie.

So ist es also, wenn man im Häfen landet, dachte Dinger, für den das Gefängnis, der Knast, Bau, oder wie immer man es bezeichnete, bisher eine Dislokation dargestellt hatte, eine Einrichtung, die irgendwo in einem Paralleluniversum existierte, aber nicht in seiner Welt. Jetzt war er selbst darin, gedemütigt, erniedrigt, und trotzdem lächelte er, weil ihn das beruhigte, er sich sicher war, bald nach Hause zu dürfen, um Elvira zu berichten, du glaubst nicht, was passiert ist, aber noch ließ man ihn schmoren.

Beim Schwarzfahren erwischt, falsche Personalangaben und einem Polizisten den Zahn ausgeschlagen, das war eine stattliche Anzahl an Delikten. Und dann der lächerliche Versuch, mit dem ÖBB-Gutschein zu bezahlen. Vor allem der Zahn würde ihn mehrere tausend Euro kosten. Ein netter Spaß, aber kein Grund, die Nerven zu verlieren. Er war wo hineingeraten, in eine Verkettung unglücklicher Umstände, das war alles. Gut, wenn das hier lange dauerte, konnte er anschließend direkt zur Begehung fahren, und von dort zurück zur Schule, um Carvin abzuholen. Sie hatten geplant, das Wochenende auf dem Land zu verbringen. Vielleicht das letzte schöne Wochenende vor einem langen, trüben Herbst und einem noch längeren Winter. Carvin freute sich auf das Lagerfeuer und Elvira auf das Essen in rustikalen Gasthäusern. Er würde etwas unterschreiben und dann gehen. Reine Formalität. Man ließ ihn zappeln, um sich für die Tätlichkeit zu revanchieren, aber im großen Ganzen hatten die nichts in der Hand, nichts, das es rechtfertigte, ihn festzuhalten.

In der Zwischenzeit waren die Fußballfans und Drogendealer weggeführt worden.

— Was denken Sie, wie lange das dauert? Der Geschäftsmann spielte mit seiner Krawatte und sah ihn an. Wenn es so weitergeht, ist die Nutte volljährig.

— Man wird uns nicht lange hierbehalten.

— Meinen Sie?

— Natürlich. Sonst hätte man Ihnen die Krawatte abgenommen. Suizidgefahr!

— Dass ihr euch da nur nicht täuscht. Die rauchige Stimme des Transvestiten, der mit seinen Netzstrümpfen und dem Lippenstift eine Rolle in »Käfig voller Narren« hätte übernehmen können, hatte einen fatalistischen Unterton. Ihr seid wohl Erstmalige?

— Erstmalige?

— Neu im Staatssanatorium? Seid froh, dass es Vormittag ist, nach zwölf ist keiner mehr da, kommt man in die Eingangszelle im Keller. Die ist ganz leer, kein Fernseher, kein Radio, keine Zeitung … Da gehst du dir schnell selbst auf die Eier, sofern du welche hast … zum Essen die typische Bundesheerkaltverpflegung: Wurstsemmel, Fleischaufstrich oder Brote mit Analogkäse … Heute ist Freitag … also bis Montag …

Bis Montag?

Am Gang spazierten Männer in karierten Hemden und Sakkos. Beamte und Sträflinge mit Handschellen. Niemand schien sich um sie zu kümmern. Der Transvestit prahlte mit seinen Titten, brabbelte etwas von Bleistifttest und Bikram-Yoga, von seinen Plänen, sich, wie er sagte, renovieren zu lassen, obwohl die Schönheitschirurgen Verbrecher seien.

— Nur wenige lassen sich mit Naturalien bezahlen.

Irgendwann wurde Malte geholt und in ein kleines Büro gebracht. Man nahm ihm die Handschellen ab, damit er Trenchcoat und Jackett ausziehen konnte, dann legte man die Brezeln wieder an. Erneut wurde seine Nämlichkeit aufgenommen, wurde er vermessen, gewogen, einundachtzig Kilo, fotografiert. Frontal- und Profilansicht. Wollen die mich steckbrieflich suchen lassen? Werden diese Bilder einmal Zeugen gezeigt, wenn es darum geht, Verbrecher zu identifizieren? Speichelabstrich. Danach kam er zum Arzt — ein gutmütig aussehender Mensch mit eckiger Randlosbrille, weißen Bartstoppeln, lockigem, aber zu langem weißem Zuckerwatte-Haar, der Malte an den Kabarettisten Michael Niavarani erinnerte.

— Wie geht es Ihnen, hauchte der Doktor, während er Malte den Hemdsärmel hochkrempelte und eine Manschette um den Bizeps legte. Faust machen!

— Hören Sie, ich bin zu Unrecht hier, ich … Sie sind doch ein zivilisierter Mensch, Sie müssen mir zuhören … Ich weiß gar nicht, warum ich bei einem Doktor bin …

— Irgendwelche körperlichen Beschwerden?, fiel ihm der einen hupenartigen Gummiball pumpende Arzt ins Wort.

— Noch nicht, aber lange wird es nicht mehr …

— Dann ist es gut. Der Doktor blickte kurz auf das Manometer, einen verchromten Zylinder mit Zifferblatt, dann wieder zu Malte:

— Allergien? Unverträglichkeiten?

— Nein. Hören Sie …

Aber der Reserve-Niavarani ließ sich nicht aus dem Konzept bringen:

— Kinderkrankheiten? Mumps?

— Nein.

— Scharlach? Der Arzt hatte sich die Stöpsel eines Stethoskops in die Ohren geschoben und drückte Malte, dem er mit einem Ruck das Hemd hochgezogen hatte, die metallische Membran an die Brust.

— Ja, glaube ich zumindest.

— Röteln?

— Nein.

— Windpocken? Nun wurde der Rücken abgehört, was von einem leichten Klopfen begleitet wurde.

— Kann sein, ich weiß nicht …

— Sonstige Krankheiten? Aids? Hepatitis? Tropenkrankheiten? Die tiefe, immer noch leise Stimme des Doktors hatte etwas Beruhigendes.

— Nein, nein, nein.

— Tragen Sie einen Herzschrittmacher? Sind Sie Diabetiker? In dauerhafter Behandlung? Schon mal Patient in einer Nervenheilanstalt gewesen?

— Nein. Hin und wieder Kopfschmerzen, wenn Schnee kommt.

— Sie sollten Meteorologe werden. Der Arzt stand auf, griff Dinger an den Kopf und befühlte sein Haar.

— Glauben Sie, ich habe Läuse?

Ohne etwas zu sagen leuchtete ihm der Mediziner mit einer kleinen Stablampe in die Ohren, die Augen, bedeutete ihm, den Mund zu öffnen, sah ihm in den Rachen. Dann setzte er sich wieder, rollte auf seinem Schreibtischsessel zu Dinger, murmelte etwas von »einer kleinen Spende«, und ehe Malte sichs versah, wurde ihm der Arm abgebunden und Blut abgezapft. Sechs fingerdicke Plastikröhrchen, die in eine Art Bierträger (nur viel kleiner) kamen.

Der Weißhaarige notierte etwas in ein Formular, blickte auf, sah durch Dinger hindurch, nickte dem Beamten zu, was so viel bedeutete wie, Sie können ihn rausschaffen. Malte sah das stoppelbärtige Gesicht des Arztes fassungslos an …Offener Hemdkragen? Legere Ausstrahlung? Aber Hilfe, Verständnis? Nichts! … Ab heute wird Niavarani boykottiert! Er kam nicht wieder in den Aufenthaltsraum, sondern zu einem Gerät aus Polycarbonat, das an einen Fotokopierer erinnerte.

— Lungenröntgen! Oberkörper freimachen. Der weißbemäntelte Laborant nuschelte.

— Ich würde mich gern ganz freimachen. Dinger lächelte. Wieso Lungenröntgen? Eine Gesundenuntersuchung?

Der Weißkittel betrachtete ihn abschätzig — ein Koch, der einen Hummer ins siedende Wasser schmeißt, ein Insektenforscher, der einen Käfer aufspießt. Die Handschellen wurden geöffnet, und man wies ihn an, Hemd und Unterleibchen auszuziehen. Dann musste sich Malte an das Gerät stellen, fuhr die Schiene an ihm entlang. Copy and paste.

— Wenn Sie sich benehmen, können wir die Brezeln weglassen. Der Polizist hielt die Handschellen hoch und sah ihn fragend an.

— Ich will keinen Ärger.

— Dann kommen Sie … benehmen Sie sich. Der Beamte führte ihn zur nächsten Tür, die offen stand. Eine kleine Zimmerflucht mit Schreibtisch und einer weißgekleideten Person waren zu sehen. Malte erblickte eine hübsche Frau. Zurückgekämmtes dunkelblondes Haar, freundliches, ja, geradezu offenherziges Gesicht, das Reinheit und Güte ausstrahlte — eine blutjunge Paula Wessely.

— Tabea Butterweck. Das zierliche Persönchen reichte ihm die weiche Hand. Ich bin die Psychologin. Malte war verzaubert. Psychologin? Ist das hier ein Aufnahmetest? Tabea? Was für ein bezaubernder Name. Sie fragte ihn mit heller, fast mütterlicher Stimme nach seinen Familienverhältnissen, seinen Zielen im Leben, was Glück für ihn bedeute und ob er schon einmal an Selbstmord gedacht habe. Er erzählte ihr freimütig von Carvin und Elvira, vom Getränkehandel, dem Dingers samt Schanigarten … Für ein paar Augenblicke vergaß er, wo er sich befand, war es wie in einer Strandbar oder an einem anderen flirtabilen Ort. Sie lächelte und machte sich Notizen. Gott, ist die hübsch! Gut, Brüste hat sie keine, aber dieser Mund, das Näschen, die Grübchen… Sie zeigte ihm jetzt schwarze Tintenkleckse und wollte seine Assoziationen hören. Er kannte diesen Rorschachtest vom Bundesheer, wusste, dass er mit schwarzer Vogel, Totengräber, Sensenmann und Ähnlichem antworten musste, um als depressiv eingestuft zu werden. Er sah aber Wiesenblumen, Schmetterlinge und Schokomuffins, woraufhin sie ihm lächelnd eine stabile Persönlichkeit attestierte.

— Aber! Sie müssen doch erkennen, ich bin unschuldig. Benimmt sich so ein Gewalttäter? Ist das aggressiv? Ja?

— Wissen Sie, wer am charmantesten ist? Die Mörder! Tabea Butterweck blickte Richtung Tür, wo der Beamte stand, den Malte jetzt erst richtig wahrnahm: ein nett aussehender Bursche. Etwas zu lang geratene, leicht überhängende Nase — Typ Adriano Celentano. Draußen würden sie ein Bier trinken. Draußen? Jetzt denkst du schon in diesen Kategorien. Du bist nicht drinnen. Das ist ein Missverständnis, eine Sache von ein paar Stunden. Eine Story für deinen Facebook-Account.

— Das war’s. Alles Gute, sagte die Psychologin.

— Kurz und schmerzlos wie eine Prostatauntersuchung. Malte grinste.

Nun ging es in ein Zimmer, das an den Umkleideraum eines Hallenbades erinnerte. Das hatte nichts mit dem Gefängnis zu tun, das er aus Filmen kannte, da war nichts von »Flucht von Alcatraz« mit Clint Eastwood oder »Die Verurteilten« mit Morgan Freeman … Eher atmete hier jede Tür, jeder Gang, jeder Kubikmillimeter Luft den schweren Geruch österreichischer Bürokratie. Der Stall des Amtsschimmels.

Das ist ein schlechter Traum, dachte er. Wohl wissend, dass es keiner war, rechnete er doch damit, bald aufzuwachen. Da vernahm er ein Glucksen in seinem Bauch, spürte er einen leichten Druck in den Gedärmen und glaubte, einen kleinen Furz in die Freiheit entlassen zu müssen. In der Gewissheit, hier eine olfaktorische Marke zu setzen, entspannte Malte seinen Schließmuskel, murmelte »unhaltbar« und lächelte zufrieden, was sich gleich im nächsten Augenblick erst zu Staunen, dann zu Bestürzung verzerrte: Der kleine Pups war ein Eigentor und hatte ihn nass gemacht. Ein fester Schas! Nun wurde ihm die Bedeutung dieses Ausdrucks bewusst — wobei, so fest war er nicht. Gar nicht furztrocken wie der Kuchen einer Großbäckerei. Er spürte es ganz deutlich, es war, als wäre die Fruchtblase einer schwangeren Katze geplatzt. Er hatte sich, um es beim Wort zu nennen, angeschissen. Auch das noch. Ein fester Schas! Fuck!

Wie hatte Martin Luther gesagt? »Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz!« Aber das? Ein Anschlag der Gegenreformation! Seine Hose klebte in der Arschfalte. Er hatte etwas Inneres nach außen gestülpt, die Verhältnisse umgewendet und saß nun richtig in der Scheiße. Entwürdigend. Wann war ihm das zuletzt passiert? Vor Jahren in Mexiko, als ihm ein rachsüchtiger Montezuma, vielleicht aber nur Kolibakterien oder ein Norovirus die Gedärme ungerührt umgerührt hatten.

— He, ich muss mal auf den Topf. Er sprang auf und sah den vor der Tür stehenden Beamten flehend an, aber der Celentano-Typ beachtete ihn nicht, aß seine Maurerforelle, eine mit Zwiebel und Senf gefüllte Knackwurst, las in der Kronen Zeitung und murmelte etwas von später und Geduld.

Noch nie hatte sich Dinger so hilflos gefühlt. Er merkte, wie seine Augen feucht wurden, und am liebsten hätte er den Tränen freien Lauf gelassen.

Sacht trommelte er gegen die Wand, doch der Beamte vor der Tür ignorierte ihn nicht nur, er wandte sich sogar demonstrativ zur anderen Gangseite, um zwei Figuren zu grüßen. Wie sollte Malte wissen, dass es sich um Kriminalkommissar Falt Groschen und einen seiner Inspektoren handelte.

Toter Mann

Immer noch Freitag, der 6. September 2024. Falt Groschen, ein behäbiger Endvierziger, und sein Assistent, der kleine, cholerische Gordon Zwilling, waren wegen einer Zeugenbefragung im Grauen Haus, wie das Landesgericht samt angeschlossener Justizvollzugsanstalt genannt wurde. Es ging um einen Ukrainer, der einen Moldawier erstochen haben sollte. Der Dolmetscher übersetzte viel weniger, als der Beschuldigte sagte, und ließ sich auch durch misstrauische Blicke des Kommissars nicht aus der Ruhe bringen.

Groschen, genau genommen Gruppeninspektor, aber wegen der Fernsehkrimis hatte sich selbst polizeiintern die Bezeichnung Kommissar durchgesetzt, verstand manche Wörter: robotje, amnesty, human. Als Übersetzung einer von Grimassen begleiteten Suada wurde ihm aber nur ein knappes »war alkoholisiert, das Ganze ein Unfall« präsentiert. Der Ukrainer hatte entsetzte Augen, die des Dolmetschers waren kühl und gierig. Da, der Kommissar wollte gerade nachbohren, vibrierte Groschens Handy. Die Zentrale! Leichenfund in der Strozzigasse, wahrscheinlich Mord.