Das frühgeborene Kind in seiner Entwicklung - Edith Müller-Rieckmann - E-Book

Das frühgeborene Kind in seiner Entwicklung E-Book

Edith Müller-Rieckmann

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Beschreibung

Eltern brauchen während und nach der klinischen Betreuung von Frühgeborenen gezielte Beratung. Das Präventivmodell von Edith Müller-Rieckmann berücksichtigt vielfältige Aspekte: somatopsychische, psychosoziale, frühpädagogische, entwicklungsdiagnostische und -psychologische. Eltern gewinnen so früh Vertrauen in die ihnen bevorstehende Verantwortung für ihr frühgeborenes Kind. Wertvolles Kernstück des Buches ist ein Beobachtungsbogen, mit dem die Entwicklung des frühgeborenen Kindes jedes Gestationsalters in differenzierten Entwicklungs- und Verhaltensbereichen über die ersten Jahre hinweg festgehalten werden kann. Eine Fülle von Förderideen für das frühgeborene Kind rundet das Buch ab. Neu in der 7. Auflage: Zentrale Themen wie Operation, Narkose und Ernährung werden anhand neuer Fallbeispiele analysiert.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Edith Müller-Rieckmann

Das frühgeborene Kind in seiner Entwicklung

Eine Elternberatung

7., aktualisierte Auflage

Mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen

Ernst Reinhardt Verlag München

Dr. paed. habil. Edith Müller-Rieckmann, Dipl.-Rehabilitationspädagogin, Entwicklungspsychologin, Rostock, langjährige Erfahrung in Kinderkliniken auf dem Gebiet der Frühdiagnostik, Frühförderung und Elternberatung von neugeborenen und frühgeborenen Risikokindern. In der Vergangenheit Wahrnehmung von Lehraufträgen an den Universitäten Bielefeld und Rostock, sowie Mitarbeit an der HMT Rostock/Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik.

Titelfoto:

Ein Frühgeborenes im Inkubator.

29

+3

SSW:

Das Kind wurde nach 29 Schwangerschaftswochen plus 3 Tagen geboren.

1050 g GGW: Das Geburtsgewicht betrug 1 050 g.

Hinweis

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN: 978-3-497-03160-3 (Print)

ISBN: 978-3-497-61680-0 (PDF-E-Book)

ISBN: 978-3-497-61681-2 (EPUB)

© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Vorgeburtliches Leben

Frühgeburtlichkeit – Risiken und Chancen

Kann und sollte eine Frühgeburt verhindert werden?

Merkmale von Frühgeborenen

Zur neonatologischen Betreuung von Frühgeborenen

Frühgeborene entwickeln sich individuell

Das korrigierte Alter

Die Eltern-Kind-Beziehung

Abpumpen und Stillen – Trinken-Lernen

Gemeinsames Tun und Ruhen nach Art der Kängurus

Zur Entwicklung des Sozialverhaltens (Bindungsverhalten)

Die Entlassung nach Hause steht bevor

Essen-Lernen – schwer für alle

Schlafen?

Spielende Pflege

Die Funktionsspiele

Die Konstruktionsspiele

Das Handling

Vielfältige Entwicklung

Kind und Eltern üben „Aufrichten“

Erste Gehversuche

Kind und Eltern im Dialog

Singen, Malen, Konstruieren – Musische Begegnung

Ist es altmodisch, ein Tagebuch zu schreiben?

Notizen aus Tagebuchaufzeichnungen von D. M., einem Jungen aus der vollendeten 25. SSW

Entwicklungsübersichten

Vorgeburtliche Entwicklung und angeborene Fähigkeiten

Nachgeburtliche Entwicklung im ersten Lebenshalbjahr

Entwicklung im zweiten Lebenshalbjahr

Entwicklung im dritten Lebenshalbjahr

Entwicklung im vierten Lebenshalbjahr

Entwicklung im fünften und sechsten Lebenshalbjahr

Der Beobachtungsbogen

Beobachtungsbogen zur differenzierten Erfassungindividueller Erholungsschritte

Entwicklungshabilitation für Frühgeborene

Kinder mit Frühgeborenen-Retinopathie

Unreife Frühgeborene können durch Cerebralparesenbehindert sein

Störungen durch Lungenunreife

Narkose und Operation anhand zweier Fallbeispiele

Fallbeispiel Lucy

Fallbeispiel Benke

Frühgeborene mit Mehrfachbehinderungen – zur Entwicklung eines Mädchens aus der 23. SSW

Zu schwach, um leben zu können

Übungen mit frühgeborenen Kindern – ausgewählte Beispiele

Bewegungsförderung im Wasser

Aktivierung körpereigener Funktionsspiele

Anbieten von Greiflingen

Hör-Greif-Übung mit selbst gebauter Spielstange

Übungen zum Essenlernen

Übung zum Ballspielen

Wählen eines Lieblingsspielgegenstandes

Übungen zum Turmbau

Anbahnung des Rollenspiels

Übungen zur Schwerkraftempfindung

Hand-Hand-Koordinationsübungen und Greifübungen

Übungsprogramm Händewaschen

Übungsprogramm Händeabtrocknen

Übungsprogramm Malen

Übungsprogramm Farben ordnen

Förderung rhythmisch-musikalischer Bewegungsfähigkeiten

Entwicklungsberatung für Niklas

Frühgeborene werden erwachsen

Dank

Weiterführende Internetlinks

Fremdworterklärungen und Abkürzungen

Ausgewählte Buchempfehlungen zum Thema soziale Pädiatrie – Kindesentwicklung

Literatur, Quellen

Vorwort

Das vorliegende Buch von Dr. Edith Müller-Rieckmann richtet sich in seiner nun bereits 7. Auflage seit seinem ersten Erscheinen 1993 an Eltern und Fachkräfte, die sich gemeinsam um die Sorge und Begleitung der zu früh geborenen Kinder kümmern.

2020 kamen in Deutschland fast 70.000 Frühgeborene vor der 36. Schwangerschaftswoche (SSW) zur Welt. Davon fast 11.000 vor der 31. SSW. (Quelle: IQTIG Bundesauswertung 2020).

Kinder, die in ihrer vorgeburtlichen Entwicklung zu früh aus dem schützenden Umfeld der sie tragenden und nährenden Gebärmutter geboren werden, sind sehr empfindlich. Sie müssen frühzeitig in einen Lebensraum eintreten, für den sie eigentlich noch garnicht vorbereitet sind. Es fehlt der direkte mütterliche Kontakt, die Versorgung über die Plazenta und die schützende Hülle der Fruchtblase mit dem Fruchtwasser. Der oft aus gesundheitlicher und mütterlicher Sicht notwendige Kaiserschnitt verstärkt die abrupte Umstellung des zu früh geborenen Kindes erheblich. Insbesondere das Aufwachen im Inkubator löst eine massive Stressreaktion in dieser empfindlichen (vulnerablen) Entwicklungsphase aus. Vor allem die vorzeitige Anpassung an die Sauerstoffversorgung über die Lunge bedarf einer intensiv unterstützten Überwachung und Behandlung. Diese Kinder müssen zu früh körperlich und emotional Dinge leisten, die für viel Stress sorgen können.

Auch die Gehirnentwicklung ist zum Zeitpunkt einer oftmals sehr frühen Geburt um die 28. SSW nicht ausgereift. Neue Umgebungsreize im Inkubator beanspruchen völlig neue, oftmals „überfordernde“ Reifungsvorgänge bei der Gehirnentwicklung, der Zellwanderung und der nun notwendigen vorzeitigen synaptischen Verschaltung vielfältiger neuer, von außen auftretender Reize. Dazu gehören Licht, Lautstärke der umgebenden Überwachungsmonitore. Die Neugeborenen-Intensivmedizin kann mit Atemhilfen, künstlicher Ernährung, angepasster und optimierter Wärmezufuhr in den Inkubatoren und spezieller Hautpflege die frühen Anpassungsvorgänge der Kinder unterstützen. Umso wichtiger sind nun die sensorischen Reize des Haut- und Wärmekontakts mit dem Körperkontakt der Eltern während des sogenannten Kängururuhens. Die frühe emotionale Bindung zu beiden Eltern ist für die Entwicklung des Kindes extrem wichtig. Später zu beobachtende motorische, psychokognitive und verhaltensregulierende Probleme im Leben dieser Kinder lassen sich durch eine frühe und vor allem die Eltern einbindende Förderung und empathische Begleitung verstehen und mindern und helfen ihnen dabei, damit umzugehen.

Gerade wenn in dieser vulnerablen Phase der kindlichen frühen Entwicklung Komplikationen auftreten, sind die Sorgen der Eltern groß. Wird mein Kind behindert sein? Wie kann ich ihm helfen, wie kann ich seine Entwicklung fördern?

Dr. Edith Müller-Rieckmann gehört in Deutschland und international zu den ersten AutorInnen, die vor 30 Jahren den Paradigmenwechsel von der rein medizinischen, defizitorientierten hin zur kind- und familienzentrierten Betrachtung und Betreuung Frühgeborener einforderte. Damit konnten Kinderkliniken bei der Einführung dieser nun wirklich entwicklungs- und ressourcenfördernden Behandlungsstrategie angeregt und unterstützt werden.

Verlaufsstudien in den letzten 20 Jahren zeigten rasch einen positiven Effekt mit einer signifikant verringerten Sterblichkeit und insbesondere auch eine signifikante Verbesserung der psychokognitiven und psychoemotionalen Entwicklung ehemaliger frühgeborener Kinder. In den letzten 30 Jahren sind weltweit, und besonders auch in Deutschland, vielfältige wissenschaftliche Studien und Untersuchungen erstellt worden, um die medizinischen und intensivmedizinischen Rahmenbedingungen für die Versorgung zu früh geborener Kinder erheblich zu verbessern. Dabei spielen aber, und das bestätigen die aktuellen Forschungen zur Gehirnentwicklung und die vielfältigen Langzeit-Verlaufsbeobachtungen zur Entwicklung bei ehemaligen Frühgeborenen, ganz wesentlich die frühen und intensiven Kontakte zu den Eltern eine entscheidende und für die spätere Entwicklung der Kinder prägende Rolle.

Es ist das Verdienst der EntwicklungspsychologInnen, wie z.B. der Buchautorin Dr. Edith Müller-Rieckmann, PädagogInnen aber auch nicht zuletzt aller sozialpädiatrisch orientierten Kinderärzte und Kinderärztinnen, die Wertigkeit der Entwicklungsunterstützung so frühzeitig wie möglich aufzuzeigen und zu formulieren. Diese Sicht auf Ressourcen der Entwicklung und wie diese unterstützt werden kann, löste zunehmend das defizitorientierte Denken in der Frühförderpädagogik ab.

Auch die Politik konnte glücklicherweise dieses Denken verstehen und die gesetzlichen Grundlagen zur sinnvollen Finanzierung für frühe Unterstützungsangebote durch Selbsthilfegruppen aber auch durch Fachgruppen und Fachorganisationen aufgreifen und festschreiben. Daraus entstanden viele Nachsorgeeinrichtungen und ambulante Beratungs- und Therapieangebote für Familien frühgeborener Kinder. Aktuell gibt es deutschlandweit 163 Sozialpädiatrische Zentren. Diese gut vernetzten Fachzentren sichern eine gute Nachsorge und interdisziplinäre Betreuung, ebenso zahlreiche Nachsorgeeinrichtungen und Frühförderstellen sowie spezifisch auf Frühgeborene eingestellte Fachkliniken bundesweit.

Dieses vorliegende Buch ist für die Fachkräfte einerseits, aber gerade auch für die Eltern während der gemeinsamen intensiven Zeit mit ihrem Kind, ein wertvolles und für den Alltag nützliches Buch. Es entstand durch die sorgfältige Beobachtung von Eltern mit ihren Kindern und aus ihren (denen der Autorin) eigenen Erfahrungen als Mutter zweier zu früh geborener Kinder, die, nun erwachsen, im Beruf und Leben stehend, wiederum gesunde erwachsene Kinder haben.

Wichtig in diesem Buch sind die Kapitel zur vorgeburtlichen Entwicklung, die Beobachtungen während der neonatologischen Betreuung. In der Mitte des Buches werden mit den Darstellungen zur vorgeburtlichen und nachgeburtlichen Entwicklung für die LeserInnen verständlich die Entwicklungen und Fähigkeiten der Kinder in diesen Lebensphasen aufgezeigt. Für die Eltern praktisch nutzbar und hilfreich ist der Beobachtungsbogen zur differenzierten Erfassung der Entwicklungsmerkmale und – schritte von frühgeborenen Kindern. Ergänzt sind aktualisierte Webadressen themenbezogener Hilfen.

Die Arbeit mit dem Buch bietet eine Möglichkeit für die Eltern, gemeinsam mit den ÄrztInnen und Pflegefachkräften auf der Neugeborenenintensivstation sowie den Pflegenden und Begleitern der Nachsorgeeinrichtungen und den ÄrztInnen in den Sozialpädiatrischen Zentren und Frühförderstellen das gegenseitige Verstehen und den Erfahrungsaustausch zu vertiefen und systemisch zu arbeiten.

Dr.med. Tilman Köhler (Master of Sciences, MSc)

Ärztlicher Leiter SPZ Schwerin stellv. Sprecher Bundesarbeitsgemeinschaft der SPZ in Deutschland

Vorgeburtliches Leben

Mit der Vereinigung von männlichen Samenfäden und den weiblichen Eizellen beginnt die Verwandlung des einen wie des anderen. Es beginnt die Umformung der Eizelle in etwas Neues – die erste Phase der vorgeburtlichen menschlichen Entwicklung, die Entwicklung eines Embryos. Später, im Verlauf der fortgeschrittenen vorgeburtlichen Entwicklung, wird der Embryo Fötus genannt. Die vorgeburtliche Reifung und Entwicklung vollzieht sich nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, und doch bilden sich schon im Mutterleib, unbeeinflusst von der Außen­welt, spezifische Anlagen für dieses eine neue Wesen.

Frühe embryonale Organfunktionen wie z. B. die der Lunge bereiten Atembewegungen als Voraussetzung für die tiefen ersten Atemzüge des Neugeborenen vor. Die ersten Atemmuster sind ein außerordentlich guter Ausdruck dafür, ob zwischen der körperlichen Aktivität des Neugeborenen und dem Leben außerhalb des Fruchtwassers eine angepasste Abstimmung eingesetzt hat. Schreck, Wut, Angst, Wohlbe­finden bestimmen den Zustand der Atmung.

Auch ein frühembryonales Wachstumsgreifen kann bei einem 2,55 mm großen menschlichen Embryo als erste frühe Greifbewegung angenommen werden. Die Hand- und Armanlage an der jeweiligen seitlichen Körperwand des Embryos, die während des allmählichen Wachsens einsinkt, bewirkt ein Vorkippen der Armanlage. Die Handanlage beginnt sich vorzustrecken und dem Greifen ähnliche Bewegungen auszuführen. Allmählich wachsen aus den häutigen Rändern der Hand die Finger. Die Bewegungen werden zu Vorläufern der späteren Fähigkeit des Neugeborenen, unwillkürlich klammern und greifen zu können.

Saugbewegungen und vorgeburtliche Greifbewegungen sind in ihrem Entwicklungsgeschehen eng miteinander verbunden. An Frühgeborenen wurde beobachtet, dass sie beginnende greifende Fingerbewegungen nur dann ausführten, wenn bereits kräftige Saugbewegungen vorhanden waren.

Über das Sinnessystem bahnen und entwickeln sich Befindlichkeiten (Emotionen) des wachsenden ungeborenen Kindes. Ohren und Hören (auditives System), Gleichgewichtssystem (vestibuläres System) sowie die Haut und das Tasten (taktiles System) vermitteln dem Kind in der Gebärmutter Reize aus der intra- und extrauterinen Umwelt. Diese vorgeburtlichen Wahrnehmungsprozesse bewirken Kopfbewegungen, Augenbewegungen und große Körperbewegungen. Schwerkrafterleben, Sicherheitsgefühle, Sprachverständnis, Sprechvermögen, spielerische zwischenmenschliche Beziehungen werden durch intra­uterine Empfindungen und Wahrnehmungen vorbereitet. Dieses Wahrnehmen von Signalen, Informationen, Reizen ist vom jeweiligen Reifeprozess des Gehirnes abhängig: In der 2. – 12. Schwangerschaftswoche (SSW) bildet die Struktur der vorhandenen Nervenzellen das Fundament des Reifens. Danach beginnt mit der 13. SSW das Wachstum der langen (Axone) und kurzen (Dendriten) Nervenfortsätze, um zu den Schaltstellen (Synapsen) gelangen zu können. Unzählige Nervenzellen stehen nun in Verbindung miteinander. In diese 2. Phase fällt mit der 22. SSW z.B. die Ausreifung der Vertikalisation – die Fähigkeit des Menschen des aufrechten Lebens. In der 26. SSW beginnt das Ungeborene Fruchtwasser zu trinken. Ein Zeitpunkt, zu dem die langen Fortsätze im Zentralnervensystem (ZNS) und im Rückenmark von einer stark fetthaltigen Substanz spiralenförmig umhüllt werden. Das Mark oder Myelin, eine weiße Substanz, wird für eine störungsfreie Weiterleitung der ankommenden Impulse zu den Nervenzellen (graue Substanz) benötigt. Mit der 29. SSW ist eine dritte Etappe des Reifeprozesses erreicht (Keller/Simbrunner 2007). Die Myelinisierung ermöglicht nun eine Impuls-Auswahl mit Verknüpfungen zu einem komplexen Netzwerk. Druck, Schmerz und Kälte können z. B. nun vom Ungeborenen wahrgenommen werden (s. Tabelle Übersicht zur vorgeburtlichen Entwicklung). Die Myelinisierung vollzieht sich bis über das 25. Lebensjahr hinaus (Kleinfeld/Köhler 2011). Dies ist sehr wichtig zu wissen und zu bedenken, um nicht zu früh negative Prognosen zu Entwicklungsfragen zu stellen. Werden diese Zusammenhänge tiefgründig bedacht, so wird aber doch auch sehr deutlich, dass für zu Frühgeborene mit einem Gestationsalter vor der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche wenig Chancen für eine gute Lebensqualität bestehen. Das Fundament für Reifung und Entwicklung außerhalb der Gebärmutter ist zu schwach (Ramsauer 2012).

Mit der Geburt verfügt das Neugeborene über die Fähigkeit, Gefühle haben zu können (Emotionalität). Angeborene emotionale Sensibilität zu erhalten, ist eine wesentliche Voraussetzung für den Säugling zu lernen, Bindungen mit Eltern und anderen Menschen einzugehen, also menschliche Lebensweise zu erlernen. So trifft es auch für Frühgeborene zu. Auch für sie ist der Übergang vom Leben in der Begrenztheit der Gebärmutter in die Außenwelt (von intrauterin zu extrauterin) die Geburt. Zentrales Erlebnis des Geborenwerdens aus der wärmenden, schützenden und nährenden Lebenssituation in einer fein abgestimmten Interaktion mit der Mutter ist das Verlassen des Dunklen in das Helle der Welt. Die Geburt wirkt wie ein Schock auf die angeborenen Temperamentsbesonderheiten und vorgeburtlich erlernten Fähigkeiten des Frühgeborenen. Anpassungsschwierigkeiten können die Folge sein.

Das zu früh geborene Kind verfügt jedoch über körperliche und seelische Kräfte aus der vorgeburtlichen Entwicklung, die ihm helfen, widerstandsfähig zu werden.

Frühgeburtlichkeit – Risiken und Chancen

Je früher ein Kind geboren wird, desto näher befindet es sich noch in seinem körperlichen Wachstum (Reife), seiner Erlebens- und Fähigkeitsentwicklung dem Zustand der Vorgeburtlichkeit, dem pränatalen Zustand. Welches Kind ist ein zu früh geborenes?

Zur Berechnung des Geburtstermines eines Kindes werden vom vermutlichen Zeitpunkt der Befruchtung an 40 Schwangerschaftswochen zugrunde gelegt. Als zu früh geboren bezeichnet man diejenigen Kinder, die vor vollendeten 37 Schwangerschaftswochen lebend geboren werden. Folgende Reifegrade werden unterschieden: Extrem früh Frühgeborene mit weniger als 28 SSW, sehr frühe Frühgeborene bis zur 31. SSW und Frühgeborene ab der 32. bis zur vollendeten 36. SSW. Umstände, die zur Frühgeburt führen, können mannigfaltig sein und sind zu trennen in Ursachen vonseiten der Mutter und vonseiten des Kindes:

I. Mütterlicherseits:

Allgemeinkrankheiten, z. B.

■Infektionen

■Gestose (krankhafte Schwangerschaftsstörungen, die meist mit erhöhtem Blutdruck einhergehen)

■Anämie (zu wenig rote Blutkörperchen)

■Herzerkrankungen

■Lungenerkrankungen

■Diabetes (Zuckerkrankheit)

■Hyperthyreose (Überfunktion der Schilddrüse)

■das Hellp-Syndrom (haemolysis, elevated liver functiontest, low plated counts)

Psychosoziale Belastungen, z. B.

■Stress

■schwere Arbeit

■alleinstehend

■Nikotinmissbrauch

■Alkoholmissbrauch

■sonstiger Drogenmissbrauch (eingeschlossen Medikamente)

■Unterernährung der Mutter

Anomalien und Erkrankungen der Gebärorgane, z. B.

■Uterus myomatosus (gutartige Geschwulstbildungen in der Gebärmutter)

■Uterus bicornis (Fehlbildungen der Gebärmutter)

■Placenta praevia (Mutterkuchen sitzt vor Uterusausgang)

■Zervixinsuffizienz (Schwäche des Gebärmuttermundes)

■vorzeitiger Blasensprung

Mehrlingsschwangerschaft

Alter der Mutter

■unter 16 Jahre

■über 35 Jahre

II. Kindlicherseits:

Infektionen

Fehlbildungen aller Art, insbesondere in Verbindung mit einem Poly-hydramnion (zu viel Fruchtwasser)

Rh-Inkompatibilität

Nabelschnurstörungen

Alle genannten möglichen Ursachen können Indikationen für den Geburtshelfer sein, die Entbindung vorzeitig einzuleiten. Die unverhoffte Frühgeburt meist unklarer Ursache betrifft etwa 4 % aller Geburten. Versehentlich kommen zu frühe Geburtseinleitungen durch falsche Terminberechnungen vor.

Kann und sollte eine Frühgeburt verhindert werden?

In Deutschland werden z. Z. jährlich etwa 70 000 Kinder zu früh geboren. Je rascher, z. B. mit Antibiotika, Kind und Mutter behandelt werden können, desto geringer ist die Gefahr, dass das Ungeborene Schaden nehmen könnte. Droht eine Sepsis, muss so früh wie möglich und nötig der Kaiserschnitt vollzogen werden. Noch bedrohlicher wird ein plötzlich auftretendes HELLP-Syndrom (HELLP steht für Haemolysis, Elevated Liver enzyme levels, Low Plated count: Zerfall des Blutes, Anstieg der Leberwerte, Abfall der Thrombozyten). Nur die rasche Operation kann den Tod der Mutter verhindern.

J. W. ist ein Mädchen, geboren in der 23. SSW per Kaiserschnitt mit einem Geburtsgewicht von 490 Gramm. Sie ist das zweite Kind der Familie. Das erste Kind war eine Totgeburt bei sich entwickelndem HELLP-Syndrom der Mutter. Zu rasch folgte die erneute Schwangerschaft mit J., sodass es in der 23. SSW wiederum zu schwersten Zeichen eines HELLP-Syndroms kam und dazu auch noch rasant verlaufend als Trias. Eine Massenblutung konnte gerade noch verhindert, das Leben der Mutter gerettet werden. Sehr lange dauerten Heilungs- und Erholungsprozess (s. a. Frühgeborene mit Mehrfachbehinderungen).

In Heidelberg wurden Erfahrungsberichte von Schwangeren gesammelt, die, zur Vermeidung der Frühgeburt, einige Wochen in Ruhe liegend in der Frauenklinik verbringen mussten. Ihre persönliche Einstellung, mitbewirkt durch einfühlsame und aufklärende Gespräche mit Ärzten und Schwestern, dem Partner und der Familie, half ihnen oftmals, die Schwangerschaft noch um einige Wochen, manchmal leider auch nur um wenige Tage, zu verlängern. Aber was ist mit all den Frauen, denen es nicht so gut geht, einen liebevollen Partner, eine stützende Familie zu haben? All den Männern und Frauen, die kämpfen müssen, sich von der Sucht nach Nikotin, Alkohol, Medikamenten und Drogen zu befreien? Dann wird unverzüglich die Hilfe durch Experten notwendig, um z.B. ein Fetales Alkoholsyndrom (FAS) zu vermeiden oder gering zu halten, beispielsweise im FAS-Zentrum der Charité Berlin unter der Leitung von Dr. med. Hans-Ludwig Spohr. Hervorragende Erweiterung hat stattgefunden für Sozialpädiatrische Zentren; eine Form interdisziplinärer ambulanter systemischer Begleitung. Seit 2021 gibt es in Deutschland 161 Institute.

Merkmale von Frühgeborenen

Wenngleich ein allgemeiner Rückgang der Frühgeburtlichkeit zu be­obachten ist, so ist dennoch deutlich mit einer erheblichen Zunahme der sehr unreifen Frühgeborenen zu rechnen, also jenen Kindern, die vor der vollendeten 28. Schwangerschaftswoche lebend geboren werden. Wenn das Ges­tationsalter (Alter in Schwangerschaftswochen) des Frühgeborenen nicht bekannt ist, wird der Reifegrad nach der Geburt, z. B. mit dem neuen Ballard-Test oder dem Test von Dubowitz-Farr, durch Ermittlung von äußeren, kör­perlichen Merkmalen und durch Bestimmung der neuromuskulären Reife geschätzt. Deutlich unterscheidet sich das Frühgeborene von reifgeborenen Kindern:

■Frühgeborene sind kleiner und leichter. Jedoch scheint es so, als würden derzeit Frühgeborene mit höheren Geburtsgewichten in den jeweiligen Schwangerschaftswochen geboren.

■Fettpölsterchen fehlen.

■Die Haut ist durchsichtig und leicht gerötet und gewährt fast Einblick in den kleinen Körper.

■Finger- und Zehennägel haben die Kuppen noch nicht ganz erreicht.

■Der Körper kann mit feinen, wolligen Haaren (Lanugo) bedeckt sein.

■Manchmal fehlen die Augenbrauen.

■Unregelmäßiges Atmen kann auftreten.

■Die Körpertemperatur kann schwanken.

■Eine kräftige Faust mit eingeschlagenem Daumen kann an den Händen zu sehen sein.

■Suchen mit dem Mund, Saugen und Schlucken sind schwächer ausgebildet und können Schwierigkeiten bereiten.

■Beim Schreien werden Bewegungen streckender, eckiger.

■Greifende Bewegungen und Saugbewegungen sind bei sehr unreifen Frühgeborenen aneinander gekoppelt.

■Koordinierte Mund-Hand-, Mund-Daumen-, Ohr-Kopf-Bewegungen sind gut zu beobachten.

■Frühgeborene haben einen rhythmischen Wechsel von Ruhe und Aktivität.

■Eine geglättete Stirn zeigt Ruhe und Wohlbehagen an.

■Steil aufgestellte Stirnfalten drücken Unmut aus. Frühgeborene sind häufig berührungs-, licht- und lärmempfindlich.

■Sie zeigen Differenzierungen zu Geschmack, Druck und Schmerz an.

■Charakteristische Bewegungsmuster von Frühgeborenen:

Kleine feine Bewegungen

–Koordinierte Saug- und Atembewegungen

–Kopfbewegungen (Kopf-Ohr-Koordination)

–Räkeln

–Gähnen

–Mund-Hand-Koordination

Große Bewegungen

–Arm- und Beinbewegungen in Beugehaltung

–Kleine Ausladungen

–Schreitbewegungen

–Seltener auch Rumpfbewegungen

■Charakteristik der Spontanmotorik (nach Hadders-Algra):

1. Lebenswochen writhing-movements tight writhing (kleine Ausladungen in Beugehaltung) loose erithing (locker werdend)

ab 8 Lebenswochen tritt eine grundlegende Änderung der Spontanmotorik in drei charakteristischen Bewegungsmustern ein

■Spontanmotorik von extrem unreifen Frühgeborenen um die 8./9. Lebenswoche:

■Unregelmäßige, wackelnde, pendelnde Bewegungen werden eher an den Armen beobachtet als an den Beinen

■Pendelnde Armbewegungen

■Perlende, unruhig-nervöse Bewegungen (fidgety-like movements); kleine, runde irreguläre Bewegungen, die tanzartig am ganzen Körper auftreten können, aber auch hüpfende Zick-Zack-Bewegungen sein können

■Zeitgleich treten schnelle Bewegungen der Arme und Beine auf i. S. von winkend-klatschenden Bewegungen (Aufklatschen) bei Wohlbefinden des Kindes

Anhand von Perzentilen (kurvenförmige Messlatte) kann geprüft werden, ob entsprechend der erreichten Schwangerschaftswoche das richtige Verhältnis von Tragezeit zu Körpergröße und Geburtsgewicht besteht. Ein Frühgeborenes, geboren mit 27 Schwangerschaftswochen, sollte beispielsweise ein Geburtsgewicht von 800 – 900 Gramm haben. Je unreifer ein zu früh geborenes Kind ist, desto komplexer und gravierender sind seine klinischen Probleme. Die amerikanische Ärztin Virginia Apgar führte ein Untersuchungsschema zur Prüfung des klini­schen Zustandes – den Apgar-Test – in die Perinatologie ein. Geprüft werden die Hautfarbe, die Atmung, der Herzschlag, die Muskelspannung (Muskeltonus) und Antwortreaktionen auf das Absaugen der Nase und/oder auf ein Fingerschnippen an der Fußsohle. 7–10 Punkte kann ein Kind erhalten, wenn es gesund ist, keine Startschwierigkeiten nach der Geburt hat. Die Haut ist rosig, das Schreien setzt unregelmäßig bis regelmäßig ein. Der Herzschlag liegt über 100 pro Minute, mehr oder weniger kräftige Bewegungen an Armen und Beinen sind beobachtbar. Die Antwortreaktionen können Grimassieren, Schreien und Husten sein.

In der nachfolgenden Übersicht sind die wesentlichsten klinischen Probleme Frühgeborener dargestellt:

Klinische Probleme

Ursachen, Begleiterscheinungen

Hypothermie

(zu geringe Körpertemperatur)

Wenig subkutanes (Unterhautfettgewebe) und braunes Fett

Atemstörungen

–Asphyxie (der Erstickung nahe)

–Alveolenkollaps (Versagen der Lungenbläschen)

–Ineffiziente, paradoxe Atmung (leistungsarme, zuwiderlaufende Atmung)

–Periodische Atmung

–Apnoen (Atemstillstand, -lähmung)

–Aspirationsneigung (Eindringen von festen und flüssigen Teilen in die Lunge)

–Bronchopulmonale Dysplasie (chronische Lungenerkrankung)

Fehlender Atemantrieb, Sauerstoffmangel Surfactantmangel

Instabiler Thorax, schwache Muskulatur

Unreife des Atemzentrums Instabiler Thorax; Atemwegseinengung Mangelhafter Schluck-/Hustenreflex

Unterentwickelte (unreife) Lungen Empfindlichkeit des Lungengewebes auf mechanische Einwirkungen durch künstliche Beatmung, auf Sauerstoff und Infektion

Offener Ductus Arteriosus

(offene Verbindung zwischen Lungen- und Körperschlagader)

Unreife des Blutgefäßsystems, Sauerstoffmangel

Frühgeborenenretinopathie

(Netzhauterkrankung der Augen)

Erhöhte Empfindlichkeit der Netzhautadern gegenüber zu viel oder zu wenig Sauerstoff