Das Gefühl am Morgen - Rainer Merkel - E-Book

Das Gefühl am Morgen E-Book

Rainer Merkel

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Beschreibung

Rainer Merkel erzählt die Geschichte eines Mannes und einer Frau, deren Liebe zwischen Rausch und Zögern schwankt, die Geschichte einer lauernden und zärtlichen Annäherung, die Geschichte einer Liebe. Und bis zum Schluss ist er sich sicher: Er wird sich nicht verzaubern lassen. Eine Geschichte über die Faszination, dass die Liebe ist, wie sie ist, und die Angst, dass es so bleiben könnte.

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Rainer Merkel

Das Gefühl am Morgen

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

123456789Danksagung

1

Irgendetwas war falsch an der Art, wie sie sich bewegte. Sie hatte etwas Übertriebenes an sich. Ihre Bewegungen hatten einen falschen Rhythmus, als verspätete er sich, folgte ihr, während sie schon vorneweg lief. Sie ging durch den Flur. Er erstreckte sich über eine Länge von zehn Metern. Es war ein schlichter, schmuckloser Gang. Am Ende des Gangs war Licht. Eine Tür stand offen. Nachher erzählte sie es ihm. Es war ein paar Monate später, als ihnen nach einer endlosen Autobahnfahrt, in den frühen Morgenstunden der Gesprächsstoff ausging.

»Es war gar kein Zufall«, sagte sie. »Ich war einfach nur ein bisschen neugierig.« Sie sagte es so, als sei es ein Geschenk, über das er dankbar sein musste. Er wollte es nicht hören, aber sie erzählte es trotzdem. Sie sei bis zum Ende des Gangs gelaufen, weil sie gedacht hatte, dass dort jemand war, der vielleicht Hilfe brauchte.

»Ich war erleichtert, dass mit dir alles in Ordnung war, obwohl ich dich ja noch gar nicht kannte.« Sie lief auf Zehenspitzen. Sie hatte sich die Schuhe ausgezogen, um keinen Lärm zu machen.

»Du dachtest immer, ich hätte mich in der Tür geirrt, oder? Aber das stimmt nicht.« Er erinnerte sich an die Stille und Abgeschlossenheit des Zimmers, er hatte das Gefühl, dass er sich dort in der letzten Nacht nach den Wochen, während derer er mit niemandem gesprochen hatte, von allen verabschiedete.

»Was hast du denn gedacht, als du mich das erste Mal gesehen hast?«, fragte sie. Es war östlich von Hannover, fünf Stunden vor Berlin. Sie schaute angestrengt aus dem Fenster, den Film aus Nieselregen und Spritzwasser vor Augen, der in sanften Fontänen vor der Fensterscheibe aufschäumte. Sie näherten sich der Grenze. Der Regen nahm zu, und er dachte, dass es am Kontrollpunkt bestimmt einen Stau geben würde.

»Ist das nicht komisch?«, sagte sie und schaute in den Nebel. »Wie du da am Schreibtisch gesessen hast. Er sah so aus, als würdest du ein Geständnis aufschreiben.«

 

Er dachte, es wäre etwas Großzügiges, die Tür offen stehen zu lassen. Etwas Luxuriöses. Im letzten Moment hatte sie die Schuhe übergestreift und wäre im Schwung der Bewegung beinahe vornüber gefallen.

»Wohnst du hier?«, fragte sie. Sie stand im Türrahmen direkt vor ihm. Er kehrte in seiner Erinnerung immer wieder dahin zurück. Er wusste nicht, ob er in diesem Moment glücklich oder unglücklich war.

»Schläfst du immer bei offener Tür?«, fragte sie.

»Ich schlafe ja noch gar nicht«, sagte er.

»Nein?«

»Ist das denn gefährlich?« Er betrachtete das geometrische Muster ihres Pullovers. Es bestand aus mehreren, viereckigen Feldern, die sich an den Rändern leicht überlappten.

»Und wenn jemand hereinkommt?«

»Willst du denn hereinkommen?«

»Ich schaue nur. Was liest du denn da?« Das Licht der Schreibtischlampe fiel auf die aufgeschlagenen Traurigen Tropen, die ihm sein Vater geschenkt hatte. Er las über eine komplizierte Reise zu einem indianischen Stamm in Brasilien, bei der die Expedition die Ankunft von Ersatzteilen abwarten und für Tage und Wochen am Rand eines ausgetrockneten Flussbettes ausharren musste. Zwei noch nicht eingelöste Schecks waren im Buch versteckt, zwischen den hintersten Seiten, im Literaturverzeichnis, wo man sie nicht so leicht finden konnte. Er schaute auf ihre Füße.

»Und wenn ich doch reinkomme?«, fragte sie. Lukas stand auf.

»Jetzt?«

»Ein anderes Mal vielleicht.«

»Ich bin nur noch eine Nacht hier«, sagte er. »Meine neue Wohnung wird gerade renoviert.« Er erinnerte sich an den Moment der Annäherung. Wie er zu ihr hinübergegangen war. Es war nur ein halber Meter.

»Es gibt dieses Schlangenritual«, sagte er, »sie versuchen Regen zu machen. Kennst du es?« Er lehnte sich neben sie, tastete die weiß gestrichene Wand ab.

»Ich finde es am besten, wenn es nicht regnet«, sagte sie.

»Sie tun so, als wäre die Schlange ein Blitz, den man mit den Händen … Aber man kann ja den Blitz nicht einfach vom Himmel herunterholen. Vielleicht ist das ja die Idee, und eine Provokation der Natur.« Er lächelte sie an. Er versuchte sich alles zu merken, ihr Schwanken, ihre leichte Schwerfälligkeit. Sie war sehr groß.

»Weißt du«, sagte er, er zwängte sich durch den Türrahmen, »es ist doch noch gar nicht so spät, oder?«

»Es ist halb zehn.«

»Viel zu früh.«

»Zu früh, für was?«

»Zu früh, um schlafen zu gehen.«

»Ich bin ziemlich müde.« Sie hatte immer noch ihre Schuhe nicht richtig angezogen.

»Liest du viel?«, fragte sie.

»Nur so zum Spaß. Ich versuche eine andere Perspektive einzunehmen. Also aus der Sicht von Primitiven auf mein Leben zu schauen. Ob es funktioniert. Zum Beispiel eine Geschäftsidee. Verstehst du?« Sie lächelte. Richtig lachen konnte sie nicht. Einmal sagte sie: »Ich studiere auch nicht richtig. Nur Sozialpädagogik.« Als wäre das ein Urteil.

»Sollen wir spazieren gehen?«, fragte er.

 

Sie bewegte sich langsam, fast träge. Es war nur ein paar Minuten später, als sie am Ende der Grünanlage einen kleinen Birkenhain erreichten. Wie in Tücher gepackt standen die Bäume im Dunkel um sie herum. Sie erzählte von ihrer Mutter, die in Kassel ein kleines Reisebüro betrieb. »Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich an sie denke«, sagte sie. Jeden Tag stand sie um sechs Uhr auf, um eine Stunde lang zu ihrem Geschäft zu fahren, und abends fuhr sie eine Stunde wieder zurück. Sie lebte in einem Vorort. Das Schlimmste sei die Dunkelheit, wenn ihre Mutter am frühen Morgen das Haus verließ.

»Du kannst ja mal zu Besuch kommen, wenn du in Kassel bist«, sagte sie.

»Ist denn dieses Jahr nicht die Documenta?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

Sie liefen nebeneinander. Er war froh, dass man das Muster ihres Pullovers nicht mehr so gut sehen konnte.

»Normalerweise mache ich so etwas nicht«, sagte sie.

»Was?«

»Nachts hier so herumlaufen.« Sie hatte die Arme verschränkt. Lukas lief immer einen Schritt voraus.

»Darf ich dich etwas fragen?« Sie standen auf einem schmalen Steinplattenweg. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Kannst du nicht den Pullover ausziehen?«

 

Er war stolz, mit welcher Selbstverständlichkeit sie in seinen Wagen stieg. Sie wollte nichts trinken, nur ein bisschen herumfahren. Er kannte sich im Süden von Berlin nicht aus, und es war schwierig etwas zu finden, was ihr gefiel. Der Pullover lag auf dem Rücksitz, und sie behauptete, es sei ihr ohne den Pullover zu kalt. Sie sagte: »Ich gehe nie aus. Das ist doch Zeitverschwendung.« Oft gab sie gar keine Antwort, und er dachte, er müsse irgendetwas Besonderes sagen, um sie aus der Reserve zu locken.

»Wir könnten bis zur Mauer fahren«, sagte er. »Die Grenzer in ihren Wachtürmen machen bestimmt ein Foto von dir. Würdest du das erlauben?« Sie schüttelte den Kopf.

»Naja, ich könnte sie mal fragen. Ich wende mich nach ganz oben, an die höchste Stelle.«

»An wen?«

»Naja. Ich bete darum, dass er mir hilft.«

»Wer?«

»Gott.«

Sie lachte.

»Ich sage: Bitte hilf mir … Bitte hilf mir, dass mich die Frau, die ich bewundere, erhört.«

»Wer? Ich?«

»Ja. Ich sage es ganz leise. Ich flüstere es. Als Kind habe ich das immer so gemacht. Vor dem Einschlafen. Ich habe gesagt. Lieber Gott, bitte mach, dass ich morgen krank bin. Ich stehe dann auch ganz früh auf. Danach habe ich mich sofort entschuldigt.«

»Aber du kennst mich doch gar nicht.«

»Ich bete ja auch erst später.«

Sie lehnte den Kopf ans Seitenfenster. Er fürchtete, dass sie vielleicht einschlafen könnte.

 

Sie fuhren zu einer Bar in Steglitz, blieben aber nicht lange. Eine halbe Stunde saßen sie in einem Restaurant, ohne etwas zu essen. Laura hatte Angst, dass die Kellnerin eine Kommilitonin sein könnte. Nach zwei weiteren Versuchen, in der näheren Umgebung, bei denen die Kneipen, die er sich ausgesucht hatte, schon geschlossen waren, kehrten sie wieder ins Studentendorf zurück. Sie saßen in der Küche. Es war ein großer neonerhellter Raum. Er versuchte Zeit zu gewinnen. Beim Spazierengehen hatten sie einen Pilz gefunden, und sie verbrachten eine Weile damit, den Pilz zu betrachten und zu überlegen, ob er giftig sei.

»Der ist bestimmt verstrahlt«, sagte er. Er nahm einen Kugelschreiber aus der Tasche und drehte ihn zur Seite.

»Er hat ein Gedächtnis«, sagte sie. Sie schaute auf den Pilz. Die cremefarbenen Lamellen waren so weich, dass er den Kugelschreiber wieder zur Seite legte.

»Und wenn wir ihn essen?«, fragte sie.

»Hast du keine Angst?«

»Doch.« Sie verzog das Gesicht.

»Wenn er älter als ein Jahr ist, dann ist er ungefährlich.« Auf einmal war er begeistert, dass er sie selbst im grellen Küchenlicht noch attraktiv fand. Er rückte etwas näher.

»Ich weiß gar nicht, was du überhaupt von mir willst«, sagte sie plötzlich. Er legte seine Hände über den Pilz.

»Es ist nur so eine Technik, eine Methode.«

»Was?«

»Dass ich bete.« Er sah sie vorsichtig an und dachte, sie würde schon sehen, wie verletzlich und gehetzt er war.

»Ich finde das unheimlich«, sagte sie. »Aber du meinst es nicht so, oder?«

 

Er hielt so lange durch, bis sie zu erschöpft war, um Widerstand zu leisten. Ihre Haare, die er unzählige Male berührt, glatt gestrichen, betastet und untersucht hatte, lagen als Erinnerung noch Tage lang zwischen seinen Fingern. In Gedanken stellte er sie wie ein Puppe vor sich hin und versuchte die richtigen Stellen zu finden. Als er am nächsten Tag mit seinem Vater am Flughafen war, tauchte sie für Augenblicke wieder vor ihm auf. Er war nicht sicher, in welchem Verhältnis sie zueinander standen, ob sie überhaupt schon miteinander befreundet waren. Er saß mit seinem Vater am Tresen in einer Bar und trank Kaffee. Sie stand neben der Aluminiumstange, die die Überdachung der Bar abstützte. Er sah diese Stange, ein imaginäres Skelett, an dem sich sein Vater festhielt. Es war einen halben Tag später. Er brauchte eine Weile um herauszufinden, dass es eine Tanzstange war, wie man sie in Nachtclubs findet, auf einem Podest festgeschraubt, an der sich die Frauen festhalten, während sie sich ausziehen. Sie halten sich an der Stange fest, winden sich um sie herum, bis sie am Ende mit ihr zu verschmelzen scheinen. Er sah ihre langen, glatten Beine und wie sie sich an der Stange heruntergleitend vor ihm und seinem Vater offenbarte. Es war eine PuppenstubenNachtclub-Szene. Routiniert und gleichgültig saßen sie da und schauten auf sie herunter. »Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht«, sagte sein Vater, und in diesem Moment war sie vor ihm aufgetaucht, wenn auch ganz klein und zusammengeschrumpft. Die ganze Zeit hatte er gedacht: Ich darf mich nicht hinlegen, ich darf nicht einschlafen. Ich muss meinen Vater vom Flughafen abholen. Sie zog sich aus, im gleißenden Licht des frühen Morgens, aber er bemerkte es nicht, er übersah es einfach. Er saß auf der Bettkante, nur mit seiner Unterhose bekleidet.

 

»Was habe ich gerade gesagt? Ich verlier immer den Faden.« Sie antwortete nicht. Sie bewegte sich noch nicht einmal. »Meine Mutter kennt sich damit nicht aus. Sie behauptet, es sei alles nur Spielerei. Sie haben die Pille verboten. Aber das war erst das zweite vatikanische Konzil …« Er schaute zum Fenster. »Es war in einem ganz anderen Jahrhundert, also das Erste, und sie mussten es abbrechen, weil Rom kurz davor stand, eingenommen zu werden. Meine Mutter denkt immer, es hätte auch ein drittes oder viertes Konzil gegeben, dabei gab es das gar nicht. Die Unfehlbarkeit. Das ist natürlich lächerlich, obwohl es als Idee interessant ist. In körperlicher Hinsicht ist es …« Er hob leicht die Bettdecke an. Das morgendliche Sonnenlicht, das direkt ins Zimmer fiel, blendete ihn. Sie drehte sich um. »Was ist denn?«, fragte sie. Er konnte sie nicht erkennen. Er spürte ihre Wärme, die ihm ein bisschen Hoffnung gab, und dann ließ er die Decke wieder fallen. Staubpartikel flogen auf und schwebten vom Licht erfasst vor dem Fenster. Einmal sagte er: »Ich muss unbedingt in das andere Zimmer gehen. Wir haben die Tür offen gelassen.« Er wunderte sich, dass er so einfach »wir« sagte, und korrigierte sich. »Ich hätte sie wenigstens anlehnen sollen.« Er beugte sich etwas vor. »Verstehst du? Ich muss dort unbedingt hin, bevor es zu spät ist und die anderen aufstehen und dann …« Aber er blieb sitzen und rührte sich nicht von der Stelle.

 

Er wollte seinen Vater abholen und dann wieder zu ihr zurückkehren. Auf dem Weg zum Flughafen wurde er so müde, dass er sich kaum konzentrieren konnte. Er hatte Schwierigkeiten, die Augen aufzuhalten. Kolonnen von Fahrzeugen, Anordnungen, komplizierte Verkettungen, die sich wie der Anfang einer großen Erzählung über seine Augen legten. Er sah vor dem Rotlicht wartende Fahrzeuge. Er sah eine verführerisch frei bleibende Abbiegespur wie in einem Jahrhunderte alten Traum. Um wach zu bleiben, setzte er sich auf seine rechte Hand und presste die andere gegen das Lenkrad. Er hatte es ihr zu erklären versucht: »Nicht, dass ich vor meinem Vater Angst habe, er hat eindeutig Angst vor mir.« Ein paar Mal bremste er mit so großer Sanftheit, als hätte sich die Idee des Schlafes auch auf die Geschwindigkeit übertragen. Seine Hand auf dem Lenkrad schien schon nicht mehr zu ihm zu gehören. Er entschied sich, die Spur zu wechseln und in einer etwas waghalsigen Aktion an den Wartenden vorbei auf die Kreuzung zu fahren. Sein Fuß sank in eine undefinierbare Tiefe. Er versuchte aufzuwachen. »Und wenn ich doch mitkomme?«, hatte sie gefragt. Er war schon fast aus dem Zimmer und hatte so getan, als würde er sie nicht hören. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jemand Angst vor dir hat.«

 

Sein Vater hatte kein Gepäck. Er hatte nur einen Mantel und ein paar Zeitungen bei sich.

»Wenn ich in Kalifornien bin, nehme ich nie etwas mit«, sagte er. Sie liefen an den Abfertigungsschaltern vorbei, als seien sie auf einer großen Drehscheibe, und suchten nach einem neuen Übergang, einer neuen Verbindung.

»Du siehst müde aus«, sagte sein Vater. Er faltete den Flanellmantel zusammen, und Lukas überlegte, wie sein Vater es schaffen konnte, vier Tage ohne Gepäck in San Diego zu verbringen.

»Wollen wir Kaffee trinken?«

»Ich habe keine Zeit«, sagte Lukas. »Ich bin noch verabredet.«

Sein Vater nickte. Er versuchte ihm die Hand auf die Schulter zu legen, aber Lukas wich zurück.

»Ich habe deinen Bruder getroffen. Er ist extra ins Hotel gekommen. Deiner Mutter geht es gar nicht gut. Aber das ist ja nichts Neues.«

»Ich rufe sie mal an«, sagte Lukas.

»Mit wem bist du denn verabredet? Fängst du einen neuen Job an?«

»Es ist doch Sonntag.«

»Der Kongress geht sonntags auch weiter. Jemand hält einen Vortrag über Sexualität und Militarismus. Aber darauf habe ich keine Lust. Ich finde es schön, wenn es etwas subtiler abläuft. Es kann ruhig etwas sanfter und zurückgenommener sein, oder? Findest du nicht?«

 

Nach einer Weile fanden sie eine ovale, chromglitzernde Bar mit Überdachung, die auf einem der offenen Plätze als Café fungierte. Lukas wollte seinen Vater so schnell wie möglich nach Hause fahren und zu Laura zurückkehren.

»Gehst du viel aus?«, fragte sein Vater.

»Nein. Ich muss mich ums Studium kümmern. Ich glaube, dass ich bald …«

»Ich habe im Flugzeug die ganze Zeit Gymnastik gemacht. Im Sitzen. Das Blut staut sich sonst. Deine Mutter hat einmal so dicke Füße gehabt, dass sie nicht mehr in die Schuhe hineingekommen ist.«

Sie bestellten Kaffee. Sein Vater bestellte mit so leiser Stimme, dass sich der Barkeeper, der etwas erhöht stand, zu ihm herunterbeugen musste.

»Erst mal freue ich mich, wieder hier zu sein«, sagte sein Vater und legte die Hände auf den Tisch. »Dein Bruder ist mit dem Bus gefahren. Und weißt du auch warum? Weil er die Umwelt schonen will. Ist das nicht interessant?«

»Hast du sie getroffen?«

»Nein, es hat mir gereicht, was dein Bruder erzählt hat.« Er breitete seinen Flanellmantel auf seinen Beinen aus, sorgfältig und akribisch, als wäre er eine Schutzschicht.

»Ich habe als Student Freud immer verachtet«, sagte er. »Im Hotel habe ich ein bisschen Vokabular der Psychoanalyse gelesen, und da dachte ich, man kann sich dabei köstlich amüsieren, wenn man will. Ich muss mal nachschlagen, wenn ich mit ihr nicht mehr weiter weiß«, er lachte kurz auf. »Wie heißen die beiden, ich habe es verdrängt.«

»Wer?«

»Die Autoren. Deine Mutter hatte immer Angst vor der Psychoanalyse. In den 70ern hat sie sich in den Casinos versteckt, aber das hat auch nichts geholfen.« Er drehte die Kaffeetasse eine halbe Umdrehung nach links und dann wieder nach rechts. Er hatte noch keinen Schluck getrunken.

»Ich möchte mal wissen, ob sie es nur deswegen gemacht hat, weil sie von den Croupiers Komplimente hören wollte.«

Die Bar mit ihrer silbernen Dachkonstruktion und ihrem muschelförmig gemusterten Tresen, ihrer AluminiumModernität und dem Podest, auf dem der Barkeeper thronte, schien sich leicht in Bewegung zu setzen. Lukas starrte auf den Tresen. Er sah Laura. Er sah sie neben einer der Aluminiumstangen, die die Überdachung abstützten, in der Lichtstrahler eingelassen waren. Sie war zu weit entfernt. Trotzdem fühlte er sich, als würde er in die Luft gehoben. Er versuchte sich auf Details zu konzentrieren. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie überhaupt aussah, wie sie sich bewegte.

»Sie hat ein Vermögen dafür ausgegeben, diese Tiere zu beerdigen«, sagte sein Vater, »diese kleinen verbrannten Hasen, die zum Strand gelaufen sind, als das Feuer ausgebrochen ist. 1965 oder 1966? Wir sind alle zum Meer gelaufen, und sie hat immer nur geschrien. Aber ihr doch nicht! Ihr doch nicht!«

»Die Hasen?«

»Sie hat wahrscheinlich gedacht, irgendein Regisseur würde sie entdecken. Sie ist den Hasen hinterhergelaufen. Das Dienstmädchen aus Guatemala, der sie immer so viel Geld geschenkt hat, hat sie vergessen. Sie hätte in Flammen stehen können, sie hat nur an die Hasen gedacht. Aber ihr doch nicht! Ihr doch nicht! Sie haben ja noch gebrannt, und einige von ihnen haben das Feuer weitergetragen und wieder neue Brandherde ausgelöst.«

»Du hast doch selbst gesagt, es war nur ein Hase«, sagte Lukas, »und zwar der, den ihr damals gehabt habt, und der ist auch noch krank gewesen.«

»Es ist nicht einfach sie zu lieben«, sagte sein Vater. »Vor allem dann, wenn sie ihre Kreditkarten überzieht. Wann musst du bei deiner Verabredung sein?«

»Ich kann auch später gehen.«

»Ich finde das interessant. Vielleicht ist das eine Art Mission, die du da hast. Hast du jemand kennen gelernt?« Er drehte sich zu ihm. Seine Augen waren leicht gerötet. Lukas sah die entzündeten Augen eines Kaninchens. Er glitt vom Hocker herunter.

»Dein Bruder hat jetzt übrigens mit Aktiengeschäften angefangen. Man muss sich in Acht nehmen vor ihm. Vielleicht erfindet er eine Aktie, mit der man den Regenwald retten kann.« Sein Vater legte die Hände auf den Tresen und starrte sie an, als wollte er in ihnen lesen. Lukas hatte Kopfschmerzen. Er spürte eine plötzliche Gereiztheit.

»Du hast schon Recht«, sagte sein Vater, »die Geschichte stimmt nicht ganz. Ich hatte sie schon eingefangen, bevor sie den Strand erreicht haben.«

Eine Weile saßen sie einfach nur da und tranken. Sein Vater schaute zum Barkeeper. Er sagte: »Du kannst es ja mal versuchen, deine Mutter zu lieben.« Lukas empfand auf einmal eine düstere Vorfreude, wenn er an das Zimmer in Schlachtensee dachte. Die Schränke und Stühle waren aus dem gleichen billigen, rissigen Holz wie das Bett, so als bestünde das ganze Leben aus einer einzigen Zusammenballung von Schlafen, Aufstehen, Hinlegen, Schlafen und wieder Aufstehen.

»Also gut«, sagte sein Vater. »Wenn du unbedingt los willst.« Er beugte sich vor. Das Gespräch konnte von einer zur anderen Sekunde zu Ende sein, sie konnten das Thema wechseln oder sich schon im nächsten Moment umarmen. Er machte sich darauf gefasst, schnell aufzustehen und zu gehen. Einen Moment überlegte er, ob er genug Geld hatte, um seinen Vater damit zu überraschen, ihn einzuladen.