Stadt ohne Gott - Rainer Merkel - E-Book

Stadt ohne Gott E-Book

Rainer Merkel

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Beschreibung

Eine Liebe im Schatten des Krieges Die Berlinerin Rosie reist in den Libanon, voller Hoffnung auf ein neues Leben. Sie verliebt sich in den Syrer Daoud, aber der hat Angst vor der Liebe. Rafik, der Modemacher werden will, liebt sie beide. Und Zahra, die Soziologin, hat die Liebe schon lange aufgegeben. Die vier treffen sich in Beirut, im »Paris des Ostens«. Es ist eine Stadt am Rand der Kriege dieser Welt. Sie suchen nach einem Ort, an dem sie ihre Träume leben können, und befinden sich doch eigentlich nur auf der Flucht vor der Hoffnungslosigkeit in Syrien und den leeren Versprechungen Berlins. Sie alle beherrschen die Verhaltensweisen der Kälte nicht. Werden sie trotzdem überleben?

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Seitenzahl: 434

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Rainer Merkel

Stadt ohne Gott

Roman

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Inhalt

MottoTeil I30. August 20151234522. Januar 201712345678910111213141516171819202122Teil II8. September 20151234567891011121314151617Teil III2. Februar 201712345678910. September 20151234567891011121314Teil IV9. September 201512323. März 2017123456

»I don’t wanna face the world in tears.«

Corona

Teil I

30. August 2015

1

Zuerst fielen einem die Federn auf. Schon im Flur konnte man sie sehen, wo sie auf dem kalten Marmorfußboden lagen, der sich durch die gesamte Wohnung erstreckte. Im Wohnzimmer waren noch mehr Federn. Sie lagen auch verstreut neben dem Esszimmertisch, einige auch auf dem Teppich vor dem Fernseher. Als wäre ein Vogel aus dem Fernseher, aus einem misslungenen, außer Rand und Band geratenen Film ins Wohnzimmer gelangt und dort ganz plötzlich überrascht worden. Es war wie eine nicht zu Ende erzählte Geschichte. Ein Detail, das jemand übersehen hatte, der sonst sehr viel Sorgfalt auf Ordnung gelegt hatte. Es war sehr hell in der Wohnung. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, die Rollläden im Schlafzimmer nicht heruntergelassen. Im nackten Marmorboden spiegelte sich etwas. Es hatte etwas Beruhigendes. Wenn die Hitze nachließ, war der Boden wie ein riesiger kalter Stein.

 

Das Schlafzimmer bot ein anderes Bild. Aufeinandergestapelte Handtücher, hellblaue Oberhemden, aufgereiht auf Kleiderbügeln in einem offen stehenden Schrank, in dem sich die Schmutzwäsche angesammelt hatte, so dass sich die Schranktüren nicht ganz schließen ließen. Eine Sammlung von teuren Armbanduhren, die nebeneinander unter dem schräg stehenden Spiegel auf der Kommode lagen. Eine Parmigiani mit einem fein guillochierten Zifferblatt, eine Omega-Seamaster und eine Taucheruhr, die über einen Glasboden verfügte, der den Blick auf das Uhrwerk freigab. Neben der Kommode stand ein Stuhl, über dessen Lehne zwei Ledergürtel hingen. In der obersten offen stehenden Schublade der Kommode lagen Kabel, Ladegeräte, unzählige Adapter und zusätzliche Akkus und Batterien. Die Lampe im zweiten Schlafzimmer war defekt, und das dritte Zimmer, das als Abstellraum diente, hatte keine Glühbirne. Wenn der Strom ausfiel, konnten einem nur Kerzen oder Taschenlampen weiterhelfen, aber erstaunlicherweise fanden sich nirgendwo Streichhölzer. Selbst in der Küche nicht, die so vollständig eingerichtet war, dass hier das Fehlen von persönlichen Gegenständen kaum auffiel.

 

In ihrer Anonymität hatte die Wohnung trotzdem etwas Einladendes. Sie löste bei jedem Besucher automatisch den Impuls aus, etwas hinzufügen zu wollen. Der Vogel, der sich hierher verirrt hatte, war wahrscheinlich wieder rausgekommen, denn es tauchten keine weiteren Spuren organischen Lebens auf. Die Wohnung war makellos sauber. Außer dem Doppelbett im Schlafzimmer lag jeweils eine Matratze in den beiden anderen Zimmern. Im Raum, der als Abstellkammer genutzt wurde und der der kleinste in der Wohnung war, lehnte eine zusätzliche Matratze an der Wand. In dem immer verdunkelten Raum am Ende des Flures lag sie auf einem wackeligen Bettgestell. Aber in diesem Zimmer war für gewöhnlich der Baulärm vom benachbarten Grundstück am lautesten. Außerdem diente es als Rückzugsort für unerwartete Gäste und musste deswegen immer frei bleiben. Wenn man von einer längeren Reise zurückkehrte, war die Leere der Wohnung wohltuend. Der karamellfarbene Marmorfußboden begrüßte einen mit dem angedeuteten Spiegelbild seiner selbst, und die Schritte hallten durch die Wohnung, als sei sie ein in einer Seitenstraße Beiruts versteckter Palast.

2

Rosie stand manchmal in dem kleinen, fensterlosen Raum neben der Küche. Hier hätte eine Maid leben und sie bedienen können. Zwei Schritte genügten, um den Raum in seiner ganzen Größe zu durchmessen, und größer als 1,60 Meter durfte die Person nicht sein, die hier untergebracht war, wo jetzt Waschmaschine und Trockner nebeneinander standen. Rosie stellte sich ein junges Mädchen aus Sri Lanka oder Äthiopien vor. Die Öffnung der Kammer mündete in die Küche, so dass die Maid schon am frühen Morgen Kaffee kochen oder die Wäsche waschen konnte. Eine Maid würde es auch sein, die an einem solchen Tag, an dem der Wassertank leer war, Hilfe holen würde. Sie hätte auch die Telefonnummer der Wasserverkäufer gewusst. Rosie hatte den Nachbarn gefragt. »Wie findet man diese Leute? Bringen sie einem das Wasser direkt vorbei?« Sie versuchte es in mehreren Sprachen, aber der Nachbar hatte sofort verstanden, worum es ging. Er hatte lange in Kanada gelebt und war viel herumgekommen. Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er selbst seine Maid auch so unterbrachte, in einer Kammer ohne Tageslicht mit einer Matratze, die fast den ganzen Raum ausfüllte. Er erklärte sich sofort bereit, sie nach oben aufs Dach zu begleiten. Der Fahrstuhl fuhr nur bis zum siebten Stock und die letzten Meter musste man zu Fuß zurücklegen.

»Sie sollten sich einen Wasservorrat zulegen«, sagte er. »Aber es könnte auch sein, dass Ihre Pumpe defekt ist.« Er trug einen dunkelblauen Morgenmantel mit einem aufgestickten goldenen Monogramm. Später, als sie wieder herunterfuhren, sah sie, dass der Mantel aus einem Hotel stammen musste, und sie stellte sich vor, wie seine Frau ihn, den grundanständigen libanesischen Geschäftsmann, dazu angestiftet hatte, den Morgenmantel aus dem Hotel mitzunehmen. Und natürlich war es ein kanadisches Hotel gewesen, in Montreal, in Ontario oder vielleicht in Quebec. Dort, wo jetzt seine Kinder lebten und den Vorstellungen ihres Vaters gemäß Reichtümer aufhäuften. In der winterlichen Kälte Kanadas, wo das Gesundheitssystem, wie er behauptete, so schlecht war, dass man bei größeren Operationen ins Nachbarland fahren musste. Seine Kinder aber waren allesamt kerngesund.

»Ich zeige Ihnen, wo der Tank ist«, hatte er gesagt, und dann waren sie mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren. Sie bemühte sich ein bisschen um ihn. Sie sagte, dass sie es beeindruckend fände, wenn ein Mann in seinem Alter, wo die Kinder eigentlich schon aus dem Haus waren, noch immer so jugendlich und frisch aussah.

»Wollen Sie lieber Treppen steigen?«, fragte er. »Das können Sie gern haben.« Er lachte etwas zu laut, und sie ahnte, dass er auch ganz anderes sein konnte, wenn es die Umstände ergaben.

 

Auf dem Dach waren gut ein Dutzend Tanks, und es war unmöglich, den zu identifizieren, der zu der Wohnung gehörte, in der sie jetzt Unterschlupf gefunden hatte. Kaum jemand wusste, dass sie hier war. Ob wohl jemand nach ihr suchte? Ob man sie vermisste? Ob Daoud sie vermisste? »Sie sollten sich merken, wo der Tank ist. Dann sind Sie beim nächsten Mal vorbereitet«, sagte der Kanadier. Sie hatte sich ein weißes T-Shirt übergestreift und trug Flipflops. Während sie im Fahrstuhl standen, schaute er, der selbst im Morgenmantel noch distinguiert aussah, ununterbrochen auf seine Hausschlüssel. Ihre Kopfschmerzen waren so stark, dass sie dachte, dass sie schon nicht mehr klar denken konnte. Als sie im Nachbarhaus die Schlüssel bei dem Juwelier abgeholt und die Wohnung aufgeschlossen hatte, war die so leer und sauber, dass sie kurz dachte: Die Beklemmung ist weg. Sie hatte auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen, sich den Wecker auf sechs Uhr gestellt, war schon um halb sechs wach geworden, aber dann wieder eingeschlafen. »Warum kannst du es nicht annehmen, dass eine Frau mit dir über ihre Gefühle sprechen will?«, hatte sie zu Daoud gesagt. Es war ein Satz, der vielleicht zu viel gewesen und mit dem sie zu weit gegangen war. Alles, was in Baalbek passiert war, war zu viel gewesen, war ein Exzess, eine Grenzüberschreitung. Mitten in der Nacht hatte sie das Hotel verlassen und war allein zurückgefahren. Sie hatte noch nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Ohne jede Erklärung war sie einfach so verschwunden.

 

»Wir sind gleich oben«, sagte der Kanadier. In den Fahrstuhl passten allenfalls drei oder vier Leute. Sie hatte ihn seit ihrer Ankunft nur wenige Male genutzt. Er war ihr nicht geheuer in seiner Altertümlichkeit. Auf der Rückseite des Hauses befand sich der Sicherungskasten. Wenn er stecken blieb und wie tot vor einem hing, weil der Strom ausgefallen war, musste man um den ganzen Block herum zum hinteren Gebäudeteil gehen, um den Schalter umzulegen, damit der Generator neuen Strom liefern konnte. Der Sicherungskasten war ein einfaches, unscheinbares Plastikgehäuse, das draußen an der Wand hing. Als sie das erste Mal nach unten gegangen war, um die Sicherung wieder einzuschalten, war sie so nervös gewesen, dass sie am ganzen Körper gezittert hatte.

»Da sind wir«, sagte der Kanadier, nachdem er eine rostige Stahltür aufgeschlossen hatte. Sie traten auf das Dach. Ihr wurde fast schwindelig, so hell war es.

»Kommen Sie«, hörte sie den Kanadier sagen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Sie hätte hier nicht herkommen sollen, nicht bis nach ganz oben. Über ihr war der libanesische Himmel, das Licht blendete. Sie sah, wie der Kanadier sich immer mehr entfernte.

3

Ob die Männer, die das Wasser brachten, später allein aufs Dach finden würden? Oder würde sie noch ein zweites Mal nach oben gehen müssen? Als sie dem Kanadier gefolgt war, hatte sie sich selbst ausgetrickst und ihn mit seinem gestohlenen Morgenmantel vorausgehen lassen. Sie stellte sich vor, wie der Vogel aus der Wohnung hier oben wieder in Freiheit gelangt war. Sie glaubte fest daran, dass er sich retten konnte. Der Tank war nicht in der Mitte, sondern am Rand des Daches. Es war einer der Behälter, die direkt an der Straßenseite standen, und wenn man ihn erreichen wollte, musste man am äußersten Rand des Daches entlangbalancieren.

»Wollen Sie mal reinschauen?«, fragte er.

»Nein. Ist schon gut.« Sie nickte zustimmend, während der Kanadier auf den Tank klopfte. Es war ausgerechnet dieser Mann, der ihr jetzt half. Ein Mann, bei dem sich Kälte und Offenheit mischten, auf eine Weise, wie man sie nur bei libanesischen Geschäftsleuten finden konnte. Er gab ihr eine Flasche mit einem Desinfektionsmittel, das dafür diente, die Verunreinigung des Wassers, wie er sagte, ein bisschen unter Kontrolle zu bekommen. Sie sollte später, wenn die Lieferung kommen würde, eine bestimmte Menge in den Tank füllen und ihm die Flasche dann wieder zurückgeben. Sie überlegte kurz, ob sie ihn nicht bitten könnte, ihr zu helfen. Aber dann fühlte sie sich verpflichtet, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Niemand sollte denken, dass die Wohnung im dritten Stock eine Frau beherbergte, die Höhenangst hatte und sich tagelang einschloss. Sie spürte seinen Blick, als sie im Fahrstuhl standen und wieder herunterfuhren. Sie spürte die Notwendigkeit, irgendetwas zu sagen.

»Sie sind nicht aus Paris, oder?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er hatte Französisch mit ihr gesprochen.

»Nein, ich wohne dort nur vorübergehend.«

Er nickte, als wäre das das Normalste der Welt. Er schaute ihr direkt in die Augen, und sie war erleichtert, dass sein Blick fast ausdrucklos war.

»Wie viel wollen die denn haben?«, fragte er.

»75000 Pfund. Das hat er jedenfalls am Telefon gesagt. Muss ich denen ein Trinkgeld geben?«

»Geben Sie denen keinesfalls mehr als 40000. Das ist das Maximum.«

Sie hatten den dritten Stock schon erreicht, und der Kanadier hielt ihr die Tür auf. Es war klar, dass er die Unterhaltung hier beenden wollte. Sie hätte aber gerne noch mit ihm gesprochen. Sie hätte ihm gerne ein paar Fragen gestellt. Ob seine Kinder zum Beispiel Spanisch sprächen? Und ob er eine Erklärung dafür hätte, wieso am frühen Morgen das iPad, das auf dem Wohnzimmertisch lag, sich wie von Geisterhand eingeschaltet und einen spanischen oder südamerikanischen Radiosender gespielt hatte. War Spanisch jetzt die Sprache, in der die Welt mit ihr kommunizierte? Es hatte sie eine ganze Stunde gekostet, das Gerät zum Schweigen zu bringen, nachdem sie es eine Weile unter mehreren Kissen auf der Couch begraben und dann sogar mit dem Gedanken gespielt hatte, Martha anzurufen, um sie zu fragen, ob sie die PIN für das iPad kannte. Martha kam ab und zu, um sauberzumachen. Sie hätte auch endlich die Federn wegräumen können.

 

In der Schublade im Wohnzimmer hatte sie ein altes Handy gefunden. Sie hätte eine der beiden SIM-Karten ausprobieren können. Ob sie noch funktionierten? War es ein Ausdruck von Professionalität, mehrere Telefone zu haben, so dass man die SIM-Karten nicht wechseln musste und außerdem auch auf mehreren Karten erreichbar war? Die SIM-Karten waren in einem zusammengefalteten Umschlag gewesen. Eine Syriatel- und eine MTM-Karte. Sie hatte sie aus Paris mitgenommen. Zusammen mit dem Tagebuch. Schon damit fingen ihre Probleme an. Die SIM-Karten gehörten Thierry, genauso wie das Tagebuch, in dem sie sie gefunden hatte. Sie lagen jetzt feinsäuberlich auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett im Schlafzimmer. Als sie sich vom Juwelier den Schlüssel geholt hatte, hatte sie beschlossen, auf keinen Fall das Schlafzimmer zu benutzen und nur in einem der kleinen Zimmer zu schlafen. Die Wohnung befand sich in Achrafieh, aber sie wäre lieber im Zentrum gewesen, am liebsten in Hamra. Und sie wollte nicht in diesem Schlafzimmer sein, nicht in diesem Bett. »Vergessen Sie nicht, mir die Flasche mit dem Desinfektionsmittel zurückzugeben«, hatte der Kanadier gesagt, während er ihr die Fahrstuhltür aufhielt. Der Kanadier war auf dem Weg nach Kanada. Er würde seine Kinder besuchen. Seine Kinder studierten an renommierten Universitäten, arbeiteten als Rechtsanwälte in London oder als Ingenieure in Dubai. »Am Ende des Jahres sind wir meistens in Kanada«, hatte er ihr erzählt. »Die Luft ist gerade im Winter eiskalt. Meine Frau und ich, wir lieben das. Die Luft ist rein. Wie frischgewaschen.« Er schnalzte mit der Zunge, während er ihr noch immer die Fahrstuhltür aufhielt. Sie nickte. Sie versuchte, einen freundlichen Eindruck zu machen. »Die meiste Zeit sind wir unterwegs«, sagte er, und sein Gesichtsausdruck entspannte sich etwas. Sein ganzes Leben hatte er hart gearbeitet, wahrscheinlich in Brasilien oder in Westafrika, und dann hatte er mit dem Geld, das er verdient hatte, seine Kinder großgezogen und Erfolgsgeschichten aus ihnen gemacht. Jetzt flog er durch die Weltgeschichte, die losen Enden hinter sich herziehend, darauf bedacht, dass sich die Geschichten in die richtige Richtung entwickelten und nicht miteinander verknoteten.

»Und Sie?«, fragte er. Sie hatte schon den Schlüssel ins Türschloss gesteckt. »Waren Sie schon mal in Kanada?«

 

Sie kam vom Dach zurück, das grelle Sonnenlicht im Kopf wie eine Injektion heißen, gefährlichen Gifts. »Spürst du das Licht?«, hatte sie zu Daoud gesagt. »Komm, lass uns rausgehen … und das Licht spüren.« Sie hätte sagen können: »Lass uns das Licht umarmen.« Wenn man den Zusammenhang verstand, dann konnte man eine Meta-Position einnehmen, so wie ihre Mutter es zu sagen pflegte. Nimm Meta-Positionen ein, am besten mehrere. »Wir müssen das Licht in unsere Körper hineinmassieren. Mit langsamen, stetigen Bewegungen. Die Hände braucht man dazu gar nicht.« Sie hatte das in einem der Bücher ihrer Mutter über den Buddhismus gelesen. Aber sie hatte die Lektüre wieder abgebrochen, und es waren nur unverbundene Brücken und Fragmente zurückgeblieben. Sie ging ins Schlafzimmer, um die Kladde zu holen. Sie fotografierte die Seiten, zwischen denen sich der Briefumschlag mit den beiden SIM-Karten befunden hatte. Sollte es doch passieren und sie würde sich in ihrer Enttäuschung nicht beherrschen können, wollte sie zumindest keine Spuren hinterlassen und die SIM-Karten in den Briefumschlag stecken und wieder genauso an ihren Platz zurücklegen, wie sie sie vorgefunden hatte. Es wäre besser gewesen, sie hätte das Tagebuch gar nicht mitgenommen, aber jetzt war es dafür zu spät. Auf dem Dach, während der Kanadier gegen den leeren Wassertank geklopft hatte, dachte sie noch, sie würde sich gleich wieder schlafen legen. Sie würde schlafen und erst mal nicht mehr aufwachen. In das kleine Zimmer wollte sie aber nicht zurück. Sie wollte auch nicht wieder im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.

 

Auf dem Esstisch lag der Zettel mit den Zeiten, an denen Martha für gewöhnlich ins Haus kam, um sauberzumachen. Auch ihre Telefonnummer stand auf dem Zettel. Martha war schon mal gekommen und hatte den nassen Putzlappen vor sich auf den Boden geworfen und war dann mit ihren Füßen wie eine Tänzerin über den Marmorfußboden gehüpft. Martha war aus Äthiopien. Sie hatte dort Familie, auch einen kleinen Jungen, den sie dort zur Welt gebracht hatte und den sie fast nie zu sehen bekam. Sie tanzte durch das Schlafzimmer, während Rosie sich in das kleine Zimmer zurückgezogen hatte. Als sie gleich am ersten Tag dem Baulärm nachgegangen war, hatte sie schnell die Baustelle entdeckt. Sie befand sich direkt an der Straßenecke. Sie entdeckte den hölzernen Verschlag im Inneren des Rohbaus, wo die Bauarbeiter sich aufhielten. Später sah sie einen von ihnen, wie er auf einem Plastikstuhl an der Straßenecke saß, um die Einfahrt zu bewachen. Die ganze Baustelle war mit aufgespannten Sichtplanen umgeben, auf denen »Sexy has a new address« stand, obwohl nichts als Holz, Beton und Dreck zu sehen war. Eine Glühbirne erleuchtete den Holzverschlag, in dem die Bauarbeiter auch schliefen. Sie fragte sich, wie man an demselben Ort, an dem man arbeitete, auch leben konnte. Die nächsten Tage hatte sie dann die Wohnung nicht mehr verlassen und war zu Hause geblieben.

 

Sie legte sich auf das Bett im Schlafzimmer und versuchte zu schlafen. Das Bett war für sie eigentlich tabu, aber jetzt spielte das keine Rolle. Die Flasche mit der Desinfektionsflüssigkeit hatte sie neben sich auf den Boden gestellt. Sie wollte nur kurz schlafen. Sie musste bereit sein, wenn die Wasserlieferung kommen würde. Martha würde auch kommen. Am späten Nachmittag. Rosie hatte sich den Zettel zurechtgelegt. Vielleicht würde sie ihr auch absagen. Sie brauchte nur Wasser. Wenn es wieder Wasser gab, würde sie wieder zu Vernunft kommen. Sie brauchte ein, zwei Tage, dann würde sie endgültig entscheiden, ob sie ihren Flug verschieben würde. Den Flug zu verschieben würde tatsächlich alles ändern und endlich für Klarheit sorgen. Die Rollladen hatte sie schon vorher heruntergelassen, und das Deckenlicht war sowieso nicht ausgeschaltet. Sie schlief gerne bei Licht. »Das Licht umarmen und in unsere Körper hineinmassieren. Das Licht, das uns umhüllt und das wir in uns hineinfließen lassen.« Sie hatte einmal gesehen, wie Martha sich hingekniet hatte, um eine der SIM-Karten aufzuheben, die auf den Marmorfußboden gefallen waren. Steh auf! Steh auf, hatte sie gedacht. Steh auf! Aber dann hatte sie es doch nicht gesagt.

 

Es klappte nicht. Sie konnte nicht einschlafen, weder im Sitzen noch im Liegen. Sie holte ihr Telefon aus der Hosentasche und fotografierte das Tagebuch noch einmal. Sie betrachtete das Foto, ob die SIM-Karten auch richtig zu erkennen waren. Das Foto machte sie für sich. Damit sie nicht in Versuchung kam. »Du darfst doch das Tagebuch eines anderen Menschen nicht lesen«, hatte Daoud gesagt. »So etwas tut man doch nicht.« Und sie hatte ihm versichert, dass sie sein Tagebuch niemals lesen würde. »Nein«, sagte er und hatte gelacht. »Ich würde es dir ja auch gar nicht zu lesen geben.« Und sie hatte gesagt: »Ich will es auch gar nicht lesen.« Sie würde Martha absagen, den Wassertank füllen lassen, sich unter die Dusche stellen und dann in das andere Zimmer gehen, dort, wo ihre Tasche stand mit den in einen Pullover eingewickelten Kräutern und Heilmitteln, die ihr Daoud geschenkt hatte. Ein Mittel, das Hashishat-al-kattira hieß und so viel bedeutete wie »Herb of abundance«, und das kleine Döschen mit Biloun, einem eisenfarbigen Pulver, das man beim Waschen auf die Haut einreiben musste und das dabei eine ganz besondere Wirkung entfalten sollte. Sie steckte alles in eine dünne Plastiktüte, die sie mit dem Pullover umwickelt hatte. Der Pullover war noch ganz neu, sie hatte ihn kein einziges Mal getragen.

 

»Wer sagt denn, dass du so ein Leben führen musst?«, hatte ihre Mutter am Telefon gesagt, als sie ihr erzählt hatte, sie würde für ein paar Wochen nach Beirut fahren. »Wegen mir musst du das nicht tun. Von mir aus kannst du gerne ein langweiliges Leben führen.« Sie schaute auf die SIM-Karten. Sie könnte eine der Karten in ihr dänisches Handy einsetzen und das dänische Handy in ein syrisches Handy verwandeln. Sie würde vielleicht Anrufe bekommen von einer Kontaktperson, von jemandem, der ihr sagen konnte, wo sich ihr Freund jetzt befand und ob alles in Ordnung war. »Wir bewegen segnend die Hand und senden allen Wesen Licht. Wir denken: Ich sende Licht zu.« Aber Daoud hatte das nicht verstanden. Er hatte nicht verstanden, dass sie nur einen Witz gemacht hatte. Er hatte alles, was sie gesagt hatte, ernst genommen. Auch, dass sie sich von Thierry trennen und mit ihm zusammen sein wollte. Sie legte die beiden SIM-Karten zur Seite und griff nach dem Tagebuch. Auf dem Cover stand in Großbuchstaben THIERRY PILOUX, 12.10.–21.12. Sie schlug es in der Mitte auf und wollte zu lesen anfangen, als auf einmal das Telefon klingelte. Das ist das Wasser, dachte sie. Sie musste aufs Dach zurück und sie musste mit den Männern, die das Wasser brachten, reden. Sie musste ihnen erklären, dass sie den Preis, den sie verlangten, nicht zahlen würde. »Lassen Sie sich von denen nicht übers Ohr hauen«, hatte der Kanadier gesagt. Aber als sie das Telefon in die Hand nahm, um den Anruf entgegenzunehmen, wusste sie in dem Moment noch nicht einmal, wie sie es überhaupt schaffen würde, noch einmal aufs Dach zu kommen und ob sie nicht besser »nein« sagen sollte.

4

Später saß sie mit dem Tagebuch im Wohnzimmer auf dem türkisfarbenen Sessel, neben dem die kaputte Nachttischlampe stand, und las. Sie las immer nur die ersten Sätze eines Absatzes, dann sprang sie zur nächsten Seite. Eine Weile durchsuchte sie die Seiten nach einem Stichwort, einem Indiz oder einer Passage, die vielleicht alles erklären konnte. Dann fing sie noch mal von neuem an. Es war beim besten Willen keine Ordnung zu erkennen. Manchmal waren es Großbuchstaben, dann wieder nur stenographierte Passagen, unzusammenhängende Stichworte einfach so aneinandergereiht. Die Schrift war wackelig und unstet, sie bestand aus kleinen, eng einander gedrängten Buchstaben, und manche Wörter sahen so aus wie eine Landschaft, in der der Wind niemals zur Ruhe kam. »Beirut«, sagte ihre Mutter, »ist eine gute Stadt, um was auszuprobieren.« Sie sprach thesenhaft, als versuchte sie, Bildunterschriften zu entwerfen. »Aber Beirut ist natürlich nicht mehr das Paris der 70er Jahre.« Als Therapeutin war sie mit allen Wassern gewaschen. Sie fragte: »Wie heißt der Typ?« Als spielte der Name eine Rolle. Dann entschuldigte sie sich. Sie hatte Termine. Sie bereitete sich selbst auf eine Reise vor. Ihre Mutter sprach mit ihrer gewohnt fiebrigen Leichtigkeit. Ihre Worte waren kleine, kaum spürbare Schläge gegen ihr Ohr, so dass Rosie das Telefon in die Luft hielt und die Stimme ihrer Mutter von oben auf sich herunterprasseln ließ.

 

Es war gut, dass sie im Wohnzimmer las. Es war der größte Raum in der Wohnung, und man konnte jederzeit aufstehen und herumlaufen. »Die anderen sind schon auf«, las sie. »Ich hab einen eingeschlafenen Arm. Die Matratzen sind furchtbar. Osmat bringt uns Labneh, Tomaten, Zatar. Es ist sechs Uhr dreißig, wir müssen raus, in der Z-Straße hat der Scharfschütze wieder jemanden erwischt. Es regnet. Wir brechen aber doch auf und verschieben das Essen auf später.« Sie blätterte weiter. Sie beugte sich vor, sie entzifferte Wort für Wort. Schon bald war sie von dem Geschehen ergriffen und las das Tagebuch Seite für Seite. Es schilderte Thierrys Reise in eine syrische Stadt, die Q. genannt wurde. Sie war nicht weit von der libanesischen Grenze entfernt. Sie brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass die Abkürzung FSA »Freie Syrische Armee« bedeutete. Sie besichtigten ein Untergrundkrankenhaus. Rosie stellte sich vor, es sei in einem Keller und die Patienten würden bei Kerzenlicht operiert, dann aber stellte sich heraus, dass die Untergrundkrankenhäuser sich meist in Wohnungen befanden. Die Räume waren mit Vorhängen abgetrennt und die Böden mit Plastikfolien ausgelegt. »Kochsalzlösungen, Kompressen, Spritzen, davon haben sie genug. Aber die Medikamente fehlen. Einiges wird vom Libanon reingeschmuggelt, aber es reicht nicht.« Auf mehreren Seiten wurden die Opfer beschrieben, oft verwies eine Notiz auf ein Video oder ein Foto, das Valerian gemacht hatte. Raid übersetzte und stellte den Kontakt zu den Kämpfern her. Osmat war mehr oder weniger für alles zuständig und wurde sonderbarerweise mit seinem vollen Namen genannt. Osmat Falaki. Sie versuchte sich darüber klarzuwerden, wo Q. sich befand, in welchem Teil des Landes und wie weit es von Aleppo, wo Daoud herkam, entfernt war. Sie nahm sich vor, sich später eine Karte von Syrien anzusehen, um zu überprüfen, ob die Abkürzungen nicht ein Code waren, der Versuch, den wahren Aufenthaltsort des Verfassers im Dunkeln zu lassen. Einmal hieß es: »Was die Aktivisten hier leisten, ist unglaublich, wir stehen alle in ihrer Schuld.« Dann wurde ein zwölfjähriger Junge erwähnt, der erschossen worden war. Er war in der Nacht in der Z-Straße von dem Scharfschützen erwischt worden, als er vor dem Haus, mit einer Stirnlampe ausgestattet, Brennholz von einem Baum zu hacken versuchte. Der Vater beharrte darauf, immer wieder zu erklären, dass sein Sohn keinesfalls zum Spielen nach draußen gelaufen war. Eigentlich hätte er das Haus auch gar nicht verlassen dürfen. Der Vater hatte die Mauer zu dem benachbarten Haus seines Bruders durchbrochen, und durch ein riesiges Loch in der Wand konnte man, ohne die Straße betreten zu müssen, zum Haus des Onkels gelangen. Von dort kam man leicht zu einer für den Scharfschützen nicht einsehbaren Straße, in der die Bewohner begonnen hatten, das Holz von den Bäumen zu schneiden, weil ihnen das Brennholz ausgegangen war. Obwohl der Junge durch das Loch hindurchgeschlüpft und damit eigentlich in Sicherheit war, war er dann doch nach draußen gelaufen, und keiner konnte sich erklären, wie er der Z-Straße so nah gekommen war. Vielleicht wollte er seine Familie damit beeindrucken, wie viel Brennholz er gesammelt hatte. Die Kugel war in seinen Körper eingedrungen und nicht wieder ausgetreten, und die Ärzte hatten große Mühe, die Angehörigen zurückzudrängen, die helfen wollten.

 

»Ich gehe raus, es regnet, ich spreche mit dem Vater«, schrieb Thierry. »Raid und Osmat übersetzen. Der Vater spricht so schnell, dass Raid ihm immer wieder die Hand auf den Arm legt, weil er nicht mitkommt. Er erzählt seine Geschichte immer und immer wieder. Später, als wir ihn wiedersehen und der Junge schon beerdigt worden ist, erzählt er mir die Geschichte noch einmal.« Rosie fragte sich, wann Thierry alles aufgeschrieben hatte. Direkt am Tag, als es geschehen war? Die Handschrift ließ keine Unruhe oder Erregung erkennen. Am 12.10. hieß es: »Sie hätten ihn sonst mit Elektrokabeln verprügelt. Sie hätten auf ihn eingeschlagen, ohne ihn auch nur anzuschauen oder zu behandeln.« Und dann wurde das Kabel beschrieben, das mit einem Stecker und einem Clip ausgestattet war. Wenn man den Clip an die Füße oder auch an den Penis des Opfers steckte, dann musste man nur noch das andere Ende an das Stromnetz anschließen. »Es versteht sich von selbst, dass der Junge mit der Stirnlampe nicht in ein Regierungskrankenhaus eingeliefert worden ist«, schrieb Thierry am 15.10. Trotzdem sei es beeindruckend zu sehen, in welche Gefahr sich die Ärzte brachten, die für die Behandlung dieser Menschen verantwortlich waren. »Valerian hat Aufnahmen von dem Kabel gemacht. Siehe auch Telefonbilder und die Bilder, die Osmat und Raid gemacht haben. Osmat hat alles noch mal auf dem Stick abgespeichert.«

 

Sie las weiter. Sie las von Verletzten und Toten, und sie las davon, wie der Scharfschütze aus dem Hochhaus immer wieder aufs Neue zuschlug. Ein paar Seiten später, war es immer noch derselbe Scharfschütze, der sich nach Belieben Opfer aussuchte, die dann in den Untergrundkrankenhäusern behandelt werden mussten. »Der Mann hat eine Kugel im Arm, eine andere ist durch den Rücken gegangen und aus dem Bauch wieder ausgetreten«, hieß es am 18.10. »Er hustet Blut und sagt: So ein Mist, ich hätte aufpassen sollen. Ich hab nicht aufgepasst. Eine Sekunde nicht aufgepasst.« Dahinter stand in Klammern, dass das nicht die wörtliche Übersetzung sei, dass es aber später noch einmal Osmat vorgelesen worden war und er zugestimmt hatte, dass er sich so oder so ähnlich ausgedrückt habe. Drei Stunden später war der Mann tot. Der Scharfschütze wechselte und der Nachfolger war nicht so ehrgeizig oder nicht so treffsicher. Einmal fuhren sie in einem Taxi an dem Hochhaus vorbei, und aus der Entfernung konnte man wohl erkennen, wie stark das Hochhaus durch Soldaten gesichert war. Hunderte Soldaten sorgten dafür, dass keiner auf die Idee kam, sich einem der Scharfschützen, der gerade Dienst hatte, zu nähern und sich zu rächen. Rosie dachte an das Haus neben ihr, das Hochhaus, das langsam nach oben wuchs. In dem Zimmer, in dem sie eigentlich schlafen sollte, war das ständige und nicht nachlassende Hämmern und Schlagen zu hören, das morgens mit Beginn der Dämmerung einsetzte und erst am Abend aufhörte. Jeden Tag wuchs das Haus ein bisschen. Stockwerk für Stockwerk. Es würde am Ende alle Häuser in der Nachbarschaft überragen.

 

Der Junge wurde beerdigt, aber diese Passagen waren fast unleserlich. Offensichtlich hatte der Vater an der Beerdigung nicht teilnehmen können. Es waren fremde Männer gewesen, die den Sarg in großer Hast weggebracht hatten. Die Handschrift begann sich zu verflüssigen, wurde dann immer abgehackter und fragmentarischer. Ob auf Thierry geschossen worden war? Sie versuchte sich das vorzustellen. »Wir ducken uns«, schrieb er. »Die Schüsse hören sich flach und dumpf an. Aber Raid und Osmat bestehen darauf, dass wir uns sofort in Sicherheit bringen. Wir besteigen ein Taxi. Bevor der Fahrer über die Z-Straße zur anderen Seite fährt, setzt er kurz zurück und schaltet dann in den zweiten Gang, um besser beschleunigen zu können. Der Motor heult auf, so dass wir die Schüsse gar nicht mehr hören können.«

 

Rosie stand auf. Sie wollte die Lektüre unterbrechen und ins Badezimmer gehen, um zu duschen. Aber während sie gelesen hatte, war es zwölf Uhr geworden und von zwölf bis drei Uhr gab es keinen Strom. Sie musste nach unten gehen, ums Haus herum und den Generator einschalten. Aber sie fühlte sich dazu nicht in der Lage. Sie dachte an den Jungen, der erschossen worden war, und stellte sich vor, sie würde ihn mit Daoud zusammen durch den Regen tragen, um ihn zu beerdigen. »Das ist ein besonderer Moment für uns«, würde sie sagen. »Wir sind diejenigen, die hierhergekommen sind, um Zeugnis abzulegen.« »Ja«, würde Daoud sagen und sie anlächeln, und er würde sagen: »Pass auf! Halt den Jungen hoch, sonst fällt er uns auf den Boden. Konzentriere dich!« Er würde dabei lächeln, aber auf eine unglaublich diskrete und würdevolle Art, so wie man im Angesicht des Todes eben lächelte. Und der Körper des Jungen, den sie im Nieselregen zu seiner Grabstätte trugen, würde in ihren Armen immer leichter werden. »Am Anfang habe ich noch gedacht«, würde Daoud sagen, »dass du sehr komisch bist, und ich habe mir gesagt, nein, besser nicht. Wir passen doch gar nicht zusammen.« Dann würden sie weiter laufen und in den Blicken, die sie wechselten, läge eine so große Vertrautheit, dass die Welt um sie herum von einer Wärme und Innigkeit erfüllt wäre, dass im Grunde der Platz für den Körper des Jungen überall sein konnte und jeder Ort ein angemessener gewesen wäre. Das Wichtigste war, dass sie den Platz später wiederfanden.

 

Sie hielt inne. Wie bei der Bearbeitung eines wichtigen Tondokuments spulte sie in ihrem Tagtraum vor und zurück, so dass immer alles in Bewegung blieb und es keine Unterbrechung gab. »Bist du sicher, dass es dir nicht zu schwer ist?«, würde sie fragen. Und Daoud würde sagen: »Aber nein, du bist doch bei mir.« Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass er so ohne weiteres rückwärtsgehen konnte. »Ist was?«, fragte sie einmal, als sie eine Weile geschwiegen hatten. »Hast du was?« Es regnete in Strömen, und sie waren klatschnass. Er schüttelte den Kopf und hob den Kopf des Jungen etwas an. »Nein, es ist nichts«, sagte er. Sie liefen wie bei einem Spaziergang, wie bei einer Wanderung, und der Boden senkte sich etwas ab. Die in den Matsch eingeschlossenen Luftblasen, vor denen im Tagebuch gewarnt worden war, platzten mit einem leisen, schmatzenden Geräusch. Sie wollten sich küssen, aber der Körper, den sie trugen, erlaubte keine Zärtlichkeit. »Später«, flüsterte sie.

5

Sie lief ins Wohnzimmer und blieb vor der verschlossenen Balkontür stehen. Dann ging sie durch den Gang zu ihrem Zimmer, aber unterwegs dachte sie, dass sie ja jetzt wieder Wasser hatte und endlich duschen konnte. Das Bad war ein dunkler gekachelter Raum ohne Fenster. Sie hielt inne. Etwas war ihr aufgefallen, während sie das Tagebuch gelesen hatte. Sie hatte es zunächst nicht gemerkt. Aber dann stellte sie fest, dass Thierry anders war als sonst. Viel intensiver und klarer. Die Reise nach Syrien musste ein einziger Rausch gewesen sein. Später, als sie weiter las, fand sie sogar die Formulierung: »Ich fürchte mich vor dem Moment, in dem ich nach B. zurückkehre, und ich fürchte, ich werde die Langsamkeit und Stille dort nicht ertragen.« Beirut war mit B. abgekürzt, als müsste der Aufenthaltsort im Libanon auch geheim gehalten werden. Wie er sich an dieser Gewalt berauschte. Wie er gar nicht genug davon bekommen konnte. Und dieser fast missionarische Eifer, die Toten zu dokumentieren, von den Eintritts- und Austrittsstellen der Kugeln zu sprechen, von dem ständigen Regen, der alles wegwusch. »Aber das Blut fließt in meiner Erinnerung weiter«, hieß es am 22.11. Sie machte kehrt und ging zurück in die Küche und wusch sich die Füße im Waschbecken. Sie war die ganze Zeit barfuß gelaufen. Und sie wollte das Bad nicht mit schmutzigen Füßen betreten. Einmal, aber das war noch in Paris gewesen, nachdem sie den ganzen Vormittag durch die Wohnung gelaufen war, war das mit den Füßen passiert. Eine Berührung, eine zärtliche Liebkosung, die sie nicht hatte ertragen können. Noch im ersten Moment hatte sie gedacht, dass es vielleicht auszuhalten wäre, wenn es ihr nur gelänge, sich zu entspannen. Obwohl es ihr unangenehm gewesen war, hatte sie nichts unternommen und es geschehen lassen. Ihre Füße waren nackt, bleich, unendlich weit entfernt von ihr gewesen, wie Fleischklumpen. Sie hatte die Augen fest geschlossen gehalten, damit Thierry ihre fehlende Erregung verborgen blieb.

 

Sie überlegte, ob sie nicht besser abbrechen sollte. Es war ohnehin nur eine Ansammlung von Notizen, die fortgeführt wurden, wenn auch die Reise weiterging, in Syrien, in Homs, Aleppo, in Hama oder wo auch immer, in einem Ort, der mit Q. abgekürzt war. Sie suchte sich in der Küche eine Kerze, zündete sie mit ihrem Feuerzeug an und ging ins Bad. Sie ließ warmes Wachs auf den Badewannenrand tropfen, befestigte dort die Kerze, und dann duschte sie vorsichtig, in der Hocke, damit das spritzende Wasser die Kerze nicht erreichte. Der Wasserdruck war schwach, sie musste den Duschkopf direkt an ihren Körper pressen, um die eingeseiften Stellen sauber zu bekommen. Sie dachte an ihre Mutter. Eine leblose Existenz, die sich hinter ihrem Idealismus verbarrikadiert und sich dabei vollkommen verausgabt hatte. »Beirut, meine Liebe … Das ist gerade um diese Jahreszeit sehr schön. Aber erwarte dir nicht zu viel davon«, hatte sie am Telefon gesagt.

 

Sie hielt sich das Handtuch vors Gesicht. Die Männer, die das Wasser gebracht hatten, hatte sie auf 50000 heruntergehandelt. Das könnte sie dem Kanadier später erzählen. Oder war es gar kein Handel gewesen? Gar kein richtiges Gespräch? Der Mann, der den schlangengleichen Schlauch über der Schulter bis zu dem leeren Tank hinter sich her geschleift hatte, konnte kein Englisch. Die Sonne blendete so sehr, dass sie es nicht richtig mitbekam. Das Geheimnis, wie sie den Wasserschlauch von ihrem kleinen Lastwagen bis ganz nach oben beförderten. Und als sie ihm die 50000 hingehalten hatte, hatte er nur genickt. Sie überlegte, ob sie Daoud anrufen sollte. »Diese Nacht ist wirklich etwas Besonderes«, hatte sie zu ihm gesagt. »So ein Gefühl hatte ich noch nie. Hast du schon mal so ein Gefühl gehabt?« Aber sie hatte nicht die Kraft gehabt, mit ihm darüber zu reden, ihm ein Zeichen zu geben, eine Andeutung zu machen, was in ihrem Leben passierte. Dass sie wie auf einer abschüssigen Rampe immer tiefer nach unten rutschte. »Hier«, hatte sie dem Mann mit dem Schlauch zugerufen. »Hier!« Sie hatte auf den Tank gezeigt. Zitternd und mit einer fast herrischen Ungeduld den Finger in Richtung des Tanks weisend, den der Kanadier für sie identifiziert hatte. Ich könnte mich hier herunterstürzen, hatte sie gedacht. Vom Dach des Hauses. Kein einziges Mal kam sie im Tagebuch vor, mit keiner Silbe wurde sie erwähnt, nicht mal abgekürzt als R. oder R.S. Als existierte sie gar nicht. Sie würde sich nicht herunterstürzen, sie würde herunterfallen, sie würde einfach so früher oder später in einen namenlosen und grundlosen Abgrund fallen. Aber noch während sie das dachte und sich sagte, ich falle und falle und kann es nicht aufhalten, war sie mit großer Sorgfalt damit beschäftigt, ihren Körper mit einer teuren Kokosmilch einzucremen, die vielleicht einer Fotografin von Le Monde oder einer der Frauen gehörte, die in Damaskus für das Internationale Rote Kreuz arbeiteten und die, wenn sie eine Pause brauchten, nach Beirut kamen, um hier in einem der kleinen Zimmer zu wohnen. »Es ist Krieg«, hatte Daoud gesagt. »Gleich hier.« Er hatte den Arm ausgestreckt, in Richtung Fenster und dann war er sogar zum Fenster gelaufen, um die Vorhänge aufzuziehen, obwohl man ja doch nichts sehen konnte. Einige Stunden später war ihr klargeworden, dass hinter dem Fenster in dem Hotel die Ruinen von Baalbek waren, und dass Daoud in die andere Richtung hätte zeigen sollen, zur Wand hin, zum Nebenraum, wo die anderen, wo Rafik und Zahra schliefen. Sie legte das Tagebuch wieder zurück auf den Nachttisch und hob die beiden SIM-Karten vom Boden auf. Sie wartete noch, bis der Strom wieder zurückgekommen war, dann ging sie ins Wohnzimmer, um Daoud anzurufen.

22. Januar 2017

1

Berlin nahm erst Gestalt an, wenn er am See war. Wenn er den See erreicht hatte, begann Berlin zu existieren. Berlin fing an. Es fing an, eine Geschichte zu erzählen. Und manchmal übersetzte er diese Geschichte und verschickte sie in Form einer E-Mail. Und dann stand da: »Wenn ich am See bin und aufs Wasser schaue, weiß ich, dass die Stadt um mich herum existiert. Auch wenn ich auf der dunklen, samtenen Seeoberfläche nichts sehe und ins Leere starre.« In den ersten Monaten hatte Daoud sich alle Seen angeschaut. Er hatte die Seen ausprobiert, wie Kleidungsstücke. So wie es Rafik einmal mit ihm bei Moustache gemacht hatte. Rafik hatte darauf bestanden, dass er alle bei Moustache verfügbaren Jeans-Modelle anprobierte. Er musste dazu jedes Mal in die Umkleidekabine gehen, die Hose, die er gerade anprobiert hatte, ausziehen und in eine andere schlüpfen. Rafik, der als Verkäufer aber auch als Mensch unglaublich ehrgeizig war, das aber gut zu verstecken wusste, machte sich Notizen. »Blue Jeans Denim Turn up«, »Grey Denim Jeans«, »Solid Denim FW«, »Urban Jeans FW.« Manche dieser Hosen hatte er schließlich für einen symbolischen Preis erworben und trug sie jetzt. Auch an diesem Morgen am See trug er eine Jeans, die aus Beirut von Moustache stammte. Aber die Typenbezeichnung ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Vom vielen Waschen war das Etikett ausgebleicht.

 

Zum See zu fahren war zu einer Notwendigkeit geworden. Manchmal fuhr Daoud sogar zu einem See, wenn es regnete. Er lief um den See herum oder stand ein paar Minuten am Ufer, bevor er wieder umkehrte. Irgendwann, wenn alles vorbei und Berlin nur noch eine Erinnerung wäre, dann würde er diese Seen noch immer vor sich sehen. »Ich wundere mich«, schrieb er an seine Mutter, »wie eine so große Stadt nur aus Seen bestehen kann. Wie kann das sein? Warum kann man hier keine Gebäude bauen? Warum können hier nicht wenigstens Hausboote am Ufer liegen?« Auf den meisten Seen waren noch nicht mal Boote zugelassen. Die Hose aus Beirut war zu eng. Rafik meinte, sie würde ihm gut stehen, aber er hatte schon beim Anprobieren das Gefühl, er brauchte eigentlich eine Nummer größer. Aber vielleicht war die Mode in Aleppo auch etwas anders als in Beirut.

 

Er hatte sich das schon in seiner ersten Unterkunft angewöhnt, an einen See zu fahren. Zu einem See gefahren zu sein bedeutete, etwas geleistet zu haben. »Ich beginne den Tag, indem ich auf den See schaue«, schrieb er seiner Mutter. »Der Blick auf den See hilft mir zu akzeptieren, dass an diesem Tag nichts weiter passieren wird.« Einmal war er sogar schwimmen gegangen, aber er empfand das, nach den Ereignissen aus Aleppo, als einen Luxus, den er sich nicht mehr gönnen durfte. Also fuhr er nur mit der S-Bahn hin, lief ein paar Meter und setzte sich dann irgendwo ans Ufer. Er hatte im Internet etwas über den See gelesen und erfahren, dass er gar nicht nach einer »Schlacht« benannt war, sondern dass er den Namen seiner Farbe verdankte. Er war goldgelb. Aber von dem Gold, das im Slawischen »slaty« bedeutete, war am frühen Morgen, wenn er am Ufer saß, nichts zu sehen. Angeblich verfügte er über einen unterirdischen Kanal und war mit einem anderen See verbunden, der den eigenartigen Namen »Krumme Lanke« trug. Aber dort war Daoud noch nicht gewesen. »Ich glaube«, hatte Rafik einmal zu ihm gesagt. »Ich könnte dir hundert Hosen geben. Du würdest sie trotzdem alle anprobieren und niemals die Geduld verlieren.« Daoud hatte noch nicht mal gelächelt. Er hatte mit den Schultern gezuckt und Rafik angesehen. Der hatte nur den Kopf geschüttelt und sich wieder einem Stapel mit Hemden oder T-Shirts zugewandt, die vielleicht »Dark Blue Salt Lake« oder »Blue X Broadway« hießen.

 

Von Rafik hatte er schon seit Monaten nichts mehr gehört und er fragte sich, wie es sein konnte, dass man einen Freund so einfach verlieren konnte. Das Einzige, was geblieben war, waren die langsam ausbleichenden Jeanshosen. In einer E-Mail an seine Mutter schrieb er: »An diesem Tag schaute ich nach oben, in den Himmel. Ich erwartete die ungebändigte Kraft der Natur. Und vielleicht kommt die Sonne heraus.« Er wandte sich vom See ab. Die Erinnerungen waren schmerzvoll. Er wünschte, er könne alles vergessen. Rafik schien über diese Gabe zu verfügen. Meldete er sich deswegen nicht mehr? Daoud hatte arabisches Brot mitgebracht und wollte damit die Enten füttern. Es war schon etwas trocken und alt. Er sah die hellen Flecken des auseinandergerissenen Fladenbrots in Ufernähe auf dem Grund des Wassers. Wie Hautfetzen verteilt, bedeckten sie den leicht sandigen Grund. »Esst doch! Ihr Idioten«, flüsterte er. Aber die Enten rührten sich nicht von der Stelle.

2

Nachdem er vom Schlachtensee zurückgekehrt war, brachte er das Fahrrad in den Keller. Er benutzte es nur selten. Er fragte sich auch, wie das aussah, wenn ihm jemand dabei zuschaute. Sein Bruder würde nicht im Traum daran denken, sich auf eine solche Weise fortzubewegen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet hier damit angefangen hatte. Zu Hause hatte seine Mutter, solange sie noch als Orthopädin gearbeitet hatte, alle Bewegungsabläufe ihrer Kinder darauf hin untersucht, wie groß die Verletzungsgefahr war. Deswegen waren mehr oder weniger alle Sportarten und gefährlichen Fortbewegungsformen für ihn und seinen Bruder tabu gewesen. In seiner Vorstellung hatte seine Mutter auch ihren eigenen Vater auf ähnliche Weise immerzu beobachtet und kontrolliert. Ihre Mutter und ihre Großmutter hatten das auch getan, obwohl sie keine so erfolgreichen Orthopädinnen gewesen waren wie seine Mutter. Es gab Gerüchte, sein Urgroßvater habe, als er damals nach Europa gegangen war, schon in Wien mit dem Fahrradfahren begonnen, aber niemand hatte ihn jemals auf einem Fahrrad gesehen. Während des Ersten Weltkrieges hatte er bei der deutschen Armee gekämpft und seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört. Eine der wenigen Spuren, die man von ihm noch finden konnte, war die Passagierliste der S.S. Großer Kurfürst der Norddeutschen Lloyd, die am 8. November 1913 von Bremen nach New York ausgelaufen war. Nummer 229 in der zweiten Klasse. Aber das war vor dem Krieg gewesen. Alles war immer vor dem Krieg gewesen, dachte Daoud. Nie nach dem Krieg, immer davor. Auch die sportliche Unbeholfenheit und die Bewegungsapathie seiner Familie als Ergebnis der mütterlichen Fürsorge hatten während des Krieges nachgelassen. Während des Krieges verlor seine Mutter immer mehr an Einfluss, und als Daoud weggegangen und seine Familie verlassen hatte, erschien es ihm manchmal so, als entzöge er sich mit aller Kraft diese Observation und als ginge es gar nicht so sehr ums Überleben als um das Nicht-gesehen-Werden.

 

So wie die Menschen in Berlin würde in seiner Familie niemand Fahrrad fahren. Er hatte es schon bei den Frauen aus der Stiftung gesehen, als er an der Ostsee gewesen war. Die deutschen Frauen, dachte er manchmal, sahen aus wie Frauen, die mit ihren Fahrrädern verschmelzen wollten. Als wollten sie mit ihren Rädern zu einer Einheit werden. Besonders, wenn sie es eilig hatten. Schon in Beirut hat Rafik das einmal behauptet, als sie in Clémenceau eine Freundin von Zahra auf einem Rennrad ohne Schutzbleche an ihnen hatten vorbeirasen sehen. »Ich glaube, sie kann gar nicht langsam fahren«, hatte Rafik gesagt und dann seine Verschmelzungstheorie entwickelt, obwohl er doch noch nie in Europa gewesen war. Er stammte aus einem schiitischen Dorf aus dem Süden Libanons. Er wollte Modedesigner werden oder Fashion Analyst. »Wenn sie Fahrrad fahren, dann sieht man doch gar nicht, was sie anhaben«, sagte er. Er glaubte, dass man als Modedesigner mit Frauen eine intime Verbindung aufbauen musste. Man musste verstehen, was Kleidung für sie bedeutete. Und warum sie an manchen Tagen hässlich sein und lieber zu Hause bleiben wollten. Aber es stimmte. Die deutschen Frauen verschmolzen tatsächlich mit ihren Fahrrädern, was daran liegen konnte, dass sich ihre Körper an ihre jeweiligen Umgebungen so gut anzupassen wussten. Und vielleicht war das der Grund, warum er sich manchmal unwohl fühlte, wenn er das Fahrrad benutzte, und es in der letzten Zeit im Keller stehen gelassen hatte. Dabei fuhr er mit einer großen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Ob es ihm im Blut lag, ob der Einfluss des Urgroßvaters sich auf ihn auszuwirken begann?

 

Vor der Sprachschule war er noch schnell zu einem Geldautomaten am Alexanderplatz gefahren, hatte Geld abgehoben und es dann in einer MoneyGram-Filiale eingezahlt. Das Geld zurückzuzahlen, das er Rafik schuldete, das war jetzt seine Aufgabe. Ohne das Geld, das er von ihm bekommen hatte, wäre er niemals nach Deutschland gekommen. Und so wie seine Mutter die Gelenke und die Muskulatur unter ihrer Aufsicht hatte, so beobachtete er jetzt jede noch so unbedeutende Bewegung auf dem Konto. Es war ein Konto, das seine Eltern für ihn im Libanon eingerichtet hatten. Deshalb war es nur angemessen, regelmäßig einen Betrag nach Beirut zu transferieren. Zumal Rafik selbst kaum Geld hatte. Er fuhr zum Alexanderplatz, hob Geld ab, brachte es zur MoneyGram-Filiale und übergab 55 Dollar einer Bankangestellten, die so aussah wie die Haushaltshilfe der Eltern von Zahra. Dann fuhr er zurück nach Hause.

 

Er hatte nicht mehr viel Zeit. Das wusste er jetzt, seitdem er in dem Sporthotel an der Ostseeküste plötzlich einen Anruf erhalten hatte. Den ersten hatte er noch ignoriert, aber auf Dauer ging das natürlich nicht. Es war der Anruf, auf den er schon seit langer Zeit gewartet und der gleichermaßen Hoffnung und Angst in ihm auslöste. Wenn er in dem zum Hinterhof gelegenen Zimmer mit dem blassblauen Linoleumboden in den hintersten Winkel ging, hatte er mit seinem alten Nokia-Klapphandy, das noch von seinem Onkel stammte, keinen Empfang. Er hatte deswegen dort die schwarze aufblasbare Matratze aufgebaut, damit er nachts nicht erreichbar war und nicht durch solche Anrufe wie dem in dem Sporthotel in Kühlungsborn aufgeschreckt wurde. Er dachte, dass er noch Zeit für sich brauchte, so wie er es am Anfang auch immer wieder von den Frauen der Stiftung nahegelegt bekam, so dass er mit dieser Erklärung auch immer eine Gelegenheit fand, sich zurückzuziehen. Seitdem sich Rafik nicht mehr meldete, hatte er außer den Leuten, die er bei seinem Deutschkurs traf, fast gar keine Kontakte mehr. Er empfand die Annahme von Telefongesprächen in seiner Wohnung als störend, nachdem er sich in Beirut angewöhnt hatte, nur außerhalb des Hauses auf der Straße zu telefonieren. In Berlin lebte er in der Wohnung eines Künstlers, eine Wohnung, die noch nicht mal einen Internet-Anschluss hatte. Dem Künstler hatte er, als einem der wenigen Menschen, mit denen er auch noch Kontakt hatte, von seiner einwöchigen Reise an die Ostsee erzählt, in deren Mittelpunkt Aktivitäten standen wie Fahrradfahren oder Konversationskurse mit Einheimischen. Es waren Schüler aus den nahe gelegenen Schulen dabei, und es überraschte ihn, dass es dort so nah am Meer, wo in seinen Augen ein immerwährender eiskalter Wintersturm herrschte, überhaupt Schulen gab. »Und das Witzige war, ich bin immer wieder umgefallen«, erklärte er dem Künstler. Er hieß Walter Lustenberger, aber Daoud fand, dass dieser Name nicht zu ihm passte. »Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt, bin ein paar Meter gefahren und dann umgefallen.« Walter schaute ihn ernst an. Er konnte einen außerordentlich ernst anschauen, so als prüfte er, ob man selbst als Kunstwerk in Frage kam. Deswegen hatte Daoud Walter auch die Geschichte vom Fahrradfahren erzählt. Jetzt, wo ihm nur noch wenige Wochen blieben, erschien es ihm von Vorteil, Walter würde in ihm jenes menschliche Antlitz entdecken, das er in ihm bisher vermisst oder das er vor ihm verborgen gehalten hatte. Denn Walter würde am Ende enttäuscht sein, wenn er die Wohnung verlassen und auf seine Freundschaft verzichten würde. Jetzt in der verbleibenden Zeit wollte er aber kein Risiko mehr auf sich nehmen. Er wollte nicht verdächtig erscheinen und nicht den Eindruck erwecken, isoliert und einsam zu sein.

 

Er überlegte auch, das gesamte Geld vom Konto zu nehmen und in der Wohnung zu deponieren, falls das Konto gesperrt werden sollte. Aber dann fragte er sich: Warum sollte man ihm das Konto ausgerechnet jetzt sperren? Und auf diesem Konto war doch das Geld am sichersten. Auch das Fahrrad, das ihm eine Schülerin im Sporthotel geschenkt hatte, war im Keller am sichersten. Auf der Straße wurden oft Fahrräder geklaut, das hatte er schon ein paarmal gehört, selbst die Schüler an der Ostsee wussten davon. Sie hatten ihn gewarnt und aufgefordert, er solle gut auf das Fahrrad aufpassen. Auf der Lenkstange war ein mit Tesafilm befestigtes Namensschild, auf dem »Daud« stand. Ohne O. In unbeholfenen aber doch auf charmante Weise großspurigen Buchstaben hatte eine Schülerin seinen Namen an der Lenkstange angebracht. Das Fahrrad hatte auch einen kleinen Korb. Ihre Mutter habe dort früher immer Eier, Milch und Brötchen untergebracht, erzählte ihm die Schülerin, für mehr biete der Korb keinen Platz. Daoud hatte auf einem anderen Fahrrad seine Übungen gemacht. Er hatte darauf bestanden, den Schülern und auch den Frauen von der Stiftung mitzuteilen,