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Kinder, die nicht mit auf Klassenfahrt fahren können, Teenager, die wegen der falschen Kleidung gemobbt werden, Young Professionals, die allein zu Mittag essen, weil die Kantine zu teuer ist:Armut macht einsam und hält Betroffene klein. Denn Armut prägt und lässt dich niemals los. Und wenn Wohnen immer teurer wird, Lebensmittelpreise immer weiter steigenund wenn die Gehälter weit hinter der Inflation zurückbleiben, droht Armut auch in der bürgerlichen Mitte.
Wie fühlt es sich an, arm zu sein? Es geht um Herzrasen an der Supermarktkasse, Schuldgefühle bei Spontankäufen, ein geringes Selbstwertgefühl. Celsy Dehnert zeigt aus eigener Erfahrung, was Armut mit Menschen macht und was das mit unserer Klassengesellschaft zu tun hat. Und sie gibt eine Antwort darauf, was wir tun müssen, damit alle eine Chance bekommen.
„Celsy Dehnert ist es gelungen, ein so berührendes wie aufrüttelndes Buch zu schreiben, das nicht nur aufzeigt, wie Armut jeden Lebensbereich durchdringt, sondern auch ein starkes Plädoyer für Verteilungsgerechtigkeit und echte Chancengleichheit ist.“ Nora Imlau
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das Gefühl von Armut
Über knappe Kohle, geringen Selbstwert und einen Sozialstaat, der uns im Stich lässt
Celsy Dehnert, geb. 1990, wusste bereits mit 14 Jahren, dass sie in großen Medien über die Ungerechtigkeiten schreiben wollte, denen sie täglich begegnete. Mit 26 machte sie sich aus dem Nichts heraus selbstständig, um ihren Traum zu leben. Mittlerweile finden sich die Texte der zweifachen Mutter aus Niedersachsen in Medien wie der Süddeutschen Zeitung, der Sächsischen Zeitung oder der BRIGITTE. Sie ist bestens vernetzt und teilt ihre Inhalte mit ihrer Community auf Instagram und ihrem Blog.
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echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer
1. Auflage
Originalausgabe
© 2024 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling
Covergestaltung: Luca Feigs, unter Verwendung eines Motivs von Mary Long über Shutterstock
Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Brauer, München
Redaktion: Iris Rinser
Layout und Satz: Luca Feigs
ISBN 978-3-7459-2344-5
www.emf-verlag.de
Und für all diejenigen, die bis heute zwischen den Stühlen unserer Wohlstandsgesellschaft sitzen: Ihr seid nicht allein.
Über Ungerechtigkeit schreiben
Mein Geld und ich
Ich war euer Geld nicht wert
Die Angst vor meinem Geld — und vor den anderen
Die Fingernägel der einen sind nicht die Fingernägel der anderen
Das Gefühl von Armut ist das Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein
Mit genug Fleiß lässt sich gar nichts erreichen
Fehlende Unterstützung setzt Armut fort
Arbeit hilft nicht gegen Armut
Signaturen von Teilhabe
Arme Menschen fahren nicht nach Kühlungsborn
Armut fällt auf
(Frauen-)Gesundheit hängt in Deutschland am seidenen Faden – beziehungsweise am Geldbeutel
Konsum
Die Mehrheitsgesellschaft beschämt Armutsbetroffene für ihren Einkauf
SECONDHAND lohnt sich nicht: Die Not der einen wird zum Lifestyle der anderen
Konsum als Bonding-Ritual
Kein Geld, keine Hobbys
Ausblick
Der Survivorship-Bias: Von der „Man-kann-alles-schaffen-Lüge“
Und was heißt das jetzt im Alltag?
Die Menschen in meinem Leben
Danksagung
Ich war 14 Jahre alt, als ich nach einem abermaligen Umzug in meinem Jugendzimmer saß und beschloss, eines Tages für die großen Zeitungen dieses Landes über Kinder und Jugendliche wie mich zu schreiben. Ich wollte über die Gewalt und eben auch all die Benachteiligung und die Ungerechtigkeiten sprechen, die zu meinem Alltag gehörten. Angetrieben von dem Wunsch nach Gerechtigkeit wollte ich all diese Missstände aufdecken, von denen ich naiverweise glaubte, dass die Menschen um mich herum einfach nicht wussten, dass sie passierten. Mit 14 Jahren machte ich es zu meiner Lebensaufgabe, Menschen von Ungerechtigkeiten zu erzählen, weil ich glaubte, sie würden etwas dagegen unternehmen, wenn sie nur davon wüssten.
Mein Gerechtigkeitsbestreben hat mich nie losgelassen, obwohl ich in der Zwischenzeit gelernt habe, dass Menschen sehr wohl um viele Ungerechtigkeiten wissen. Sie tun nur nichts dagegen. Als ich mich 2019 von meiner Krebserkrankung erholte, fing ich an, auf Instagram über Armut und meine eigene Armutserfahrung zu schreiben. Einfach, weil ich mich so daran störte, wie blank poliert und scheinbar überfinanziert die kuratierten Ausschnitte in dieser App sind. Ich spürte, wie mir diese Ausschnitte aus dem Leben anderer Druck machten, weil ich finanziell nicht mithalten konnte. Also fing ich an, gegen den überprivilegierten Einheitsbrei anzuschreiben. Denn eine Wahrheit war für mich immer unumstößlich: Ich bin niemals mit einem Gedanken oder einem Problem allein. Es gibt immer mindestens noch eine zweite Person, der es genauso geht. Im Endeffekt schreibe ich, um eine Verbindung zu schaffen. Zuerst veröffentlichte ich auf Instagram, damit sich zwischen all den blank polierten Küchen und durchgestylten Kinderzimmern die armutsbetroffene Alleinerziehende weniger allein fühlt. Nun schreibe ich auch dieses Buch, das hoffentlich dafür sorgt, dass Menschen sich nicht mehr länger die Schuld dafür geben, dass sie ab dem 20. des Monats ihre Lebensmitteleinkäufe nur stemmen können, wenn sich genug Pfandflaschen angesammelt haben.
Dieses Buch ist im Grunde die Wahrwerdung der Lebensaufgabe, die ich mir mit 14 Jahren selbst gegeben habe. Denn ich komme an all den Ungerechtigkeiten unserer Zeit nicht vorbei. Ich sehe die länger werdenden Schlangen an den Tafeln unseres Landes. Ich höre die Berichte über die immer größer werdende Wohnungsnot, die vor allem auch immer jüngere Menschen betrifft. Ich verfolge die Debatten um die Kindergrundsicherung und sehe die Verweigerung von Regierungsparteien, Kindern ein würdevolles und glückliches Leben zu gönnen. Während ich die letzten Seiten dieses Buches schrieb, veröffentlichte der Paritätische Gesamtverband den neuesten Armutsbericht. Die Zahlen gehen – mal wieder – mit viel Entsetzen und Erstaunen durch die Medien: 43,2 Prozent der Alleinerziehenden und 21,8 Prozent der Kinder leben in Armut. Insgesamt gelten 14,2 Millionen Menschen in Deutschland als armutsbetroffen.1
Aber mehr als ein kurzes, scharfes Luftholen in Anbetracht dieser Statistiken passiert in den meisten Haushalten – und erst recht auf politischer Ebene – nicht. Es stellt sich nicht das Ungerechtigkeitsempfinden oder Unrechtsbewusstsein ein, mit dem ich von klein auf lebe. Weil für die meisten Menschen, vor allem für diejenigen mit Macht und Ressourcen, etwas zu verändern, diese Zahlen eben nur das sind: Zahlen. Es sind Statistiken, die nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun haben, weil die meisten Menschen glauben, in ihrem direkten Lebensumfeld gäbe es keine Armut. Ein Trugschluss. Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen schreiben in ihrem Buch „Es braucht nicht viel“ dazu so treffend: „Sie kennen sie, aber Sie ERkennen sie nicht.“2 Armut ist in unserer Gesellschaft derart stigmatisiert, dass Menschen mit ausreichend Geld in ihren persönlichen kleinen Filterblasen leben können, in denen sie sich mit Armut nicht auseinandersetzen müssen. Deshalb ist dieses Buch ein Blick hinter den Vorhang aus all den Armutsstatistiken, mit denen sich unsere Gesellschaft zwar zwei, drei Mal im Jahr pflichtschuldig beschäftigt – ohne die Lebensrealität dahinter zu begreifen.
Mit den ab hier folgenden Seiten will ich Sie exemplarisch in Verbindung damit bringen, was es tatsächlich heißt, wie es sich anfühlt, Armut wirklich zu kennen. Ich will den unpersönlichen, sterilen Zahlen ein Gesicht geben. An verschiedenen Stationen dieses Buches wird es mein Gesicht sein. Einfach, weil man über das, was man selbst kennt, am besten schreiben kann.
Meine Geschichte liest sich grob umrissen wie folgt: Ich wuchs als ältestes von vier Kindern in einer armutsbetroffenen Familie auf. Bei meinen Eltern gaben sich Phasen der Arbeit die Hand mit Phasen der Arbeitslosigkeit. Mein Alltag bestand aus dem Aushalten der Armut, zu viel Verantwortung für meine jüngeren Geschwister und dem Versuch, mich möglichst kleinzumachen, um der heimischen Gewalt zu entgehen. Vor genau dieser Gewalt floh ich schließlich kurz vor meinem 15. Geburtstag in eine Pflegefamilie. Mein eigener Fleiß, staatliche Hilfe und die Unterstützung liebender Menschen ermöglichten mir das Abitur. Doch mein Studium war ein einziges Ringen darum, zwischen BAföG und Minijob irgendwie zu überleben. Am Ende gewann die Überlebensnotwendigkeit, und ich brach das Studium ab, um Geld zu verdienen. Nach einem kurzen Ausflug ins Angestelltendasein arbeite ich seit 2016 als freie Autorin und Redakteurin.
Ende 2016 bekam ich das erste Kind. Anfang 2018 kam das zweite Kind hinterher und leider auch eine Krebserkrankung. Drei Jahre war ich vor allem damit beschäftigt, mithilfe von Chemotherapie, Fatigue-Management und Reha-Aufenthalten meine Kinder aufwachsen sehen zu können. Ich habe all das überlebt, lebe heute mit meiner Familie auf dem Land und bin für jeden Tag mit meinen Lieblingsmenschen von Herzen dankbar. Aber ich bin auch unfassbar wütend darüber, wie sehr genau der Umstand, den ich am wenigsten in der Hand hatte, mein Leben bis heute am allermeisten prägt: in eine arme Familie hineingeboren zu sein. Und ich weiß, ich bin nicht allein. Millionen Alleinerziehende, Millionen Kinder teilen dieses Schicksal auch heute noch, und wir tun viel zu wenig dafür, dass es besser wird. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.
Meine Geschichte ist kein Einzelfall, sondern ein Schicksal von 14,2 Millionen. Es ist zwar eine individuelle Geschichte, die sich an vielen Stellen vom Erleben anderer Armutsbetroffener unterscheidet. Aber an noch mehr Punkten werden viele andere Betroffene eben auch zustimmend nicken, weil sie vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Gerade dann, wenn Sie Armut selbst nicht kennen, werden Sie immer wieder in Versuchung geraten, meine Geschichte als extremen Einzelfall wegschieben zu wollen. Ich bitte Sie eindringlich, das nicht zu tun. Denn am Ende meiner eigenen Geschichte bin ich sogar eine von denen, die Glück hatte. Die ihrer ganz persönlichen Armutserfahrung zwar nie entkommen wird, aber nicht mehr Teil dieser 14,2 Millionen ist. Weil ich an den richtigen Stellen im Leben die passenden Menschen getroffen habe, die mir Türen zu einem würdevolleren Leben geöffnet haben.
Dabei spielt auch eine Rolle, dass ich eine weiße cis Frau in einer Hetero-Beziehung bin. Ich möchte, dass Sie diesen Umstand ganz besonders im Gedächtnis behalten. Denn für migrantisierte Menschen, für Menschen of Color und für queere Menschen ist Armut teilweise noch belastender, und die Schwierigkeiten sind erheblich komplexer. In unserer Gesellschaft geben sich Rassismus, Queer- beziehungsweise Transfeindlichkeit und Klassismus nämlich in einem ganz besonders destruktiven Bündnis die Hände. Da, wo ich es konnte, habe ich versucht, diese Perspektive in meine Analyse einzubinden. Aber gerade meine eigenen Beobachtungen müssen immer mit meinem eigenen Privileg im Hinterkopf gelesen werden.
Klassismus ist übrigens der Begriff für das diskriminierende Verhalten gegenüber Armutsbetroffenen. Weil der Begriff in Deutschland nach wie vor nicht so geläufig ist, will ich ihn kurz erklären und bediene mich dabei an den Worten der Fachhochschulprofessorin Heike Weinbach und des Soziologen Andreas Kemper. Kemper und Weinbach definieren den Begriff in ihrem Einführungswerk folgendermaßen: „Klassismus beschreibt ein System der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, die aus dem ökonomischen Status [sic!] heraus abgeleitet oder besser: erfunden und konstruiert werden.“3
Vereinfacht gesagt: Klassismus ist die Annahme, dass Menschen, die wenig Geld haben und in Armut leben, automatisch aufgrund ihrer Armut faul, unkultiviert, prollig, unmoralisch und leistungsscheu seien. Diese Art der Erzählung funktioniert aber natürlich nur, wenn man voraussetzt, dass das System, in dem wir leben, für alle Menschen gleichermaßen fair sei und allen die gleichen Zugangsvoraussetzungen eröffnen würde. Das ist aber gar nicht wahr. Am Ende des Tages entscheiden eine Menge Faktoren, auf die Armutsbetroffene gar keinen Einfluss haben, darüber, ob sie die Chance auf ein besseres Leben haben oder ob sie genau dorthin gehen, wo sie auch herkommen.
An dieser Stelle der Hinweis: Dieses Buch ist kein Fachbuch. Ich werde nur dort versuchen, sozialwissenschaftliche Theorie zu erklären, wo ich es für nötig halte, damit Sie als Lesende verstehen, warum all die Vorurteile, die unsere Gesellschaft gegenüber Armutsbetroffenen hegt, auch zu diskriminierendem Verhalten führen. Auch werde ich nur sehr ausgewählt mit Statistiken und Zahlen arbeiten. Denn hinter diesen Zahlen kann man sich im Zweifel untätig verstecken und das Geschilderte auf eine theoretische Ebene abstrahieren. Stattdessen ist dieses Buch ein praktischer Einblick in das, was unsere Gesellschaft mit Armutsbetroffenen macht und wie sich die Diskriminierung von Armutsbetroffenen auf unser Erleben auswirken kann. Dabei ordne ich Begebenheiten aus meiner Biografie aber immer auch strukturell ein, sodass wir gemeinsam über politische und kollektive Antworten nachdenken können.
Meine exemplarischen Anekdoten zeigen auch, wie sehr die Lebensbedingungen von Armutsbetroffenen und Geringverdienenden davon bestimmt werden, wie andere Menschen über sie denken. Denn am Ende beginnt sehr viel Armutsdiskriminierung mit den Glaubenssätzen, die Menschen in Machtpositionen mit sich herumtragen. Manchmal wird dieses Buch denjenigen, die Armut nicht oder nicht mehr kennen, also auch ein bisschen wehtun. Denn ich fordere bewusst heraus, was wir über Armut, gesellschaftliche Teilhabe, Leistung und Wohlstandsverteilung gelernt haben. Mitunter werden Ihnen Dinge, die ich sage, nicht fair erscheinen. Aber fair zu sein ist hier auch gar nicht mein Job. Ich schreibe dieses Buch nicht nur für mich. Sondern auch für meine Freundin, die als Tochter eines Hausmeisters immer zu spüren bekam, dass sie in freundschaftlichen Hierarchien unten stand. Ich schreibe dieses Buch für meine Freundin, die das Jobcenter auf Leistungen verklagen und solange von quasi nichts leben musste. Ich schreibe dieses Buch für den Freund, der bis heute fürchtet, dass das gute Leben, das er jetzt hat, einfach implodiert. Ich schreibe dieses Buch für meinen Mann, der mich bei der letzten Jobzusage in unserer Küche in die Arme schloss und unter Tränen zu mir sagte: „Schatz, du bist endlich nicht mehr armutsgefährdet.“ Das System war zu keinem von uns wirklich fair. Also erlaube ich mir Analysen, die wehtun. Denn manchmal muss es wehtun, damit sich etwas verändern kann. Ich glaube fest daran, dass Veränderungen möglich sind und wir es besser machen können – zum Beispiel für eben jedes fünfte Kind, das jetzt gerade in Armut groß wird und nicht weiß, ob das Versprechen auf ein besseres Leben wirklich wahr wird. Ich lade Sie ein, sich auf den einen oder anderen Wachstumsschmerz einzulassen, damit wir diese Kinder und all die Erwachsenen, die sie einmal werden, nicht noch länger im Stich lassen.
Der Paritätische Gesamtverband: Armut in der Inflation. Armutsbericht 2024
Helena Steinhaus, Claudia Cornelsen: Es braucht nicht viel, S. 117
Andreas Kemper, Heike Weinbach: Klassismus – Eine Einführung, S. 17
Meine Eltern haben jedes Klischee bedient, das die Gesellschaft armutsbetroffenen Eltern gegenüber hat: Sie haben geraucht, und es gab jeden Abend mehr als ein Feierabendbier. Phasen der Arbeit wechselten sich mit Zeiten der Arbeitslosigkeit ab. Für mehrere Computer und Konsolen war ausreichend Geld da, für schöne Kindergeburtstage oder Ausflüge hingegen nicht. Den Billardtisch, der in unserer Diele stand, als ich 13 war, konnten sie bezahlen – die Kosten für meine Klassenfahrt nicht. Neue PC-Spiele waren ihnen durchaus Geld wert, brauchbare Stifte oder Blöcke für die Schule waren nicht drin. Während meine Eltern jeweils auf einem eigenen Sofa vor ihren Computern ihren Feierabend genossen, ärgerte ich mich über Recyclingpapier, das schon beim Schreiben riss.
Schaue ich auf meine Kindheit zurück, muss ich festhalten, dass meine Eltern genau das taten, was die Gesellschaft armutsbetroffenen Eltern immer vorwirft: Sie gaben ihr knappes Geld vor allem für sich selbst statt für ihre Kinder aus.
Einer der prägendsten Tage meiner Teenagerjahre war der Morgen, als mich eine Klassenkameradin im Schulbus fragte: „Hast du deine Klamotten in deinem Schulranzen?“ Ich weiß bis heute, wie irritiert ich über diese Frage war. Bis ich an der Schule ankam und feststellte: Alle fahren auf Klassenfahrt, nur ich nicht.
Kurz darauf saß ich mit meiner Klassenlehrerin im Büro des Schulleiters, während dieser mit meinen Eltern telefonierte. Ich erinnere mich auch daran, dass er meinen Eltern Geld vom Förderverein anbot und wie ich mich am Ende des Gesprächs dem Matheunterricht des Jahrgangs über uns anschloss. Als ob es gestern gewesen wäre, kann ich mich bis heute selbst dabei beobachten, wie ich mit stoischer Miene Aufgaben bearbeitete und mich an der einen oder anderen Stelle sogar im Unterricht der älteren Klasse beteiligte, weil meine Englischleistungen weit überdurchschnittlich waren. Woran ich mich allerdings nicht mehr erinnere: Wie ich mich gefühlt habe, als klar war, dass ich zu Hause bleiben muss. Oder ob bzw. wie ich meine Eltern mit dieser Ungerechtigkeit konfrontiert habe. Stattdessen schneidet mein Gehirn an dieser Stelle sofort zu dem Telefonat mit meinen Freundinnen, das ich abends geführt habe. Ich habe ihnen die (ziemlich offensichtliche) Lüge aufgetischt, dass ich für ein besonderes Tanztraining ausgewählt worden sei. Die Wahrheit war einfach zu beschämend: Ich war zu arm, um mit auf Klassenfahrt zu fahren.
Mein Gehirn scheint es vorzuziehen, mich vor den schmerzhaften Gefühlen und Konfrontationen dieser Zeit zu schützen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum ich am Morgen der Klassenfahrt nichts von der Reise wusste oder warum ich mich an keinerlei Streit darüber erinnern kann. Was allerdings bis heute geblieben ist: das Gefühl, es nicht wert zu sein.
Zu erleben, wie meine Eltern um meinetwillen Geld angeboten bekommen, damit ich an der Klassenfahrt teilnehmen kann, und sie dieses ablehnen, hat das Gefühl, das mich meine ganze Kindheit lang begleitet hat, in Beton gegossen. Geld ist immer nur für die anderen da, niemals für mich. Im schulischen Kontext habe ich am meisten gemerkt, welchen Unterschied es macht, ob Eltern Geld für ihre Kinder ausgeben (können) oder nicht: Immer wieder musste ich mich vor Lehrkräften rechtfertigen, weil meine Schulmaterialien nicht den Ausführungen entsprachen, die auf der Materialliste gefordert waren. In jeder Pause musste ich aufs Neue schräge Blicke und fiese Sprüche aushalten, weil meine Kleidung nicht so aussah wie die der anderen Kinder. An jedem ersten Schultag nach den Ferien schaute ich beschämt zu Boden, während andere Kinder begeistert von ihren Ausflügen und Urlauben erzählten. Meine Welt war winzig, und ich fühlte mich wahnsinnig ausgeschlossen. Dabei wusste ich lange auch gar nicht, was mir in meiner Freizeit entging: Ich ahnte nicht, dass andere Kinder völlig selbstverständlich Instrumente lernten oder anderen Hobbys nachgingen, während ich jeden Nachmittag wieder die Nase in ein Buch steckte, weil ich sonst nichts zu tun hatte. Ich wuchs mit einem Ungerechtigkeitsgefühl auf, das ich lange nicht verorten konnte, weil ich tat, was alle Kinder tun: Ich ging davon aus, dass meine Eltern das Beste für mich wollten. Erst als ich mit 13 Jahren miterlebte, wie meine Eltern meine Chance auf Teilhabe ausschlugen, wurde mir klar, woher dieses Ungerechtigkeitsgefühl kam. Es war das Gefühl, nicht wichtig genug zu sein, als dass jemand Geld für mich ausgeben – oder annehmen – würde.
Dieses Gefühl prägt mich bis heute. Aktuell bräuchte ich beispielsweise ein Paar Winterschuhe. Das Geld dafür haben wir, das ist nicht das Problem. Auch die Notwendigkeit ist gegeben, es ist also auch keine vernünftige Sparsamkeit, die mich aufhält. Nein, es ist schlicht und ergreifend das Gefühl, dass es nicht wichtig genug ist, Geld für mich auszugeben, das nun schon seit Wochen hartnäckig verhindert, dass ich mir anständige Schuhe kaufe.
So geht es mir bei jedem Paar Schuhe, bei jeder Jacke, jedem Pulli, sogar bei Winzigkeiten wie Nagellack oder einer Dose Haarspray. Ich ringe immer wieder mit mir, weil ich das Gefühl habe, das Geld wäre woanders besser eingesetzt. Um mir etwas zu gönnen, muss die Motivation größer sein, durch äußere Umstände bedingt nahezu erzwungen sein, statt dass ich mir etwas einfach nur für MICH kaufen würde.
Ich habe all die leidvollen Erfahrungen von fehlender Teilhabe und schulischen Nachteilen, die typischerweise mit Kinderarmut assoziiert werden, gemacht. Diese Armutserfahrung in der Kindheit hat meine Selbstwahrnehmung nachhaltig beeinflusst und meinen Selbstwert bis ins Erwachsenenleben hinein zerstört. Die Prägung aus der Kindheit beeinflusst meine alltäglichen Entscheidungen bis heute. Diese Art von Prägung ist keine Banalität. Denn am Ende ist auch diese psychologische Komponente ausschlaggebend dabei, warum sich Armut im Erwachsenenalter häufig fortsetzt. Wir werden das Gefühl, dass wir als Bodensatz der Gesellschaft kein gutes Leben verdient haben, nicht los. Also leben wir mit dem Gefühl der Minderwertigkeit, trauen uns weniger zu und trauen uns auch nicht, um Hilfe zu bitten.
Dabei wäre es aber zu kurz gedacht, den Fehler für mein Erleben und mein Armutsgefühl ausschließlich bei meinen Eltern zu suchen. Denn es gab und gibt ja auch noch eine zweite Ordnungsgröße, die entscheidenden Einfluss darauf hat, ob und wie sehr ich mich selbst als wertvoll empfinde: die Gesellschaft bzw. der Staat.
Im Frühjahr 2023 habe ich zufällig meine erste Grundschullehrerin auf einer Veranstaltung getroffen. Es ging unter anderem um den Einfluss, den Lehrkräfte auf ihre Schülerinnen und Schüler haben und wie viel das gerade für Kinder, die in diesem System nicht so einfach zurechtkommen, ausmachen kann. Nach der Veranstaltung ging ich auf meine ehemalige Grundschullehrerin zu und bedankte mich bei ihr dafür, dass sie meine Wissbegierde und meinen Fleiß immer so unterstützt hatte. Obwohl unsere Wege sich 24 Jahre zuvor getrennt hatten, erinnerte sie sich gut an mich. Auf ihre Frage, wie es mir gehe, antwortete ich: „Seitdem ich zu Hause raus bin, geht es mir gut.“ Sie nickte und bestätigte, dass sie wusste, dass es bei uns nicht immer einfach gewesen war. Im Verlauf des Gesprächs teilte sie eine Anekdote mit mir, an die ich mich selbst gar nicht erinnern konnte. Damals habe sie zu Weihnachten kleine Aufmerksamkeiten verteilt, zu jedem Kind sei sie nach Hause gefahren. Mich hätte sie damals allerdings nicht sprechen können oder dürfen. Nach den Ferien stellte sich heraus, dass ich das Weihnachtsgeschenk, das sie meinen Eltern damals gab, niemals erhalten hatte.
Ich kann in der Rückschau nur schlecht beurteilen, wie viele Gesprächsversuche zwischen Schule und Elternhaus wirklich stattgefunden haben. Was ich aber sehr gut festhalten kann: Obwohl ich meine Lehrerin in Bezug auf meine schulischen Leistungen als sehr unterstützend wahrgenommen habe, fühlte ich mich mit meinen Schwierigkeiten zu Hause allein. Dass jemand wahrgenommen hatte, wie schwierig die Verhältnisse in meinem Elternhaus waren, habe ich damals nicht gewusst. Nach der Veranstaltung fuhr ich mit einem bittersüßen Gefühl in der Brust nach Hause. Auf der einen Seite tat es total gut, von jemandem, der mich schon als Kind kannte, bestätigt zu bekommen, dass es in meinem Elternhaus TATSÄCHLICH schwierig war. Gleichzeitig frage ich mich aber bis heute: Warum hat mir denn niemand geholfen?
Abgesehen von dieser einen Gelegenheit, als ich im Büro des Schulleiters saß und miterlebte, wie er mit meinen Eltern um meine Teilnahme an der Klassenfahrt verhandelte, kann ich mich an keinen Moment erinnern, in dem eine Lehrkraft mir wirklich Unterstützung in meiner häuslichen Situation angeboten hätte. Stattdessen musste ich mich Schuljahr um Schuljahr wieder dafür rechtfertigen, weil ich als Einzige in der Klasse nicht die Marken-Stifte, Marken-Hefte und den teuren Tuschkasten mitbrachte. Obwohl ich an der Armut meiner Eltern nichts hätte ändern können, wurde ich von diversen Lehrkräften und vor der gesamten Klasse dafür beschämt. Ich glaube, dass genau diese Erfahrung bis heute der Grund dafür ist, dass ich die meisten Dinge lieber mit mir selbst ausmache. Denn da, wo ich Hilfe von Personen, denen ich schutzbefohlen war, gebraucht hätte, wurde ich viel zu oft im Stich gelassen.
Man sollte meinen, dass meine Situation sich verbessert hätte, als ich mein Elternhaus kurz vor dem 15. Geburtstag verließ. Jetzt hätte das System die Chance gehabt, mir beizubringen, dass ich es sehr wohl wert bin, Geld und andere Ressourcen in mich zu investieren. Ich machte genau die gegenteilige Erfahrung. Da waren auf der einen Seite meine Pflegeeltern, in deren Weltbild ich schlicht und ergreifend nicht hineinpasste. Ein Kind aus schwierigen Verhältnissen, das tatsächlich nicht nur intelligent, sondern auch fleißig und gut in der Schule war? Das durfte nicht sein. Als ich in die Pflegefamilie kam, hatte ich einen Notenschnitt von 1,6. Ziemlich gut für ein Kind, das aus armen und zerrütteten Verhältnissen stammt, oder? Tatsächlich führte genau die Tatsache, dass ich eben kein störendes Problemkind, sondern eine gute, strebsame Schülerin war, von Minute eins an im staatlichen Jugendhilfesystem dazu, dass Jugendamt und Pflegefamilie meine Erfahrungen und meine Darstellung derselben anzweifelten. Die Sachbearbeitenden beim Jugendamt, meine Pflegeeltern, einige Lehrkräfte – sie alle saßen ihrem eigenen, internalisierten Klassismus auf. Was bedeutet das? Sie hatten das Bild verinnerlicht, dass aus Armut und Gewalt stammende Menschen weder klug noch fleißig oder leistungsbereit sein könnten. Kinder aus derart schwierigen Verhältnissen waren in ihren Augen immer verhaltensauffällig und hatten schlechte Noten.
Ich war weder verhaltensauffällig, noch hatte ich schlechte Noten. Vielleicht war ich manchmal ein bisschen hitzköpfiger, sturer und schlagfertiger, als gut für mich war. Aber ich war nicht im klassischen Sinne verhaltensauffällig. Und ich war fleißig, was jedes Zeugnis bis zur 9. Klasse wieder zeigte. Leider war das Hilfesystem darauf überhaupt nicht eingestellt. Im Gegenteil, all die Menschen, die mir hätten helfen können und müssen, sahen mich und dachten: „So fleißig und manierlich und klug, wie sie ist, kann ihre Situation ja nicht so schlimm sein!“ Dabei übersahen sie aber, dass ich überangepasst war, GERADE weil meine Situation und meine Herkunft so schlimm waren. Nicht aufzufallen war meine einzige Chance, zu Hause nicht noch mehr Gewalt zu erfahren. Fleißig und eloquent zu sein waren meine Möglichkeit, außerhalb meiner Familie Anerkennung und positive Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Anpassungsfähigkeit war meine Überlebensstrategie. Doch die Vorurteile, mit denen unsere Gesellschaft lebt, haben mich nicht gewinnen lassen. In den schlimmsten Zeiten meiner Kindheit bekam ich keine Hilfe, weil ich den Erwartungen an Fleiß und Strebsamkeit zu sehr entsprach.
Irgendwann im Laufe der 9. Klasse habe ich tagelang intensiv für eine Physikarbeit gelernt. Ich sehe mich heute noch an einem Sonntagnachmittag an meinem Schreibtisch über dem Physikbuch brüten, um diesen verdammten Stoff irgendwie in mein Hirn zu prügeln. Naturwissenschaften sind mir, anders als Sprachen, nämlich nie einfach zugeflogen. Ich habe damals also nach der Schule und am Wochenende stundenlang über den Büchern gehangen und gebüffelt. Nur, um zum Mittag- und Abendessen am Esstisch mit hämischen Bemerkungen meiner Pflegefamilie überzogen zu werden. Ich solle doch nicht immer so viel lernen. Solle mich doch nicht verhalten wie eine alte Frau. Schlussendlich sagte man mir, ich sei so klug, dass ich zu dumm für das alltägliche Leben wäre.
Ich habe erst Jahre später verstanden, wie sehr mich diese Zeit verletzt hat. Wie ausschlaggebend genau diese Zeit dafür war, dass ich aufgehört habe, an das Leistungsversprechen unserer Gesellschaft zu glauben. Denn auf der einen Seite versprach man mir, ich könne alles werden, was ich sein wollte, wenn ich nur hart genug dafür arbeitete. Auf der anderen Seite bestrafte meine Pflegefamilie mich dafür, dass ich klüger, fleißiger, leistungsbereiter war, als Menschen aus der Unterschicht in ihren Augen sein durften. Als ich dann in der 10. Klasse tat, was vermeintlich normale Teenager so tun – viel zu viel Zeit mit dem Freund verbringen, Sex haben und bis zum Morgengrauen feiern –, war das meinen Pflegeeltern allerdings auch wieder nicht recht. Man kann sagen: In meiner Pflegefamilie habe ich gelernt, dass unsere Gesellschaft Menschen aus der Unterschicht ganz bestimmte Rollen zugeteilt hat und dass wir dafür bestraft werden, wenn wir versuchen, aus diesen Rollen auszubrechen. Sogar dann, wenn wir genau das tun, was von uns gefordert wird, und versuchen, durch Leistung aus unserer Situation herauszukommen.
Ich würde jetzt gern sagen, dass meine Pflegeeltern eine Ausnahme oder die Fortsetzung einer individuellen Pechsträhne gewesen wären. Aber die Benachteiligung von armuts- und gewaltbetroffenen Jugendlichen hat System. Als ich mit meinem 18. Geburtstag meine Pflegefamilie verließ, also aus der staatlichen Jugendhilfe ausschied, hatte ich nichts. Keine Ersparnisse, keine eigenen Möbel, nichts. Denn von dem Pflegekindergeld, das die Familie für mich bekam, wurde nichts für mich angespart. Ich hatte aber auch keine Chance, mir den Führerschein oder die Möbel für die erste eigene Wohnung selbst zu finanzieren. Denn erst seit Januar 2023 dürfen Jugendliche in der stationären Jugendhilfe, also Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien oder Wohngruppen, überhaupt eigenes Geld haben, nachdem der Bundestag die Abschaffung der sogenannten Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe gebilligt hatte. Vorher mussten Jugendliche bis zu 25 Prozent ihres Einkommens an den Staat abdrücken, um die Kosten ihrer eigenen Unterbringung zu bezahlen. Obwohl keine*r von uns etwas für die eigene Situation konnte, wurden wir für unsere Not bestraft. Das Pflegekindergeld ist bis heute nicht für die von Not betroffenen Kinder gedacht, sondern als Aufwandsentschädigung für die Familien zu verstehen. Damit mich an dieser Stelle niemand falsch versteht: Es gibt sehr viele Pflegefamilien, die Kindern und Jugendlichen ein großartiges Zuhause bieten. Aber es ist eben auch eine Ungerechtigkeit, dass Kinder wie ich keinerlei Anspruch darauf haben, dass ein Teil des Pflegegeldes für uns angespart wird, damit wir nicht mit Nichts in die Welt entlassen werden, wenn wir aus der Jugendhilfe ausscheiden.
Am Ende musste ich, mit Unterstützung von Prozesskostenhilfe, sogar den Staat auf mein eigenes Kindergeld verklagen. Denn das Kindergeld steht in Deutschland nicht den Kindern, sondern ihren Eltern zu. Meine Eltern hatten sich in der Zwischenzeit ins Ausland abgesetzt. Da ich mich aber noch in schulischer Ausbildung befand, bestand für mich formal ein Anspruch auf Kindergeld. Ich musste den Weg über Gerichte gehen, um das Geld, das der Staat aufgrund meiner Existenz ja überhaupt erst auszahlte, tatsächlich auch zu erhalten. Zwar gewann ich den Prozess, aber am Ende war auch das Geld nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn neben dem bisschen Schüler-BAföG und ggf. Kindergeld gibt es keine Hilfsstrukturen für junge Erwachsene, die noch zur Schule gehen, aber kein finanziell unterstützendes Elternhaus haben. Schon bei mir damals, 2008, reichte das Schüler-BAföG nicht für Unterbringung und Lebenskosten. Da stand ich also, eine junge Erwachsene aus armen, gewaltvollen Verhältnissen, die Verantwortung für ihr Leben und ihre Zukunft übernehmen wollte, und das System sagte mir: Du bist unser Geld nicht wert, sieh zu, wie du klarkommst. Der Staat zog sich aus der Verantwortung.
Das tut er bis heute. Kindern wie mir hätte mit einer Kindergrundsicherung, die ihren Namen verdient, geholfen werden können. Leider ist alles, wozu sich die deutsche Bundesregierung vielleicht durchringen könnte, eine teure Verwaltungsreform. Mehr Geld landet bei armutsbetroffenen Familien dadurch nicht. Ich bin bis heute deshalb unfassbar wütend. Denn da ist sie wieder, die verheerende Botschaft: Ihr seid unser Geld nicht wert. Für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene wie mich ist diese Botschaft verheerend, weil sie unser Vertrauen in die Gesellschaft erschüttert. Dass sich der Staat an so vielen Stellen aus der Verantwortung für seine Bürgerinnen und Bürger zieht, hat demokratiezersetzende Wirkung. Denn wenn meine Geschwister und ich schon zu Hause die Erfahrung machen mussten, dass unser Wohlergehen nicht von Interesse war, wie dankbar wären wir wohl für eine Gesellschaft gewesen, die sich unserer angenommen hätte? Gerade weil meine Eltern keine Verantwortung übernahmen, hätten wir die Hilfe unseres Umfeldes erst recht gebraucht. Wir hätten die staatliche Unterstützung umso mehr benötigt. Doch am Ende mussten wir die Erfahrung machen, dass uns niemand hilft, solange wir uns nicht selbst helfen. Neoliberale Politiker sprechen an dieser Stelle so gern von Eigenverantwortung, die Armutsbetroffene übernehmen müssten. Ganz ehrlich, das ist keine Eigenverantwortung, das ist Sozialdarwinismus at its best: Survival of the Fittest. Wer es nicht schafft, aus Scheiße Gold zu machen und den widrigen Lebensumständen zu entkommen, obwohl Staat und Gesellschaft beide Hände hinter ihren Rücken verschränken, statt eine helfende Hand zu reichen, hat halt Pech gehabt.
Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigte 2023, dass Kinder aus armutsbetroffenen und bildungsfernen Familien sowie Familien, in denen Deutsch nicht die Erstsprache ist, deutlich geringere Chancen auf einen Betreuungsplatz in einer Kita haben, weil die Betreuungswünsche wohlhabenderer Familien eher berücksichtigt werden.1 Projektmittel kommen vor allem bei Schulen an, die über engagierte Eltern verfügen. Studienabschlüsse stehen den Kindern eher offen, die nicht ausschließlich auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Totalsanktionen beim Bürgergeld für diejenigen, die es wagen, von ihrem Recht auf Berufsfreiheit Gebrauch zu machen. Die Erfahrung meines Lebens ist der gesellschaftliche Status quo: Arme Menschen sind unserer Gesellschaft das Geld, das sie bräuchten, nicht wert. Armut ist dabei aber so viel mehr als nur der Mangel an Geld. Das Gefühl von Armut ist vor allem das Gefühl, von unserer Gesellschaft betrogen worden zu sein.
Siehe auch: Pressemitteilung des BiB: „Kinder aus benachteiligten Familien bekommen seltener KiTa-Platz“, vom 10.03.2023 [abgerufen 20.05.2024, 16:08 Uhr]
Zu diesem Gefühl trägt eben auch der gesellschaftlich etablierte Klassismus bei. Denn all die institutionellen und individuellen Ausfälle hätte ich vielleicht noch verschmerzen können, wenn ich nicht in einer Kultur aufgewachsen wäre, die den Armenhass salonfähig gemacht hat. Als Millennial bin ich mit Fernsehformaten wie „Frauentausch“, „Mitten im Leben“ und „Familien im Brennpunkt“ aufgewachsen. Formate, die in der Masse vor allem dazu da waren, gescriptete Lebensrealitäten armer und teilweise ungebildeter Menschen zum kruden Entertainment für die kaufkräftige Bevölkerung zu machen. Obwohl den meisten Menschen klar sein sollte, dass nichts von dem, was da auf dem Bildschirm passierte, wirklich ECHT war, wurde es zur Massensozialisation des Armenhasses. Denn es war ja kein Zufall, dass die Protagonist*innen dieser Formate alle mehrheitlich arbeitslos waren, durch wenig rhetorisches Geschick und verlotterte Kleidung sowie schlechte Zähne auffielen. Gepaart mit Storylines, die vor Lug, Betrug, Teenagerschwangerschaften und Messie-Haushalten nur so trieften, dienten diese Formate vor allem dazu, die Sensationslust des durchschnittlichen Publikums zu befriedigen.