Das Geheimnis um die Madfield Tochter - Jennifer Lillian - E-Book
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Das Geheimnis um die Madfield Tochter E-Book

Jennifer Lillian

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Beschreibung

Im Hause Madfield gibt es nichts, was man sich noch wünschen könnte. Doch für Warren Madfields Tochter Maylin ist schon lange nichts mehr so, wie es scheint. Als plötzlich auch noch die neue Mitstudentin Alice auftaucht und Maylin von dem mysteriösen Autounfall ihrer Mutter vor vielen Jahren erzählt, beginnt Maylin ihr zu helfen und will mehr darüber herausfinden. Dabei stoßen die beiden nicht nur auf die unnahbare Fassade von Maylins Vater Warren, sondern auch auf düstere Abgründe hinter den Mauern des Madfield-Anwesens. Können die beiden Frauen es schaffen, das Geheimnis des Unfalls zu lüften?

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Kurzbeschreibung: Im Hause Madfield gibt es nichts, was man sich noch wünschen könnte. Doch für Warren Madfields Tochter Maylin ist schon lange nichts mehr so, wie es scheint. Als plötzlich auch noch die neue Mitstudentin Alice auftaucht und Maylin von dem mysteriösen Autounfall ihrer Mutter vor vielen Jahren erzählt, beginnt Maylin ihr zu helfen und will mehr darüber herausfinden. Dabei stoßen die beiden nicht nur auf die unnahbare Fassade von Maylins Vaters Warren, sondern auch auf düstere Abgründe hinter den Mauern des Madfield-Anwesens. Können die beiden Frauen es schaffen, das Geheimnis des Unfalls zu lüften?

Jennifer Lillian

Das Geheimnis um die Madfield Tochter

 

Roman

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2021 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Jennifer Lillian

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Designomicon, München.

Lektorat: Vera Baschlakow

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-395-3

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5 - 27 Jahre früher

Kapitel 6 - 27 Jahre früher

Kapitel 7 – 27 Jahre früher

Kapitel 8 – 27 Jahre früher

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12 – 27 Jahre früher

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18 – 26 Jahre früher

Kapitel 19 – 26 Jahre früher

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26 – 26 Jahre früher

Kapitel 27 – 26 Jahre früher

Kapitel 28 - 26 Jahre früher

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32 – 26 Jahre früher

Kapitel 33 – 25 Jahre früher

Kapitel 34 – 24 Jahre früher

Kapitel 35 - 23 Jahre früher

Kapitel 36 – 23 Jahre früher

Kapitel 37 – 23 Jahre früher

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Prolog

Sie saß schon eine Weile draußen und ließ den frischen Frühlingswind durch ihre langen braunen Haare wehen. Dass ihr dabei immer wieder ein paar Strähnen ins Gesicht fielen, störte Maylin nicht. Zu sehr war sie in Gedanken versunken. Wie so oft war sie in ihren geliebten Garten geflüchtet. Sie blickte auf die mit Wildblumen bewachsenen Felder, die sich in bunten Farben vor ihr erstreckten und von dichtem Wald umgeben waren. Hier fühlte sie sich wohl, wenn ihr im Anwesen hinter ihrem Rücken mal wieder die Decke auf den Kopf fiel. Dann genoss sie die Ruhe hier. Auf einem Stein, der anmutig in die Höhe ragte und von der Sonne erwärmt war. Den Kopf auf die Hände gestützt, seufzte Maylin. Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ihr Vater ihr besonders zu schaffen machte. Sie liebte ihre Familie, jedenfalls das, was man als Familie bezeichnen konnte. Immerhin gab es ihren Dad, ihren Bruder Nicholas und sie - Maylin. Doch Nick war nicht zu Hause, da er gerade ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei in London absolvierte und seine freie Zeit damit verbrachte, auf Partys zu gehen und zu feiern. Hauptsache, er konnte sein Leben weit weg von zu Hause leben. Dafür beneidete Maylin ihren jüngeren Bruder öfter, als sie sich eingestehen wollte. Ihre Mutter hatte sich schon von allem losgesagt, als sie noch ganz klein gewesen war. Und nicht zuletzt wurde ihr bester Freund Glen, der einen großen Teil ihres Herzens einnahm, von ihrem Vater Warren im Hause nicht gerne gesehen. Also musste sie die Launen ihres Vaters allein ertragen, der an stressigen Tagen nicht selten zu cholerischen Anfällen neigte, gepaart mit herablassenden Sprüchen, die mehr Enttäuschung ausdrückten, als sie ertragen konnte.

Als Anwalt war ihr Vater beruflich stark eingespannt und dadurch oft übel gelaunt. Maylin sehnte sich nach einem Familienleben, wie andere es führten. Jedenfalls wie sie es aus dem Fernsehen oder aus Büchern kannte. Waren in diesen wunderbaren Familiengeschichten nicht immer alle glücklich und unbeschwert? Sie konnte nur resigniert seufzen, wenn sie daran dachte, dass sie häufig vom Gefühl überwältigt war, aus diesen Fängen nicht entfliehen zu können. Tagein, tagaus der gleiche Trott. Aufstehen, in die Uni fahren, lernen, lernen und noch mehr lernen, um am Abend ihren Vater doch wieder zu enttäuschen. Ob es mit ihren Leistungen an der Uni zu tun hatte, war an ganz launischen Tagen ihres Vaters egal. Wenn er einen Grund suchte, dann fand er auch einen.

Es war nicht immer alles schlecht, und auch wenn ihr Vater herrisch war, so liebte sie ihn - keine Frage. Doch diese Anspannung, die selbst an unbeschwerten Tagen wie ein dunkler Schatten durch die Wände des Anwesens zog, machte ihr immer mehr zu schaffen. Maylins Leben war nicht so schlimm, wie sie es sich manchmal ausmalte. Sie besuchte eine sehr gute Universität und studierte Jura, um eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und die Kanzlei gemeinsam mit ihrem Bruder zu führen – wenn dieser daraus keine Diskothek machte. Sie lebte in einem traumhaften Anwesen im schönen England. Sie hatte ein paar Freunde und war in allem, was sie tat, recht erfolgreich. Außerdem hatte sie Glen, dessen Freundschaft zu ihr, trotz ihres störrischen Vaters, unerschütterlich war. Oftmals trauerte sie um die verpassten Stunden mit ihm, wenn sie daran dachte, wie viel Zeit die beiden gemeinsam verbringen könnten, wenn er hier willkommen gewesen wäre. Doch immer wieder mussten sie sich außerhalb des Grundstückes treffen, damit sie den missbilligenden Blicken und Bemerkungen ihres Vaters entgehen konnten. Nur wenn Warren geschäftlich unterwegs war, hatten sie viel Zeit füreinander, auch wenn Maylin wusste, dass Glen sich oft unbehaglich in ihrem Zuhause fühlte. Das lag vor allem daran, dass Warren manchmal eine Dienstreise abbrach und völlig unerwartet zu Hause aufschlug. Daher wurden die Treffen meistens in Glens spartanische Wohnung oder an den See ein paar Meilen außerhalb der Stadt verlegt.

Heute hatte Warren seine Tochter besonders auf dem Radar, denn Maylin hatte eine Abgabefrist verpasst und musste somit eine Hausarbeit zum Thema Staatsrecht noch einmal komplett neu schreiben. Neuer Abgabetermin, neues Thema. Für ihren Vater eine wahre Tragödie. Dabei erlaubte sie sich niemals einen Fehler. Sie gab immer alles fristgerecht an die Professoren weiter und schnitt überdurchschnittlich gut in den Klausuren ab. Ein Fehler und ihr Vater machte ihr die Hölle heiß. Sie schwor sich, niemals wieder einen Abgabetermin zu vergessen. Maylin richtete sich etwas auf und atmete tief ein und wieder aus. Noch zwei Mal und dann war alles wieder gut. Das war ihre Art, mit dem Ärger und dem Frust umzugehen. Draußen vor sich hin zu grübeln, ein paarmal tief durchzuatmen und die schlechten Gedanken zu verscheuchen.

„So schlimm ist alles gar nicht“, sagte sie zu sich selbst wie ein Mantra, stand auf und streckte sich. Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Landschaft, die so friedlich dalag, dass es sie innerlich schmerzte, wieder ins Haus zu gehen. Aber es musste eine Hausarbeit geschrieben und der häusliche Frieden zumindest für eine Weile wiederhergestellt werden. Sie zog ihren blauen Cardigan enger, da der Wind zu dieser Jahreszeit ziemlich frisch war. Ein kleines Abenteuer, dachte Maylin, irgendetwas Erfrischendes, das sie aus dem alltäglichen Trott herausholen würde, wäre ihr jetzt sehr willkommen. Eine kleine Nebensächlichkeit, die den Alltag nicht zwangsläufig auf den Kopf stellen, aber ihm ein bisschen mehr Würze verleihen könnte. Vielleicht musste sie einfach nur empfänglicher für etwas Neues in ihrem Leben sein. Einen festen Freund vielleicht oder eine enge Freundin. Gedankenverloren ging sie den Kiesweg entlang, der zur Hinterseite des Madfield-Anwesens führte. Dass sie ihrem Abenteuer schon näher war als sie dachte, ahnte Maylin in diesem Moment noch nicht.

Kapitel 1

Schnell lief sie in ihr Zimmer im ersten Stock und stolperte beinahe, als sie einen Fuß leise, aber in eiligem Tempo vor den anderen setzte. Doch ihr Plan ging natürlich nicht auf. Ihr Vater Warren schien eine Funkortung zu haben, wann immer es darum ging, seine sich ins Haus schleichende Tochter abzufangen. Maylin hatte erst drei Stufen hinter sich gebracht, da tauchte er aus dem Wohnzimmer direkt neben der Treppe auf. Noch so ein Talent, was sie häufig verfluchte: sein geräuschloses Umherwandeln. Plötzlich stand er hinter ihr. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie er es schaffen konnte, sich so lautlos zu bewegen. Es war beinahe, als würde er schweben!

„Maylin“, sagte er. Sein Ton verriet, dass er wegen irgendetwas aufgebracht war, und Maylin ahnte bereits, dass es mit ihrer versäumten Hausarbeit zu tun haben musste.

„Hi Dad“, brachte sie in wesentlich versöhnlicherem Ton hervor und drehte sich noch auf der Stufe zu ihrem Vater um. Sie grinste unschuldig, doch ihr Lächeln erstarb, als sie ihren Vater erblickte. Warren stand da im dunkelgrauen, maßgeschneiderten Anzug und richtete sich seine Manschettenknöpfe an den Ärmeln. Sein Blick wie immer ernst und undurchdringlich.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg zu einem Mandanten. Wie sieht dein heutiger Ablauf aus?“

Maylin deutete mit dem Finger hinter sich in Richtung Zimmer. „Gerade wollte ich mich um ein paar Dinge für die Uni kümmern.“

„Wie weit bist du mit deiner Hausarbeit zum Thema Staatsrecht?“, fragte Warren, ohne auf Maylins Aussage einzugehen.

„Nun, ich … es gibt noch ein paar Details, die ich recherchieren muss, aber ich denke, dass ich sie bald fertig habe und abgeben kann.“ Maylin rang sich ein zaghaftes Lächeln ab, um ihren Vater ein wenig zu besänftigen.

„Das möchte ich auch meinen, Maylin. Es ist ja schon unglaublich, dass du sie überhaupt noch einmal neu schreiben musst! Du kannst von Glück sagen, dass ich ein so gutes Wort für dich bei deinem Professor eingelegt habe. Wer weiß, wie das Ganze sonst ausgegangen wäre. Du solltest dich in Zukunft mehr bemühen, deine Termine einzuhalten. Ich habe dir doch zu Weihnachten den Terminplaner geschenkt.“

„Den ich wirklich benutze.“

„Das hoffe ich doch. Der hat mich ein halbes Vermögen gekostet. Er soll dir helfen, deine Termine zu koordinieren, und nicht nur schick aussehen.“ Mit dunklen Augen schaute Warren sie an. Seine buschigen Augenbrauen bildeten dabei eine gerade Linie. Warren Madfield wirkte nicht nur durch seine Ausstrahlung respekteinflößend auf andere Menschen, auch seine Mimik konnte selbst seiner eigenen Tochter einen gewaltigen Schauer über den Rücken jagen. Folgsam nickte Maylin, obwohl sie am liebsten ganz andere Töne angeschlagen hätte. „Entschuldige Dad, dass ich dir solche Umstände bereitet habe. Ich setze mich sofort an die Hausarbeit und gebe sie schon am Ende der Woche ab.“ Kaum merklich versuchte Maylin, den Rückzug anzutreten, doch ihr Vater räusperte sich, sodass sie sich nicht traute, ihm den Rücken zuzukehren. Warren schien sich mit dieser Antwort nämlich nicht zufrieden geben zu wollen. Nachdem er seinen Ärmel gerichtet hatte, sah er seine Tochter durchdringend an. „Sobald ich heute Abend daheim bin, möchte ich von dir eine genaue Inhaltsangabe und sämtliche Zusammenfassungen zu deinem aktuellen Stand. Lege dir deine Deadline schon auf zwei Tage vor der eigentlichen Abgabe, denn ich möchte sie vorher genau durchgelesen haben. Noch eine missglückte Arbeit kannst du dir nicht erlauben, und ich möchte sicher sein, dass das, was du einreichst, dem Namen Madfield würdig ist.“

Dann musst du sie wohl selbst schreiben, hätte Maylin beinahe laut ausgesprochen, besann sich jedoch eines Besseren, sonst kam er womöglich noch auf die grandiose Idee, dass sie die Hausarbeit schon heute Abend komplett fertig abliefern sollte, was so gut wie unmöglich war. Daher nickte sie und zwang sich erneut zu einem Lächeln, das gequält wirkte. „Heute Abend gebe ich dir einen Zwischenstand.“

„Gut“, sagte Warren wesentlich sanfter. Sobald er das bekam, was er wollte, konnte er einfühlsam, freundlich und hilfsbereit sein. Das wusste Maylin nur zu gut. Daher wagte sie es auch nicht, sich überhaupt gegen ihren Vater aufzulehnen, sondern sie gehorchte ihm. So konnte der Hausfrieden erhalten bleiben, obwohl sie immer wieder den Drang verspürte, ihrem Vater die Stirn zu bieten. Manchmal brauchte es nicht mehr viel, und sie wäre explodiert. Warren erkannte den missmutigen Blick seiner Tochter und streckte daher die Hand nach ihr aus. Stumm stieg Maylin die paar Stufen zu ihrem Vater hinab und ergriff seine Hand. Ihr fiel auf, dass er sie gerade erst eingecremt haben musste, denn sie fühlte sich weich und noch leicht feucht an. Warren legte die Hände auf die Schultern seiner Tochter und lächelte versöhnlich. „Ich meine das nicht böse, meine Liebe. Das weißt du hoffentlich?“

Maylin lächelte ebenfalls und nickte.

„Mir ist es wichtig, dass du und dein Bruder nicht vom Weg abkommen. Daher muss ich manchmal ein bisschen strenger an die Sache gehen. Eine verpatzte Arbeit ist nicht nur eine verpatzte Arbeit. Nein, vielmehr kann sie sich auf unseren Ruf auswirken. Und was sagt es über jemanden aus, wenn man durch Prüfungen fällt?“ Fragend hob er die Augenbrauen.

„Dass man versagt hat“, beantwortete Maylin seine Frage.

„Richtig. Und du bist eine Madfield, und Madfields versagen niemals! Ich hoffe, dass du das nicht vergisst.“

„Natürlich nicht.“ Wie auch, immerhin predigte er ihr diesen Satz beinahe jeden Tag.

„Sehr gut. So, meine Kleine, ich muss los. Die Mandanten warten nur ungern, wie du weißt. Also, heute Abend möchte ich dann deine Zusammenfassung sehen.“ Er drückte seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn, ehe er nach seiner Aktentasche griff und ohne ein weiteres Wort aus dem Haus marschierte.

Maylin stand noch einen Moment da und starrte vor sich hin. Hatte sie draußen durch den Wind schon leicht gefröstelt, so fror sie jetzt mitten im Eingangsbereich noch mehr. Das Madfield-Anwesen war das, was jeder Mensch wohl als ein Traumschloss bezeichnen würde, doch nicht so Maylin. Alles hier wirkte akkurat aufeinander abgestimmt und perfekt gepflegt. Keine Staubflusen oder schief liegenden Tischdecken, von Krümeln auf dem Fußboden ganz zu schweigen. Das Dienstmädchen Amalia leistete ganze Arbeit. Maylin dachte darüber nach, dass wenn ihr Vater ihr Arbeitgeber wäre, sie ebenfalls niemals zulassen würde, dass auch irgendwo nur ein Staubkorn zu finden sein könnte. Ihr Vater war da peinlich genau. Spätestens in der großen Eingangshalle, die in hellen Pastelltönen gehalten war, blieb den Besuchern der Mund vor lauter Sprachlosigkeit offen. Maylin konnte diesen hallenden und ungemütlichen Eingangsbereich nicht ausstehen. Viel lieber war sie bei Glen, der in seiner kleinen Wohnung am Stadtrand so leben konnte, wie er es wollte. Dort gab es nichts, worüber man ehrfurchtsvoll staunen musste, dennoch war es in seinen wenigen Quadratmetern gemütlich und vor allem zeugten seine vier Wände von Persönlichkeit. Das Madfield-Anwesen glich eher einem Museum, in dem man nichts berühren durfte.

Einatmen, ausatmen. Ein paarmal schluckte Maylin und schloss für einen Moment fest die Augen. Nachdem ihr innerer Ärger verpufft war, ging sie in ihr Zimmer, dem einzigen Raum in diesem Haus, bei dessen Gestaltung sie freie Hand gehabt hatte, und den sie sich mit Lichterketten, Kerzen und kuscheliger Bettwäsche so gemütlich wie nur möglich eingerichtet hatte. Sie packte ihre Tasche und machte sich auf den Weg in die Bibliothek der Universität, immerhin hatte sie eine Hausarbeit zu schreiben.

Kapitel 2

In der Bibliothek war es an diesem Vormittag sehr ruhig. Draußen war es zwar kühl, doch die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen hatten die meisten Studierenden nach draußen gelockt. Maylin nutzte diese Ruhe, um sich voll und ganz auf ihre Hausarbeit zu konzentrieren. Damit sie direkt loslegen konnte, hatte sie sich schon mit passender Literatur ausgestattet. Ein dampfender Becher mit schwarzem Tee stand neben ihr auf dem Tisch. Sie hatte sich gerade in die Arbeit gestürzt, als sie neben sich laute Schritte und ein Poltern hörte. Maylin blickte von ihren Unterlagen auf und beobachtete eine junge Frau, die ungefähr in ihrem Alter – vielleicht zwei Jahre älter ‒ war. Ähnlich wie Maylin hatte sie lange braune Haare. Nur trug sie diese nicht wie die meisten hier ordentlich geflochten oder gekämmt, sondern nachlässig zu einem Knoten gesteckt, aus dem sich ein paar Haare gelöst hatten. Nicht, dass sie dadurch ungepflegt aussah. Vielmehr wirkte sie wie ein angenehmer Kontrast zu den anderen Mädchen hier und auffallend schön. Gerade sammelte sie vom Boden eines ihrer Bücher auf, die sie aufgestapelt auf ihren Armen balancierte. Umständlich türmte sie das Buch wieder auf ihren Stapel und seufzte laut. Maylin konnte den Blick kaum von der jungen Frau abwenden. Sie hatte etwas an sich, das Maylin dazu verleitete, ihr unbedingt helfen zu müssen. Nicht nur ihre verzweifelte und hilflose Art, sondern auch ihre Kleidung weckte Maylins Aufmerksamkeit. Da sie selbst aus gutem Hause kam und ihr Vater ihr immer wieder einprägte, wie wichtig es sei, sich gut nach außen hin zu präsentieren, erkannte sie den Unterschied zwischen Designerkleidung und der Ware aus günstigen Modeketten sofort. Eine locker sitzende Leinenhose, die ihre besten Tage schon gesehen hatte, und ein graues ausgewaschenes T-Shirt. Wie gerne hätte sie die Kleidung mit ihr getauscht. Zwischen all den Studenten hier an der Robertson University war es nur eine Frage der Zeit, ehe sich die Mitstudierenden nach ihr umdrehten.

Als die junge Frau es gerade geschafft hatte, die Bücher weiterzutragen, stieß sie mit einem Fuß gegen einen Abstelltisch und verlor gleich alle Bücher auf einmal. Es schepperte laut, und ein paar Studierende blickten genervt auf. Missmutig aufstöhnend schob sie sich ihre gelösten Haarsträhnen hinter die Ohren, ehe sie sich bückte und verzweifelt versuchte, die Bücher aufzuheben. Mit einem mitfühlenden Lächeln im Gesicht erhob sich Maylin und ging mit schnellen Schritten auf die junge Frau zu. Sie hockte sich neben sie und begann ebenfalls die Bücher einzusammeln.

„Dein erster Tag hier in der Bibliothek?“, fragte Maylin höflich. Überrascht blickte die Unbekannte auf und nickte unbehaglich. „Kann man so sagen. Ich wollte mir nur ein paar Bücher ausleihen, aber so richtig will das nicht funktionieren. Herrje, haben die hier noch nichts von Digitalisierung oder e-Learning gehört?“ Sie hatte eine warme, sanfte Stimme, die zu ihrem freundlich wirkenden Wesen passte.

Maylin lachte auf. „Ich fürchte, da bist du hier an der falschen Universität gelandet, denn diese ist im zwanzigsten Jahrhundert stecken geblieben.“

Die junge Frau nickte wissend. „Das habe ich auch schon gemerkt. Ich meine, sieh dir nur mal die alten Möbel an. Meine Oma hat da einen besseren Geschmack.“

Maylin verkniff sich ein Lachen. „Nicht nur die alten Möbel. Auch die Dunkelheit kann einem hier drin manchmal echt zu schaffen machen“, flüsterte Maylin, um den neugierigen Studierenden um sie herum keinen weiteren Anlass zum Tuscheln zu geben.

„Du solltest dir am Eingang einen Korb nehmen, in den du die Bücher legen kannst. Sie sind zum Tragen viel zu schwer. Wer leiht sich denn auch so viele Bücher zum Staatsorganisationsrecht aus?“ Maylin lachte leise.

Die junge Frau errötete und schaute wieder auf die Bücher. Achselzuckend überblickte sie die einzelnen Titel. „Ich hatte wohl Angst, was zu verpassen. Außerdem muss ich an den blöden Körben vorbeigelaufen sein.“

„Erstes Semester“, schlussfolgerte Maylin.

Die junge Frau nickte.

„Dann sollten diese drei Bücher allemal reichen. Die Lektüre habe ich schon hinter mir. Ich stecke mittlerweile im vierten Semester“, erklärte Maylin und reichte ihr den wesentlich kleineren Stapel.

Dankbar lächelte sie. „Das ist nett von dir. Dann bringe ich die anderen weg.“

„Die kannst du hier ablegen.“ Maylin deutete auf den Abstelltisch, gegen den die junge Frau vor wenigen Minuten gestoßen war. Sie legte die übrigen Bücher beiseite und schaute sie fragend an. „Wie heißt du?“

Maylin wusste nicht wieso, aber irgendwie wollte sie mehr über die Frau mit den rehbraunen Augen erfahren. Ihr schönes Gesicht, ihre Haare und ihre komplette Erscheinung hatten etwas so Herzliches und gleichzeitig Zerbrechliches an sich, dass Maylin sie unbedingt beschützen wollte.

„Alice.“

„Ich bin Maylin. Aber die meisten nennen mich May.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, May“, sagte Alice leise und schaute sich schweigend um. Dabei presste sie ihre Lippen zu einem angespannten Lächeln zusammen. Da Maylin bereits ahnte, dass Alice nicht wusste, wo sie sich am besten hinsetzen konnte, um in Ruhe zu lernen, deutete sie auf ihren Tisch, auf dem noch ihre Unterlagen ausgebreitet waren. „Du kannst dich gerne zu mir setzen, und wenn du möchtest, dann erkläre ich dir ein paar Sachen, falls du etwas wissen musst zum Thema Staatsorganisationsrecht, und vielleicht hören dann die anderen Idioten auf, uns anzustarren.“

„Ich würde liebend gern auf die blöden Blicke der anderen verzichten“, murmelte Alice verlegen, grinste aber kurz darauf. „Das wäre sehr nett von dir. Ich hänge etwas nach, weil ich die letzten beiden Tage gefehlt habe und arbeiten musste, um meine Miete für meine Schuhschachtel von Wohnung zu bezahlen. Jetzt hinke ich komplett hinterher.“

Wieder lächelte Maylin. Alice war definitiv anders als die anderen Studierenden, von denen sie täglich umgeben war. Ihre Kleidung, ihre Ausdrucksweise und vor allem ihre laute Stimme in dem Raum, wo Stille das wichtigste Gebot war.

„Ich schlage vor, wir suchen uns besser einen gemütlicheren Platz, wo wir uns unterhalten können. Wir könnten nebenan in die Cafeteria gehen. Die machen einen sehr guten Tee, und die Scones sind auch nicht schlecht. Und gewöhn dich daran, hier in der Bibliothek stehen blöde Blicke der anderen an der Tagesordnung.“ Maylin packte ihre Sachen zusammen und hängte sich ihre Umhängetasche über die Schulter.

„Da bin ich ja beruhigt“, erwiderte Alice mit einem sarkastischen Unterton, was Maylin erneut ein Lächeln entlockte. Gemeinsam verließen sie die Bibliothek. Maylin strich sich ihre braunen Haare hinter die Schultern, als sie nach draußen traten. Sie schaute Alice von der Seite an. Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, jemanden getroffen zu haben, dem man alle Geheimnisse der Welt anvertrauen könnte. Außer Glen natürlich. Alices Ausstrahlung war es, die Maylin ein gutes Gefühl vermittelte. So ein Gefühl, das man hatte, wenn man sich einer Sache sehr sicher war. Und Maylin war sich sicher. Sie wusste, dass Alice interessant war und mehr hinter ihr steckte als eine verunsicherte junge Frau.

Kapitel 3

„Wahnsinn, die Scones hier sind wirklich gut! Kaum zu glauben, dass ich noch nie in der Cafeteria war“, bedauerte Alice und biss noch einmal herzhaft in ihr Gebäck. Maylin lachte und schüttelte den Kopf. „Das kann ich auch nicht nachvollziehen. Dabei ist das doch das Schönste am Studieren. Tee trinken und Scones essen.“

Alice kaute nachdenklich. „Irgendwie habe ich die Zeit hier an der Uni nur damit verbracht, in die Vorlesungen zu gehen und anschließend nach Hause, um dort alles nachzuarbeiten und zu vertiefen. Heute stand zum Beispiel noch ‚für Lärm in der Bibliothek zu sorgen‘ auf meinem Tagesplan.“

„Unternimmst du nichts mit deinen Kommilitonen oder besuchst irgendwelche Kurse hier in deiner Freizeit?“

Alice schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Das Problem ist, dass mir das Ganze hier nicht so einfach zufällt wie den meisten anderen. Ich habe für dieses Stipendium sehr lange und hart gearbeitet und kann mir nicht erlauben, das alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Außerdem finde ich es schwer, hier Anschluss zu finden, bei all den hochnäsigen Snobs.“ Beschwichtigend hob Alice die Hände. „Davon bist du natürlich ausgenommen.“

Maylin lächelte. Sie erkannte in Alice eine Menge von sich selbst wieder. Lernen, Uni, lernen, Uni. Zu sehr war ihr Vater darauf versessen, dass Maylin etwas aus sich und ihrem Leben machte. Bei Alice schien das ähnlich zu sein, nur dass sie, sobald sie das Stipendium verlor, vermutlich kaum eine Möglichkeit hatte, sich die Studiengebühren zu leisten.

„Wenn du möchtest, kann ich dir bei ein paar Dingen helfen. Ich habe das, wie gesagt, schon alles hinter mir. Wenn man sich erst mal in die Themen reingelesen hat, ist es gar nicht so schwer.“ Zuversichtlich lächelte Maylin und nahm einen Schluck von ihrem Tee.

Alice machte eine abwehrende Geste. „Ich möchte dir wirklich keine Umstände machen. Immerhin hast du mir schon in der Bibliothek geholfen. Ohne dich würde ich dort noch immer durch die Gänge streifen, hätte vermutlich inzwischen dreimal so viele Bücher auf dem Arm und obendrein einen Verweis wegen Ruhestörung.“

„Du machst mir überhaupt keine Umstände. Ich bin ebenfalls ständig in meine Unterlagen vertieft, und manchmal kann das wirklich langweilig sein. Etwas Gesellschaft würde mir sicherlich nicht schaden. Und ein bisschen Wissen auffrischen täte mir auch mal wieder ganz gut. Immerhin muss ich eine blöde Hausarbeit bis zum Ende der Woche abgeben und Staatsorganisationsrecht ist sogar ein kleiner Teil davon.“ Maylin beobachtete Alice über den Rand ihres Bechers hinweg. Nachdenklich zupfte sie an ihrem Fingernagel und kaute auf der Lippe. Auch wenn Maylin sie nicht einmal eine Stunde kannte, hatte sie das Gefühl, sie schon ihr ganzes Leben lang zu kennen. Umso größer war daher ihr Wunsch, sie nicht zu vergraulen, sondern mehr über sie zu erfahren. Normalerweise war Maylin nicht so. Sie hatte Freunde, aber die, die sie hatte, interessierten sich eher für Dinge, auf die Maylin insgeheim keinen Wert legte. Vielmehr könnten ihre Freunde die ihres Vaters sein. Für Warren war die passende Gesellschaft ein wichtiges Aushängeschild, um öffentlich zu glänzen. Er legte Wert auf die Outfits, die die Menschen wählten und das Image, das sie zur Schau trugen. Schlechte Gesellschaft - oder eher unpassende Gesellschaft - durfte es im Hause Madfield nicht geben. Genau dieses leidige Thema hatte sie schon viel zu oft mit ihrem besten Freund Glen erlebt. Und vielleicht war es genau das, was Maylin an Alice so reizte. Eine Person fernab von der Welt, in der sie selbst lebte. Zwar kannte auch Glen Maylins Welt, aber sie hatte nie wirklich eine enge Freundin gehabt, mit der sie sich über Frauensachen und ihre Geheimnisse austauschen konnte. Hin und wieder führte sie Frauengespräche mit dem Dienstmädchen Amalia, aber auch nur dann, wenn ihr Vater nicht in der Nähe war. Vielleicht war Alice also diejenige, mit der sie ebendiese Gespräche führen konnte, die sich nicht um Golf- oder Poloklubs drehten. Normale Gespräche, wie über Männer zu sprechen und herzuziehen, über Sehnsüchte philosophieren - da war sie sich sicher. Aber vor allem über Ansichten sprechen, ohne verurteilt und von irgendwelchen Gästelisten gestrichen zu werden. Sie konnte in Alices Gegenwart einfach sie selbst sein. Unter Frauen.

„Ich kann dir ja sonst ein paar Unterlagen aus meinem ersten Semester geben, und du schaust einfach, was dir davon helfen könnte. Was hältst du davon?“, sagte sie daher, um Alice gegenüber nicht zu aufdringlich zu wirken.

Alice entspannte sich etwas und nickte schließlich. „Na gut. Ein paar Unterlagen von jemanden, der das alles schon durchhat, könnten mir bestimmt weiterhelfen.“

„Dann schlage ich vor, dass wir gemütlich unseren Tee austrinken und danach zu mir fahren, dann kann ich dir ein paar Unterlagen mitgeben, und während du sie durchgehst, arbeite ich an meiner Hausarbeit.“

Alice war insgeheim erleichtert, dass sie jemanden wie Maylin gefunden hatte. Es wäre bestimmt interessant, einen Blick in Maylins Leben zu werfen.

Als sie das Madfield-Anwesen betraten, riss Alice vor Staunen ihren Mund so weit auf, dass Maylin kichern musste. Es war die typische Reaktion, die sie auch erwartet hatte.

„Mund zu, sonst kommen noch Fliegen rein“, scherzte sie.

„Und hier wohnst du?“, wollte Alice ungläubig wissen und schüttelte kaum merklich den Kopf, als sie die Eingangshalle betraten. Achselzuckend nickte Maylin. „Ich weiß, es ist riesig. Aber glaub mir, manchmal sehne ich mich nach etwas Kleinerem. Hin und wieder kommt einem dieses Anwesen wie ein goldener Käfig vor.“

Alice machte ein paar Schritte und sah sich mit großen Augen um. „Das ist einfach Wahnsinn. Mit wie vielen Menschen lebst du hier? Zwanzig?“ Sie trat auf eine antike weiße Anrichte neben der Treppe zu, auf der Fotos in edlen Silberrahmen von einem kleinen Mädchen, einem Jungen mit zerzausten Haaren und einem Mann zu sehen waren, dessen Blick so durchdringend war, dass Alice eilig die Augen vom Bild abwendete und die übrigen Fotografien betrachtete.

Wieder musste Maylin lachen. „Eigentlich leben nur mein Vater und ich hier. Hin und wieder schaut mein kleiner Bruder Nick hier vorbei, und unser Dienstmädchen Amalia wohnt im kleinen Cottage hinter dem Anwesen.“

Ungläubig schaute Alice Maylin an. „Also wohnt ihr hier zu zweit? Ihr könntet hier ein Hotel draus machen und hättet immer noch mehr als genug Platz.“ Sie wandte sich von den Fotos ab und warf nun einen Blick an die Decke, an der ein prunkvoller Kronleuchter hing.

„Wenn du möchtest, führe ich dich später herum und zeige dir alles. Aber erst sollten wir uns die Unterlagen anschauen“, schlug Maylin vor und hoffte, dass Alice nicht zu eingeschüchtert von der Welt war, in der sie lebte. Insgeheim hatte sie sich gewünscht, dass Alice und sie eine Freundschaft aufbauen könnten, frei von Vorurteilen und ohne auf materielle Dinge zu achten.

Alice nickte zustimmend und sah sich weiter mit ehrfürchtigen Blicken um, während sie auf die Treppe zugingen. Gerade noch erhaschte sie einen Blick in das ausladend riesige Wohnzimmer, in dessen Mitte sich zwei sündhaft teure, cremefarbene Sofas gegenüberstanden, als sie eine zarte Stimme hörten.

„Hallo May, du bist schon wieder zurück?“

Maylin blieb am Treppenansatz stehen und lächelte. „Amalia, ich wusste nicht, dass du gerade zu Hause bist. Ja, ich … habe einer Freundin …“, sie deutete auf Alice, wobei es ihr komisch vorkam, sie schon jetzt als Freundin zu bezeichnen, obwohl sie sich doch erst wenige Stunden kannten, „angeboten, ihr ein paar meiner Unterlagen zu geben und diese durchzuarbeiten.“

Amalia warf Alice einen Blick zu und lächelte höflich. „Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Amalia, das Dienstmädchen hier im Madfield-Anwesen.“ Sie trug - ganz so, wie Alice es sich bei einem Dienstmädchen vorgestellt hatte - ein schwarzes, knielanges Kleid mit weißer Schürze und weißer Bluse, die sie bis zum Hals zugeknöpft hatte. Ihre blonden Haare trug sie zu einem strengen Knoten, dennoch wirkte ihr Gesicht freundlich, und ihre zarte Stimme ließ sie etwas zerbrechlich erscheinen.

„Hey, ich bin Alice“, stellte sie sich mit verhaltenem Lächeln vor.

„Freut mich.“ Nickend bedachte Amalia sie mit neugierigen Blicken, was Maylin nicht entging. Amalia war eine herzensgute Person: offen, freundlich und sehr zuvorkommend. Maylin betrachtete sie vielmehr als eine Freundin, eine Vertraute, und nicht wie ein Dienstmädchen. Dennoch wusste Maylin, dass Amalia neben ihrer zuvorkommenden Art begierig auf Klatsch und Tratsch war. Und genauso wie Maylin sich sicher war, dass ihr Vater Alice mit einer Mischung aus Missbilligung und Überheblichkeit begutachten würde, wusste das auch Amalia.

„Wir sind in meinem Zimmer. Würdest du uns vielleicht einen Tee bringen? Das wäre sehr nett, danke“, lächelte Maylin höflich und bedeutete Alice, ihr zu folgen. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, und Alice betrachtete die Gemälde, die sich an der Wand in den ersten Stock ersteckten. Es mussten teure Bilder von namhaften Künstlern sein – Alice kannte keinen davon, da ihre Kunstkenntnisse gleich null waren. Leonardo da Vincis Mona Lisa hätte sie allerdings erkannt!

Sie betraten einen langen Korridor, der sich nach rechts und links ausdehnte. Hier war, ähnlich wie schon unten in der Eingangshalle, alles in hellen Pastelltönen gehalten. Die Stuckleisten über ihren Köpfen gefielen Alice besonders gut, da sie den gesamten Gang noch anmutiger und einem Schloss ähnlicher wirken ließen. Maylin marschierte mit schnellen Schritten voran, und Alice hatte beinahe das Gefühl, als könne Maylin es kaum erwarten, in ihr Zimmer zu kommen. Schon als sie das Haus betreten hatten, wirkte sie nervös und angespannt. Wortlos schritten sie an einigen dunklen Holztüren vorbei, ehe sie noch einmal nach links abbogen und auch hier einige ebensolche Türen passierten. Am Ende des Ganges, als Alice schon glaubte, sich inmitten eines Labyrinths zu befinden, blieb Maylin schließlich stehen und drehte sich zu ihr um. Mit einem Lächeln auf den Lippen deutete sie auf die letzte Tür zur linken Seite.

„Willkommen in meinem Reich“, schmunzelte sie und öffnete mit einem schwungvollen Ruck die Tür. Alice verliebte sich bereits beim Betreten des Raumes in Maylins Zimmer. Es war in zarten Rosétönen gehalten und wirkte mädchenhaft und verspielt. Um die Pfosten ihres großen Himmelbettes rankten sich Lichterketten aus kleinen weißen und rosafarbenen Kugeln. Die Bettwäsche war ebenso verspielt mit gleichfarbigen Punkten.

„Wow“, staunte Alice, während sich Maylin auf das Sofa in der rechten Ecke ihres Zimmers fallen ließ, „das ist ziemlich viel Rosa.“ Sie kicherte und ließ den Blick durch das restliche Zimmer schweifen. Alice wollte alles so genau wie möglich in sich aufnehmen und fühlte sich beinahe wie in einem Museum. Ihr Blick schweifte an dem großen Arbeitsbereich direkt neben der Tür entlang und wanderte weiter zum Bücherregal, welches sich an der kompletten Wand links von ihr erstreckte. Es kam ihr vor, als hätte sie eine fremde Welt betreten. Sie hatte sich schon immer gefragt, wie es wohl war, so zu leben, wie jemand wie Maylin es tat.

Maylin zuckte entschuldigend die Achseln und kaute an ihren Nägeln, während sie Alice beim Bestaunen ihres Zimmers beobachtete. „Was soll ich sagen? Ich mag Rosa, und ich finde zu dem dunklen Arbeitszimmer meines Vaters und dem Familienzimmer, in dem wir zu Abend essen, ist dies hier ein angenehmer Kontrast.“

Alice nickte gedankenverloren und wandte sich schließlich Maylin zu. „Okay, sollen wir starten?“ Maylin nickte, sprang auf und kramte in einem Regal über ihrem Schreibtisch. Schließlich zog sie einen dicken Ordner hervor und drückte ihn Alice in die Hand. Dabei sackten Alices Arme, überrascht von der Schwere des Ordners, leicht nach unten.

„Huch!“, lachte sie auf, „Ich wusste ja nicht, dass du deine Mitschriften in Stein gemeißelt hast.“

Maylin lachte ebenfalls. „Nun ja, das mag daran liegen, dass ich die Angewohnheit habe, alles mitzuschreiben, was die Professoren uns eintrichtern. Angefangen beim Datum, bis hin zu den verabschiedenden Worten am Ende eines Kurses. Vermutlich wirst du nur die Hälfte des Inhalts gebrauchen können.“

Die beiden Frauen machten es sich im Schneidersitz auf dem Boden gemütlich, und Maylin begann, Alice einen Überblick über die Inhalte zu geben. Jedes Mal, wenn Alice überfordert das Gesicht verzog, musste Maylin grinsen. „Das hört sich schwieriger an, als es ist.“

„Das sagst du schon seit der ersten Seite, und bisher verstehe ich nur Bahnhof“, lachte Alice.

„Na dann solltest du vielleicht Bahnhofswärterin werden“, scherzte Maylin.

„Das war neben dem Jurastudium meine zweite Wahl. Ich finde, so eine coole Schaffnermütze würde mir eigentlich ganz gut stehen“, entgegnete sie, und beide brachen in Gelächter aus, als Alice sich auf ihren imaginären Hut tippte.

Zwischendurch brachte Amalia den beiden ihren Tee und verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen wieder aus dem Raum. Selten hatte sie Maylin so mit einer Freundin lachen gehört – außer, wenn die beiden sich in Abwesenheit ihres Vaters in der Küche zusammensetzten, gemeinsam Tee tranken und über dies und jenes plauderten.

Der Nachmittag verging rasend schnell, und überrascht von dem ganzen Stoff, den Alice in sich aufgesogen hatte wie ein Schwamm, lehnte sie sich irgendwann mit dem Rücken gegen das Sofa und schnaufte erschöpft. „Also wenn ich dir etwas sagen darf: Es ist wirklich Wahnsinn, wie du das alles mitschreiben konntest.“

„Das scheint eine peinliche Angewohnheit von mir zu sein“, schmunzelte Maylin und errötete. Dass ihr Vater die treibende Kraft hinter all dem Fleiß war, verschwieg sie Alice allerdings.

„Peinlich würde ich das nicht nennen, sondern eher clever. Meine Mitschriften bestehen aus unscharfen Handyfotos, mit denen ich im Nachhinein ohnehin nichts mehr anfangen kann. Ich vergesse dabei nämlich immer die hilfreichen Notizen.“ Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube, ich sollte meine Arbeitsweise wirklich mal überdenken.“

Maylin klappte ihren Laptop zu, auf dem sie eine halbwegs zufriedenstellende Zusammenfassung ihrer Hausarbeit getippt hatte, und lehnte sich erschöpft zurück. „Ich finde, wir haben für heute genug gearbeitet, oder was meinst du?“

„Ich dachte schon, du fragst nie“, lachte Alice.

Maylin erhob sich und streckte sich der Länge nach. „Was hältst du davon, wenn ich dir jetzt das Haus zeige, bevor mein Va…“

„Maylin?“, erklang es dumpf hinter ihrer Zimmertür, und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Verdammt, was machte denn ihr Vater schon hier? Ohne auf ein Herein zu warten, trat Warren Madfield in Maylins Zimmer und sofort blieb sein Blick an der fremden Frau, die im Schneidersitz auf dem Fußboden saß, haften.

„Hey, Dad. Du bist schon wieder zurück?“, hakte Maylin nach, obwohl die Antwort offensichtlich war. Jetzt galt es, seinen Gemütszustand zu erraten. Doch seinem Blick nach zu urteilen, war er alles andere als erfreut, dass Maylin Besuch hatte. Warren musterte Alice, die sich eilig vom Boden erhob und ihre Kleidung glatt strich. Dann trat sie überschwänglich auf Warren zu und hielt ihm die Hand hin. „Hallo, ich bin Alice Sheffington, eine Kommilitonin von Maylin. Sie sind sicherlich ihr Vater.“ Alice strahlte Warren an, der nur zögernd ihre Hand ergriff. Seine Augen musterten Alices Haare, ihr graues T-Shirt und die locker sitzende Leinenhose. Maylin zählte innerlich die Sekunden, bis ihr Vater eine spitze Bemerkung von sich geben würde, doch er nickte nur matt und ergriff ihre Hand.

„Warren Madfield“, kam es ihm knapp über die Lippen.

„Freut mich“, grinste Alice breit und schaute kaum merklich zu Maylin, in der Hoffnung, dass diese das unangenehme Aufeinandertreffen entschärfen könne.

„Ich habe Alice in der Uni kennengelernt. Sie ist im ersten Semester, und ich habe angeboten, ihr ein paar meiner Unterlagen zur Verfügung zu stellen.“

Warren nickte erneut, ohne etwas zu sagen, und Maylin wusste bereits, dass es ihrem Vater nicht gefiel, Maylin nicht wie erhofft mit der Nase in ihren Büchern vorgefunden zu haben. Aber sei es drum, dachte sie sich. Die Begegnung mit Alice war es allemal wert gewesen, denn sie hatte mit ihr Spaß gehabt wie schon lange nicht mehr.

„Du hast deine Zusammenfassung fertig?“, fragte Warren stattdessen, ohne weiter auf Maylins Erklärung einzugehen.

Mit gespieltem Lächeln nickte sie. „Ja, habe ich. Ich lege sie dir heute nach dem Abendessen vor.“

Alice kaute angespannt auf ihrer Unterlippe und fühlte sich so unerwünscht wie ein Marder auf einem Dachboden.

„Apropos Abendessen, ich dachte, vielleicht möchte Alice ja heute Abend unser Gast sein?“ Maylin wandte sich erst an Alice, dann an ihren Vater, der nur eine Augenbraue in die Höhe zog. Doch ehe er antworten konnte, nickte diese begeistert. „Das ist eine tolle Idee. Ich bleibe gerne zum Essen.“

Maylin war ihrer scheinbar neuen Verbündeten sehr dankbar für die positive Ausstrahlung, die sie in dieses angespannte Gespräch einbrachte, denn so konnte Maylin der miesen Laune ihres Vaters immerhin noch eine Weile entgehen, bevor sie diese mit geballter Kraft zu spüren bekommen würde. Spätestens dann, wenn er ihre Zusammenfassung lesen würde - denn seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er bereit, nach sämtlichen Fehlern zu suchen.

Kapitel 4

Noch während Amalia das köstlich riechende Essen auf dem Tisch servierte, bereute Maylin ihren Vorschlag, Alice zum Essen eingeladen zu haben. Wenn ihr Vater die Macht besäße, mit seinen Blicken anderen Menschen Hörner wachsen zu lassen, dann würde Alice nun aussehen wie ein Ziegenbock. Er machte kein Geheimnis daraus, dass ihm Alices Anwesenheit missfiel und löcherte sie mit Fragen, die sie immer wieder in Verlegenheit brachten. Doch Maylin fand, dass sich Alice erstaunlich gut schlug. Trotzdem war sie in Alarmbereitschaft, um Alice zur Seite zu stehen, wenn diese nicht weiterwusste.

„Und, Alice? Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf? Ihrer Aussprache nach zu urteilen stammen Sie nicht von hier? Eher aus dem Süden Englands, wenn ich raten müsste.“ Sein Blick durchbohrte sie. Er wusste, wenn sie seinen Fragen nicht standhielte, würde sie in diesem Anwesen auch in Zukunft nichts weiter zu suchen haben. Zudem war Maylin bewusst, dass ihr Vater mit Aussprache nicht ihren Akzent meinte, sondern vielmehr ihre Ausdrucksweise. Innerlich verkrampfte sie sich.

Alice schluckte angespannt ein Stück Braten herunter, der ihr unter anderen Umständen viel besser geschmeckt hätte. „Na, da bin ich aber froh, dass Sie nicht raten müssen. Ich komme ursprünglich aus Sethmond. Also gar nicht so weit weg von hier. Meine Adoptiveltern kommen allerdings aus South Lamington, und von dort könnte meine Aussprache herstammen.“

Warren nickte kaum merklich und schob sich eine Gabel in den Mund, ohne den Blick von Alice zu nehmen. „Adoptiveltern?“

Alice kniff einen Moment ihren Mund fest zusammen, sammelte sich kurz und erwiderte seinen wartenden Blick. „Meine leibliche Mutter lebt leider nicht mehr …“

„Das tut mir sehr leid. Verzeihen Sie bitte“, wandte Warren hastig ein. Es schien ihm sichtlich unangenehm zu sein, sich bei Alice entschuldigen zu müssen. Maylin warf ihm einen finsteren Blick zu, den er ignorierte. Alice hingegen hob abwehrend die Hand. „Ist schon okay. Es ist lange her, und ich rede nicht sehr oft darüber. Meine Mutter starb bei einem Unfall, als ich noch ganz klein war, und meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt. Also bin ich bei Adoptiveltern großgeworden. Meine Mutter betreibt einen hübschen kleinen Blumenladen, und mein Dad ist bei einer Reinigungsfirma angestellt.“

Warren schluckte kurz und griff nach seinem Weinglas. „Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahetreten.“ Dann lass es bitte, betete Maylin innerlich, doch Warren sprach wie selbstverständlich weiter. „Aber Blumenladen und Angestellter … und Sie studieren an der Robertson University?“, er lehnte sich leicht zurück und ließ die unangemessene Frage im Raum stehen. Alice wusste, worauf Warren hinauswollte und rang sich ein gequältes Lächeln ab, auch wenn sie ihm wegen seiner bohrenden Fragen am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre.

„Sie fragen sich, wie ich mir die Studiengebühren für diese renommierte Universität leisten kann, richtig?“

Warren lachte überheblich auf. „Nun ja, wenn Sie mich so fragen. Die Studiengebühren sind sehr hoch, und selbst für jemanden mit einer gut gehenden Anwaltskanzlei, wie ich sie betreibe, eine Summe, die ich nicht unterschätzen würde.“

„Nett, dass Sie sich solche Gedanken um meinen Geldbeutel machen“, scherzte Alice, und noch ehe Warren etwas entgegnen konnte, sprach sie weiter. „Ich habe ein Stipendium. Natürlich weiß ich, dass ich mich anstrengen muss und es schwer werden wird, doch dank Ihrer Tochter“, Alice warf Maylin ein freundliches Lächeln zu, „bin ich für das Semester bestens gewappnet. Da ich nebenbei noch in einem Café etwas Geld dazu verdienen muss, bin ich natürlich dankbar für jede Hilfe.“

Warren nickte und bedachte Maylin mit einem vielsagenden Blick. Diese widmete sich jedoch ihrem Essen, das sie bisher kaum angerührt hatte.

Als sie endlich aufgegessen und auch das Dessert schweigend hinter sich gebracht hatten, atmete Maylin erleichtert aus. Alice hatte den bohrenden Fragen ihres Vaters standgehalten, und es war niemand zu Schaden gekommen. Jedenfalls noch nicht, denn Maylin machte sich auf eine Schimpftirade ihres Vaters gefasst, sobald sie wieder unter sich waren.

„Tut mir wirklich leid“, entschuldigte sich Maylin leise bei Alice, als sie gemeinsam die Hofeinfahrt entlang spazierten.

„Ach was, kein Problem! Ich kenne Männer wie deinen Vater. Sie wollen ihre Töchter nur schützen, das ist alles. Und ich weiß, wie ich auf Leute, die aus solch gehobenen Schichten kommen wie du, wirken muss. Immerhin hatte ich nicht die allerbeste Erziehung in den teuersten Schulen.“

„Das ist mir völlig egal und gibt ihm nicht das Recht, dich so auszufragen. Manchmal könnte ich ihn wirklich erwürgen“, brummte Maylin und schluckte ihren Ärger hinunter. Die Luft hatte sich deutlich abgekühlt, und sie zog ihren Strickcardigan enger um sich. „Es ist nicht nur, dass er mit dir so umgeht. Er tut das mit allen Menschen, die ihm nicht passen. Genauso macht er es mit meinem besten Freund Glen. Ich hoffe, ihr werdet euch noch einmal kennenlernen, er ist wirklich toll. Nur mein Vater mag ihn nicht, und daher können wir uns nur sehen, wenn er auf Reisen ist oder wir uns bei Glen treffen.“

Allmählich setzte die Abenddämmerung ein, und Alice warf noch einen letzten staunenden Blick auf das Anwesen hinter ihnen, dessen Fassade mittlerweile von Bodenstrahlern hell erleuchtet wurde. „Keine Sorge, ich lasse mich nicht so leicht verschrecken. Da kann dein Vater noch so viele Fragen stellen, ich habe immer eine passende Antwort. Auch wenn das nicht jedem gefällt, wie meine Mum mir immer wieder einzutrichtern versucht: Du musst aufpassen, was du sagst.“Sie imitierte die Stimme ihrer Mutter und brach dabei in Gelächter aus. Maylin stimmte mit ein und war froh, dass ihr Vater Alice nicht verschreckt hatte. Noch nicht.

„Dann sehen wir uns in der Uni?“, fragte Maylin hoffnungsvoll.

„Natürlich! Immerhin brauche ich doch jemanden, der mir meine Bücher schleppen hilft“, scherzte Alice und schulterte ihre schwere Tasche. „Ich sollte mich besser auf den Weg machen. Wir sehen uns! Und vielen Dank für deine Hilfe.“

„Das habe ich gerne gemacht. Und du bist sicher, dass ich dich nicht fahren soll?“

Alice winkte ab. „Nein, kein Problem. Die Straße runter ist eine Bushaltestelle, und wenn ich mich beeile, erwische ich den Bus noch. Bis dann!“

Maylin schaute Alice noch einen Moment hinterher, ehe sie sich mit schweren Schritten zurück ins Haus schleppte, in dem ihr Vater vermutlich schon auf sie wartete. Es gab Momente, da wünschte sie sich ein anderes Leben. Ein Leben fernab von diesem protzigen Kasten und ihrem kontrollsüchtigen Vater. Und dieser Moment war jetzt, als sie das Anwesen betrat und sich durch das Schließen der Tür verriet, denn nur wenige Sekunden später stand ihr Vater mit einem Glas Brandy in der Hand in der Tür zum Wohnzimmer.

„Du hattest mir eine Zusammenfassung deiner Hausarbeit versprochen.“

Maylin seufzte und nickte fahrig. „Du bekommst sie gleich. Aber musstest du Alice so ausfragen?“

„Alice war unser Gast, und ich habe offenkundiges Interesse an ihr gezeigt. Ich finde nicht, dass daran etwas Verwerfliches ist“, erwiderte Warren mit schief geneigtem Kopf.

„Aber doch nicht, indem du sie nach ihrer finanziellen Situation ausfragst! Sie hat ein Stipendium, und der Rest geht uns nichts an.“

„Natürlich geht es mich etwas an, mit welchen Leuten meine Tochter sich abgibt.“ Warren trank einen Schluck und fixierte seine Tochter, die aufmüpfig zu werden drohte: ihre Haltung war angespannt, ihre Kiefer mahlten. Er hatte Maylin lange nicht so erlebt und war sich sicher, dass es der Einfluss dieser Alice sein musste.

„Mit wem ich mich abgebe, möchte ich mir lieber selbst aussuchen. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich muss die Zusammenfassung ausdrucken.“ Mit bebenden Schultern wandte Maylin sich von ihrem Vater ab und lief mit eiligen Schritten die Treppe hinauf, ehe Warren noch etwas erwidern konnte. Sie war so wütend auf ihn, dass es ihr sogar egal war, ihn vielleicht verärgert zu haben. Sie war alt genug, um sich zu wehren, und wenn es ihr Leben halbwegs erträglicher machte, dann würde sie in Zukunft nicht mehr so streng nach seiner Pfeife tanzen.

Warren hatte sich mit Maylins Zusammenfassung in sein Büro zurückgezogen und blätterte durch die Seiten, ohne diese mit voller Aufmerksamkeit zu lesen. Irgendetwas störte ihn, und das hatte nicht nur mit der Zusammenfassung zu tun, die Maylin ohne Alices Anwesenheit sicherlich besser auf die Beine hätte stellen können. Vielmehr ging es um Alice selbst. Wie hieß sie noch gleich? Alice Sheffington? Warren hatte eine feine Antenne für Menschen, die irgendetwas verheimlichten – immerhin war er lange genug im Geschäft gewesen und konnte Menschen lesen wie ein offenes Buch. Doch bei Alice war es anders. Sie versteckte sich hinter einer Maske, da war er sich sicher. Alice, die vermeintlich neue Freundin seiner Tochter, hatte etwas zu verbergen.

Kapitel 5 - 27 Jahre früher

Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, stand selbstbewusst da und genoss die Aufmerksamkeit, die ihm von seinen Freunden wieder einmal entgegengebracht wurde. Wobei Freunde vielleicht nicht der richtige Ausdruck war. Viele seiner Kommilitonen bezeichneten die Schar um ihn herum üblicherweise als sein Gefolge. Junge, karrierebesessene Männer, die jemanden brauchten, der ihnen sagte, wo es langging. Und wer war dafür besser geeignet als Warren Madfield? Der junge Mann, Anfang zwanzig, mit seinem unschlagbar guten Aussehen. Den rabenschwarzen Haaren, die er seitlich gescheitelt hatte. Der akkurat sitzenden Uniform, bestehend aus einem dunkelblauen Sakko und einer farblich identischen Anzughose, die seinem trainierten Körper schmeichelte, und seinem äußerst charmanten Lächeln. Ebendieses Lächeln ließ die jungen Studentinnen hier auf dem Campus nur so dahinschmelzen. Warren Madfield sah jedoch nicht nur blendend aus und hatte eine dominante Ausstrahlung, er besaß auch Geld – was vermutlich der ausschlaggebende Punkt war, weshalb ihm seine vermeintlichen Freunde zu Füßen lagen. Sie wussten, dass sie durch Warren in die angesagtesten Klubs kamen, und bei seinem Vater, Richard Madfield, mit viel Ausdauer an Lobgesängen gute Chancen auf einen hoch dotierten Job in der Anwaltskanzlei ergattern konnten.

„Komm schon, Warren“, bettelte James, einer der Freunde von Warren, der sich als letzter einen Platz in der Gruppe sichern konnte, „erzähl, wie das Bankett deines Vaters am Wochenende war. Wer war alles da? Und gab es nette Mädchen, denen du Honig ums Maul geschmiert hast?“ James war wohl der Schlimmste von allen, wenn es darum ging, sich einen Platz an der Seite von Warren zu erkämpfen. Immer wollte er alles haarklein von ihm wissen, nur, um es später anderen so zu erzählen, als wäre er persönlich dabei gewesen. Natürlich wusste Warren, dass James seine Geschichten benutzte und sie anderen als die seinen präsentierte, aber es war ihm egal. Irgendwie genoss er es sogar, auf diese Weise angehimmelt zu werden.