Das geschenkte Herz - Margo Wolf - E-Book

Das geschenkte Herz E-Book

Margo Wolf

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Beschreibung

Martina, eine Frau Anfang 40, lebt das Leben wie viele Frauen in ihrem Alter, eingespannt in einem eintönigen Alltag, war auch ihre Ehe nach zwanzig Jahren zu einer Gewohnheit ohne Höhen und Tiefen geworden. Ein schwerer Schicksalsschlag entfremdete die Ehepartner noch weiter, aber dann hat Martina eine Begegnung, die alles ändert und sie muss sich entscheiden...

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Margo Wolf

Das geschenkte Herz

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Das geschenkte Herz

 

Eine Frau muss sich entscheiden…

1.Kapitel

„Ich hoffe, dir gefallen die Blumen, mein Junge“, murmelte Martina, während sie sich aus ihrer knienden Stellung erhob. Sie hatte wie jede Woche frische Blumen ans Grab von Benjamin, von ihr liebevoll Benni genannt, gebracht.

Ihr Sohn hatte, was für einen Jungen ganz ungewöhnlich war, Blumen immer sehr gemocht, hatte ihr sogar gerne im Garten geholfen, ganz im Gegensatz zu Susi, seiner jüngeren Schwester.

Benni war witzig, immer gut gelaunt, sprühte vor Leben. Wenn er einen Raum betrat, mit seinen immer verstrubbelten braunen Haaren und den ebenso braunen, vor Lebenslust strahlenden Augen, übertrug sich seine gute Laune auf alle Anwesenden. In der Schule war er einer der Besten und hatte immer eine Menge Freunde um sich, war bei Mitschülern ebenso wie bei den Lehrern beliebt.

Seine kleine Schwester Susi liebte er vom ersten Tag an abgöttisch und wurde nie müde, mit ihr zu spielen. Selbst als sie sich auseinanderentwickelten, er mitten in der Pubertät steckte, nahm er sich immer Zeit, mit ihr zu spielen oder ihr bei der Hausarbeit zu helfen. Susi dankte es ihm mit einer hingebungsvollen Anhänglichkeit, liebte ihn ebenso wie er sie.

Ja, Benjamin war ein außergewöhnlicher Mensch gewesen, aber er war nicht mehr…

Martina stiegen wie so oft, Tränen in die Augen, richtig geweint hatte sie schon länger nicht, sie hatte gleich nach seinem Tod so viele Tränen vergossen, schwamm geradezu in einem Meer von Tränen, dass sie sich irgendwann ausgetrocknet fühlte, verdorrt, gestorben…wie Benni…

Ein betrunkener Autofahrer hatte mit einem Schlag ein hoffnungsvolles junges Leben zerstört. Nie wird Martina den Tag vergessen, als die Polizei vor ihrer Tür stand. Es war frühmorgens gewesen, Benjamin war mit zwei Freunden gerade auf dem Weg zur Schule, als ein betrunkener Autofahrer in die Gruppe raste. Einer war sofort tot, zwei schwer verletzt und während Benjamins Freund Ritchie mit mehreren Knochenbrüchen davonkam, erlitt er schwerste Kopfverletzungen.

Dann saßen sie im Warteraum des Krankenhauses, Gerhard, Martinas Mann, Susi, ihre Tochter und sie selbst, betäubt vor Schmerz und auch Unglauben, dass ihrer Familie so etwas passieren konnte. Der Anblick ihres blassen Sohnes, unter den vielen lebenserhaltenden Schläuchen fast nicht zu erkennen, hatte sich in Martinas Gehirn gebrannt, so dass sie es immer vor sich sah, sobald sie die Augen schloss.

Der Arzt machte ihnen kaum Hoffnung, zu schwer waren die Kopfverletzungen. Tagelang saß sie am Krankenbett ihres Sohnes, redete mit ihm, beschwor ihn, zu kämpfen, nicht aufzugeben. Gerhard verschloss seinen Kummer in sich, vergrub sich in seiner Arbeit. Susi, die sich allein gelassen fühlte, reagierte mit Trotz und Wut. Aber Martina bekam das alles nicht mit, sie hatte nur Augen für Benni.

Nach fünf Wochen bat ein Arzt sie um ein Gespräch.

„Frau Aurich, ihr Sohn wird nur mehr von den Maschinen am Leben erhalten“, begann er behutsam, „er wird künstlich beatmet und es sind keine Gehirnströme mehr zu erkennen.“

Martina sah den Arzt nur an, sagte nichts.

„Wollen Sie ihm nicht den Frieden geben, den er verdient hätte?“

„Ich verstehe nicht?“ Was wollte der Arzt von ihr?

„Meine Kollegen und ich, wir möchten ihnen den Vorschlag machen“, er räusperte sich, „ob wir nicht die Maschinen abstellen sollten.“

Noch immer starrte Martina den Arzt an, dann begann sie zu begreifen, was der Arzt ihr sagen wollte.

„Sie wollen, dass ich Ihnen die Zustimmung gebe, meinen Sohn zu töten?“ sie sprang auf, „niemals!“

Sie lief aus dem Ärztezimmer und hinein in Benjamins Zimmer, voll Angst, dass die Ärzte inzwischen die Schläuche entfernt hätten. Aber es war alles wie immer, das vertraute Piepen und das Seufzen der Beatmungsmaschine, das zeigte doch, dass er atmete, lebte, oder?!

Am Abend, als Gerhard kam, versuchte auch er, mit ihr darüber zu reden, sichtlich hatten die Ärzte auch mit ihm gesprochen. Immer wieder redeten er und auch die Ärzte auf Martina ein, beschworen sie, Benjamin sterben zu lassen. Und langsam hatten sie Erfolg, Martina hielt stumme Zwiesprache mit ihrem Sohn, verabschiedete sich innerlich von ihm und endlich gab sie die Zustimmung zum Abschalten der Geräte. Aber die Ärzte hatten noch ein Anliegen und baten das Ehepaar Aurich wieder zu einem Gespräch.

„Ihr Sohn ist jung und bis auf die Kopfverletzung in bestem gesundheitlichem Zustand“, erläuterte der Vorstand der Klinik, „seine Organe würden vielen todkranken Menschen helfen. Würden Sie einer Organentnahme zustimmen?“

Nun war es Gerhard, der abwehrend reagierte.

„Sie wollen meinen Sohn wie ein Vieh ausweiden?“ rief er empört, „das lasse ich nicht zu!“

Aber Martina legte ihm eine Hand auf den Arm.

„Gerhard“, sagte sie ruhig, wenn sie sich mal zu etwas entschlossen hatte, zog sie es durch, „du kennst unseren Sohn, seine Ansichten. Er wollte Arzt werden, den Menschen helfen“, Tränen wollten sich an die Oberfläche drängen, „wenn wir die Erlaubnis geben, seine Organe zu spenden, helfen wir ihm, doch noch seinen Wunsch zu erfüllen…irgendwie…“

Gerhard sah sie an, auch seine Augen waren nass.

„Du hast recht“, stimmte er nach einigem Zögern zu.

Und so konnte Benjamin doch noch etwas Gutes tun, posthum den Menschen helfen.

Das Begräbnis erlebte Martina wie im Traum, zu unwirklich war die Vorstellung, dass Benjamin in diesem Holzkasten lag, sie ihn nie wiedersehen, sein Lachen nie wieder hören sollte. Aber dann musste sie ihre Trauer zurückstellen, denn Susi war vor Kummer zerstört, sie verweigerte die Schule, das Essen, alles. Es schien, als wollte sie ihrem Bruder nachfolgen. Martina vergrub ihre Trauer in den hintersten Winkel ihres Gehirns und wandte all ihre Kraft ihrer Tochter zu, um dieser zu helfen. Mit Hilfe einer Therapeutin gelang es ihr schließlich auch, dass sich Susi wieder dem Leben zuwandte und als sie eines Tages ihre Mutter anschrie, dass diese ja gar nicht um Benni trauern würde, da sie sie nie weinen sehen würde, bezeichnete die Therapeutin das als Sieg.

Nie weinen?

Susi hatte keine Ahnung, dass sich Martina Nacht für Nacht die Augen ausweinte und überhaupt nur mit Beruhigungspillen etwas Ruhe fand.

Diese Gedanken gingen Martina wie so oft durch den Kopf, als sie Benjamins Grab verließ und dem Ausgang des Friedhofs zustrebte. Ein junger Mann grüßte sie im Vorbeigehen freundlich. Er war ihr schon öfters aufgefallen, sichtlich trauerte er auch um einen engen Angehörigen, denn üblicherweise waren junge Leute eher selten auf einem Friedhof zu finden. Martina stieg ins Auto, um eilig nach Hause zu fahren, denn Gerhard würde bald kommen und dann musste das Abendessen auf dem Tisch stehen.

Zu Hause! Martina seufzte, ihr zuhause, ein typisches Reihenhaus mit Garten am Stadtrand, war seit Benjamins Tod nicht mehr das, was es früher war. Es war stiller geworden, lebloser. Sie und Gerhard lebten mehr oder weniger nebeneinander her, sie sprachen nicht viel und wenn, dann Alltägliches, nie Persönliches, stritten nicht mal mehr. Das war allerdings schon vor Benjamins Tod so, schon jahrelang.

Angefangen hatte ihre Beziehung wie so viele, verliebt und voller Pläne, beide studierten, wollten hoch hinaus, das Leben genießen und irgendwann, später, sehr viel später, vielleicht einmal Kinder. Aber dann, Martina wusste nicht, wie das geschehen konnte, sie nahm doch die Pille, war sie schwanger.

Entsetzen, Panik, Streit…

Gerhard verlangte die Abtreibung, sie stimmte voll Panik zu, schaffte es dann aber emotional nicht. Gerhard verließ sie und sie versuchte, sich auf ein Leben als alleinerziehende Mutter einzustellen. Ade Studium, ade, schönes Einkommen, ihr Leben würde in Zukunft von irgendwelchen Aushilfsjobs und hin und her hasten zwischen Arbeit und Kindergarten, später Schule, geprägt sein. Trotzdem freute sie sich auf das Kind.

Aber plötzlich, knapp vor der Geburt, war Gerhard wieder da. Er bat sie um Verzeihung und gleichzeitig, seine Frau zu werden. Sie heirateten ganz still nur mit den Eltern zwei Tage vor der Niederkunft und als Gerhard seinen Sohn in den Armen hielt, platzte er vor Stolz und das behielt er bei, er liebte seinen Sohn vom ersten Tag an.

Aber irgendwie war die Luft aus ihrer Beziehung draußen. Sie waren nun Eltern, aber kein Paar mehr. Ohne es je auszusprechen, warfen sie sich gegenseitig vor, durch das Kind ihre Zukunft, so wie sie es sich ausgemalt hatten, zerstört zu haben.

Gerhard machte seinen Abschluss, bekam einen Job in einem internationalen Unternehmen, wo er so nach und nach immer weiter nach oben stieg. Martina, mit abgebrochenem Studium und einem Kleinkind, nahm einen 20Stunden Bürojob an, um etwas zum Einkommen beizutragen und um aus dem Haus zu kommen. Eine Abwechslung gab es, als sie das Haus kauften und einrichteten, nun hatten sie auch noch Bankschulden und das jahrelang. Ihr Leben wurde immer mehr von Routine geprägt, jeder Tag lief gleich ab, jeder Wochentag glich seinem Vorgänger der vergangenen Woche. Gerhard ging freitags immer mit Freunden aus, zum Kegeln, zum Fußball, oder um eben „Männergespräche“ zu führen. Martina vermutete, dass Gerhard sie öfters betrog, aber selbst das berührte sie nicht sonderlich, sie durchsuchte auch nie seine Taschen, es war ihr egal. Auch Martina traf sich hin und wieder mit Freundinnen, aber viel Zeit dafür blieb ihr nicht.

Dann Samstags der Wochenendeinkauf, nachmittags abwechselnd Besuch bei ihren Eltern oder der Schwiegermutter, die jedes Mal durchblicken ließ, dass ihr Sohn etwas viel Besseres verdient hätte, als Martina, die ihm auch noch ein Kind angehängt hatte. Nachts, es war Samstag, Wochenende, kamen noch die ehelichen Pflichten. Auch das war zur Pflicht geworden, für beide, aber auch darüber sprachen sie sich nie aus, doch beide waren insgeheim erleichtert, wenn diese „Samstagspflicht“ mal wegen späten Einladungen oder sonstigen äußeren Widrigkeiten ausfiel. Umso mehr war Martina verwundert, als sie wieder schwanger wurde.

Gerhard freute sich über seine Tochter und verwöhnte die kleine Prinzessin, wie sie auch von ihrem Bruder verwöhnt wurde.

So versuchte Martina wenigstens ihr Glück in der Familie, in ihren Kindern zu finden, war zufrieden mit ihrem Leben, bis ein betrunkener Autofahrer alles zerstörte…

Als sie nach Haus kam, wurde sie überraschenderweise von ihrem Mann erwartet.

„Warst du wieder auf dem Friedhof?“ fragte Gerhard etwas ungehalten.

„Ja.“

Das war ja mal wieder eine nette Begrüßung!

„Da geht sie jeden Dienstag und Freitag hin“, mischte sich Susi ein, „und ich kann dann immer ewig aufs Abendessen warten.“

Ihre Tochter Susi war inzwischen zu einer hübschen Siebzehnjährigen herangewachsen und hatte das etwas hellere honigfarbene Haar ihres Vaters geerbt, dass sie meist zu einem Rossschwanz zusammengebunden trug.

„Du könntest ja inzwischen anfangen, selbst das Essen vorzubereiten, dann würde es schneller gehen“, gab Martina zurück.

Susi riss ihre Augen auf.

„Was? Ich?“ blankes Entsetzen war in ihrer Stimme zu hören.

Mit einem: „Ruf mich, wenn das Essen fertig ist“, verschwand die hilfsbereite Tochter nach oben in ihrem Zimmer und Martina ging seufzend in die Küche. Eigentlich hätte sie von Susi fordern sollen, dass sie ihr hilft, aber sie konnte es ganz einfach nicht. Sie hatte ihrer Tochter gegenüber immer ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht genug um sie gekümmert hatte, als Benjamin starb und ließ ihr deshalb viel zu viel durchgehen.

„Meinst du nicht, dass es schön langsam an der Zeit ist, nicht mehr so viel auf den Friedhof zu rennen?“ war ihr Gerhard in die Küche nachgekommen.

Martina antwortete nicht, sie holte das am Vorabend vorbereitete Abendessen aus dem Kühlschrank.

„Martina, Tinchen, es ist doch schon fast drei Jahre her“, versuchte es Gerhard weiter, „du solltest endlich loslassen.“

Martina hielt in ihrer Tätigkeit inne und sah ihn an. Tinchen hatte er sie schon jahrelang nicht mehr genannt!

„Einer von uns muss ja an ihn denken, sonst verschwindet er ganz!“ erwiderte sie heftiger als sie wollte.

„Du glaubst, ich denke nicht mehr an unseren Sohn?“ unwillig sah Gerhard sie an, „du hast ja keine Ahnung.“

Er drehte sich um und verließ die Küche.

Martina sah ihm nach, sie wusste, dass er noch immer genauso litt wie sie und eigentlich sollte sie sich bei ihm entschuldigen, aber sie konnte nicht.

Seit Benjamins Tod trennte sie beide eine unsichtbare Mauer und keiner von ihnen war fähig, oder auch Willens, diese zu durchbrechen.

Später beim Abendessen unterhielten sie sich über Belangloses, so als hätte es das Gespräch in der Küche nicht gegeben. Susi erzählte, dass ihre Klasse einen Ausflug machen würde und bat um Geld, das ihr ihr Vater sofort großzügig gab.

Nach dem Essen verschwand Gerhard im Wohnzimmer vor den Fernseher und Susi wieder in ihrem Zimmer. Martina steckte ihr Handy in die Jeans und die Ohrstöpseln in ihre Ohren. Während sie die Küche aufräumte, das Essen für den nächsten Tag vorbereitete, sich um die Wäsche kümmerte, unterhielt sie sich mit ihrer Freundin Herta. Das tat sie fast jeden Abend, denn Herta war außer sich vor Sorgen und Kummer. Ihr Mann, seit einiger Zeit arbeitslos, betäubte seinen Frust mit immer mehr Alkohol und obwohl Herta mit aller Kraft versuchte, für sich selbst Arbeit zu finden, hatte sie nach Jahren als Hausfrau praktisch keine Chancen auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt. Zu den Geldsorgen kamen jetzt auch Sorgen um ihren ältesten Sohn. Charly, der im gleichen Alter wie Benjamin und dessen bester Freund gewesen war, driftete immer weiter ab und seine Mutter hatte den Verdacht, dass er nun auch noch Drogen nahm.

Ach, Martina wäre es egal, wenn Benni ein Junkie wäre, wenn er nur noch leben würde! Nein, so zu denken war ungerecht und half ihrer Freundin gar nicht. So versuchte Martina ihrer Freundin, so gut sie konnte, Trost zu spenden, aber diese hörte gar nicht richtig zu, sie wollte eigentlich auch gar nicht getröstet werden, wollte nur von ihrem Frust etwas loswerden.

2. Kapitel

Es war Herbst, regnerisch und kalt, als Martina verspätet zu Benjamins Grab hastete. Dabei übersah sie einen am Boden liegenden Ast und wäre gefallen, wenn sie nicht starke Arme aufgefangen hätten.

„Hoppla“, hörte sie eine freundliche Stimme.

Martina sah auf und sah sich dem jungen Mann gegenüber, dem sie schon öfters begegnet war.

„Danke“, murmelte sie verlegen.

„Haben Sie sich wehgetan?“ fragte der Mann besorgt.

„Nein, dank Ihnen nicht“, gab Martina lächelnd zurück.

„Gut, aber passen Sie auf, jetzt im Herbst kann es durch das Laub ziemlich rutschig sein“, warnte ihr Gegenüber.

„Oh, danke für Ihren Rat, aber das ist nicht der erste Herbst, den ich erlebe“, antwortete Martina belustigt.

„Nun, so viele können es ja noch nicht gewesen sein“, ging der Mann auf ihren Scherz ein.

„Leider mehr, als Sie sichtlich glauben“, seufzte Martina, sie wandte sich zum Gehen, „aber danke nochmals!“

Der junge Mann schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und nickte ihr nur mehr zu, bis auch er sich abwandte.

„Das war aber ein netter junger Mann“, erzählte sie Benjamin wenige Minuten später, während sie die alten Blumen wieder gegen neue austauschte, „er muss auch um jemand trauern, denn ich sehe ihn sehr oft. Wahrscheinlich war es eine Freundin, die er verloren hat, vielleicht auch durch so einen Verrückten…“

So redete sie vor sich hin, erzählte Benjamin, was vergangene Woche passiert war, was seine Schwester so trieb, diese hatte sich Gott sei Dank wieder gefangen und brachte gute Noten nach Hause, hielt so Zwiegespräch mit ihrem Sohn.

Getröstet und gestärkt, wie immer, wenn sie mit ihrem Sohn gesprochen hatte, ging Martina zu ihrem Auto. Als sie es starten wollte, startete zwar das Auto sofort, starb aber gleich wieder ab. Sie probierte es ein paarmal, immer mit dem gleichen Ergebnis, nur dass die Batterie auch noch schwächer wurde.

„Verdammt“, fluchte Martina, kurz erwog sie, Gerhard anzurufen, aber dann fiel ihr ein, dass er übers Wochenende auf einer Geschäftsreise war.

Wer’s glaubt!

Martina fragte nicht nach, aber sie vermutete schon seit einiger Zeit, dass er sie betrog. Wahrscheinlich ließ er es sich gerade in einem Wellnesshotel gut gehen, während sie mit einem kaputten Auto in der Kälte stand.

„Selbst ist die Frau“, macht sie sich Mut und rief den Pannendient an.

„Wir kommen, gnädige Frau“, kam es aus dem Telefon zurück, „aber es ist momentan sehr viel los. Es kann ein bis zwei Stunden dauern, bis wir kommen. Entfernen Sie sich nicht zu weit vom Auto.“

Ja, danke auch!

Genervt beendete Martina das Gespräch und rief noch ihre Tochter an, um ihr zu sagen, dass sie eine Panne hatte und nicht wüsste, wann sie heimkommen würde. Susi maulte zuerst, weil es nun kein Abendessen gab, aber dann fragte sie, ob sie zu ihrer Freundin gehen dürfe und vielleicht gleich dort schlafen?

Martina erlaubte es ihr, denn in diesem Punkt konnte sie sich auf Susi verlassen, auch wenn sie oft aufmüpfig war und patzige Antworten gab, würde sie nie etwas tun, was Martina Sorgen bereiten könnte.

Zuerst blieb Martina im Auto sitzen, aber sie war zu unruhig und so stieg sie aus und ging vor dem Auto auf und ab. Inzwischen regnete es und die feuchte Kälte des trüben Herbsttages kroch unter ihren Mantel. Zu allem Unglück hätte Martina auch nichts gegen eine Toilette. Eine Gestalt schälte sich aus der nebeligen Dämmerung und kam auf sie zu. Beunruhigt überlegte Martina, ob sie Schutz im Auto suchen sollte, als die Gestalt zu sprechen anfing.

„Kann ich Ihnen nochmals helfen?“

Zur Martinas Erleichterung war es die Stimme des jungen Mannes und nun erkannte Martina ihn auch, allerdings war sein Gesicht teilweise von einem dicken Schal vermummt.

„Ich glaube nicht, oder sind Sie Kfz Mechaniker?“ fragte sie ihn mit einem Funken Hoffnung.

„Nein, leider nicht, ich habe von Autotechnik null Ahnung“, bedauerte er.

„Das macht nichts“, winkte Martina ab, „ich habe ohnehin schon den Pannendienst angerufen“, sie seufzte, „allerdings kann es bis zu zwei Stunden dauern, bis er kommt.“

Sie fröstelte bei der Aussicht, hier noch mehr als eine Stunde bei dem Sauwetter ausharren zu müssen.

„Ich kenne ein kleines Café hier gleich um die Ecke“, schlug ihr Gegenüber vor, „was halten Sie davon, wenn ich Sie auf einen Kaffee dorthin einlade, während Sie auf den Pannendienst warten?“

Der Gedanke an ein heißes Getränk ließ Martinas Herz gleich höher schlagen, aber…

„Ich soll vom Auto aber nicht weggehen, haben die am Telefon gesagt“, fiel ihr bedauernd ein.

„Kein Mensch kann von Ihnen verlangen, dass Sie hier in der Kälte ausharren“, widersprach der junge Mann, „legen Sie einen Zettel mit Ihrer Handy Nummer hinter die Windschutzscheibe und der Pannendienst kann Sie dann anrufen.“

Kurz überlegte Martina, aber die Verlockung war zu groß. Sie suchte nach einem Zettel, fand zum Glück in ihrer Tasche einen alten Einkaufszettel (sie sollte wirklich einmal ihre Tasche aufräumen), hatte aber mit der Suche nach einem Stift kein Glück. Schmunzelnd reichte der junge Mann ihr einen Kugelschreiber und verlegen kritzelte sie ihre Telefonnummer auf die Rückseite des Einkaufszettels mit der Bitte, sie zu verständigen.

„So, aber nun kommen Sie, bevor wir uns beide eine Erkältung holen“, forderte der junge Mann Martina auf, hielt aber dann nochmals inne.

„Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit“, sagte er lächelnd und lüftete etwas den Schal, „ich bin Daniel Altenberg“, stellte er sich vor und hielt Martina die Hand hin.

„Martina Aurich“, stellte sich auch Martina vor und ergriff seine Hand.

Es war eine schmale Hand mit langen Fingern, aber der Händedruck war trotzdem angenehm fest.

Daniel Altenberg führte Martina ein paar Schritte weiter zu einem kleinen gemütlichen Café, suchte eine ruhige Ecke aus und half ihr aus dem Mantel, bevor er sich selbst seines Mantels entledigte. Danach nahm er ihr gegenüber Platz.

„Wollen Sie einen Kaffee?“ fragte er, als die Kellnerin zu ihrem Tisch kam.

„Nein danke“, lehnte Martina ab, „ich schlafe ohnehin nicht gut und ein Kaffee würde es nur noch verschlimmern. Ich nehme lieber einen Kräutertee.“

Während Daniel Altenberg bestellte, betrachtete Martina ihn verstohlen. Daniel Altenberg war nicht übermäßig groß und schlank, um nicht zu sagen dünn, denn unter seinem blauen Pullover zeichneten keine nennenswerten Muskeln ab, aber diese muskelbepackten, nackten Oberkörper, die man jetzt überall sah, gefielen Martina ohnehin nicht.

Nicht an den Oberarmen, sondern im Gehirn muss etwas sein! Das hatte schon ihre Mutter gepredigt, als Martina noch ein Teenager war.

Daniel hatte ein blasses, schmales Gesicht mit gerader schmaler Nase und graugrünen Augen, seine dunkelblonden Haare waren mittellang geschnitten und sein markantes Kinn zierte den momentan so beliebten Dreitagebart. Martina fand, dass er ziemlich attraktiv aussah und… unglaublich jung! Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig.

‚Martina, der könnte glatt dein Sohn sein‘, seufzte sie innerlich.

Daniel, der sehr wohl bemerkt hatte, dass Martina ihn taxierte, lächelte.

„Und“, fragte er schmunzelnd, „halte ich Ihrer Prüfung stand?“

Martina wurde rot, aber dann musste auch sie lächeln.

„Man will schließlich wissen, mit wem man zusammen Tee trinkt“, konterte sie, worauf Daniel lachte. Zwei Grübchen tauchten an seinen Wangen auf und seine Augen blitzten schalkhaft. Martina fand, dass er dadurch noch attraktiver aussah, ein Mann, dem die Frauen wahrscheinlich nachliefen!

Sie wusste nicht, dass ihm auch gefiel, was er sah, aber er brauchte sie nicht jetzt betrachten, denn sie war ihm schon seit längerer Zeit auf dem Friedhof aufgefallen.

Martina Aurich war das, was Modedesigner als mollig bezeichnet hätten, aber unter normal Sterblichen noch als schlank galt und vor allem mit den richtigen weiblichen Rundungen ausgestattet. Sie hatte ein ovales Gesicht, umrahmt von braunem Haar, das in weichen Wellen bis zu ihren Schultern fiel, eine zierliche Nase und perfekt gezeichnete Lippen, dazu große tiefbraune Augen, umrahmt von langen Wimpern. Daniel fand, dass Martina Aurich eine sehr schöne Frau war, im besten Alter, er schätzte sie auf höchstens Mitte dreißig, aber über ihren Augen lag ein Schatten der Trauer und Linien von der Nase zu den Mundwinkeln zeugten ebenfalls von Leid.

„Sie sind oft auf dem Friedhof“, versuchte er ein Gespräch anzufangen.

Ein schmerzlicher Schatten flog über das Gesicht der Frau, sie rührte schweigend in der Tasse des inzwischen gebrachten Tees.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht…“, unterbrach er sich verlegen.

„Nein, nein“, Martina versuchte ein Lächeln, „es ist nur natürlich, wenn Sie das fragen, überhaupt, wo wir uns schon öfters dort begegnet sind“, sie holte tief Atem, „es ist mein Sohn…, er wurde von einem betrunkenen Autofahrer umgefahren.“

„Das tut mir leid“, sein Mitgefühl war ehrlich, „es ist bestimmt schrecklich, ein Kind zu verlieren.“

„Ja, ich glaube, es ist das Schrecklichste, was einem passieren kann“, nickte Martina, „Benjamin war so lebenslustig, hatte noch so viel vor, er wollte Arzt werden…“, sie brach ab und sah Daniel an.

„Was ist mit Ihnen, um wen trauern Sie?“ versuchte sie von sich abzulenken.

„Ich trauere um Niemanden“, antwortete Daniel.

„Aber warum sind Sie dann so oft auf dem Friedhof?“ fragte Martina verwundert, sah sie ihn doch fast jedes Mal.

„Ich bin Maler und immer auf der Suche nach passenden Motiven“, erklärte Daniel ausweichend.

„Auf einem Friedhof?“ erstaunt sah Martina ihn an, „das müssen aber traurige Bilder sein.“

Martinas Worte zauberten ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Das hier ist ein sehr alter Friedhof mit schönen großen Bäumen“, nun spielte er verlegen mit seiner Teetasse, aber dann sah er Martina offen an.

„Sie haben recht“, sagte er mit fester Stimme, „es gibt noch einen anderen Grund, warum ich immer wieder auf Friedhöfen herumwandere“, er hielt kurz inne, „ich suche jemanden.“

„Entfernte Verwandte?“ neugierig sah Martina ihn an, aber dann errötete sie, „entschuldigen Sie, es geht mich ja nichts an.“

„Keinen Verwandten“, ging Daniel auf ihre Entschuldigung gar nicht ein, er sah sie ernst an, fast kam es Martina vor, als ob er sie prüfen wollte, ob sie für das, was er sagen wollte, vertrauenswürdig genug war, dann räusperte er sich.

„Ich suche die Person, die mir ein neues Leben geschenkt hat“, sagte er und als ihn Martina wieder verständnislos ansah, fuhr er fort, „ich bin sehr krank, also eigentlich war ich sehr krank, schon als Kind. Es war mein Herz, es wollte nie so recht, aber dann wurde es immer schlimmer, ich lag schon im Sterben, als gerade noch zur rechten Zeit ein Spender gefunden wurde und nun“, er lächelte und breitete seine Arme aus, „geht es mir prächtig!“

„Sie haben ein fremdes Herz in sich? In ihrer Brust schlägt wirklich ein fremdes Herz?“ mit großen Augen sah Martina ihn an.

Man las immer wieder, dass es schon eine ganze Menge Leute geben soll, die ein fremdes Herz haben, aber dass sie wirklich jemals einem dieser Menschen begegnen würde, hätte sie nie erwartet.

‚Irgendwo läuft eine Person herum, die Benjamins Herz in sich trägt‘, kam ihr spontan in den Sinn.

„Ja, ich trage das Herz eines Toten in mir“, er lächelte, „ich bin dieser Person und vor allem dessen Verwandten zutiefst dankbar, dass ich durch dessen Herz weiterleben darf, aber…“, ein Schatten flog über sein Gesicht, „der Gedanke, dass jemand erst sterben musste, damit ich weiter leben kann, das belastet mich sehr und ich bin damit nicht allein. Viele Menschen, die mit gespendeten Organen leben, belastet diese Tatsache sehr, ich weiß das, denn ich bin in einem Verein, wo wir über unsere Sorgen sprechen können. Nun wandere ich oft auf Friedhöfen herum, lese Namen und stelle mir vor, dass einer dieser Verstorbenen mir sein Herz geschenkt hat, damit ich weiterleben kann. So versuche ich, mein Schuldgefühl etwas einzudämmen.“

Martina sah ihn lange an, Daniel fürchtete schon, sie würde nun ablehnend reagieren, aber dann…

„Die Organe meines Sohnes wurden auch gespendet“, sagte sie so leise, dass Daniel Mühe hatte, sie zu verstehen, „vielleicht…“

„Ich kenne zwar meinen Spender nicht, aber ich weiß, dass es kein Kind mehr war“, widersprach Daniel Martinas unausgesprochene Vermutung.

„Kind?“ Martina schüttelte irritiert den Kopf, „Benjamin war zwar jung, aber kein Kind mehr, er war 17, fast 18 Jahre alt.“

„Ihr Sohn war 17 Jahre alt?“ wiederholte Daniel verblüfft, „dann müssen Sie aber fast selbst noch ein Kind gewesen sein!“

„Nein, ich war im besten Alter, um Kinder zu bekommen“, antwortete sie schmunzelnd, „oder halten Sie 24 Jahre für zu jung?“

„Nein, ich bin ja nur 3 Jahre älter, aber dann wären Sie ja…“

„43“, Martina hob resignierend ihre Schultern, „auch wenn man Frauen eigentlich nicht nach dem Alter fragt.“

„Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten“, sagte Daniel verlegen, „aber ich habe Sie für wesentlich jünger gehalten.“

„Sind Sie jetzt enttäuscht, dass Sie Ihre Zeit mit so einer alten Schachtel vergeudet haben?“ fragte sie abwehrend.

„Nein, überhaupt nicht“, Daniel grinste, „überhaupt, wenn die Schachtel so schön ist.“

„Oh Sie“, Martina errötete, aber dann musste sie auch lachen.

„Gott sei Dank, ich dachte schon, ich habe Sie jetzt beleidigt“, meinte Daniel erleichtert.

„Nein, keine Angst, ich bin nicht so zimperlich und was ist, ist eben“, winkte Martina ab, sie erhob sich, „entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.“

Das kalte Wetter und der Tee, jetzt verlangte ihre Blase wirklich dringend nach einer Toilette.

Daniel sah ihr nach, hoffentlich hatte er Frau Aurich nicht beleidigt, aber er hatte sie tatsächlich für wesentlich jünger gehalten. Sie war mit ein Grund, warum er sich gerade auf diesem Friedhof öfters aufhielt, hatte sie beobachtet, denn irgendwie fühlte er sich zu dieser Frau hingezogen, wollte sie näher kennenlernen. Das verwunderte ihn, denn er hatte praktisch keine Erfahrung mit Frauen, zuerst war er zu krank dafür, lag meistens im Krankenhaus und danach, nun da musste er lernen, was es bedeutete, zu leben. Lernen, ganz alltägliche Dinge selbst zu tun, kein Pfleger mehr, der ihm Sachen abnahm. Zum Glück musste er nicht arbeiten, denn seine Großeltern hatten ihm eine Villa vererbt, in deren Dachgeschoß er selbst lebte, während die unteren Stockwerke vermietet waren. Die Einnahmen der Mieten genügten, damit er davon leben, und seinem Hobby, dem Malen, nachgehen konnte. Sein Vater, ein angesehener Anwalt unterstützte ihn auch regelmäßig und da er doch immer wieder auch Bilder verkaufte, konnte er ganz gut leben.

Seit er nun ein neues Herz hatte, beschäftigte ihn die Frage, wer der Spender sein könnte und er fing an, auf Friedhöfe zu gehen, nachzusehen, wer in dem fraglichen Zeitraum verstorben war und auch im Alter gepasst hätte. Leider war es zurzeit modern, auf die Gräber ohne jegliche Daten nur die Familiennamen zu schreiben. Das erschwerte seine Suche sehr, machte es fast unmöglich.

Nun hatte ihm Frau Aurich gerade gesagt, dass ihr Sohn ein Organspender war und auch das Alter hätte gepasst, das wusste er von seinem beharrlichen Nachfragen bei der Organspende Zentrale, die aber sonst jede weitere Auskunft verweigert hatten. Das fand Daniel nicht richtig, denn er hätte sich nur zu gerne bei den Angehörigen bedankt, sich irgendwie erkenntlich gezeigt.

Sollte er nun auf eine heiße Spur getroffen sein? Nein, solche Zufälle gab es nicht…oder doch?

Während sie sich die Hände im Vorraum der Toiletten wusch, betrachtete Martina sich im Spiegel.

„Dieser junge Kerl muss blind sein“, murmelte sie vor hin.

Sah er nicht die Falten um ihre Augen? Die scharfen Linien von der Nase zum Mund? Und wenn sie die Stirn runzelte, entstanden ganze Grand Canons darauf! Dass ihre Haare einer regelmäßigen Nachtönung bedurften, konnte er natürlich auch nicht wissen. Und warum hatte ihr Herz vor Freude über sein Kompliment Purzelbäume geschlagen?

‚Weil du seit einer Ewigkeit keines mehr bekommen hast!‘ erinnerte sie ihr Gewissen.

‚Und das hat mir jetzt unheimlich gutgetan!‘ gab sie in Gedanken zurück, sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus und hätte darüber fast gekichert, aber dann seufzte sie, sie war doch kein Teenager mehr!

Als sie zum Tisch zurückkam, hatte Daniel inzwischen bezahlt.

„Sie können natürlich gerne noch etwas bestellen, aber ich dachte mir, dass wir so gleich gehen können, wenn der Mann vom Pannendienst sich meldet“, erklärte er.

Martinas Einwand, dass sie eigentlich zahlen wollte, wischte er mit einer Handbewegung weg.

„Ich habe Sie doch eingeladen“, erinnerte er sie.

Martina wollte etwas erwidern, aber da läutete ihr Handy.

„Wenn Sie nicht hier sind, kann ich Ihnen nicht helfen“, blaffte eine unfreundliche Stimme hinein.

Martina haspelte eine Entschuldigung und beeilte sich, ihren Mantel anzuziehen. Daniel Altenberg half ihr und folgte ihr, während sie zum Auto vorauslief. Dort stand ein älterer Mann mit einem missmutigen Gesicht.

„Wenn wir immer erst warten müssen, bis die Autofahrer auftauchen, kommen wir gar nicht weiter, gnä‘ Frau“, begrüßte er Martina unfreundlich.

Martina wollte sich wieder entschuldigen, aber Daniel, der nun neben ihr stand, unterbrach sie.

„Sie können von der Dame nicht verlangen, dass sie stundenlang in diesem Sauwetter hier wartet“, entgegnete er scharf, „außerdem war sie ja in wenigen Sekunden hier, also kein Grund, sich aufzuregen.“

Der Mann vom Pannendienst taxierte Daniel kurz, murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und wandte sich wieder Martina zu. Er fragte nach dem Grund des Notrufes und war kurz darauf mit dem halben Oberkörper und einer leuchtenden Taschenlampe zwischen den Zähnen unter Motorhaube verschwunden.

„Da haben wir ja den Sünder“, sagte er nach einer Weile zufrieden, nur verstand ihn niemand, da er noch immer die Taschenlampe mit den Zähnen hielt. Er ging zum Pannenfahrzeug, holte etwas und verschwand wieder unter Martinas Motorhaube.

„So“, richtete er sich auf und nahm die Taschenlampe aus dem Mund, „jetzt probieren Sie mal zu starten, gute Frau“, forderte er Martina etwas besser gelaunt auf.

Diese tat wie geheißen und beim dritten Versuch startete der Motor und starb auch nicht mehr ab.

„Da war wieder einmal ein Marder am Werk“, erklärte der Mann vom Pannendienst, „Sie wohnen wohl am Stadtrand?“ und als Martina nickte, fuhr er fort, „das Tierchen hat an ihren Schläuchen geknabbert und die Benzinzufuhr unterbrochen. Ich habe es jetzt provisorisch zusammengeflickt, aber das hält nicht lange. Fahren Sie am Wochenende nicht mehr mit dem Auto und stellen Sie es gleich am Montag in die Werkstätte.“

Während er das erklärte, packte er seine Sachen zusammen und ließ Martina einen Wisch unterschreiben, der bestätigte, dass er an ihrem Auto Hand angelegt hatte. Dann war er auch schon weg.

„Oje“, seufzte Martina, „schon wieder eine Reparatur.“

„Macht das Auto Ihnen öfters Schwierigkeiten?“ fragte Daniel.

„Nein“, Martina lächelte und strich ihrem Auto übers blaue Dach, „das wäre ungerecht. Er läuft und läuft und läuft…, genauso, wie sie es in der Werbung versprechen, aber das große Service ist noch nicht lange vorbei und ich hatte gehofft, eine zeitlang Ruhe zu haben.“

Sie sah Daniel an.

„Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen, wenn Sie schon Ihre Zeit mit mir vergeudet haben?“

„Nein danke“, lächelte Daniel, „ich bin selbst mit so einem Ewigläufer hier. Und Sie sollten auf dem kürzesten Weg nach Hause fahren, damit Sie nicht noch einmal eine Panne haben.“

Er reichte ihr seine Hand.

„Außerdem habe ich meine Zeit nicht vergeudet, ich fand es im Gegenteil sehr nett“, setzte er noch hinzu.

Martina erwiderte seinen Händedruck.

„Mir hat es auch gefallen“, sagte sie leise und errötete wieder allerliebst, wie Daniel fand.

„Dann bis zum nächsten Mal“, nickte er noch und wandte sich zum Gehen.

„Ja, bis zum nächsten Mal“, nickte Martina, „und nochmals danke.“

Sie stieg ins Auto und war erleichtert, als dieses sofort und ohne Schwierigkeiten ansprang. Als sie mit dem unguten Gefühl, dass das Auto jederzeit wieder versagen könnte, nach Hause fuhr, gingen ihr die Worte beim Abschied erst richtig auf.

‚Bis zum nächsten Mal?‘ das klang ja, als hätte sie sich gerade ein Date ausgemacht?!

‚Ja super, auf einem Friedhof! Dieser junge Mann ist erst 27 Jahre alt! Das ist fast eine Generation nach dir! Bilde dir ja nichts ein, der wollte nur höflich sein.‘

Na klar, natürlich würden sie sich dort wieder über den Weg laufen, so wie in den vergangenen Monaten auch.

Als sie wohlbehalten zu Hause ankam, war sie ehrlich erleichtert, aber zugleich fiel ihr ein, dass sie als erstes am Montagmorgen im Büro anrufen und sich den Tag freinehmen musste, denn das Auto fuhr ja nicht allein in die Werkstätte. Zum Glück hatte sie genug Überstunden angesammelt, so dass sie keinen Urlaubstag zu opfern brauchte.

Sie ging automatisch in die Küche, um das Abendessen fertig zu machen, als ihr einfiel, dass außer ihr gar niemand da war. Und für sie tat es auch ein Brötchen, essen am Abend war ohnehin nicht gesund und schlug sich auch sofort an den Hüften nieder! Deshalb aß sie meistens nur das Gemüse und da auch nur wenig, aber heute wollte sie es sich gut gehen lassen.

Einige Zeit später lag sie in der warmen Badewanne, ein kleines Tischchen neben der Wanne mit ein paar kleinen leckeren Brötchen und ein Glas Wein darauf. Schließlich brauchte sie auf den Schreck etwas zur Entspannung! Genussvoll rutschte sie tiefer ins Wasser und schloss wohlig die Augen. Sofort erschien ein Gesicht vor ihrem geistigen Auge, ein Gesicht mit blondem Haar, Grübchen in den Wangen und dem Anflug eines Bartes. Erschrocken riss Martina wieder ihre Augen auf. Nur weil sie seiner Einladung zum Tee gefolgt war, musste er jetzt nicht in ihrem Kopf herumgeistern!

‚Aber er sieht verdammt gut, äh, nein…, nett aus, nicht mehr!‘

„Alte Schachtel, was denkst du da?“ schimpfte sie mit sich selbst, „er ist viel zu jung, fast noch ein Kind!“

‚Ein Kind mit Bart? Das ich nicht lache!‘

„Er beschäftigt mich nur, weil er mit einem fremden Herzen herumläuft“, fuhr sie mit ihrem Zwiegespräch fort, „so wie irgendwo auf der Welt jemand mit Benjamins Herz herumläuft.“

Benjamin…, ach Benni…

Das wohlige Gefühl, dass sie soeben noch hatte, war verschwunden und der schon vertraute Schmerz legte sich wieder über ihr Herz.

Um sich abzulenken, rief Martina ihre Eltern an, um ihnen zu sagen, dass sie am nächsten Tag nicht kommen konnte, da das Auto kaputt war, ihre Eltern wohnten am anderen Ende der Stadt, noch dazu etwas außerhalb, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nur mühsam und langwierig zu erreichen. Ihre Mutter war gleich zutiefst besorgt und Martina hatte eine ganze Weile zu tun, um sie wieder zu beruhigen. Ihr Vater bot ihr sofort sein Auto an, aber das lehnte Martina ab, denn ihre Eltern konnten ohne Auto nicht einkaufen, die Wege wären sonst zu weit. Mit dem Versprechen, gleich Bescheid zu geben, was mit dem Auto sei, konnte sie endlich das Gespräch beenden.

Kaum hatte sie aufgelegt, rief ihre Freundin Herta an und die nächste halbe Stunde brauchte Martina nur hin und wieder „ja, sowas“ und „wie furchtbar!“ sagen. Das Badewasser wurde kalt und sie war müde, wollte ins Bett, da kam ihr eine Idee.

„Herta, Gerhard ist auf Geschäftsreise, Susi bei einer Freundin, was hältst du davon, wenn wir uns morgen einen Mädelstag machen?“ unterbrach sie den Redeschwall ihrer Freundin. Diese stockte.

„Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd, „Hans und die Jungs…“

„Dein Mann kann ruhig mal auf die Buben aufpassen, da ist er wenigstens beschäftigt“, ‚und macht mal etwas anderes als saufen!‘ aber das sagte Martina nicht laut.

„Keine Widerrede, ich hole dich morgen ab“, sagte sie stattdessen.

Martina würde zwar mit dem Bus zu ihrer Freundin fahren müssen, aber wenn sie sie nicht direkt von zu Hause abholt, würde Herta wahrscheinlich gar nicht kommen.

Sie machten sich noch eine Zeit aus und beendeten das Gespräch. Martina rief noch ihre Tochter Susi an, um sie zu fragen, ob sie auch mitkommen wollte. Das war eigentlich nur als Alibihandlung gedacht, vor allem um Martinas schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Tochter zu beruhigen. Wie erwartet lehnte Susi sofort ab und meinte nur kurz angebunden, sie hätte schon etwas mit ihrer Freundin vor. Auf Martinas Nachfrage murmelte Susi etwas von Kino gehen oder so.

Martina stieg aus der Wanne und während sie das Wasser abließ und gleich die Wanne reinigte, sie hasste es, wenn sie am nächsten Tag die eingetrockneten Seifenränder wegputzen musste, lächelte sie vor sich hin. Sie konnte sich schon denken, was bei Susi „oder so“ hieß, wahrscheinlich ging sie nicht nur mit der Freundin ins Kino, sondern mit einer ganzen Gruppe Mädchen und Jungs! Mein Gott, 17 müsste man nochmals sein! Schwärmen für den Klassenschönling, rote Wangen bekommen, wenn er einem ansprach, in den Nächten heiße Tränen des Kummers vergießen, weil er eine andere angelächelt hatte…

Martina seufzte, ihre Freundin Herta hatte den heißbegehrtesten Jungen bekommen, alle beneideten sie glühend und was hatte sie jetzt? Einen ungepflegten, missgelaunten Säufer zu Hause sitzen! Die ehemaligen Mitschülerinnen sollten den guten Hans einmal so sehen! Gut, zumindest schlug er Herta nicht…was für ein Glück aber auch!

Da das Wetter auch am nächsten Tag nicht besser war, fuhren Martina und ihre Freundin in ein großes Einkaufcenter und verbrachten dort einen vergnügten Nachmittag. Martina schaffte es, ihre Freundin von deren Sorgen ein wenig abzulenken, so dass diese immer mehr Gefallen an der ganzen Sache fand. Sie konnte sogar von etwas anderem als ihren Sorgen reden und fragte nach langer Zeit wieder einmal, wie es Martina ging und ob sie den Verlust von Benjamin schon besser verarbeitet hatte. Martina bejahte, gab zu, dass es ihr half, sich mit ihrem toten Sohn in einer Art Zwiesprache zu unterhalten, verschwieg aber das Treffen mit Daniel Altenberg. Martina hatte das Gefühl, dass das zu intim war, es war etwas, das nur ihr gehörte…und Daniel.

Als sie gerade beschlossen hatten, etwas essen zu gehen, lief ihnen Susi mit zwei Freundinnen über den Weg. Susi war zuerst verlegen und sah gar nicht erfreut aus, ihrer Mutter in die Arme gelaufen zu sein, aber als Martina die Mädchen fragte, ob sie auch etwas essen wollten, stimmten sie zu.

Später, als sie alle mit Genuss Pizza aßen, wandte sich eine Freundin an Susi: „Ich weiß gar nicht, was du immer hast, deine Mutter ist doch cool.“

Susi lief rot an und Martina musste lachen.

„Die eigenen Eltern findet man immer peinlich, das war bei mir nicht anders“, sagte sie und Susi wurde noch verlegener.

„Mama, so ist das nicht“, stammelte sie.

„Doch, genauso ist es“, widersprach Martina, „und es geht allen so. Ich bin dir deshalb auch nicht böse.“

Später, als sich Susi und ihre Freundinnen verabschiedeten, umarmte diese spontan ihre Mutter.

„Danke Mama, ich finde auch, dass du cool bist“, sagte sie ihr dabei leise ins Ohr, „zumindest manchmal!“

„Jetzt hau schon ab“, wehrte Martina lachend ab.

„Dein Verhältnis zu Susi ist sichtlich auch wieder in Ordnung“, stellte Herta neidvoll fest, als die Mädchen verschwunden waren, sie hatte neben ihrem Sorgenkind Charly noch zwei Jungs, die gerade dabei waren, sich ihren älteren Bruder als großes Vorbild zu nehmen.

„Ja, aber es war ein langer Weg“, seufzte Martina, „und es ist nicht vorbei, es schwelt noch immer im Hintergrund. Ich habe Fehler gemacht, mich damals zu wenig um Susi gekümmert…“

Herta drückte ihre Hand.

„Mach dir keine Vorwürfe, ihr habt einen furchtbaren Verlust erlitten, es ist ein Wunder, dass ihr es so gut verkraftet habt“, sagte sie mitfühlend.

Martina erwiderte den Druck der Hand ihrer Freundin nur schweigend, sie wollte ihr nicht erzählen, dass Gerhard und sie nurmehr nebeneinander lebten, sich kaum mehr etwas zu sagen hatten.

Als Gerhard Sonntagabend auftauchte, fragte Martina mehr aus Gewohnheit, ob es nett gewesen sei.

„Nett?“ fast empört sah Gerhard sie an, „es war der Ausklang eines erfolgreichen Geschäftsabschlusses und kein Vergnügungsausflug.“

Er ließ sich auf die Couch fallen.

„Die Russen können was von saufen!“ seufzte er, „und dann noch die Nachtclubs.“

„Du warst in einem Nachtclub?“

„Ja, natürlich, ich war ja sozusagen das Kindermädchen für die Geschäftsleute aus Russland. Die wollten unbedingt nach Hamburg auf die Reeperbahn“, er fuhr sich müde über die Augen, „ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Mineralwasser, Bier und Kaffee ich in mich hineingeschüttet habe, während ich an der Bar auf die ehrenwerten Herrn gewartet habe und wahrscheinlich stinke ich auch noch nach dem billigen Parfüm, dass sie dort eimerweise versprühen.“

„Du hast an der Bar auf sie gewartet?“ verblüfft sah Martina ihn an.

„Natürlich, was hätte ich denn sonst…“, Gerhard kniff die Augen zusammen, „du denkst doch nicht etwa…?“

Martina sagte nichts, sah ihn nur an.

„Ich weiß nicht, was du von mir denkst und ob du mir glaubst, aber ich habe dich nicht betrogen und bin in den Nachtclubs nur an der Bar gesessen“, sagte er unwirsch und verließ das Zimmer. Martina blieb noch einen Augenblick sitzen, folgte ihm aber dann ins Schlafzimmer.

„Entschuldige“, sagte sie leise, „natürlich glaube ich dir.“

„Schon gut“, Gerhard winkte müde ab, „es klingt ja auch komisch. Sitzt in einem Bordell und harrt dort an der Bar aus.“

Er schüttelte über sich selbst den Kopf.

„Aber so etwas liegt mir nicht und außerdem will ich mir nicht noch irgendeine Krankheit wegen ein paar Augenblicken des Vergnügens holen.“

Martina wollte noch etwas sagen, hielt aber den Mund.

Gerhard ließ seine Krawatte aufs Bett fallen und dann fragte er Martina, ob sie ein schöneres Wochenende hatte. Sie erzählte ihm, dass ihr Auto eine Panne hatte und sie am nächsten Morgen in die Werkstatt müsse, aber sie hatte den Eindruck, dass Gerhard ihr gar nicht richtig zuhörte. Er verschwand im Badezimmer und kurz darauf hörte sie die Dusche rauschen.

Später im Bett, suchte sie mit ihrer Hand die von Gerhard, strich sanft darüber.

„Tut mir leid Martina“, murmelte Gerhard und entzog ihr seine Hand, „ich bin sehr müde und muss morgen früh raus.“

Damit wandte er ihr den Rücken zu und bald waren seine gleichmäßigen Atemzüge zu hören. Martina lag noch lange wach und dachte nach. Ihr Mann hatte sie also sichtlich nicht betrogen, zumindest behauptete er das, aber hätte er ihr sonst freimütig erzählt, dass er in einem Bordell an der Bar gesessen und gewartet hatte?

Wahrscheinlich nicht.

3. Kapitel

Eine leise Enttäuschung befiel Martina, als sie am Dienstag auf dem Friedhof umsonst nach Daniel Altenberg Ausschau hielt. War es ihm doch unangenehm gewesen, mit einer älteren Frau in einem Lokal zu sitzen und wollte jetzt vermeiden, dass sie noch einmal zusammentrafen? Und warum fühlte sie bei dem Gedanken so eine Enttäuschung? Er war doch nur irgendein junger Kerl!

Sie hatte trotzdem fast Angst, wieder enttäuscht zu werden, als sie am Freitag den Friedhof betrat. Ganz bewusst sah sie nicht nach links oder rechts, sondern steuerte sofort Benjamins Grab an. Kurz stockte sie, als sie jemand dort stehen sah.

„Entschuldigen Sie Frau Aurich“, sagte Daniel Altenberg etwas verlegen, „ich wollte ihre Trauer nicht stören, aber…“

„Sie stören mich nicht“, unterbrach Martina ihn und versuchte, nicht zu erfreut zu klingen.

Ohne dass es ausgemacht war, half Daniel ihr, die Blumen und die kleine Kerze auszuwechseln.

„Würden Sie mit mir wieder einen Tee trinken gehen?“ fragte Daniel, er klang unsicher, so als hätte er Angst, dass Martina ablehnen, (oder zusagen?) könnte.

„Wenn es Ihnen noch immer nichts ausmacht, mit einer Frau, die Ihre Mutter sein könnte, in einem Lokal zu sitzen, nehme ich die Einladung gerne an“, erwiderte Martina und so saßen sie kurze Zeit später wieder in dem kleinen Café. Martina hatte zwar ein schlechtes Gewissen, dass sie nur so kurz am Grab ihres Sohnes war, aber da sie ohnehin fast ständig an ihn dachte, würde er ihr hoffentlich nicht allzu böse sein.

Daniel Altenberg fragte nach ihrem Auto und sie erzählte ihm, dass es nur eine Kleinigkeit war und sie das Auto nach einer Stunde wieder hatte mitnehmen können.

„Sie waren am Dienstag nicht hier“, platzte sie plötzlich heraus, hielt aber dann erschrocken inne, „entschuldigen Sie, es geht mich nichts an, wenn Sie Ihre Zeit besser verbringen als auf einem Friedhof“, stammelte sie eine Entschuldigung.

„Ich wüsste nichts Besseres, als an den Dienstagnachmittagen auf diesem Friedhof zu sein“, Daniels Grübchen vertieften sich, aber dann seufzte er, „ich hatte mir eine kleine Erkältung geholt und da mein Immunsystem nicht das Beste ist, musste ich einige Tage das Bett hüten.“

„Oh, das tut mir aber leid“, ohne sich bewusst zu sein, was sie tat, legte Martina ihre Hand auf seine, die neben seiner Teetasse ruhte, „ich hoffe, dass nicht ich und mein Auto daran Schuld hatten.“

Als ihr dämmerte, was sie da gerade tat, wollte sie rasch ihre Hand zurückziehen, aber Daniel hielt sie fest, hob sie hoch und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen, worauf Martina errötete. Daniel fand, dass sie wie ein junges Mädchen aussah, wie ein bezauberndes, sehr schönes junges Mädchen.

„Sie können an gar nichts Schuld haben“, erwiderte er und setzte leiser hinzu, „Martina.“

Das Rot wollte aus Martinas Gesicht gar nicht mehr verschwinden und nun war Daniel verlegen.

„Entschuldigen Sie“, sagte er hastig, „ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.“

„Sie sind mir nicht zu nahegetreten“, nun lächelte Martina, „wenn ich Sie Daniel nennen darf.“

Daniel nickte erleichtert.

„Darauf sollten wir mit unseren Teetassen anstoßen“, grinste er und als Martina ebenfalls schmunzelnd ihre Teetasse hob, stieß er mit seiner leicht dagegen, worauf beide lachen mussten und die verlegene Situation entspannte sich.

Sie begannen angeregt miteinander zu plaudern, Daniel erzählte, wie er auf die Idee kam, Maler zu werden und Martina erzählte, dass sie eigentlich Medizin studieren wollte, aber dann schwanger wurde und das Studium abbrach.

„Aber viele Frauen studieren auch, wenn sie ein Kind haben“, sagte Daniel etwas erstaunt.

„Hab ich auch versucht, aber drei Jahre später kam noch meine Tochter zur Welt und dann wollte ich bei den Kindern sein und das vereinbart sich nur schwer mit einem Medizinstudium und danach mit den langen Arbeitszeiten als Ärztin“, erklärte Martina, „ich entschied mich für die Kinder und arbeite seither zuerst zwanzig und seit einigen Jahren dreißig Stunden ganz normal in einem Büro.“

Nun entstand zwischen ihnen eine Diskussion, ob eine Mutter ihren Kindern zuliebe auf eine berufliche Karriere verzichten sollte oder nicht. Fast hätte Martina die Zeit vergessen, so dass sie hastig aufbrechen musste.

Ab nun tranken sie regelmäßig gemeinsam einen Tee nach dem Friedhofsbesuch und obwohl Martina es sich nicht eingestehen wollte, sehnte sie bald diese kurzen Stunden nahezu herbei, waren ein Höhepunkt im langweiligen Alltag. Trotz des großen Altersunterschieds waren sie in vielen Dingen einer Meinung und konnten auch über viele Dinge gemeinsam lachen, vermieden aber beide allzu Persönliches. Daniel wollte Martinas Schmerz nicht noch vertiefen, indem er sie über ihren Sohn ausfragte und Martina hatte eine Scheu, ihn zu sehr zu befragen, wie es ist, mit einem fremden Herzen zu leben.

Wieder einmal saßen sie bei Tee zusammen und plauderten, inzwischen waren drei Wochen seit ihrem ersten Treffen vergangen, als Daniel plötzlich ernst wurde.

„Darf ich Sie etwas fragen?“ seine Stimme klang nun unsicher.

„Ja?“ gab Martina ebenso unsicher zurück.

Daniel spielte mit seiner Teetasse, drehte sie hin und her.

„Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich auf der Suche nach meinem Spender bin“, begann er, ohne Martina anzusehen, aber dann hob er den Kopf, „seit Sie mir erzählt haben, dass Ihr Sohn…, dass Sie erlaubt haben, seine Organe zu spenden…“, er schluckte und fuhr dann hastig fort, „naja, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir erlauben, wenn ich in dieser Richtung nachforsche.“

Martina sah ihn lange an, dann wurde ihr Gesicht abweisend, ihre Körperhaltung steif.

„Haben Sie meine Bekanntschaft deshalb gesucht?“ fragte sie unwirsch, der Gedanke, dass er nur so nett zu ihr war, weil er von ihr die Erlaubnis wollte, tat weh.

„Nein!“ antwortete Daniel erschrocken, „wie könnte ich das gewollt haben? Auch auf dem Grabstein Ihres Sohnes steht nur ein Familienname.“

Martina sah ihn forschend, aber dann nickte sie. Ja, es stand nur der Name auf dem grauen Marmor, unpersönlich und sachlich. Benjamins Namen und womöglich auch seine Daten, von Geburt und Tod, nein, das hätte sie nicht ausgehalten!

„Auch bin ich technisch nicht so versiert, dass ich ihr Auto beschädigen könnte, nur um Sie kennen zu lernen“, verteidigte sich Daniel weiter, „erst als Sie von Ihrem Sohn gesprochen haben, kam in mir die Idee auf, dass es möglich sein könnte.“

Noch immer sah Martina Daniel schweigend an, aber zu seiner Verblüffung fing sie dann zu schmunzeln an.

„Kein Wunder, dass Sie sich damals verkühlt haben, wenn Sie bei diesem Sauwetter unter mein Auto gekrochen sind, um ein Kabel anzuknabbern“; sagte sie und ihre Augen glitzerten vor Heiterkeit.

Kurz war Daniels Blick noch verblüfft, aber dann begann er zu lachen.

„Dann hätte ich nicht nur eine Verkühlung, sondern wahrscheinlich auch noch eine Vergiftung davongetragen“, grinste er, froh, dass Martina ihm glaubte.

Martina wurde wieder ernst.

„Ich weiß nicht, wie ich reagieren werde, wenn es tatsächlich stimmen würde“, sagte sie nachdenklich.

„Wir müssen ja nichts überstürzen, Sie können es sich in Ruhe überlegen“, Daniel wollte ihr Zeit lassen, auch wenn er selbst vor Ungeduld brannte. Es war schon viel, dass Martina nicht gleich empört aufgesprungen und davongelaufen war.

Bald darauf verabschiedeten sie sich, denn Martina musste darüber nachdenken.

Und das tat sie in den nächsten Tagen ausgiebig. Wollte sie es wissen? Und wenn Daniel wirklich der Empfänger von Benjamins Herz war, wie würde sie damit umgehen können? Wird sie ihm böse sein, es ihm zum Vorwurf machen, dass er lebte und Benjamin tot war?

Fast hätte Martina heftig den Kopf geschüttelt, aber sie saß gerade mit Gerhard und Susi beim Abendessen und da wäre ihr Kopfschütteln wohl aufgefallen. Nein, sie würde Daniel keine Vorwürfe machen, denn er konnte für Benjamins Tod nichts, aber wird sie dann nicht versuchen, in Daniel Benjamin zu finden? Versuchen, so ihren toten Sohn zurück zu bekommen? Sie wusste es zwar nicht, aber sie konnte es sich nicht vorstellen, denn die beiden waren so verschieden, da gab es überhaupt keine Ähnlichkeit, weder im Aussehen, noch im Charakter.

Sie grübelte und grübelte, sie tat es auch, während sie den Wochenendeinkauf erledigten und auch als sie am Nachmittag bei ihrer Schwiegermutter waren, die wieder einmal unwillig feststellte, dass Martina geistesabwesend war.

„Es haben auch andere Menschen enge Verwandte verloren“, sagte sie unwirsch und spielte damit auf den Verlust ihres Mannes und ihren älteren Sohnes an, der schon an Krebs gestorben war, „aber wir lassen uns nicht so gehen.“

„Mutter, lass Martina, bald ist Benjamins Geburtstag, da ist es für sie immer besonders schwer“, verteidigte Gerhard seine Frau.

„Ja und für dich doch auch“, gab seine Mutter bissig zurück, „wer kümmert sich um dich?“

„Lass es gut sein, Mutter, ich komm schon zurecht“, war seine beiläufige Antwort.

Später im Auto wandte sich Martina an ihn.

„Es tut mir leid“, sagte sie leise, „ich weiß, dass ich mich unvernünftig verhalte, aber…“,

Gerhard drückte ihre Hand.

„Ich verstehe dich ja“, sagte er behutsam, „aber meine Mutter hat recht, du vergräbst dich zu sehr in deiner Trauer, du solltest…“

„Aber das tue ich doch überhaupt nicht!“ fuhr Martina auf, „ich gehe mit Freundinnen aus, ich kümmere mich sehr um Susi, ich mache doch alles wie früher.“

„Ja“, antwortete Gerhard und nach einer Weile, „ja natürlich.“

Martina sah ihn von der Seite an, erst jetzt fiel ihr auf, wie grau er in den letzten Jahren geworden war und auch, dass sein Gesicht von Falten durchzogen war.

„Denkst du noch manchmal an unseren Sohn?“ fragte sie leise.

„Manchmal?“ Gerhard warf Martina einen Seitenblick zu, „ich denke immer an ihn, Tag und Nacht“, setzte er leiser hinzu.

„Entschuldige, das wusste ich nicht“, fühlte Martina ein Schuldgefühl aufsteigen, Schweigen breitete sich aus.

Sie schwiegen noch immer, als Gerhard in ihre Garage fuhr. Er schaltete den Motor aus und wandte sich Martina zu.

„Was wissen wir überhaupt noch voneinander?“, seine Stimme klang traurig, „wir laufen im Alltagstrott nebeneinander her, aber nicht miteinander. Sag mir, was ist mit uns passiert?“

Martina sah ihn lange an.

„Der Alltag ist mit uns passiert“, antwortete sie dann ruhig, „so wie es in fast allen Ehen passiert.“

Einer plötzlichen Eingebung folgend, strich Gerhard Martina mit der Hand sanft über die Wange, strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

„Weißt du, dass du noch immer eine sehr schöne Frau bist?“ fragte er.

Ohja, das hatte ihr jemand erst vor Kurzem gesagt!

„Ich bin 43 und genauso sehe ich auch aus“, gab sie trotzdem abwehrend zur Antwort.

„Danke, dass du mich daran erinnert hast, dass ich ein alter Mann bin“, seufzte der um zwei Jahre ältere Gerhard.

„Also, wenn du dich mit deinen zwei Jahren mehr auf dem Buckel als alten Mann bezeichnest, dann bin ich aber auch eine alte Frau“, erwiderte Martina scherzhaft und musste lächeln.

„Ich wünsche jedem alten Mann so eine alte Frau, wie du es bist“, Gerhard beugte sich zu ihr und küsste sie. Martina war zuerst erschrocken, es war schon Monate her, dass sie sich geküsst hatten und schon gar nicht so!

Im ersten Augenblick wollte sie ihren Mann abwehren, aber dann erwachte ein schon fast vergessenes Gefühl der Erregtheit und sie erwiderte den Kuss, ihre Zungen fingen erst zögerlich und dann immer leidenschaftlicher miteinander zu spielen an. Kurze Zeit später fanden sie sich nackt im Bett wieder und auch das war schon lange nicht mehr passiert, denn oft machten sie sich gar nicht erst die Mühe, Pyjama und Nachthemd ganz auszuziehen.

„Du bist fast noch immer so schön wie früher“, Gerhard legte eine Hand auf ihre nackte Brust, „deine Brüste sind noch genauso, wie damals, als wir uns kennengelernt hatten.“

„Scherzkeks“, murmelte Martina, zwei Kinder und die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen und das wusste sie nur zu gut! Aber sie fand, dass sich Gerhard auch ganz passabel gehalten hatte, er hatte zwar einen kleinen Wohlstandbauch, aber der störte nicht und sein sonstiger Körper war noch immer ganz ansehnlich. Gerhard hatte ihr ohnehin nicht zugehört, er war gerade sehr ausgiebig mit ihren Nippeln beschäftigt und nun zeigte sich, dass sie schon lange nicht mehr miteinander geschlafen hatten, denn durch Martina jagten Schauer der Erregung und sie stöhnte laut auf. Das gefiel Gerhard und er verstärkte sein Tun, seine Hand glitt an Martinas Körper weiter hinunter, zu ihrem intimsten Bereich und er grinste erfreut, als seine Frau reagierte, indem sie ihr Becken anhob und ihre Beine bereitwillig öffnete.

Er hatte es sichtlich doch noch drauf!

Aber dann konnte er sich ebenfalls nicht mehr zurückhalten und er drängte Martinas Beine weiter auseinander, um in sie einzudringen. Heiß umschlossen ihn Martinas Muskeln, zogen ihn noch tiefer hinein.

Verdammt, das tat sooo gut! Warum taten sie es nicht öfter?

Das waren seine letzten vernünftigen Gedanken, dann gab er sich nur mehr seiner Leidenschaft hin. Er stieß zu und das erregende Gefühl stieg noch weiter, Martina reagierte und stieß zurück, bald hatten sie einen Rhythmus gefunden, stiegen in einem Wirbel von Lust und Erregung in höchste Höhen. Mit einem lauten Aufstöhnen, fast einem Schrei gleich, kamen sie beide gleichzeitig und Gerhard sank befriedigt auf Martina zusammen.

„Das war sehr schön“, sagte Martina, nachdem sie wieder ruhig nebeneinander lagen.

Sie schliefen zwar jeden Samstag miteinander, aber diesmal war es anders gewesen, es war spontan und nicht wie die übliche Pflichtübung, die wie der Wocheneinkauf eben auch dazu gehört, aber nicht mehr. Nein, dieses Mal waren sie beide erregt, wollten es wirklich, so wie früher, am Anfang ihrer Beziehung.

„Ja, und wir sollten es öfter machen“, gab Gerhard grinsend zur Antwort.

„Wir sollten so verwegen sein und es vielleicht auch einmal an einem anderen Wochentag probieren“, schlug Martina neckend vor.

„Du wirst ja fast maßlos“, Gerhard hob tadelnd einen Finger, „so richtig verdorben.“

Martina kicherte wie ein junges Mädchen, aber leider wurde Gerhard gleich darauf wieder ernst.

„Unter der Woche frisst mich der Alltag aber auf“, sagte er nun schon müde, „ich glaube, wir belassen es doch bei Samstagnacht.“

Damit drehte er sich um und war bald eingeschlafen. Martina war steif liegengeblieben, natürlich, das hätte sie sich denken können. Der sogenannte Alltag hatte sie soeben wieder eingeholt!

Sie konnte lange nicht einschlafen und ihre Gedanken fingen wieder an, um Benjamin und Daniel zu kreisen, aber sie kam zu keinem Ergebnis. Einerseits wäre sie froh und glücklich, wenn es der nette Daniel wäre, der das Herz ihres Sohnes bekommen hatte, andererseits wusste sie noch immer nicht, ob sie es wirklich wissen wollte.

Am darauffolgenden Dienstag ging sie zum ersten Mal seit Benjamins Tod nicht auf den Friedhof, sondern lief durch die Straßen, ohne zu wissen, was oder wohin sie wollte. Am meisten störte sie, dass sie mit niemanden darüber reden konnte, denn ihre Freundin Herta wollte sie damit nicht belasten und ihre eigene Familie schon gar nicht. Sie war sich nicht sicher, aber sie vermutete stark, dass Gerhard ihr sofort den Kontakt zu Daniel verbieten würde, ja vielleicht sogar rechtliche Schritte erwägen würde, wenn er von Daniels Ansinnen erfuhr.

Während sie sich wieder einmal schlaflos im Bett wälzte, fiel ihr etwas ein. So lautlos wie möglich, erhob sie sich und schlich sich in das Zimmer von Benjamin. Sie betrat den Raum ganz selten, höchstens um Staub zu wischen und es war noch alles so, wie zu seinen Lebzeiten. Susi hatte vor einiger Zeit ganz vorsichtig den Vorschlag gemacht, ob sie nicht dieses Zimmer bekommen könnte, da es größer als ihr eigenes war, aber das hatte Martina brüsk abgelehnt. Noch schaffte sie es nicht, die Sachen Benjamins wegzugeben. Es kostete sie immer sehr viel Kraft, dieses Zimmer zu betreten, auch diesmal sah sie nicht zu dem leeren Bett, als sie den Schreibtisch ansteuerte. Sie machte die kleine Schreibtischlampe an und öffnete eine Lade. Dort lagen fein säuberlich Benjamins Dokumente. Rasch und ohne näher hinzusehen, blätterte sie die Unterlagen durch. Dann hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte.

Sie nahm das weiße Kuvert, setzte sich auf den Schreibtischstuhl und drehte es unschlüssig in ihren Händen hin und her, immer wieder, immer wieder…

Es war ein Brief von dem Organempfänger, geschickt von einer Organisation, die eine Verbindung zwischen dem Empfänger und den Angehörigen des Spenders ermöglichte. Obwohl, Verbindung konnte man es eigentlich nicht nennen, denn bevor so ein Brief weitergeschickt wird, wird er genauestens überprüft und alles, was die Anonymität gefährden könnte, gelöscht. Sie waren damals angeschrieben worden, ob sie so einen Brief erhalten wollten, sie hätten es natürlich auch ablehnen können, doch Martina sagte zu, aber als der Brief kam, schaffte sie es nicht, ihn zu öffnen.

Bis heute…

Was ist, wenn der Brief von Daniel war? Würde sie ihn anhand der geschriebenen Worte wiedererkennen? Aber was ist, wenn der Brief nicht von Daniel war? Wäre sie enttäuscht?

Sie horchte in sich hinein, ja, sie wäre enttäuscht!

Sollte sie ihn öffnen oder nicht?

Ja, nein, ja, nein…natürlich…oder doch nicht…

Sie legte ihn wieder in Lade, ungeöffnet.

4. Kapitel

Als sie den Friedhof betrat, kam ihr ein sorgenvoller, aber auch unsicher blickender Daniel entgegen.

„Ich hatte schon Angst, Sie mit meiner Bitte vom Grab Ihres Sohnes vertrieben zu haben“, sagte er entschuldigend, „das wollte ich nicht. Wenn Sie es möchten, verschwinde ich und Sie sehen mich nie wieder.“

„Nein!“ fast einem Aufschrei kam es, was auf Daniels Gesicht ein Lächeln zauberte.

„Nein, Sie waren nicht der Grund“, fuhr Martina fort, nun lächelte sie auch, „oder doch, natürlich waren Sie der Auslöser. Sie haben mich ein paar schlaflose Nächte gekostet.“

„Oh, das wollte ich nicht, das tut mir leid“, nun war Daniel wieder unsicher.

„Ich möchte Ihnen etwas zeigen, ich will nur vorher meine Blumen loswerden“, ging Martina auf seine Entschuldigung nicht ein.

Sie gingen gemeinsam zu Benjamins Grab, Martina wechselte die Blumen und die Kerze, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, denn die waren ganz woanders. Als sich Daniel zum Gehen wenden wollte, hielt sie ihn zurück.

„Ich möchte Sie etwas fragen.“

„Ja?“ Daniel wandte sich wieder ihr zu.

„Haben Sie einen Brief geschrieben?“

Obwohl Martina nicht mehr sagte, wusste Daniel sofort, was sie damit gemeint hatte.

„Ja“, nickte er, „aber ich habe nie eine Antwort erhalten.“

Martina verharrte kurz, aber dann trat ein entschlossener Ausdruck auf ihr Gesicht. Sie griff in ihre Handtasche und zog ein Kuvert heraus.

„Ich habe ihn nie aufgemacht“, sagte sie leise.

„Sie müssen nicht…“, sah Daniel fasziniert auf das weiße Kuvert.

Es war nicht das, welches er geschickt hatte, aber er wusste, dass die Organisation die Briefe in ganz neutrale Kuverts steckte, um ja keine Spuren zu hinterlassen.

„Es ist ganz und gar unwahrscheinlich, dass das mein Brief ist“, versuchte er alle aufkeimende Hoffnung gleich wieder zunichte zu machen.

„Wenn wir ihn nicht aufmachen, werden wir das nie erfahren“, Martinas Stimme war leise und stockend.

„Nur wenn Sie es wirklich wollen“, wollte Daniel Martina noch eine Chance geben, es rückgängig zu machen.

„Irgendwann muss ich es ja machen“, sie sah Daniel an, „ich wollte ihn nie aufmachen, denn ich wollte meinem Schmerz keine neue Nahrung geben, aber seit ich Sie kenne…, ich habe nie darüber nachgedacht, was der Empfänger empfindet, wie er mit dem Gedanken umgeht, dass ein Mensch erst sterben musste, damit er weiterleben kann. Daniel, ich glaube auch nicht, dass der Brief von Ihnen ist, aber ich möchte dem Organempfänger ein paar Worte schreiben und Sie könnten mir vielleicht helfen, die richtigen Worte zu finden, damit derjenige leichter damit umgehen kann.“

Daniel nickte.

„Sollten wir dazu nicht in das Café gehen?“ fragte er, es war zwar ein schöner, aber auch kalter Tag.

„Nein, ich weiß nicht, ob und wie ich es durchstehe“, erwiderte Martina leise, „und dann die Menschen um uns herum, hier…“, sie deutete auf die Gräber, die wie stille Wächter Reihe um Reihe ausharrten, „…hier sind nur ein paar Grabsteine, die sind Tränen gewohnt.“

Martina drehte das Kuvert wieder in der Hand hin und her.

„Soll ich ihn vorlesen?“ bot Daniel an, sein Herz klopfte vor Aufregung, er wusste, dass die Chance verschwindend gering war, aber es könnte trotzdem sein…

Martina holte tief Atem und öffnete dann entschlossen das Kuvert. Zu ihrer Überraschung tauchte ein zweites Kuvert auf, ebenso weiß, ebenso neutral.

„Die machen es einem auch nicht gerade leicht“, murmelte sie und ohne innezuhalten, öffnete sie auch das zweite Kuvert, zu groß war ihre Angst, dass sie doch noch der Mut verlassen könnte.

Ein maschingeschriebener Brief kam zum Vorschein. Sie sah darauf, aber Tränen verschleierten ihren Blick.

„Wollen Sie, dass ich ihn vorlese?“ bot Daniel nochmals an, auch seine Stimme klang belegt und auch er kämpfte mit den Tränen, zu groß war seine Hoffnung, aber auch seine Angst, enttäuscht zu werden.

Martina schüttelte den Kopf.

„Nein, ich schaffe das schon“, sagte sie, war sich aber ganz und gar nicht sicher. Sie wischte sich über die Augen und hob das Blatt. Leise und stockend begann sie zu lesen:

An die Angehörigen!

Leider kann ich mich Ihnen nicht gebührend vorstellen, darf Ihnen nicht sagen, wer ich bin und was ich mache. Aber ich kann Ihnen mitteilen, was ich fühle:

Dankbarkeit, große, nicht in Worte fassende Dankbarkeit!

Sie haben mir ermöglicht, weiter zu leben, nein, Sie haben mir ermöglicht, überhaupt erst zu leben zu beginnen. Bis zu dem großen Tag bestand mein Leben nur aus einer endlosen Reihe von Krankenhausaufenthalten, am Schluss nur mehr von Maschinen notdürftig am Leben gehalten.

Dann der große Tag, nach dem Erwachen aus der Narkose erstmals ein tiefes Durchatmen möglich, erstmals keine Enge, kein Druck in der Brust spürend, fühlte ich, wie neues Leben mich durchdrang.

Es muss für Sie furchtbar sein, Sie betrauern einen so großen Verlust und ich jubiliere, aber seien Sie gewiss, dass ich mir des Opfers, dass Sie erbracht haben, immer bewusst bin und ich kann Ihnen versichern, dass ich immer in großer Dankbarkeit…“,

„…an Ihren kostbaren Verstorbenen denken werde“, fiel ihr Daniel ins Wort, „und alles tun werde, um derjenigen oder demjenigen keine Schande zu bereiten. Auch wenn ich meinen Vorgänger nicht kenne, werde ich ihn in meinem, nein, unserem Herzen tragen und so versuchen, ihn noch am Leben teilhaben zu lassen. Ich hoffe, Ihnen mit diesem Brief ein wenig Trost spenden zu können, wenn ich Ihnen sage, dass ich jeden Tag genieße und für immer von tiefer Dankbarkeit erfüllt bin.

Leider unbekannterweise liebe Grüße von einem Wiedergeborenen.“

Das war Wort für Wort das gleiche, wie es auch auf dem Papier stand.

Martina starrte Daniel an, er sah auf das Blatt Papier, dann nahm er es aus ihren zitternden Händen, überflog nochmals die Zeilen.

„Er ist wirklich von dir?!“ Martina zitterte wie Espenlaub, Daniel konnte nur nicken, seine Kehle war wie zugeschnürt.

Zögernd, wie in Zeitlupe, legte Martina ihre Hand auf Daniels Brust.

„Benni“, flüsterte sie und da brach der Damm, die Tränen kamen, ließen sich nicht mehr runterschlucken, nicht mehr zurückdrängen. Schluchzend legte sie ihre Wange auf Daniels Brust, genau dort, wo Benjamins Herz schlug. Daniel zögerte zuerst, aber dann schlang er die Arme um sie und hielt sie ganz fest, während ihm selbst die Tränen runter rannen. Martina klammerte sich an ihn, so als suchte sie Halt in einem Sturm, der sie sonst mit sich fort zu reißen drohte.

Sie wussten nicht, wie lange sie so standen, aber so manch anderer Besucher warf ihnen mitleidige Blicke zu. Langsam beruhigte sich Martina wieder und sie trat einen Schritt zurück.

„Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Mantel nass geweint“, sagte sie verlegen.

„Sie? Soeben hast du mich geduzt“, sagte Daniel leise.

„Ich habe dich soeben nassgeweint“, wiederholte Martina und es gelang ihr sogar ein Lächeln.

„Und ich fürchte, dass deine Haare von meinen Tränen nass geworden sind“, gab Daniel zurück, er sah Martina besorgt an, „geht es wieder?“

„Ja, wie geht es dir?“ fragte sie, da brach sie fast zusammen und für Daniel musste diese Nachricht doch ein ebensolcher Schock sein!

„Freudig überrascht, verwirrt, zittrig, aufgeregt“, gab Daniel ehrlich zu, er hatte das Gefühl, dass seine Füße aus Watte waren und gleich den Dienst versagen würden.

„Dann komm, wir brauchen jetzt eine Stärkung“, entschlossen zog Martina ihn zu dem Café. Sie steuerten ihren schon fast Stammtisch an, aber dann bat Martina um Entschuldigung und verschwand in Richtung Toilette, denn sie brauchte ein paar Augenblicke für sich selbst.

Im Waschraum hielt sie sich am Becken fest, um nicht umzusinken.

Dieser junge Mann da draußen trug Benjamins Herz in sich! Sie hatte ein Stück von ihrem Sohn zurückbekommen! Irgendwie lebte er wieder, oder nicht?