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Kuriose Erlebnisse, mal lustig oder spannend, mal anrührend oder peinlich, gesammelt und festgehalten in 50 Storys, eine kurzweilige Lektüre für zwischendurch.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Man erlebt nicht das, was man erlebt, sondern wie man es erlebt.
Wilhelm Raabe (1831-1910)
Doch, das gibt es!
Das kleinere Übel (1936)
Meine kleine Welt (1938/40)
Feucht-fröhlich (etwa 1938)
Erste verstohlene Liebe (1939/40)
Ein Traum von einem Badeanzug (1942)
Ringelblumen (1947)
Die „große“ Versuchung (1950)
Zwickmühle Messestand (1950)
Au Backe! (1952)
Schnuppi (1951-1963)
Wenn einer ein Reise tut … (1960)
Erste Eindrücke
Die Adri-ah!
„Rosamunde“ in Albanien
Wem gehört der Schatten?
Ich de fik?
Handel am Tresen
Fürs kleine Handgepäck
Traum oder Schaum? (1960)
Wer zu schnell ist … (1961)
Verfolgt in Bukarest (1964)
Donna Poppa (1964)
Nur mal gucken (1974)
Kleines Flohmarkt-Geschäft (1977)
Die „Katze im Sack“ (1977)
Dümmer geht’s nimmer! (1978)
Auf eigene Gefahr (70er)
Lady in Blue (1981)
Wo liegt eigentlich Zypern? (1982)
Bückling gefällig? (80er)
Morgenstund‘ … (1984)
Ein Sexualverbrechen? (1985)
Bei Licht besehen … (80er)
Ein „feiner“ Herr! (80er)
Als Untermieter (1975 u. 1990)
Schwarze Katze jagen (1989)
Liebesbeweis (1993)
Die Spree-Hexe (Anfang 90er)
Katze und Igel (1994)
Ein Mord? (etwa 1994)
Selten so gezittert (2006)
Wir retten einen Elefanten (2007)
Nichts geht verloren (2010)
Ein Fehltritt hat Folgen (2010)
Dann ziehen Sie sich mal aus! (2012)
Hallo, hier ist Christine! (2013)
Spatzenmutter oder Spatzenvater? (2013)
Aus heiterem Himmel (2013/2014)
Vom Dach gefallen (2014)
Weniger Füße wären mehr (2015)
Seelöwenstraße? (2015)
Lustige Versprecher, gesammelt
Geschichten kann man erfinden oder aber man hält einfach die fest, die das Leben schreibt. Wie langweilig wäre unser Leben, wenn nicht ab und zu etwas passieren würde! Etwas, das nicht alle Tage geschieht. Es müssen keine weltbewegenden Ereignisse sein, häufig ist es nur ein Moment, ein Satz, der uns zum Lachen bringt, uns sprachlos macht oder Herzklopfen verursacht. Vieles vergisst man oder verdrängt es. Manches bleibt jedoch in unserer Erinnerung, und wenn man in seinem Gedächtnis kramt, kommt so einiges zusammen, was für ein Büchlein reicht. Jeder erlebt solche denkwürdigen Situationen, aber nur die wenigsten halten sie fest, schreiben sie auf und machen sie dadurch unvergesslich.
Die folgenden 50 Kurzgeschichten haben, so unterschiedlich sie auch sind, eines gemein: Sie könnten alle mit den Worten „Das gibt‘s doch nicht!“ überschrieben werden. Chronologisch geordnet, reichen sie zurück bis in meine Kindheit, sind Erfahrungen aus der entbehrungsreichen Nachkriegszeit, viele aus DDR-Zeiten bis hin zu den jüngsten, die gerade mal wenige Jahre zurückliegen.
Von den am häufigsten erwähnten Personen sind neben meiner Mutter auch Many, mein erster Mann, meine ältere Schwester Guni, natürlich Heiner, mein jetziger Mann, sowie unser Sohn Mathias zu nennen, mit denen ich viele dieser Ereignisse teilen durfte. Wenn auch nicht alle hier wiedergegebenen Geschichten für mich im Moment des Erlebens zum Schmunzeln oder gar zum Lachen waren, so tun sie dies im Nachhinein fast alle. Man muss nur Abstand gewinnen. Irgendwann kann man darüber lachen.
In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern gute und vor allem heitere Unterhaltung!
Isa mit Mutti, 1936
„Seid doch mal still! Ganz still! – Habt ihr das auch gehört? Ich glaube, hier spukt‘s!“ – Wir spitzten die Ohren, lauschten. – Tatsächlich, unsere Mutter hatte recht: Es spukte.
Es spukte mal hier, es spukte mal da. Kein Wunder, schließlich wohnten wir in einem Jahrhunderte alten Schloss. Nicht so ganz freiwillig, nein, wir mussten, weil unser Vater im Dezember 1935 gestorben war, unsere Wohnung in Piesteritz räumen und Platz machen für seinen Nachfolger. Aber wohin, wenigstens vorübergehend, bis wir eine neue Wohnung in Piesteritz gefunden hätten?
Aus diesem Grunde sind wir, weil sich so schnell auch nichts Günstigeres anbot, im Schloss von Jessen gelandet, meine Mutter, meine Schwester Guni, die damals acht Jahre alt war, und ich, gerade mal sechs. Wir wurden also echte Schlossbewohner, was sich zwar ganz romantisch und feudal anhört, aber unsere Mutter war arm wie eine Kirchenmaus, denn sie bekam nur eine kleine Pension, und die reichte nicht hin und nicht her für uns drei.
Unser kleines, bescheidenes Schloss hatte einen spitzen Turm, der mit Schieferplatten gedeckt war, und jeder, der da hinaufkam, konnte dort mit einem spitzen, harten Gegenstand seinen Namen einritzen. Viele hatten sich hier schon verewigt. Wir kratzten natürlich auch unsere Namen in eine der Schieferplatten.
Ich war gerade eingeschult worden, hier in Jessen, und hatte bereits ein paar Buchstaben gelernt. Mit dem kleinen „i“ fingen wir damals an, in Sütterlinschrift: rauf, runter, rauf und ein Pünktchen drauf. Das lange „s“ war genauso leicht, und das „a“ fiel mir auch nicht schwer. Mehr als diese drei Buchstaben brauchte ich nicht.
Wenn die Schieferplatten an der Turmspitze seit damals noch nicht erneuert worden sind, könnten unsere Namen dort immer noch zu lesen sein.
Unser Wohnzimmer lag direkt über dem Torbogen. Von unserem Fenster aus konnten wir jeden Besucher beobachten, der kam oder ging. Einmal war es ein Bettler, und der klopfte natürlich auch bei uns an die Tür. Aber das war nicht sein Tag. Er hatte Pech; wir besaßen nämlich nur noch einen einzigen Pfennig, den konnten wir nicht noch teilen. Deshalb verhielten wir uns mucksmäuschenstill und machten gar nicht erst auf. Der hätte dumm geguckt: ein Pfennig!
Das war keine leichte Zeit, vor allem für unsere Mutter nicht. Und zu allem Übel spukte es nun auch noch. Nicht nur nachts, sogar am Tage spukte es irgendwo, vor allem aber im Fensterspind unter dem Küchenfenster, wo wir unsere Lebensmittel aufbewahrten, die wenigen, die wir uns leisten konnten. In unserem Schmalztopf fanden wir häufig verräterische Spuren. An Kühlschränke war damals noch lange nicht zu denken. Wer aber spukte da?
Richtig! Wir stellten mehrere Mausefallen in unserem Speiseschränkchen auf – mit verlockendem Speck. Und während meine Mutter in der Waschküche mit der „großen Wäsche“ beschäftigt war – es gab ja zu der Zeit auch noch keine Waschmaschinen –, saß ich in der Küche, wartete, lauschte und konnte deutlich hören, wie eine Mausefalle nach der anderen zuschnappte. Sofort sorgte ich für Nachschub, und nach etwa einer halben Stunde lief ich in die Waschküche, um meiner Mutter stolz vier tote Mäuschen zu präsentieren.
In dem Schloss wohnten außer uns natürlich auch noch andere Leute zur Miete wie zum Beispiel ein Junge in unserem Alter mit seiner Mutter und außerdem zwei vornehme, etwas betagte Engländerinnen. Diese beiden Damen deckten eines Tages bei schönstem Wetter ihren Kaffeetisch auf dem Schlosshof in der Sonne. Vermutlich hatte eine von ihnen Geburtstag, denn sie deckten für mehrere Personen ein. Sicherlich waren meine und die andere Mutter eingeladen, bestimmt auch die Verwalterin des Schlosses. Das weiß ich heute nicht mehr.
Alles sah sehr hübsch aus. Den runden Tisch habe ich noch vor Augen: in der Mitte der appetitliche frischgebackene Kuchen mit den herrlichen Streuseln und rundherum die kostbaren Kaffeegedecke.
Aber noch bevor auch nur irgendjemand Platz genommen hatte, tanzten zwei Mäuschen zwischen den Kaffeetassen herum und machten sich über den verlockenden Kuchen her. Die feinen Damen waren natürlich entsetzt, fuchtelten wild mit den Armen herum und mochten absolut nichts mehr davon essen. Wir Kinder aber fanden das ausgesprochen lustig, und das Schönste war: Wir durften schließlich den ganzen Kuchen alleine aufessen!
Übrigens: Die Schlossverwalterin, die ganz erstaunt tat, als sie von den vielen Mäusen in Haus und Hof erfuhr, klopfte meiner Mutter auf die Schulter und meinte strahlend: „Das ist doch fein, dass wir Mäuse haben! Dann haben wir wenigstens keine Ratten!“ ...
Wieder was gelernt.
Ich war so zwischen acht und zehn Jahren alt und spielte am liebsten mit Hildchen Schulze, meiner Freundin aus dem Nachbar-Doppelhaus. Sie war fast zwei Jahre älter und einen Kopf größer als ich, und alles, was sie sagte oder machte, fand ich gut und richtig, denn sie war ja die Ältere und musste es folglich besser wissen. Ich war viel zu schüchtern, um anderer Meinung zu sein. Als wir uns einmal bunte Kostüme aus Seidenpapier nähten, weil wir ein paar Tänze vorführen wollten, wählte sie rosa und gelbes Seidenpapier. Das fand sie schön. Ich eigentlich nicht, aber ich dachte immer, die Älteren werden schon recht haben, und so fand ich mich damit ab.
Es gab nie Streit, und wenn wir nicht wussten, was wir spielen sollten, schrieb jeder seine Vorschläge auf einen Zettel, und alles, was übereinstimmte, kam in die engere Wahl, egal ob es die Ausschneidepuppen waren, ob Rollschuhlaufen, Filmbilder tauschen, mit der Katze spielen, turnen oder was auch immer.
Manchmal spielte auch meine Schwester mit. Dann kochten wir auf dem Puppenherd irgendeine komische Erbswurst-Suppe, spielten „Kaufmannsladen“ oder „Onkel Doktor“. Ich war natürlich immer das Kind, und Hildchen war meine Mutter oder auch der Vater. Meine Schwester war der Doktor. Das lag ihr schon damals.
Einmal haben die beiden getuschelt und mir dann vorsichtig beigebracht, dass ich gar nicht die leibliche Tochter meiner Mutter sei, meine Schwester hingegen ja. Das war natürlich ein Schlag. Ich konnte es gar nicht glauben. Wer aber waren dann meine richtigen Eltern? Das konnte meine Schwester mir auch nicht sagen. Vielleicht hat man mich gefunden, irgendwo. In Gedanken sah ich ein weites Meer, und vorn am einsamen Ufer lag ein nasses Bündel im feuchten Sand. Ausgesetzt! Vielleicht bin ich auch vom Wagen gefallen. Es gab viele Möglichkeiten.
Das beschäftigte mich natürlich sehr. Ich – ein Findelkind? Ich war ganz unglücklich. Meine Mutter sollte also nicht meine Mutter sein? Ich wollte keine andere. Sie war die liebste. Und wenn es nun doch so war? Ich hab sie aber nie gefragt, fraß meinen Kummer in mich hinein und begann, mir alles Mögliche auszumalen. Hat man mich ausgesetzt, weil man mich nicht wollte? Irgendwo an einem großen See? Vielleicht war ich ja in Wirklichkeit eine Prinzessin? Konnte doch alles sein. Im Märchen kommt so etwas hin und wieder vor. Ich lebte manchmal wie in einer Märchenwelt, und eigentlich war der Gedanke gar nicht mal so schlecht, eine Prinzessin zu sein. Mir gefielen immer solche Märchen, die traurig begannen, aber doch gut ausgingen, wie zum Beispiel Aschenputtel, Frau Holle oder Dornröschen. Daher wollte ich unbedingt selbst ein Theaterstück schreiben, um es dann mit Hildchen aufzuführen, bei ihr auf dem Hof, wo wir schon einmal einen Zirkus veranstaltet und unsere akrobatischen Künste vorgeführt hatten. Thema war natürlich „Armes Waisenkind wird des Königs Gemahlin“. Was sonst? Das Besondere an diesem Stück sollte die Versform sein, denn das Reimen hat mich schon damals gereizt. Jetzt war ich nicht mehr zu bremsen. Zunächst musste eine Art Textbuch geschrieben werden, obwohl ich damals noch keine Ahnung von solchen Dingen hatte. Und auch die Kulisse musste genau beschrieben werden. Im Kopf war mir schon alles klar: Ein armes Mädchen, das keine Eltern mehr hat, wächst bei der Tante auf und muss ihr den Haushalt führen, kochen und putzen.
Eines Tages steht sie am Küchentisch vorm Fenster und putzt Gemüse. Ihr Blick wandert wieder und wieder sehnsüchtig hinaus in die sommerliche Landschaft, am Horizont ein großer dunkler Wald, aus dem sich ein schmaler Weg durch die Wiesen direkt zu dem Haus der Tante schlängelt.
Sie putzt also das Gemüse, immer einen Blick zum Fenster hinaus, als erwarte sie in der Ferne irgendetwas, und da passiert es auch schon: Sie schneidet sich heftig in den Finger. Das Blut tropft. Und jetzt endlich kommen die ersten Worte, gereimt natürlich. Sie ruft ganz entsetzt:
„Tante Clarissa, ich hab mich geschnitten!“
(Wieder ein kurzer Blick zum Fenster hinaus)
„O, Tante, da kommt ja der König geritten!“
Damit war der Anfang gemacht. Zwei Zeilen. Ich war ganz stolz. Nun fehlte nur noch der Rest. Aber der wollte und wollte nicht kommen. Es ging einfach nicht weiter, nicht damals und auch nicht später. Ich hab es immer und immer mal wieder versucht, aber es fiel mir absolut nichts ein. Selbst heute noch nicht! Manchmal liege ich nachts wach und denke: Jetzt müsste dir doch endlich etwas einfallen. Das kann doch nicht so schwer sein!
Tut es aber nicht. Mein „Werk“ ist und bleibt unvollendet.
Bestimmt auch besser so. Ein Kitsch weniger!
Die Vorfreude war natürlich groß: Es sollte zum Kahnfahren in den Wörlitzer Park gehen. Kahnfahren macht allen Kindern Spaß. Meine Schwester war damals zehn Jahre alt und ich acht. Lang ist’s her. Ein guter Bekannter, Herr Lenk, der immer fröhlich und ein richtiger Spaßvogel war, hatte meine Mutter und uns dazu eingeladen. Zunächst sah das Wetter recht vielversprechend aus, aber dann machte es uns doch noch einen, wenn auch nur kleinen Strich durch die Rechnung: Es begann ganz fein zu nieseln, als wir dort eintrafen.
Wie es schien, waren wir die einzigen Spaziergänger an diesem Tag und hatten den ganzen großen Park für uns alleine. Auch gut, dann würden wir auf alle Fälle einen Ruderkahn bekommen. Ohne Sonne war zwar alles nicht ganz so schön, aber eine gemeinsame Kahnfahrt würde uns dafür entschädigen.
Als Herr Lenk beim Bootsverleiher einen Kahn für uns mieten wollte, meinte der:
„Tut mir leid, mein Herr, bei Regen lass ich keinen fahr’n.“
„Es regnet doch gar nicht. Das bisschen Nieseln stört uns überhaupt nicht.“
„Trotzdem, bei Regen lass ich keinen fahr’n!“
„Aber Sie können doch mal eine Ausnahme machen.“
„Nein, bei Regen lass ich keinen fahr’n!“, antwortete er ziemlich mürrisch.
So ein humorloser Sturkopf!
„Und ich wette, dass Sie doch einen fahren lassen!“
Herr Lenk machte sich langsam einen Jux daraus und ließ nicht locker. Dem Bootsverleiher wurde gar nicht bewusst, weshalb wir heimlich kicherten.
Und so ging das noch eine ganze Weile hin und her. Er blieb dabei: „Nein, bei Regen lass ich keinen fahr‘n!“ Aber: Steter Tropfen höhlt den Stein. Letztendlich hat er dann doch noch einen fahren lassen – und nicht nur einen, sondern uns alle vier.
Das erste Mal verliebt war ich wohl so mit neun oder zehn. Jedenfalls war ich verliebt in einen, den es gar nicht gab, den es nur in meiner Fantasie gab. Kinder haben meist eine rege Fantasie und spinnen sich so allerlei zusammen. Jetzt kann ich ruhig darüber reden, denn inzwischen bin ich über achtmal so alt.
Wir wohnten damals in Piesteritz in der Bergstraße, im letzten Haus. Dahinter befand sich eine riesige Fläche Brachland, bis hin zu den Bahngleisen, mit viel Unkraut, herrlich zum Spielen. Auf der anderen Straßenseite gab es noch ein Haus mehr, und dann war auch da Schluss.
Eines Tages erschienen Arbeiter und begannen, auf dem unbewohnten Grundstück hinter diesem letzten Haus zu buddeln. Das war für uns Kinder natürlich sehr interessant. Täglich wurde der Graben größer und tiefer, und wir sprangen immer vom Rand hinein, wenn die Arbeiter nach Feierabend verschwunden waren. Schon bald wurde ringsherum eine kleine Mauer gebaut, und über Nacht war dann ganz plötzlich sogar ein Wasseranschluss vorhanden. Aha, hier sollte also ein neues Haus entstehen.
Wenn die anderen Kinder mal nicht da waren – wir waren meist drei bis vier Mädchen, manchmal auch ein bis zwei Jungen dabei –, dann bin ich ganz alleine in der Grube, die später einmal der Keller werden sollte, herumgehopst und habe mir ausgemalt, wie es hier aussehen würde, wenn alles fertig ist, wo das Wohnzimmer liegen könnte, das Schlafzimmer und wo die Küche und vor allem, was wohl für Leute hier einziehen würden. Ob sie auch Kinder haben?
In meinen Gedanken zog eine Familie ein, natürlich mit einem Sohn, und in diesen Sohn würde ich mich verlieben und er sich in mich, und später, wenn wir groß sind, würden wir heiraten. Das wäre doch toll. Wenn nur das Haus schon fertig wäre! Aber das dauerte und dauerte – bestimmt ein Jahr.
Irgendwann aber war es dann soweit und eine Familie zog ein: ein Vater, eine Mutter und ein Sohn, ganz wie ich es mir ausgesponnen hatte. Ein Sohn also, in den ich mich verlieben wollte.
Die Familie hieß Schmidt. Na ja, dann würde ich später eben Schmidt heißen müssen. Man gewöhnt sich an alles. Der Sohn hieß Ottfried, auch nicht gerade ein attraktiver Name. Aber weil der Vater Otto hieß und die Mutter Frieda, hatten sie ihren Sprössling auf den Namen Ottfried getauft. Auch das musste ich schlucken. Dazu kam noch, dass er blond war. Dunkelhaarig gefiel mir schon damals besser. Das wäre ja auch nicht weiter schlimm gewesen, aber seine Frisur bestand nur aus einem glatten, gerade geschnittenen Pony, der Rest des Kopfes war kahl. Das war damals bei den Jungs so üblich und vor allem sehr pflegeleicht. Außerdem war er etwas kleiner als ich und auch ein halbes Jahr jünger. Alles nicht optimal! Egal, ich war verliebt, denn ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt.
Ottfried spielte öfter mal mit uns auf der sogenannten „Wiese“. Wir sprachen jedoch nie ein Wort miteinander, gaben uns auch nie die Hand, so wie mit Hänschen und Jürgen von nebenan. Die begrüßten uns immer richtig mit Handschlag. Die einzige Berührung kam zustande beim Hasche-Spielen. In Berlin sagte man wohl Einkriegezeck oder einfach Kriegen. Diese Berührung war dann schon das höchste der Gefühle!
Wenn er rannte, dann hielt er seine Hände immer ganz steif und flach. Das fand ich so doof und unnatürlich. Es sah sehr zackig aus, sehr komisch. Schade! Aber auch das musste ich hinnehmen, denn ich wollte mich ja in ihn verlieben.
Bald wusste ich, wann er aus der Schule kam. Dann bin ich flink bei uns im Haus noch eine halbe Treppe höher gelaufen – wir wohnten im ersten Stock – und habe aus dem Flurfenster an der Giebelseite beobachten können, wie er mit der Schulmappe ankam und drüben in seinem Haus verschwand. Das war jedes Mal ein aufregender Moment. Da klopfte mein kleines Herz. – Ach, es war schön, verliebt zu sein!
Nun kam es aber so, dass meine Mutter mit meiner Schwester und mir nach Berlin ziehen wollte und zwar im Januar 1942, mitten im Krieg. Ich weiß nicht, ob ich mich nun freuen sollte oder nicht. Ob Ottfried vielleicht ein bisschen traurig sein wird, wenn ich nach Berlin ziehe? Ob er mir wohl mal schreiben würde? Aber wir sprachen ja so gut wie nie ein Wort miteinander. Woher sollte er wissen, was da in meinem Kopf vor sich ging?
Einmal, als ich bei meiner Freundin Hildchen war und wir gerade aus dem Fenster zur Straße sahen, kam er zufällig vorbei. Er wusste wahrscheinlich schon von unserem Umzug nach Berlin, aber alles, was er über die Lippen brachte, war: „Berliner Pflanze!“ Und dabei lachte er auch noch hämisch. Was sollte ich dazu sagen?
Blitzartig war mir der Gassenhauer in den Sinn gekommen: „Denkste denn, denkste denn, du Berliner Pflanze, denkste denn, ick liebe dir, nur weil ick mit dir tanze?“
So war es also. Ihm lag überhaupt nichts an mir. Er konnte ja auch nicht wissen, dass ich in ihn verliebt war. Ich dagegen tat mir schon leid, weil ich bald ohne ihn würde leben müssen.
Wir zogen also nach Berlin, schweren Herzens, vor allem auch wegen Hildchen. Sie war meine beste und einzige Freundin, und ich konnte mir ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen. Aber wir schrieben uns Briefe. Ich hoffte immer, in einem ihrer Briefe mal einen Gruß von Ottfried zu finden. Aber nichts kam.
So vergingen die Jahre. Irgendwann fragte ich sie in einem Brief mal „so ganz nebenbei“ nach Ottfried. Da schrieb sie:
„Der ist ein richtiger Angeber geworden, ein Lack-Affe. Der trägt weiße Glacéhandschuhe.“ Was für eine Enttäuschung! Für mich brach eine Welt zusammen.
Aber die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden, manchmal schnell, manchmal dauert’s Jahre. Was für ein Glück nur, dass wir rechtzeitig weggezogen sind! Sonst würde ich heute womöglich „Schmidt“ heißen!
1951 heiratete ich – und hieß dann dafür „Meier“…
Alles kam so ganz anders, als ich es mir als junges Mädchen erträumt hatte. Das Standesamt war noch vom Krieg zerstört, und sämtliche Trauungen wurden daher vorübergehend im Rettungsamt vorgenommen. Wie originell!
Ich musste wohl oder übel ein langweiliges hellgraues Kostüm tragen – mit meinen einundzwanzig Lenzen! Es gab nichts Passenderes. Auch mein bestellter Brautstrauß, den wir auf dem Weg zum Standesamt im Blumenladen abholten, war alles andere als zauberhaft. Es war Februar, und es gab nur Tulpen. Wie unromantisch! Und die waren obendrein auch noch gelb. Am liebsten hätte ich gleich wieder kehrtgemacht.
„Der sieht aber schön aus!“, strahlte ich. „Und den hast du wirklich selbst gestrickt? Wie hast du das denn gemacht? Woraus denn?“
Ja, er war wirklich ganz schick, mein neuer Badeanzug, mit dem mich meine Mutti überraschte. Schneeweiß war er, und richtig kostbar sah er aus, war großmaschig aus ziemlich dickem Material gestrickt und hatte ein schräg zur Mitte verlaufendes Muster, also v-förmig wie Fischgräten. Wunderschön! Er fühlte sich ein bisschen flauschig an, wenn man mit der Hand darüberfuhr, fast wie ein Fell, denn er hatte ganz kurze weiche Stoppelchen. Von meinem letzten Badeanzug musste ich mich leider trennen. Er war völlig durchlöchert, und außerdem war ich mit der Zeit doch schon etwas herausgewachsen.
„Na, nun rate mal, woraus der ist“, sagte sie. „Das errätst du nicht!“
Nein, das konnte ich nicht erraten. Wolle sieht irgendwie anders aus, und die gab es damals wohl kaum zu kaufen. Es musste etwas anderes sein. Aber was?
„Es sind Mullbinden! Ich hab ihn aus Mullbinden gestrickt!“ „Aus Mullbinden?“
„Ja, aus Mullbinden, mit ganz dicken Nadeln. Was sollte ich denn machen? Zu kaufen gibt’s keine Badeanzüge. Da müsste ich ganz Berlin ablaufen, und die Zeit hab ich gar nicht, und du brauchst doch unbedingt einen. – Ich hab sie einfach in schmale Streifen geschnitten.“
Einfach ist gut. Das muss ja eine Wahnsinnsarbeit gewesen sein! Aber wenn sie es sagt, wird es wohl so sein. An genügend Mullbinden zu kommen, war für sie kein Problem, denn sie arbeitete damals als Sekretärin oder Buchhalterin in einem Großhandel für textilen Krankenhausbedarf, saß praktisch „an der Quelle“ und bekam deshalb diese Dinge günstiger – und vor allem: überhaupt!
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