Das Glück der Musik - Hanns-Josef Ortheil - E-Book

Das Glück der Musik E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Das faszinierende Mozart- Buch von Bestsellerautor Hanns-Josef Ortheil.

Mehr als 20 Jahre nach seiner klassischen Studie Mozart im Innern seiner Sprachen geht Hanns-Josef Ortheil nun in einer Mischung aus Tagebuch, Erzählung und Essay auf sehr persönliche Weise dem Faszinosum Mozart nach, lässt den Leser an seiner Art zu hören teilnehmen und entschlüsselt dabei viele der bekannten und auch weniger bekannten Musikstücke dieses großen Komponisten. Ausführlich kommt er auch auf dessen Opern und deren Entstehung zu sprechen. Damit wendet sich dieses Buch an alle, die Näheres über Mozarts Genie erfahren möchten, die seine Musik intensiv hören und die ihr Verständnis von Mozarts Lebens-, Denk- und Empfindungskosmos vertiefen wollen.

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ZUM BUCH

Mehr als 20 Jahre nach seiner klassischen Studie »Mozart – Im Innern seiner Sprachen« setzte sich Hanns-Josef Ortheil von Neuem intensiv mit dem Geheimnis der Mozartschen Musik auseinander. In einem groß angelegten Buch, einer Mischung aus Tagebuch, Erzählung und Essay, geht er auf sehr persönliche Weise dem Faszinosum Mozart nach, lässt den Leser an seiner Art zu hören teilnehmen und entschlüsselt dabei viele der bekannten und auch weniger bekannten Musikstücke dieses großen Komponisten. Ausführlich kommt er auch auf dessen Opern und deren Entstehung zu sprechen. Damit wendet sich dieses Buch an alle, die Näheres über Mozarts Genie erfahren möchten, die seine Musik intensiv hören und die ihrVerständnis von Mozarts Lebens-, Denk- und Empfindungskosmos vertiefen wollen.

ZUM AUTOR

HANNS-JOSEF ORTHEIL wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis und zuletzt dem Stefan-Andres-Preis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Hanns-Josef Ortheil

Das Glück der Musik

Vom Vergnügen, Mozart zu hören

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öff entliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Genehmigte Taschenbuchausgabe März 2016,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2006 by Luchterhand Literaturverlag, München

Einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile

Umschlagmotiv: © Hulton Archive /Getty Images;

© Lyekaterina/Shutterstock

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

KS · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-17468-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Der Pianistin Daniela Ballek gewidmet

Vorbemerkung

Im Januar 2005 las ich durch Zufall, daß Rossini empfohlen habe, jeden Tag eine oder zwei Kompositionen Mozarts zu hören. Die Empfehlung gefiel mir und brachte mich auf den Gedanken, durch ein solches tägliches Hören meinen Mozart-Hörsinn zu schärfen. Jeden Tag würde ich mich fragen: Was höre ich und wann höre ich es?, täglich gäbe es, wo auch immer ich unterwegs wäre, zumindest eine kleine Mozart-Séance, ja ich könnte diese Unterbrechung des Alltags sogar mit bestimmten Ritualen verbinden und dadurch zu einem besonderen, herausgehobenen Tagesmoment machen. Darüber hinaus aber würde ich auch notieren, wie Mozarts Musik auf mich wirkt, wie sie die jeweilige Umgebung verwandelt und was mir durch den Kopf geht, wenn ich sie höre.

Hatte das schon einmal jemand versucht, hatte schon einmal ein Hörer möglichst genau und über einen längeren Zeitraum davon erzählt, wie er Mozarts Musik hört und warum sie ihn mehr als jede andere animiert und begeistert? Genau das, dachte ich damals sofort, müßte man aber einmal genauer erkunden, anstatt immer nur ins Biographische oder Analytische zu flüchten, zu Lebensdetails also oder in das oft hilflose Sezieren der Stücke und damit in Sätze von der Art »Es folgt eine Auflösung von H nach Ais mit einer sich anschließenden chromatischen Stufensequenz, die, rückgeleitet zur Grundtonart A-Dur, nach dem Doppelstrich in Krebsführung erneut auftritt«.

Anstatt mich an solche Sätze zu klammern, wollte ich an den verschiedensten Orten und zu den unterschiedlichsten Zeiten möglichst genau hinhören: In der Abgeschiedenheit eines Musikzimmers, in einem Café, in der Natur, mitten in einer Großstadt, frühmorgens, spät in der Nacht, im Sitzen, in Bewegung, in allen nur denkbaren Konstellationen.

Am 27. Januar 2005, Mozarts 249. Geburtstag, habe ich meine ersten Notizen gemacht, genau ein Jahr lang habe ich meine Höreindrücke notiert, dann habe ich die Notate gekürzt und eine Auswahl von ihnen für dieses Buch zusammengestellt. Allzu private Eintragungen habe ich ausgelassen, dafür habe ich manchmal aber auch kurze Notizen aufgenommen, die den Blitz der Überwältigung nur registrieren, gerade durch ihre Sprachlosigkeit und Erstarrung vielleicht aber besonders deutlich von jenen intensiven Momenten des Glücks handeln, die Mozarts Musik immer wieder beschert.

1761/62 entstehen noch weitere kurze Klavierkompositionen, die Fortschritte von Stück zu Stück sind unüberhörbar, denn der Knabe arbeitet von nun an in einer Werkstatt: Er zeigt, daß er ein Stück mit einem markanten Motiv eröffnen und dieses Motiv beantworten und fortführen kann, er studiert die Wirkungen von Kontrasten im mittleren, retardierenden Passus, und er genießt die triumphierende Wiederkehr zum Ausgangsmotiv des Stückes in seinem Schlußteil. So testet und erprobt er kurze Spiel-Muster, variiert sie, es ist die Zeit des Hinhorchens und des Abtastens des großen Korpus Musik.

Mozarts erste Kompositionen verwandeln das Musikzimmer in den Raum einer Kompositionsstube. Indem ich mir Mozarts frühste Klavierkompositionen anhöre, befinde ich mich am Eingangsportal zu einem gewaltigen Kosmos, der sich über seine familiäre Herkunft hinaus zunächst auf Salzburg und dann auf das ganze musikalische Europa hin ausdehnen wird. Erstaunlich ist das Selbstbewußtsein, das sich in jedem dieser ersten Takte artikuliert, sie haben etwas Auftrumpfendes, Zielstrebiges, es ist beinahe so, als mache sich dieses Kind entschlossen auf den Weg und als lade es auch alle Zuhörer ein, sich mit ihm auf den Weg zu machen …

30. Januar 2005.Seit dem Mittag bin ich mit einer Schar von zwölf Kindern im Stuttgarter Zoo unterwegs, ich bin die Aufsichtsperson, aber als solche will ich nicht in Erscheinung treten, ich möchte nur ganz am Rande erscheinen, unsichtbar bleiben, den herumtollenden Kindern den Gang überlassen und nur zur Stellesein, wenn eines der Kinder mich braucht. In meinem Rucksack habe ich zum ersten Mal den MP3-Player und Mozarts Musik dabei, die Kopfhörer und das Musikhören erscheinen mir als ideale Zeichen der Abgrenzung, als Zeichen, die den Kindern dann und wann demonstrieren, daß sie mich nicht weiter zu beachten brauchen.

Da auch im Zoo reichlich Schnee liegt, halten sich fast alle Tiere drinnen, in den großen, mit den Tier-Aromen durchtränkten Häusern auf, endlich ist man ihnen ganz nahe, und die Wärter nehmen sich Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Im Elefantenhaus sind die Tiere angekettet und werden mit einem kräftigen Wasserstrahl aus einem schweren Schlauch abgespritzt, die Kinder stehen ganz vorn, direkt vor dem Graben, und beobachten das Schauspiel in allen Einzelheiten. Ich aber habe mich in den hinteren Teil des großen Hauses auf eine an der gesamten Rückfront entlanglaufende Bank zurückgezogen, dort setze ich die Kopfhörer auf, und sofort verwandelt sich die gehörte Musik in eine Art Filmmusik zu den Bildsequenzen vor meinen Augen. Welche Musik aber könnte genau diese Sequenzen begleiten? Keine öffentliche, keine Repräsentationsmusik, sondern eine Musik, die sich klein macht und sich diesen sehr entlegenen Szenen anschmiegt, nur sehr wenige Instrumente, die auf ruhige Weise, bei sich bleibend, etwas Gelöstes, Freundschaftliches vermitteln. Eine Musik also am Rande, die niemand angestrengt zur Kenntnis nimmt, sondern die einige Musikanten zu ihrem eigenen Vergnügen aufführen, indem sie gleichsam auf dem Umweg über ihre Instrumente eine Art zweiter Konversation betreiben. Ich wähle die fünf Divertimenti (KV 439b) für zwei Klarinetten und Fagott, die Mozart wohl für musizierende Freunde komponierte und die von diesen Freunden dann in privatem Kreis gespielt wurden. Es sind unaufdringliche, sehr gelassene und in sich versunkene Stücke abseits vom Aufputz, den Stücke für den Aufführungs- und Konzertbetrieb haben. Die drei selbständig und dann wieder zu wechselnden kleinen Gruppen geführten Instrumente wenden sich an niemanden, sondern sprechen nur miteinander. Dabei werden die beiden helleren Klarinetten von dem tieferen Fagott gerahmt, gestützt, gehalten und immer wieder auf den Weg geschickt. Klarinetten und Fagott – diese minimalistische Kombination entspricht genau dem, was ich sehe: Die schweren, sich kaum bewegenden Elefanten, die zur Ruhe gekommenen Kinder, die über den Graben hinweg spähen, ohne von den Tieren jetzt irgendwelche Auftritte oder Kunststücke zu erwarten. Es ist beinahe so, als beziehe sich diese Musik auf die eigentümliche Würde der Tiere, die in diesen Häusern weniger angegafft und ausgestellt als mit einer gewissen Zutraulichkeit beobachtet werden.

– Darf ich auch mal hören?, fragt eines der Kinder, das nach einer Weile neugierig zu mir kommt.

– Na klar, sage ich, na klar darfst Du.

Ich gebe die Kopfhörer weiter, das Kind lauscht, es hat alles mögliche erwartet, nur nicht diese Musik. Während es weiter hinüber zu den Elefanten starrt, öffnet sich sein Mund unmerklich zu einem Staunen, das allmählich übergeht in ein Lächeln. Als es sich dieses Lächelns gewiß ist, wendet es den Kopf und schaut mich an, und als ich zurücklächle, schaut es wieder vergnügt zu den Elefanten hinüber und bemerkt gar nicht die regelmäßigen Bewegungen der knapp über dem Boden hin und her wippenden Füße.

Ich höre die fünf Divertimenti KV 439b im Elefantenhaus des Stuttgarter Zoos nicht als Hintergrund-, sondern als Film-Musik. Als Film-Musik begleiten sie nämlich nicht nur das Geschehen, sondern treten in enge Verbindungen zu den Bildern, in diesem Fall könnte man sogar davon sprechen, daß die Bilder genau diese Musik evoziert haben. (Indem ich mir klarmachte, um welche Bilder es sich handelte, machte ich mir klar, nach welcher Musik ich zu suchen hatte, die Bilder waren also anfänglich nichts anderes als ein interpretatorisches Raster, mit dessen Hilfe sich Besonderheiten der Musik besser erschlossen.)

31. Januar 2005. Fünf Klaviersonaten (KV 279–283) habe ich heute während einer langen Autobahnfahrt gehört. Mir fiel auf, daß die Musik nicht zu einem Medium der Fortbewegung wird, sondern den Innenraum des Wagens polstert und ihn dadurch zu einer geschlossenen Zelle macht. Die Landschaft ringsum wird so farbloser und monotoner und verliert gegenüber der alle Aufmerksamkeit einfordernden, intimen Musik rasch an Charakter. Als ich einem Freund am späten Nachmittag von diesen Eindrücken erzähle, berichtet er von musikpsychologischen Untersuchungen, die nachgewiesen haben, daß Autofahrer beim Hören von leiser Mozart-Musik häufiger Ampeln bei Rot überfahren. Hört man Mozart dagegen in mittlerer Lautstärke, kann die Musik angeblich zu einer beschleunigten Reaktionszeit bei unvorhergesehenen Zwischenfällen beitragen. Die Sonate in E-Dur, KV 282, beginnt statt des erwarteten schnellen Allegro-Satzes mit einem Adagio. Als ich es heute während der Zufahrt auf eine Raststätte hörte, konnte ich nicht aussteigen, bis ich es zu Ende gehört hatte, und auch die kurze Zeit über, die ich mich danach draußen aufhielt, glaubte ich, weiter dieses Adagio zu hören, und hörte es nach dem Einsteigen sofort wieder, es handelt sich um eine Musik, die alles andere absorbiert und unbedingte Versenkung fordert, bittend, vor sich hin sprechend, den Hörer unmerklich an der Hand nehmend, um ihn in die Ferne zu führen …

02. Februar 2005. Seit der Frühe ein ununterbrochener leichter Schneefall, ein weißes Stäuben, die schwachen, kleinen Flocken drehen sich dem vereisten Boden entgegen und punktieren die erhöhten, aufgeworfenen Graspartien mit hellen Streifen und Flecken. Kurz vor Mittag fiel mir genau das richtige Stück für diese atmosphärische, kristalline Landschaftsszenerie ein, nämlich das Glasharmonika-Quintett, KV 617, das Mozart 1791, also in seinem letzten Lebensjahr, komponiert hat. Es handelt sich um ein Quintett für Flöte, Oboe, Viola und Violoncello, denen die Glasharmonika wie ein Solo-Instrument vorausgeht und antwortet. Zu Beginn gibt es einen kurzen dramatisch einsteigenden Satz in C-Moll, dann aber folgt ein Rondo in C-Dur, das wie ein kleiner Konzertsatz gearbeitet ist. Die sphärischen, überhellen, dabei aber winzigen Ton-Schritte der Glasharmonika schwebten über dem soliden Erd-Teppich der übrigen Instrumente, die sich in Gruppen, aber auch immer wieder einzeln, als solistische Erscheinungen, melden. Ich starrte aus dem Fenster des Musikzimmers hinaus in den Schneefall, und ich hörte, daß Mozart genau das, was ich dort draußen sah, komponiert hatte: Den Tanz der schwebenden Geister, die von den soliden Erd-Charakteren eingefangen und zur Ruhe gebracht werden. (Auch hier also der Fall einer durch Bilder evozierten und dadurch erst zu einem besonderem Klang-Eindruck gewordenen Musik.)

02./03. Februar 2005, nachts. Der langsame Satz des Klavierkonzerts in c-Moll, KV 491: Ein Stück, das einen vor innerer Anteilnahme beinahe regungslos werden läßt, während des Hörens wird man zum Kind, man lauscht nur noch, geht hinterher, blickt nicht nach rechts und links. Wie macht die Musik das? Warum habe ich immer wieder den Eindruck, daß sie sich unnachahmlich leicht einen Zugang zu den tiefsten Erlebniszentren verschafft? Die einzelnen Phrasen sind übersichtlich und kurz, sie beziehen sich eng aufeinander, sie antworten und schreiten dann kaum einen weiteren Raum ab, statt dessen geraten sie ins Gleiten, sie bekommen etwas Traumwandlerisches, Flüchtiges, zersetzen sich und belohnen einen immer wieder mit der Empfindung einer Rückkehr und Ankunft. Am schönsten sind jene Passagen, in denen das Klavier über dem weichen Orchesterteppich nur ein paar Töne auf und ab spaziert, als wollte Mozart einem etwas vormachen: So einfach ist das, so einfach, hör nur, das ist Musik, es braucht nicht mehr als die halbe Tonleiter, einmal hinauf und hinab (immer wieder hat es Hörer, wie zum Beispiel Glenn Gould, gegeben, die genau von dieser Einfachheit angeekelt waren). Im dritten Satz spürt man so etwas wie ein vibrierendes Zentrum, das die Perlenläufe des Klaviers wie kleine Kometen hinausfeuert ins Freie, vielleicht sind die innersten Bewegungen von Mozarts Musik den Bewegungen eines starken Herzens ganz ähnlich, vielleicht übersetzt diese Musik die ganze Phalanx der Herzimpulse, so daß sie uns genau mit den Rhythmen, Harmonien und Reflexen vertraut macht, die uns am Leben erhalten: Anspannung / Dehnung / Klopfen / Zögern / Stottern/ Rasen/ Entspannung …

03. Februar 2005: Ich habe mich nicht bremsen können, mich heute mit Kopfhörern in ein Café zu setzen, um Mozart zu hören. Als ich mit Klaviersonaten beginnen wollte, bemerkte ich bald, daß es mit ihnen nicht geht, der Sonaten-Klavierklang hat überhaupt nichts Geselliges, sondern eher etwas Denkerisches und wirkt in vielen Passagen wie eine Übung in Gestaltenkunde, ich hörte dem Fortgang der Musik zu und saß da wie ein vertiefter Grübler, der kein gutes Bild abgibt und so etwas doch besser nicht unter Menschen, sondern allein, zu Hause, hören sollte. An große Musik war aber auch nicht zu denken, in einem Café eine Symphonie oder eine Oper von Mozart zu hören, kommt mir völlig deplaciert vor. Als ich es eher zufällig mit dem Klaviertrio in G-Dur, KV 496, versuchte, stimmte alles vom ersten Moment an: Plötzlich erschien mir dieses Stück wie eine Konversation, ich konnte zuhören und zugleich aufschauen, ja, ich konnte den Blick durch das ganze Café schweifen lassen, denn diese Musik ließ mich an eine langsame Kamerafahrt mit unmerklichen Überblendungen von einer Physiognomie zur andern denken. Wie zugewandt einem die Gesellschaft ringsum erscheint! Wie man jede und jeden einzelnen in seiner Eigenheit wahrnimmt! Als wären sie alle insgeheim miteinander gut bekannt und harrten nur auf das erlösende Wort, das ihnen erlaubt, sich gemeinsam auf den Weg zu machen …

Das Klaviertrio in G-Dur, KV 496, als Schauspielmusik: Die Musik theatralisiert das Geschehen ringsum, als habe sie sich den Bewegungen der Menschen und Dinge eingeimpft.

04.-08. Februar 2005. Karneval. Die Kinder verkleiden sich jeden Tag anders und neu und sind dann bis zum Abend in ihren Kostümen unterwegs. Ich höre die Zwölf Menuette und die Dreizehn Deutschen Tänze, die Mozart für die Karnevalssaison 1791 in Wien komponiert hat. In normaler Lautstärke machen sie zu viel her und wirken aufdringlich, hört man sie jedoch pianissimo, erscheinen sie wie kurze, kaum mehr als zweiminütige, schemenhafte Erinnerungen eines uralten, kollektiven Gedächtnisses, dem gerade wieder die Anfänge der Walzer- und Dreh-Rhythmen am Ende des 18. Jahrhunderts in den Sinn kommen. (Das alles auch als ein Versuch, manchen Stücken ihre jahreszeitliche Entstehungsgeschichte zurückzugeben, sie also in genau jener Jahreszeit zu hören, für die sie komponiert wurden …)

10. Februar 2005. Warum war ich so irritiert, als ich Alfred Brendel heute abend in der Stuttgarter Liederhalle einige Klaviervariationen von Mozart spielen hörte? Weil ich während dieses Hörens dazu gedrängt wurde, vor allem darauf zu achten, wie Alfred Brendel diese Klaviervariationen von Mozart spielt. Eigentlich also sollte ich nicht Mozart, sondern Brendel hören, und obwohl gerade Alfred Brendel alles tut, sich nicht in den Vordergrund zu drängen und den großen Tastenvirtuosen herauszukehren, starrten alle Hörer natürlich ununterbrochen auf jede Bewegung von Alfred Brendel. Wozu gibt es überhaupt noch solche Konzerte, die einen nicht Musik hören lassen, sondern einem vorführen, wie Menschen Musik spielen? Man müßte mit geschlossenen Augen in solchen Konzerten sitzen, aber auch das brächte einen nicht weit, denn die Größe des letztlich nur störenden Konzertsaals und die Anwesenheit vieler anderer, sich unaufhörlich bemerkbar machender Zuhörer lenken einen nur ab und lassen einen die Aufmerksamkeit auf alles andere als die Musik richten.

Stücke wie Mozarts Klaviervariationen kann ich nur allein hören, und das am besten in einem geschlossenen Raum wie dem Musikzimmer, nur dann erschließen sie sich dem Studium, dem genauen Hinhören, während ich dagegen Mozarts Opern am liebsten in großer Gesellschaft höre, in einem Opernhaus also, was mich aber nicht abhält, gerade gegenüber so gestrigen Bauten wie Opernhäusern einen starken Widerwillen zu empfinden (Die meist viel zu große Entfernung von der Bühne, das dichtgedrängte Sitzen, die Gespräche davor, danach und vor allem die in der Pause, die unbequeme, viel zu festliche Kleidung, die während der langen Spieldauer von Opern immer unerträglicher werdende, stark parfümierte Luft, das Lächerliche und Unbeholfene vieler Bühnenarchitekturen …).

In meiner Kindheit gab es in den Schallplattenläden noch schalldichte Kabinen, in denen man sich die neusten Aufnahmen anhören konnte, nach der Schule ging ich oft hin und verbrachte dort die elend lange und sonst meist so unattraktive Mittagszeit, in der die halbe Welt aß oder schlief oder darauf wartete, daß endlich der vitalere Nachmittag begann. Ich liebte diese Kabinen, mit all ihrer Enge und ihrem nackten und kahlen Innenleben erschienen sie mir wie ideale Hör-Räume, in denen sich nichts anderes ereignete als die Musik selbst.

Frage: Welche Stücke möchte ich allein, zu zweit, in kleiner oder in großer Gesellschaft hören, und was sagt die jeweilige Hör-Gesellschaft aus über die Stücke?

Frage: Welche Stücke möchte ich am frühen Morgen, mittags, am Nachmittag, am frühen Abend, am Abend, in der Nacht hören, und was sagt die jeweilige Hör-Zeit aus über die Stücke?

12.–27. Februar 2005. Studium (Klavierstücke KV 1–5, Sonaten für Klavier und Violine KV 6–15). Mozarts frühste Musik entsteht in dem familiären Binnenraum der Salzburger Wohnung in der Getreidegasse 9. Dort wächst er als jüngstes Familienmitglied auf, dessen musikalische Hochbegabung sich in drei Richtungen orientieren kann: Als erstes am Vater, der als anerkannter und unermüdlicher Lehrer zur Autorität wird; dann an der Schwester, die ihm im musikalischen Unterricht anfänglich noch voraus ist, jedoch schon bald übertrumpft wird; schließlich an der Mutter, der atmosphärischen Mitte der Familie, die den Intimrahmen des Zusammenseins inszeniert und gestaltet. Innerhalb dieser Familienkonstellation sind vielerlei Paar-Szenerien möglich: Die spielerische, ausgelassene mit der Schwester, die anhängliche mit der Mutter, die lernende mit dem Vater. Gegenüber dem Trio der drei älteren Familienmitglieder ist der junge Mozart sehr häufig der Komödiant, der die Familientonlagen rasch aufschnappt, imitiert und parodiert, als der jüngste der vier kann er sich solche Freiheiten herausnehmen.

ENDE DER LESEPROBE