Das Grab im Deich - Kari Köster-Lösche - E-Book
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Das Grab im Deich E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Der dritte Band der historischen Krimiserie um Wasserbauinspektor Hansen und ein spannender Nordsee-Krimi. Im halbfertigen Deich der Hallig Langeness wird die Leiche eines Neugeborenen entdeckt. Wer ist die Mutter? Und warum musste das Kind sterben? Als auch seine Freundin in Verdacht gerät, eine Schwangerschaft verheimlicht und das Neugeborene einfach beiseitegeschafft zu haben, nimmt Wasserbauinspektor Sönke Hansen die Ermittlungen auf. Denn ihre Unschuld steht für ihn fest. Doch wer war dann der Täter?

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Kari Köster-Lösche

Das Grab im Deich

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

AnmerkungKartenPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Die handelnden Personen in der Reihenfolge ihrer ErwähnungWortverzeichnisPfeifenten nach Halligart
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Jede vermeintliche Ähnlichkeit der Figuren dieses Buches mit lebenden Menschen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Prolog

Der Sturm riss ihnen immer wieder die Worte von den Lippen, aber er blieb stehen, um zu lauschen. Eigentlich war es mit seinen Prinzipien und seiner Ehre nicht vereinbar, aber in einer so schrecklichen Nacht warf man manches über Bord. Dem Geflüster der beiden konnte er nicht entnehmen, wer sie waren, aber es war durchaus möglich, dass er sie kannte.

Vergeblich versuchte er, der rabenschwarzen Nacht wenigstens einen winzigen Schimmer auf den Gesichtern abzuluchsen, aber es gab keinen. Nur den Schneeregen, dessen schmerzende Schärfe im Gesicht bewies, dass sich Sand vom Strand in die Nässe mischte.

Beschämt, sich selbst derart als Lauscher wiederzufinden, wollte er sich zurückziehen, als die Böen abnahmen und die Wortfetzen zu verständlichen Sätzen wurden. So blieb er doch.

»Wieso sollte ausgerechnet ich es sein?«

»Es gibt keine andere Möglichkeit!«

»Wer sich einmal hingibt, gibt sich allen hin! Wähl dir als Vater für deinen Balg aus, wen du willst, aber nicht mich. Irgendein Dummer aus deiner Liebhaberschar wird sich schon finden lassen.«

»Nein!«, wimmerte die Stimme, die einer jungen Frau gehören musste. »Es verhält sich nicht so, wie Sie meinen. Ich hatte vorher nie einen Liebhaber.«

»Das behaupten alle«, zischte der Mann erbost. »Und plötzlich geht es um kleinere und größere Geldzahlungen, schließlich sogar unverhohlen um Erpressung. Eure Sorte kenne ich. Leichte Mädchen gibt es in jeder Stadt des Reiches, nicht nur in Kurorten. Aber mich legst du nicht rein!«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Er hörte, wie Überraschung und Treuherzigkeit sie für einen Augenblick ihre Angst vergessen ließen. Dass sie dem Mann nicht gewachsen war, war offensichtlich.

»Ich will dir mal etwas sagen!«

Die nächsten Worte wurden von einer neuen Bö fortgetragen, aber er hörte sehr wohl, wie die Erregung des Mannes wuchs. Dann konnte er wieder etwas verstehen.

»Nur ein Wort zu jemandem über mich, und du wirst deines Lebens nicht mehr froh! Ich werde dich verfolgen lassen, und es wird auf der ganzen großen Welt kein Versteck geben, in dem ich dich nicht finde.«

Er hörte leises Weinen. Sie schien nicht mehr in der Lage zu widersprechen.

»Alles klar?«, fragte der Kerl in die Stille hinein, die urplötzlich herrschte, als mit dem Wind auch der Regen nachgelassen hatte.

Der schneidende Ton ging dem ungewollten Zuhörer durch Mark und Bein. Kein Wunder, dass die Frau verängstigt war.

»Aber …«, stammelte sie, »was ist mit dem Kind? Wenn es erst da ist …«

»Was geht es mich an? Aber wenn du einen guten Rat willst, lass es wegmachen. Engelmacherinnen findest du wie Sand am Meer. Frag in Sankt Pauli nach. In Hamburg.«

»Ich habe kein Geld, um nach Hamburg zu fahren«, schluchzte sie, nunmehr ganz aufgelöst vor Angst und Panik.

»Interessiert mich nicht«, sagte der Mann, kälter noch als der Schneeregen, der wieder eingesetzt hatte. »Sei dankbar, dass ich deine unbesonnene Bemerkung nur als Bettelei abtue und nicht schon als Erpressung.«

Die Frau tat dem Lauscher leid, obwohl sie anscheinend ein Flittchen war. Vom Festland herübergekommen wie manche Taschendiebe, um sich an Kurgästen schadlos zu halten? Einen Augenblick überlegte er, ob er sein Versteck verlassen sollte. Sich zwischen die beiden werfen und sie zur Einigung zwingen. Er hätte es getan, wenn er nicht Rücksicht auf seine Position zu nehmen gehabt hätte.

Aber wie die Dinge lagen, war es unmöglich.

Der Mann entfernte sich mit schnellen leichten Schritten, die im Sturmgebraus binnen kurzem nicht mehr zu hören waren. Wo die Frau abblieb, konnte er überhaupt nicht feststellen. Aber er hatte trotzdem das sichere Gefühl, jetzt allein auf der Straße zu stehen.

Behutsam zog er sich im tiefen Schatten einer Mauer ebenfalls zurück, mit dem festen Entschluss, in nächster Zukunft die Augen aufzuhalten. Vielleicht waren die beiden aus Zufall hierhergeraten, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise waren sie tatsächlich Gäste, die sich trotz des Winters für eine längere Zeit eingemietet hatten.

Als er um die Ecke bog, traf ihn der Südwest mit voller Wucht, und Schneeflocken peitschten ihm ins Gesicht. Wenn es nur nicht wieder zu einer Sturmflut kam! Seine Gedanken über die beiden Unbekannten wurden rasch abgelöst von Sorgen hinsichtlich des Wetters.

Sofern die Stärke des Sturms nicht erkennbar abnahm, während er auf West drehte, würde er sich zu überlegen haben, welche Maßnahmen er einleiten musste, um die Menschen, für die er sich verantwortlich fühlte, sowie ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen.

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Kapitel 1

Hoffentlich ging es gut! Wenn nur alles gut ging! In der zweijährigen Bauzeit des Steindeichs auf der Westseite der Hallig Nordmarsch waren sie überraschend problemlos vorangekommen, weder Orkane noch gewöhnliche Winterstürme hatten sie zurückgeworfen, und seit Baubeginn hatte es keine größeren Abbrüche von Land gegeben. Aber die See war unberechenbar. Sie konnte binnen Stunden zerstören, woran sie wochenlang gearbeitet hatten.

Trotzdem musterte Sönke Hansen, Deichbauinspektor aus Husum, zufrieden die schräg ins Wasser führende ebene Fläche aus sechseckigen Basaltblöcken, die für die Ewigkeit gefügt schien. Breitbeinig stand er über der Jahreszahl 1895, die ein mit Meißel und Hammer begabter Mann am Ende der ersten Bausaison eingeschlagen hatte.

Er stemmte sich gegen den Wind. Wie so häufig auf den Inseln und Halligen war das Wetter plötzlich umgeschlagen, nach vielen Tagen herrlichen Sonnenscheins war es kühl und nass geworden.

»Moin, Inspektor«, rief jemand hinter Hansen und klopfte ihm kräftig auf die Schulter.

Hansen drehte sich gemächlich um und grinste. »Seit heute habe ich Urlaub, Mumme. Von Inspektor will ich zwei Wochen nichts mehr hören.«

»Sah aber nicht so aus, als ob du die Gegend wie ein Badegast von Föhr betrachtet hättest. Auf mich wirkte es ganz wie eine kritische Abnahme des ersten Deichabschnitts«, wandte Mumme Ipsen, Ratmann der Hallig Langeness, ein. »Womit ich nicht behaupten will, dass du unzufrieden ausgesehen hättest.«

»Nein, das bin ich auch nicht. Im Gegenteil. Die Halligleute haben sich schneller in die ungewohnte Arbeit gefunden, als irgendjemand gedacht hätte«, sagte Hansen anerkennend. »Mich natürlich ausgenommen.«

»Das will ich meinen. Und warum auch nicht?«, hielt Ipsen dagegen. »Wir Inselfriesen haben uns schon auf alles Mögliche einstellen müssen. Von Küstenfahrt auf Walfang, danach auf die Großschifffahrt auf allen Weltmeeren, dann wurden wir Bauern, und jetzt bauen wir eben Deiche, um unser Weideland zu schützen.«

»Eben. Aber da gab es natürlich manchen in der Kommission für Schleswig-Holsteinische Wasserbauangelegenheiten, der das nicht wahrhaben wollte. Lassen wir dieses Kapitel, das liegt glücklicherweise hinter uns! Warum spazierst du am frühen Morgen hier umher?«

»Ich spaziere nicht, ich suche dich. Jorke sagte mir, dass ich dich hier irgendwo finde. Ich wollte dir mitteilen, dass die Schute mit den Steinen einen Tag früher angekommen ist, sie ankert jetzt vor der Nordkante. Ich muss einige Nordmarscher zum Entladen ausleihen, damit es schneller geht.«

Hansen blickte nach Osten, wo er das Schiff auf den weißen Schaumkronen schaukeln sah, und anschließend auf den Ratmann, der gleichzeitig der Vormann der Langenesser Deichbaukolonne war. »Dazu brauchst du mich doch nicht, Mumme. Tete Friedrichsen ist weiterhin dankbar, wenn er mit mir direkt nichts zu tun haben muss.«

»Ich weiß«, sagte Mumme grantig, was sich jedoch nicht gegen Hansen richtete, wie er wusste. »Aber ich hätte gern dein Einverständnis, damit ich Druck machen kann. Für den Fall, dass Tete sich sperrt, wozu er aus alter Gewohnheit imstande ist. Womöglich frischt dieser Starkwind noch zum Sturm aus Nordwest auf, und dann muss die Schute ankerauf gehen. Ich möchte nicht, dass sie mit unseren Steinen wieder davonsegelt.«

»Du hast mein Einverständnis für alles«, bekräftigte Hansen warmherzig. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Mumme die Arbeiten auf der Langenesser Seite auch ohne Eingreifen des Husumer Deichbauamtes bestens organisieren würde.

»Gut«, versetzte Mumme knapp. »Wir werden dann erst morgen mit den Vorarbeiten zum Überdämmen des Priels weitermachen.«

Hansen nickte und sah dem Ratmann nach, der sich nach Norderhörn aufmachte, wo Tete Friedrichsen wohnte, der Vormann der Nordmarscher Deichbauer. Zur anderen Seite, vor der Kirchwarf, wurde gerade ein Boot mit Heubündeln entladen. Männer mit den prallgefüllten weißen Heulaken auf dem Kopf hasteten nach oben auf die Warf und reichten die Bündel in eine Bodenluke hinein. Plötzlich hatten viele es eilig. Der Wetterumschlag lag in der Luft.

 

Als Sönke Hansen am Dienstagvormittag von der Ketelswarf über die See nach Norden spähte, war die Schute verschwunden und auch im Gewässer zwischen der Hallig und der Insel Föhr nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie noch in der Nacht Anker gelichtet, woran sie gutgetan hatte, denn der Wind hatte auf Nord gedreht, und sie hätte auf Legerwall gelegen. Am Ufer türmte sich ein Berg von Steinen, die achteckig behauenen schwarzen Basaltbrocken, die Hansen selbst bestellt hatte. In der Nähe waren die Männer dabei, mit Spaten den Klei zu einem soliden tragfähigen Untergrund für den Steinbelag platt zu klopfen.

»Lässt dir die Arbeit keine Ruhe?«, flüsterte Jorke und schmiegte sich an ihn.

Durch den weichen Stoff ihres Sommerkleides spürte Hansen ihren Körper, den er so gut kannte.

»Ich habe dich gar nicht kommen hören«, sagte er und zog sie zärtlich an sich. In ihre klugen blauen Augen zu blicken und auf die geröteten Wangen, die von übersprudelnder Tatkraft sprachen, war ihm ein nie nachlassendes Glück. »Doch, aber man hat immer das Gefühl, es ginge gar nicht ohne einen selbst.«

»Aber ja doch«, versetzte Jorke energisch und zog seinen Kopf am Ohrläppchen zu sich herunter, um ihn zu küssen. »Komm mit, auf dich wartet jetzt andere Arbeit. Ich werde dir das Melken beibringen.«

»Nennst du das Urlaub?«, erkundigte sich Hansen gespielt missmutig. »Wahrscheinlich können mich deine Rindviecher sowieso nicht leiden, sie werden um sich treten, und ich werde versehentlich den Melkeimer umstoßen, du wirst nicht buttern können und wirst sehr zornig auf deinen ungeschickten künftigen Ehemann sein.«

»Bisher bin ich mit allem fertig geworden, was die Hallig mir abverlangt«, sagte Jorke lächelnd. »Ich bin fest entschlossen, dich nicht gegen einen der Kuhhirten vom Festland umzutauschen, nur weil er möglicherweise mehr Seelenverwandtschaft zum Rindvieh aufweist.«

»Da bin ich aber erleichtert«, sagte Hansen lachend und zauste sanft ihre blonden Lockensträhnen, die sich wieder einmal aus dem Kopftuch herausgestohlen hatten.

Jorke hielt seine Hände fest und blickte mit einem Stirnrunzeln über seine Schulter hinweg zum Ufer hinunter. »Was haben sie denn so plötzlich? Sieh doch mal, Sönke!«

 

Während die Arbeiter ihre Kleispaten in den Boden rammten und sich zu einer Gruppe versammelten, machte sich einer der jungen Männer im Laufschritt zur Ketelswarf auf.

»Sie haben etwas im Boden entdeckt, was sie hindert weiterzuarbeiten«, stellte Hansen fest. »Da bin ich aber neugierig. Ein altes Wrack vielleicht? Eine Süßwasserquelle, die niemand kennt? Was könnte es sonst noch sein? Gab es da mal eine Warf? Erinnerst du dich an etwas im Zusammenhang mit dieser Stelle?«

Jorke schüttelte mit sorgenvoller Miene stumm den Kopf.

»Dann ein Goldschatz, und Erk will ihn seinem Vater melden!«, mutmaßte Hansen forsch und presste sie aufmunternd an sich. »Was ist los, Jorke?«

Aber Jorke, eine Hand an die Kehle gelegt, antwortete nicht, sondern starrte dem Sohn des Ratmanns entgegen, der den Warfabhang keuchend hochjagte. Es war eine befremdliche Geste. So hatte Hansen Jorke noch nie gesehen. Dann erst nahm er wahr, dass Erk gar nicht zu seinem Vater wollte, sondern vor ihm stehen blieb. Offenbar war er als Verantwortlicher für die Arbeiten selber gefordert, obwohl er Urlaub hatte.

»Du musst sofort kommen, Sönke«, brachte Erk heraus, das Gesicht vor Entsetzen verzerrt. »Im Klei ist eine Leiche vergraben! Ein Kind.«

 

Nebeneinander liefen sie zum Ufer hinunter. Sönke Hansen blieb wie angewurzelt vor dem armseligen Grab stehen und starrte betroffen nach unten. Erks knappe Mitteilung hatte ihn nicht darauf vorbereitet, ein Neugeborenes in einem grau verfärbten nassen Tuch mit Blutflecken vorzufinden. Es lag dort, wo der fertig vorbereitete Kleikern des neuen Deichabschnittes nur noch auf die Bedeckung durch die Basaltsteine wartete. Der Starkwind der vergangenen Nacht hatte die Wellen an genau dieser Stelle brechen lassen, das Ufer war auf mindestens einen Meter Länge ausgekehlt und der Kleiboden davongetragen worden.

Jemand hatte das Tuch zurückgeschlagen, und das Gesichtchen des Neugeborenen schaute hervor. Ein dunkler Flaum von Haaren lag spärlich und nass auf der Kopfhaut, und auf dem aufgedunsenen Gesicht hatten sich rötliche Flecken ausgebreitet. Hansen schnürte es die Kehle zu.

»Ich wollte anfangen, den Schaden auszubessern, und da verfing sich mein Spaten im Tuch«, berichtete einer der Männer stockend, »und als ich daran zog, wollte es nicht vorangehen, und so habe ich mit bloßen Händen weitergemacht.«

»Am Freitag haben wir an dieser Stelle zuletzt Hand angelegt«, berichtete ein anderer. »Der Kleiboden ist zwar schwer vom vielen Wasser, aber verdichtet ist er ja noch nicht.«

»Entsetzlich, dass so etwas auf unserer Hallig passiert ist«, murmelte Mumme, der von irgendwoher aufgetaucht war. Trotz seiner Jacke fror er und war blass.

»Es sieht aus, als hätte das Kind schon nicht mehr gelebt, als es begraben wurde«, sagte Hansen mit belegter Stimme, in der Hoffnung, die aufgewühlten Gemüter etwas zu beruhigen. »Und das Tuch lässt doch darauf schließen, dass die Person, die es vergrub, ihm eine Art von Würde belassen wollte.«

»Sönke! Das Kind ist tot! Daran ist nichts zu ändern! Aber wer ist die Mutter? Nur darum geht es jetzt«, fuhr ihm Mumme ungewohnt scharf über den Mund. »Und genau unterhalb der Ketelswarf!«

Hansen holte tief Luft. Jetzt erst verstand er Mummes Sorge. Eine der Frauen der Warf hatte heimlich ein totes Kind geboren. Der Verdacht musste sich gegen alle richten, die im passenden Alter waren. Flüchtig begann er zu überschlagen, wer in Frage kam.

»Neunzehn Familien auf der Warf«, sagte Mumme, als ahne er Hansens Rechenübung. »Zehn bis zwölf Frauen und ältere Mädchen. Wer war es?«

Hansen versank in Schweigen. Jorke war eine von den zehn bis zwölf. Vielleicht war sie in den Augen mancher vor allem in Verdacht, weil sie ganz entgegen der Sitte unverheiratet war und ihren Hof in eigener Verantwortung führte.

Aber der Verdacht musste sich auch gegen die Männer richten, wenn man davon ausging, dass die Frau nach der Geburt nicht die Kraft hatte, zum Ufer zu laufen und ihr totes Kind zu begraben.

Es konnte jeder gewesen sein. Nicht einmal er war von dem Verdacht ausgenommen. Es war den Nachbarn nicht entgangen, dass er seit ihrer Verlobung im vergangenen Jahr in Jorkes Haus wohnte, wenn er auf der Hallig war. Aber nie hatte jemand sich despektierlich dazu geäußert.

Hansen wagte gar nicht, Jorke anzusehen, in der Furcht, in ihrem Gesicht eine niederschmetternde Entdeckung zu machen.

Jorkes Hand stahl sich in seine. »Ich glaube nicht, dass eine Frau von der Ketelswarf in anderen Umständen war, Mumme.« Ihre Stimme zitterte.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Mumme brüsk. »Schließlich bist du nicht verhei …«

»Ich verbringe meine Zeit nicht in Blindheit, Mumme!«, unterbrach Jorke ihn, heftig vor Entrüstung. »Etliche Kinder sind auf der Warf geboren worden, seitdem ich alt genug war zu begreifen, was vor sich ging, und ich habe trächtige Kühe und Sauen …«

Mumme schnaubte leise.

»Doch, auch die lehren zu beobachten«, beharrte Jorke. »Glaube mir, wir Frauen sind die Ersten, die etwas ahnen. Und neun Monate sind eine lange Zeit, der Sommer ist darüber hingegangen, und wir alle gehen zusammen zum Krabbenfischen … Meinst du, wir könnten nicht erkennen, was unter den nassen Röcken und Schürzen los ist?«

»Hm«, brummte Mumme.

Hansens Verstand schaltete sich wieder ein. Er hätte Jorke liebend gerne unterstützt. Aber er verstand nichts von Tieren. Von Frauen bedauerlicherweise noch weniger. Mehr von Deichen. »Dass das Kind unterhalb der Ketelswarf vergraben wurde, beweist nicht, dass das Neugeborene auch von dort stammt«, wandte er ein. »Nur dass jemand genug Gewitztheit besaß, sich ausgerechnet diese weiche Stelle als Grab auszusuchen. Da praktisch alle Männer von Langeness an dieser Baustelle tätig sind, kommt jeder in Frage, Mumme. Übrigens wissen natürlich auch die Nordmarscher, an welchem Uferabschnitt wir gerade was machen. Und ohne den unerwarteten Starkwind hätte keiner bemerkt, was im Klei lag. Im Normalfall wäre das Grab für das nächste Jahrhundert vor Hochwasser sicherer als jedes Grab auf dem Kirchhof gewesen. Davon gehe ich jedenfalls aus.«

Der Ratmann mahlte mit den Zähnen und verzichtete endgültig auf Widerspruch.

Hansen sah in die Runde und entdeckte lauter betretene oder ängstliche Mienen. Ausnahmslos alle hatten begriffen, dass plötzlich jeder von ihnen als Helfershelfer unter Verdacht stand. Mancher mochte sich seiner eigenen Sache gar nicht sicher sein und würde die eigene Ehefrau am Abend gründlich verhören.

Und warum hatte Jorke diesen seltsamen Gesichtsausdruck gehabt, als ihnen die Botschaft übermittelt wurde? Plötzlich überfiel Hansen eine Ahnung davon, dass dies möglicherweise die Katastrophe war, vor der er sich gefürchtet hatte. Und überraschenderweise betraf sie nicht nur den neuen Deich, sondern möglicherweise auch ihn persönlich.

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Kapitel 2

Als wäre bereits zwischen ihnen beiden Misstrauen erwachsen, sprachen Hansen und Jorke den ganzen Tag nicht über den toten Säugling. Sie mieden das Thema. Mumme Ipsen und Hansen verständigten sich hingegen schnell darauf, dass Hansen den Kinderleichnam nach Föhr überführen würde. Dass der Arzt, der ihn untersuchen sollte, mitten in der betriebsamen Kursaison von Wyk auf die Hallig kommen würde, war so gut wie ausgeschlossen. Außerdem sparte man auf diese Weise Zeit. Noch war der Verwesungsprozess nicht weit fortgeschritten.

Mehrere Männer waren der Meinung gewesen, man solle das Neugeborene stillschweigend beerdigen, aber das hatten weder der Ratmann der Hallig noch Hansen als Verantwortlicher für ein königlich-preußisches Bauwerk akzeptieren können.

Da Kindersärge nie bereitgehalten wurden, im Gegensatz zu einem Sarg für Erwachsene, musste erst einer angefertigt werden. Zwei Männer waren in der Nachbarschaft hörbar damit beschäftigt, Treibholzplanken auf das richtige Maß zu sägen, um den Sarg zu schließen, während Hansen sich am nächsten Morgen für die Fahrt ankleidete. Jetzt konnten sie das Thema nicht mehr umgehen.

»Dass mein Urlaub mit einer solchen Tragödie beginnt, darauf wäre ich nie gekommen«, bemerkte er düster, während er sich die Hosenträger überstreifte.

»Ja, aber längst nicht so tragisch für dich wie für die Mutter«, sagte Jorke mit einem tiefen Seufzer und legte einen nagelneuen Strohhut auf den Tisch, den sie aus der Kammer geholt hatte. »Und das Kind. Die armen Stackels.«

»Muss der sein?«, fragte Hansen mit einem unwilligen Seitenblick. »Du weißt, ich hasse Strohhüte.«

»Ich weiß. Mein Bruder, dem er gehört, auch. Er hat ihn in London gekauft und nie getragen. Aber du musst auf Föhr schließlich zu verstehen geben, dass wir Halligleute keine Wilden sind, die unsere Totgeborenen fallen lassen, wo wir uns gerade befinden … In diesem Fall ist Respekt vor den gebräuchlichen Sitten besonders notwendig, glaube ich. Ich finde es gut, dass du derjenige bist, der fährt …«

Hansen schloss Jorke in seine Arme. »Deine Ausdrucksweise ist direkt, wenn nicht sogar drastisch«, murmelte er, »aber du hast wie immer Recht. Ich vertrete die Hallig nicht weniger als mein Amt. Ich werde wohl mindestens drei Tage fortbleiben. Ich muss bei der Beisetzung dabei sein, denke ich. Ebenfalls wegen des Respekts.«

»Ja, das musst du. Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«

»Ich auch.« Hansen küsste Jorke auf den Mund. »Wir würden uns in meinem verschwiegenen kleinen Logierhaus einquartieren, ganz bestimmt nicht wie die Kurgäste getrennt baden und keinesfalls vom Badekarren aus. Und nach dem gemeinsamen Bad würden wir zum Abendkonzert am Sandwall gehen. Jeden Abend, wenn du möchtest.«

»Abendkonzert. Wie wunderbar friedlich und unbeschwert sich das anhört. Ich möchte wohl«, sagte Jorke mit Sehnsucht in der Stimme. »Aber es geht nicht von einem auf den anderen Tag. Lass uns als Hochzeitsreise nach Föhr fahren. Als wären wir Leute aus Berlin. Mit etwas Planung werde ich jemanden finden, der in dieser Zeit meine Arbeit übernehmen kann.«

»Du hast also schon darüber nachgedacht«, neckte Hansen sie. Der nächste Satz kostete ihn Überwindung. »Aber ich fürchte, wir müssen die Pläne für den Moment ein wenig zurückstellen. Könntest du dich stattdessen diskret umhören, wer die Mutter sein könnte? Ich weiß nicht, welche Folgen diese Sache haben kann, und ich hoffe nicht, dass dafür jemand in das Gefängnis gehen muss … Aber Vertuschen ist undenkbar, und dann ist es schon besser, wir kümmern uns selbst darum.«

»Ja, ich hatte es mir schon vorgenommen«, antwortete Jorke bedrückt, und Hansen fiel ein so dicker Brocken vom Herzen, dass er eigentlich die holländischen Bodenfliesen mit einem Knall hätte sprengen müssen.

»Ich bin dankbar, dass du es nicht selbst warst«, hauchte er in Jorkes Ohr.

Sie schob ihn von sich. »Aber Sönke!«, sagte sie entrüstet. »Du wüsstest natürlich, wenn ich in Umständen wäre. Traust du mir eine solche Tat tatsächlich zu? Ein totgeborenes Kind ist doch kein Abfall!«

»Nein. Ich traue es dir natürlich nicht zu.« Hansen schüttelte ernst den Kopf. »Und trotzdem packte mich plötzlich eine ungeheure Angst, als ich begriff, worauf Mumme hinauswollte. Ich wette mit dir, dass es den anderen Männern genauso ging. Ich konnte es in ihren Gesichtern lesen.«

»Wenn das wirklich der Fall ist«, sagte Jorke bedächtig, »müssen wir uns wohl auf großen Unfrieden in nächster Zeit gefasst machen. Dann wird es Verdächtigungen und Argwohn in vielen Familien geben. So lange ich mich erinnern kann, gab es außer in Nummen Bandicks Familie keine ledige Mutter auf den Halligen. Und jemanden, der heimlich ein totes Kind verscharrt hat, überhaupt nicht. Ich hoffe, ich finde die Frau rechtzeitig. Wenn sie überhaupt zugänglich ist, was soll ich ihr raten?«

Hansen streichelte ziemlich abwesend Jorkes Wange. »Ich weiß es nicht, vielleicht könnte sie sich selbst anzeigen, um einer Strafe zu entgehen. Ich werde versuchen, auf Föhr etwas zu erfahren. Mit solchen Dingen hatte ich noch nie zu tun. Aber wir beide müssen noch etwas bedenken.«

»Was?«

»Ich schätze, es könnte sein, dass wir bezichtigt werden, uns in höchst unerwünschter Weise einzumischen.«

Jorke nickte. »Mir ist das bewusst. Aber die Frau muss aus irgendeinem Grund in Panik gewesen sein, und möglicherweise ist sie das immer noch. Man muss ihr helfen. Vielleicht war der Vater des Kindes nicht ihr Ehemann, sondern ein Nachbar.«

»Es gäbe noch schlimmere Vorstellungen, wer der Vater sein könnte«, ergänzte Hansen. »Jedenfalls auf dem Festland. Aus Berlin kommen hin und wieder Gazettenmeldungen, dass der Vater eines Kindes gleichzeitig sein Großvater ist. Oder der Onkel. Und in Gegenden, in denen Katholiken leben, der Priester, der gar nicht heiraten darf.«

Jorke hörte ihm staunend zu. »Wenn das alles denkbar ist, ist es umso wichtiger, die Frau ausfindig zu machen! Sobald sie erfährt, dass ihr Kind gefunden wurde und die Angelegenheit untersucht werden muss … Wer weiß, wozu sie imstande ist. Womöglich tut sie sich selber oder jemandem anderen etwas an!«

Die Außentür wurde aufgeschoben und quietschte wie immer über den Fliesen. »Sönke, wir sind fertig mit dem Sarg«, rief eine Männerstimme in den Flur.

»Ich komme«, antwortete Hansen und küsste Jorke innig.

 

Es war eine kleine Kolonne, die sich mit dem Behelfssarg zum neu ausgebauten Hafen im Jelf in Bewegung setzte: zwei junge Männer, die die Tauschlaufen des Holzkastens packten und ihn hochhoben, dazu Mumme Ipsen und Sönke Hansen. Sie alle waren angemessen gekleidet, von Strohhut oder Mütze bis zu den gesäuberten Holzschuhen.

Die Frauen und Kinder der Ketelswarf hatten sich zu einer bedrückten und stillen Gruppe vor dem Haus des Ratmanns versammelt, als Mumme mit einem Nicken das Signal zum Abmarsch gab.

Selbst die auf dem Warfabhang weidenden Gänse hörten auf zu schnattern und drängten sich zusammen. Und der Hütejunge sprang unterhalb der Warf um seine Kühe herum, um sie mit dem Stock davon abzuhalten, ausgerechnet jetzt zur Tränke nach oben zu kommen und dabei das Ack mit ihrem Mist zu beschmutzen.

Es war eine seltsame Stimmung. Sönke Hansen drehte sich um, ließ den Blick schweifen und überlegte, ob eine dieser Frauen wirklich für die Tat in Frage kam. Ihm wurde bewusst, dass er sich nicht entscheiden konnte. Und statt Abscheu empfand er ein überwältigendes Mitleid.

 

Kurz vor Mittag legte der Ewer im Hafen von Wyk an. Sönke Hansen mietete zwei Männer, die sich ankommenden Kurgästen als Kofferträger anboten, und ließ den Sarg zur Policey-Station schaffen. Es war nicht weit, aber sie zogen dennoch verwunderte Blicke der Passanten auf sich.

»Guten Morgen, Herr Schliemann«, grüßte Hansen den Leiter der kleinen Station und kam danach sofort zur Sache. »Leider komme ich in einer beklagenswerten Angelegenheit zu Ihnen. Wir haben im neuen Deich auf Langeness eine Kinderleiche entdeckt. Ich glaube, es wäre gut, wenn ein Arzt sie sich ansehen könnte. Wahrscheinlich kann er mehr feststellen als wir. Womöglich etwas über die Mutter sagen. Ich fürchte, dass wir es mit einem der unglücklichen Fälle zu tun haben, in denen ein junges Mädchen, das selbst mehr Kind als Frau ist, es heimlich geboren hat. Und ich dachte, das gäbe es nur in den Großstädten.«

»Großer Gott, Herr Hansen, unglücklicher Fall!«, rief Schliemann entrüstet aus. »Wie kommen denn Sie zu dieser Einstellung! Die hört man doch sonst nur von den Sozialisten! Die junge Frau hat sich in mehrfacher Hinsicht versündigt, bedenken Sie das bitte!«

»An der ersten Sünde war immerhin ein Mann beteiligt, und die Last der zweiten musste sie vielleicht allein tragen, weil er sich, wie es so häufig geschieht, aus dem Staub gemacht hat«, erwiderte Hansen verbissen. »Welcher ist der geeignete Arzt?«

»Hm«, sagte Schliemann, rieb sich den Nasenrücken und dachte nach. »Der Badearzt?«

Hansen schüttelte stumm den Kopf. Der war wohl eher für die Reichen und vor Gesundheit Strotzenden zuständig.

»Sie haben Recht«, gab Schliemann zu. »Dann Bethanien. Die sind auf ansteckende Erkrankungen, vor allem auf Cholera eingerichtet. Mit Toten müssten sie dort viel Erfahrung haben.«

»Aber wohl hauptsächlich mit erwachsenen Toten«, widersprach Hansen, der sich bei der Erwähnung von Bethanien unangenehm berührt fühlte, obwohl er sich nicht erklären konnte, warum.

»Dann ziehen Sie den Arzt der Kinderheilstätte zu Rate«, riet Schliemann, mit seiner Geduld am Ende. »Das ist das große rote Backsteingebäude am Strand. Dr. Lorenzen heißt der Mann. Aber ich warne Sie. Er ist im Umgang nicht ganz einfach.«

»Das ist wahr. An die Kinderheilstätte hatte ich nicht gedacht«, sagte Hansen erleichtert. »Aber Sie haben Recht. Danke.« Er setzte seinen Hut wieder auf und ging mit knappem Gruß. Schliemann hatte auch gute Seiten, wie er selbst festgestellt hatte, als dieser ihn vor einer Pistolenkugel gerettet hatte,[1] jedoch waren seine Ansichten manchmal erschreckend konservativ. Immerhin hatte er ihm zu seiner Zufriedenheit weitergeholfen.

 

»Meine Aufgabe ist es, mich um lebende Kinder zu kümmern«, knarzte der alte Herr, der Hansen als Dr. Lorenzen vorgestellt worden war. »Wir betreuen hier skrofulöse, nerven- und brustkranke Kinder und solche mit schwächlicher Konstitution. Und das im Alter von drei bis sechzehn Jahren, im Winter, wenn mehr Platz ist, auch erwachsene Mädchen und Frauen. Damit haben wir alle Hände voll zu tun! Es gibt genug Elend in unseren Großstädten.«

»Ich habe es begriffen, Dr. Lorenzen«, sagte Hansen und unterdrückte einen Stoßseufzer. Seit etlichen Minuten bemühte er sich, dem Arzt die Dringlichkeit der Angelegenheit klarzumachen, aber Lorenzen, den er beim Niederschreiben von Notizen in einem dicken Heft gestört hatte, schien seinen Schreibtisch nicht verlassen zu wollen.

»Säuglinge betreuen wir nicht! Dafür sind andere zuständig.«

»Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte, Dr. Lorenzen. Hingegen kenne ich Ihren guten Ruf und Ihre Besorgnis um unsere Jugend. Ich habe einmal einen Zeitungsartikel gelesen, in dem Sie fordern, weitere Kinderheilstätten für Großstadtkinder zu gründen.«

»Aber niemand hört darauf«, schnaubte Lorenzen plötzlich zornig. »Auf dem Ohr sind unsere Politiker taub. Es bringt ihnen weder Ruhm noch die Aufmerksamkeit des Publikums, sich für die Ärmsten der Armen einzusetzen. Für die Karriere ist es nützlicher, sich in aller Öffentlichkeit mit der gegnerischen Partei über die Anordnung der Stander auf der kaiserlichen Yacht zu streiten. Oder über etwas anderes Lächerliches. Hauptsache, sie finden jemanden Einflussreichen, dem sie zu ihren Gunsten schmeicheln können.«

Hansen schmunzelte versteckt über den absurden Anwurf. Im Gegensatz zu Schliemann fand er den bärbeißigen Arzt sehr erfrischend.

Lorenzen strich sich über seinen weißen Spitzbart und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Sie kommen doch von der Hallig, wie Sie sagten. Wieso lesen Sie meine Artikel?«

»Ich leite dort im Auftrag des Wasserbauamtes von Husum die Bedeichungsarbeiten. Und auf der Hallig leben keine Wilden, wie Sie möglicherweise annehmen. Übrigens drückt sich das Elend außerhalb der Großstädte vielleicht nur anders aus als in Unterernährung und Schwindsucht.«

Der Arzt brummelte in sich hinein und zögerte mit der Antwort. »Da mögen Sie Recht haben. Na gut. Dann lassen Sie Ihre Träger uns folgen. Wir gehen in den Keller.«

Sie warteten, bis eine Schar Jungen und Mädchen in Badehosen und mit bunten Bällen unter den Armen an ihnen vorbeigetobt war. Lorenzen sah ihnen zufrieden nach, und Hansen merkte ihm an, dass er die Kinder und seinen Beruf liebte.

Im Erdgeschoss passierten sie eine Reihe Türen, durch die Gemurmel von Stimmen kam. »Sie dürfen nicht alle gleichzeitig zur Ertüchtigung ihrer Muskeln am Strand und im Wasser toben«, bemerkte Lorenzen. »Diese hier ertüchtigen ihre Gehirnnerven.«

»Sie haben sogar Unterricht? Donnerwetter!« Hansen war beeindruckt.

»Sie bekommen hier alles, was sie brauchen, um gesunde, anständige Menschen zu werden. Trotzdem wird wohl das eine oder andere Mädchen aus Not den gleichen Weg einschlagen wie die Mutter dieses Säuglings.«

»Ja«, stimmte Hansen melancholisch zu, gleichzeitig sehr erleichtert. Dr. Lorenzen hatte sich des Falls angenommen.

 

Die Träger stellten den Sarg auf einem gefliesten Tisch in einem Raum ab, der außer einem verschlossenen Schrank nur ein großes Waschbecken zu ebener Erde enthielt. Danach ließen die Männer sich in aller Eile ihren Lohn aushändigen und machten, dass sie fortkamen.

Hansen blieb mit großem Unbehagen stehen. Als Lorenzen ihn mit den Worten »dies ist nichts für Laien« in den Flur hinausscheuchte, sträubte er sich nicht. Es drängte ihn nicht danach, die Kiste zu öffnen und zu dem kleinen Leichnam Erklärungen abgeben zu müssen.

Nach einer Zeit, die Hansen endlos vorkam und ihn unruhig im Flur hin und her tigern ließ, kam Lorenzen endlich heraus. Mit nachdenklicher Miene zog er sorgfältig die Tür hinter sich zu.

»Länger als höchstens drei Tage hat das Kind wohl nicht in der Erde gelegen«, vermutete er.

»Das ist richtig. Es dürften wohl zwei gewesen sein, Sonntag und Montag. Nur am Sonntag wird am Deich nicht gearbeitet. Am Montag wurden Steine entladen, und jede Menge Männer tummelte sich an dem Deichabschnitt, in dem die Kinderleiche lag. Daran weitergearbeitet haben sie erst gestern.«

»Aber die Sache ist trotzdem komplizierter, als Sie sie darstellten«, fuhr Lorenzen mit kurzem Anheben der Augenbrauen fort. »Das Mädchen hat nach der Geburt gelebt, die Lunge war schon in voller Funktion. Außerdem war es voll entwickelt und lebensfähig. Keine Unterernährung, wie sie in ärmlichen Kreisen der Großstadt zu finden ist. Auffällige Anzeichen von Gewaltanwendung kann ich nicht entdecken. Möglicherweise wurde es auf geschickte Art erstickt.«

 

Hansen bekam so weiche Knie, dass er sich an die Wand lehnen musste. Nichts hatte ihn auf eine solche Möglichkeit vorbereitet.

Dr. Lorenzen beobachtete ihn forschend, anscheinend um sicher zu sein, dass Hansen nicht umkippte.

»Ein Verbrechen«, stieß Hansen aus, als er sich einigermaßen gefasst hatte.

»Und was jetzt? Sie bedauern wohl, dass Sie sich eingemischt haben?«, erkundigte sich Lorenzen in sarkastischem Ton. »Das ist ja meistens der Fall. Wer will heutzutage schon Verantwortung auf sich nehmen?«

Hansen sah ihn bestürzt an. »Wie kommen Sie darauf! Ich bedauere, dass ein Mensch, Frau oder Mann, es für notwendig hielt, zu einer solchen Maßnahme zu greifen. Noch dazu auf der Hallig! Sie ist das Gegenteil einer Großstadt!«

»Die Verwahrlosung der Menschheit schreitet voran«, murmelte Lorenzen beschwichtigt. »Es wundert mich nicht, dass sie auch auf einer Hallig angelangt ist.«

»Mich durchaus«, entgegnete Hansen unwirsch und verärgert. Ihm war plötzlich sehr unbehaglich zumute. Was um Himmels willen war auf der sonst so friedlichen Hallig los?

 

Als Hansen aus der Kinderheilstätte trat, lag der Strand in strahlender Mittagssonne, und auf dem Sand unterhalb des Hauses tobten die kreischenden Großstadtkinder, vielleicht das erste Mal in ihrem Leben richtig unbeschwert. Im ufernahen Wasser stapften wie die Störche gesundheitsbewusst und ernst Männer mit hochgekrempelten Hosenbeinen, und auf der Promenade in Richtung zum Hafen flanierten unbeschwerte Paare unter Sonnenschirmen.

Es war ein Tag, der in Wyk sichtlich der Gesundheit und Erholung, nicht zu vergessen dem Amüsement gewidmet war, und an dem man nicht glauben mochte, dass es so etwas wie Kindsmord gab. Aber für Hansen war es ein düsterer Tag.

Er beschloss, Schliemann zu informieren, sobald er mit dem Pastor wegen des Begräbnisses gesprochen hatte. Lorenzen hatte gar nicht so Unrecht, am liebsten wäre ihm jetzt gewesen, er hätte nichts von dem Mord erfahren. Tief enttäuscht erinnerte er sich daran, wie er seinem Chef das hohe Loblied der Halligbevölkerung gesungen hatte. Die Entdeckung, dass es in Wahrheit auf der Hallig nicht anders als in der Großstadt zuging, hinterließ einen bitteren Geschmack.

 

Zwei Tage später war Hansens Aufgabe beendet. Schliemann hatte die Information, dass das Kind möglicherweise nach seiner Geburt getötet worden war, ohne großes Interesse entgegengenommen, sich nur einen Vermerk in ein schwarzes Wachstuchbuch gemacht. Er hatte sich nicht dazu geäußert, ob er die Angelegenheit verfolgen wollte, und Hansen hatte nicht gefragt. Seiner Pflicht war damit Genüge getan. Vielleicht würde Schliemann die Sache in aller Stille begraben.

Mit dieser Hoffnung beschloss Hansen auf dem Boot, das ihn zur Hallig zurückbrachte, den Ratmann zu informieren und sich danach zurückzuziehen. Für ihn als Vertreter des Wasserbauamtes gab es nichts mehr zu tun.

 

Jorke nahm er in die Arme, als sei er viele Monate fort gewesen, drückte sie an sich und atmete den Duft ihres Haares ein, ohne den stechenden Geruch des Kellerraumes im Kinderheim wirklich betäuben zu können. Die Erinnerung daran schon gar nicht.

Nach einer Weile erst nahm er wahr, dass Jorke im Augenblick keinen Sinn für Zärtlichkeiten hatte und sich sogar mit entschlossener Miene zu befreien versuchte. Verdutzt ließ er sie los.

Sie zog ihn trotz seines Sträubens mit sich in die Küche. »Sönke, du siehst müde und niedergeschlagen aus, ich weiß, dass das alles nicht einfach war, und vermutlich würdest du am liebsten den Einblick in die persönliche Katastrophe einer Unbekannten vergessen. Aber ich muss dir jetzt etwas erzählen«, sagte sie bestimmt.

»Muss das sein?« Hansen zog unter der niedrigen Katschur den Kopf ein, setzte sich auf den Fensterplatz und erwartete widerwillig Jorkes Bericht.

»Ja. Keine Frau auf der Hallig hat ein Kind erwartet und heimlich geboren. Ich bin ganz sicher.«

»Woher willst du das so genau wissen?«, fragte Hansen müde.

»Ich habe auch meine Methoden. Ich weiß, mit wem ich sprechen muss und was jeweils davon zu halten ist. Die meisten Frauen bringen mir Vertrauen entgegen, wenn mir auch nicht so ganz klar ist, warum. Wir erwarten im nächsten Jahr drei neue Halligbewohner, so viel habe ich erfahren.«

Hansen zuckte unbestimmt mit den Schultern und nickte flüchtig. Er hatte nicht vor, seine unerfreuliche Reise mit einem häuslichen Streit zu beenden, indem er Jorke darauf hinwies, dass die eine, um die es ging, vermutlich gerade nichts sagen würde. Die übrigen hatten keinen Grund, Jorke zu belügen.

Im Gegensatz zu ihr ahnte er, warum sie so viel Vertrauen genoss. Es gab solche Menschen …

»Hör zu, Sönke«, mahnte Jorke und rüttelte sanft an seiner Schulter. »Am Sonntag lag ein Boot vor Honkenswarf vor Anker, weißt du noch? Es hatte Sommerfrischler von Föhr an Bord. Die wurden übergesetzt, am Ufer wurde ein Tisch aufgeschlagen, und die Gäste haben getafelt.«

Hansen hob ruckartig den Kopf und sah Jorke aufmerksam an.

»Ja«, sagte sie, erleichtert, dass er ihr endlich zuhörte. »Es handelte sich für die Gäste um ein sogenanntes englisches Picknick, und außerdem hatten sie Zeit, sich auf der Hallig umzusehen. Das Boot ankerte stundenlang vor dem Nordufer und segelte erst zurück, als es ebbte.«

»Du bist ein Schatz«, sagte Hansen bewundernd.

Jorke nickte flüchtig und fuhr bekümmert in ihrem Bericht fort. »Stell dir vor, sie wollten mit den Halligleuten nichts zu tun haben, als wären wir gefährliche Wilde. Sie haben sich am Ufer verstreut und sich mit sich selbst beschäftigt. Nur eine einzige Frau hat sich auf die Honkenswarf gewagt, und als sie sich kurz umgesehen hatte, ist sie geflohen wie eine erschrockene Ringelgans. Mit flatternden Armen. Aber vom Halligflieder sollen die Leute ganze Armvoll auf das Schiff geschleppt haben!«

»Na ja, lass sie, und diese Frau interessiert uns nicht. Aber die anderen Frauen vom Lustschiff, das stundenlang geankert hat! Das ist eine Erklärung, die viel glaubhafter ist als alle anderen Möglichkeiten«, bemerkte Hansen versonnen und dachte einen Augenblick nach. »Eine gutsituierte Frau in Umständen begibt sich in einen belebten Badeort, um dort anonym das Kind zu bekommen, dessen Vater nicht ihr Ehemann ist. Mit Geld lässt sich bestimmt Schweigen erkaufen, wenn man es richtig angeht. Anschließend wollte sie es vielleicht zur Adoption freigeben. Bestimmt gibt es da verschiedene Möglichkeiten. Zufällig ergaben sich die Umstände aber offenbar so, dass sie die Geburt sogar verheimlichen konnte.«

»Du bist ja plötzlich so gesprächig«, sagte Jorke verwirrt. »Fröhlich am Ende?«

»Nein, fröhlich natürlich nicht. Aber unendlich erleichtert, Jorke. Ich fand es so schrecklich, dass eine Frau von der Hallig solche Schuld auf sich geladen haben soll. Es passte nicht. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung, jedenfalls was die Hallig betrifft.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Jorke zweifelnd. »So unschuldig, wie du es gerne hättest, geht es hier wohl wieder auch nicht zu. Tetta Friedrichsen, Tetes Tochter, wurde so auffallend unruhig und verlegen, als ich mit ihr sprach. Sie versuchte, etwas zu verbergen, und das gelang ihr nicht. Einmal war sie den Tränen nahe. Aber natürlich hat dies nichts mit dem Neugeborenen zu tun.«

Hansens Miene verdüsterte sich wieder. »Du weißt noch nicht alles. Das Neugeborene wurde wahrscheinlich erstickt, jedenfalls lebte es anfänglich, sagte der Arzt.«

»Aber das ist ja Mord!«, rief Jorke bestürzt und ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken. »Und du meinst wirklich, dass jemand von diesen reichen Sommerfrischlern, die alles haben, was die Welt bieten kann, ein solches Verbrechen begeht?«

»Keine Ahnung«, antwortete Hansen unsicher. »Ich dachte, meine Erklärung hörte sich ganz vernünftig an. Vielleicht wurde die Dame von Panik überrascht, als das Ereignis dann wirklich eintrat. Und zwar auf Langeness, nicht wie geplant auf Föhr.«

»Aha«, sagte Jorke skeptisch. »Dame auch noch.«

»Tja«, murmelte Hansen.

»Der Mord, um nicht zu sagen, die Angelegenheit, ist für dich dann ja erledigt, oder? Für uns alle.« Jorke betrachtete ihn forschend.

 

In Windeseile durchforschte Hansen sein Gewissen. War er um der Hallig willen bereit gewesen, Schliemann die Verantwortung für alles Weitere zu überlassen, in der Hoffnung, dass dieser nichts tat, hatte sich die Situation jetzt geändert. »Nicht ganz«, widersprach er. »Als Erstes werde ich natürlich Mumme ausführlich informieren. Und danach gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich benachrichtige Schliemann und lege alles offiziell in seine Hände, wozu ich verpflichtet wäre. Wie er eine Frau beurteilt, die sich ihres Neugeborenen entledigt, weiß ich. Für ihn ist es Sünde, wenn nicht Todsünde! Der Mann wird ihn nicht kümmern, und sie wird keine Gerechtigkeit finden. Das wäre keine gute Lösung.«

»Weiter«, verlangte Jorke mit gerunzelter Stirn.

Mit wachsender Verlegenheit fuhr Hansen fort. »Die andere Möglichkeit ist, dass ich der Sache im Stillen nachgehe und versuche herauszufinden, was genau passiert ist. Ich bin nicht derjenige, der Anklage gegen eine bedrängte Frau erheben will, und vielleicht kann ich ihr helfen.«

Jorke sprang auf und baute sich mit den Fäusten in der Taille vor ihm auf. »Verpflichtung! Pflicht!«, rief sie zornsprühend. »Weißt du, was ich glaube? Es macht dir einfach Spaß, Rätsel zu lösen. Mehr ist es nicht. Und die Bekanntschaft mit reichen Berlinerinnen auf der Promenade von Wyk ist ja auch nicht zu verachten! Mit Damen, wie du sagtest!«

»Aber Jorke!« Hansen zog Jorke trotz ihres heftigen Sträubens auf seinen Schoß und hielt sie fest, bis sie sich beruhigte. »Du bist ja eifersüchtig.«

»Nein, nicht nur! Schließlich hast du Urlaub, und ich habe mich darauf gefreut, mit dir zusammen am Frühstückstisch zu sitzen. Abgesehen von allem anderen …« Sie verstummte und schmiegte sich unglücklich in seine Arme.

»Ich verstehe dich ja.« Hansen fasste einen Entschluss. »Aber sieh mal. Wenn die Polizei auf Föhr auch kein Interesse an einem unter unbekannten Umständen gestorbenen Neugeborenen auf der Hallig zeigte … Aber bei einer Frau, die Gast ist … So wie die Dinge jetzt liegen, kann ich das alles nicht mehr ignorieren. Irgendetwas wird durchsickern. Und das Wasserbauamt muss darauf drängen, dass aufgeklärt wird. Sonst heißt es hinterher noch, wir hätten etwas zu vertuschen. Schließlich versuchten die Schleswiger schon im vergangenen Jahr unser Amt mit aller ministeriellen Macht aufzulösen. Mit anderen Worten, mein Oberbaudirektor Cornelius Petersen hat gar keine andere Wahl, als mich mit der Aufklärung zu beauftragen. Ich werde auf Föhr mit ihm telefonieren und ihn um Aufschub meines Urlaubs bitten.«

»Das hast du dir ja fein ausgedacht, Sönke«, rief Jorke halb empört, halb versöhnt. »Ich bedinge mir aber aus, dass du sofort danach deinen Urlaub antrittst.«

»Ja, bestimmt. Ich sehe einfach keine andere Lösung«, sagte Hansen unglücklich.

»Weißt du was, mein scheinheiliger Deichbauer? Wenn du diesen Fall gelöst haben wirst, wird es einen neuen geben, wetten? Ich bin nicht sicher, ob dieser Urlaub jemals wahr wird …«

»Aber?«, fragte Hansen konsterniert.

»Wenn ich an der Stelle dieser jungen Frau wäre, würde ich es nicht mit einem Herrn Schliemann zu tun haben wollen. Dir würde ich vertrauen. Ich werde dich also eine Weile an sie abtreten.«

Hansen lächelte und erhob sich mit Jorke auf den Armen. »Ich werde ja nicht die ganze Zeit auf Föhr sein. Komm, lass uns zu Mumme hinübergehen. Und was wir später machen, sehen wir dann.«

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Kapitel 3

Anderntags war Hansen schon wieder auf der Rückreise nach Wyk. In diesem Hafen fühlte er sich schon lange heimisch, war er doch an der Planung der Anlagen zu seinem Schutz selber beteiligt gewesen.

Während die übrigen Halligleute sich mit Taschen und Körben, die Butterkrüge, Käselaibe und Wollstrümpfe enthielten, auf den Weg zu ihren jeweiligen Abnehmern machten, drehte Hansen sich um sich selbst und überlegte, was er zuerst machen sollte.

Sein Vorgesetzter fiel ihm ein. Er musste mit ihm sprechen, sofern der noch sehr junge Gott der Telefone ihm gnädig war. Ein kleiner Umweg brachte ihn zur Post, wo er nach einigem umständlichen Getue des Beamten plötzlich Cornelius Petersens Stimme im Ohr hatte.

»Wir haben doch nicht etwa Probleme, Hansen?«, erkundigte sich Petersen, und Hansen konnte ausgezeichnet heraushören, wie alarmiert er war. »Wenn Sie sich mitten in Ihrem Urlaub nach Wyk zum Telefon bemühen, ist etwas passiert!«

Hansen lieferte ihm in neutralem Ton einen Überblick.

»Ich möchte keinesfalls, dass es Gerüchte und Mutmaßungen über unseren Deichbau gibt, wie Sie wissen«, sagte Petersen, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte. »Dass etwa die betreffende Frau einen Deichbauarbeiter bestochen haben könnte, ihr zu helfen. Oder ähnlich Unwahrscheinliches. Das Wasserbauamt kann es sich nicht leisten, ins Gerede zu geraten!«

»Ja, das sehe ich auch so«, bellte Hansen in die knatternde Leitung, um dem offenbar unwirsch werdenden Gott der Verbindung zuvorzukommen. »Aber dass einer unserer Männer damit zu tun haben könnte, ist ausgeschlossen. Es handelte sich um den schon vorbereiteten Deichabschnitt, der als Nächstes mit Steinen bedeckt werden sollte, es war also völlig klar, dass daran weitergearbeitet werden sollte. Dann aber wurde der Leichnam durch die Wellen eines Starkwindes aus Nordwest freigespült. Ich glaube, wer immer das Kind dort zurückgelassen hat, hat einfach nur bemerkt, dass der Klei dort weich genug zum Graben war.«

»Na, gut … das beruhigt mich etwas. Und dass Sie klären werden, was passiert ist, ist selbstverständlich. Unser Deich muss unter allen Umständen über jede Verdächtigung erhaben sein. Das gilt auch für alle, die mit ihm zu tun haben.«

»Selbstverständlich«, frohlockte Hansen, der die Aufforderung zum Handeln zu seiner Erleichterung klar und deutlich gehört hatte. »Ich mache mich an die Arbeit und melde mich wieder.« Vor dem Backsteingebäude fiel ihm auf, dass Jorke vermutlich völlig Recht hatte. Ihm machte die Aufklärung von Rätseln Spaß.

 

Als Erstes beschloss er, herauszufinden, welches Hotel das englische Picknick veranstaltet hatte. Er nahm Kurs auf die Promenade, um sich zum Gesellschaftshaus zu begeben. Dort war für die Gäste der Mittelpunkt von Wyk, wo Informationen aller Art zusammenliefen.

Bevor er noch den Sandwall, die Flaniermeile von Wyk, erreichte, weckte eine Annoncier-Säule des Reklamekönigs Litfaß seine Aufmerksamkeit. Aber sie war ganz frisch überklebt mit den Bekanntmachungen für die nächsten Tage. Saumseligkeit erlaubte man sich in Wyk wegen der Gäste nicht.

Der Sandwall war erschreckend voll. Hansens berufliche Aufgaben hatten ihn bis dahin meistens am Hafen festgehalten. Jetzt staunte er über die Menge der promenierenden Gäste. Wyk wurde anscheinend immer beliebter.

Damen in hellen Kleidern, beschützt vom Sonnenschirm, den der Begleiter über sie hielt, stellten die Mehrheit der Menschen. Von weitem war die Musik einer Kapelle zu hören, die aus dem Strandpavillon vor dem Gesellschaftshaus drang.

In der Vorhalle des Hauses war die Musik immer noch laut. Aber Hansen wurde sofort fündig, die Mitteilung, die ihn interessierte, war noch nicht abgehängt worden.

Wir beehren uns, stand da auf einem bunten Plakat, das die See und eine Flotte von Ewern vor der Silhouette von Wyk zeigte,

unseren Gästen kundzutun, dass wir wieder zu einem unserer beliebten und weithin bekannten Englischen Picnics, in Frankreich auch als piquenique bezeichnet, einladen. In diesem Jahr wird der ganztägige Ausflug zur Hallig Langeness gehen, einem Ort von natürlicher Schönheit und bezaubernder Ursprünglichkeit.

Die Veranstaltung wird gemeinschaftlich organisiert von Redlefsen’s Hotel, Jens Christiansens Gasthof und dem Privat-Logier-Haus Burmester. Wir bitten unsere Gäste um Anmeldung bis spätestens zum 15. August für die Fahrt am 17. August. Gäste anderer Hotels sind gern gesehen, sofern noch Plätze (40 insgesamt) zur Verfügung stehen. (Die mitfahrenden Damen werden höflichst daran erinnert, ihren Sonnenschirm mitzubringen.)

Die Suche nach der Frau würde etwas schwieriger werden, als Hansen es sich vorgestellt hatte. Vierzig Gäste aus drei oder noch mehr Hotels. Zuzüglich des Personals, das höchstwahrscheinlich dafür geschult war, die Gäste aufmerksam im Auge zu behalten und insofern für ihn besonders wichtig war, würde er eine erkleckliche Anzahl von Menschen zu befragen haben und sich auf eine ziemliche Lauferei einstellen müssen. Und das alles unter Wahrung größter Behutsamkeit, sowohl wegen seiner Dienststelle als auch, um die Gäste nicht zu beunruhigen, die von den Wyker Hotels wie Kleinode gehütet wurden, seitdem es nach den Jahren des Niedergangs wieder aufwärtsging.

 

Nachdenklich schlenderte Hansen in den angrenzenden Raum, in der die meisten Sesselgruppen besetzt waren mit rauchenden, plaudernden Herren, unter die sich einige wenige Damen gemischt hatten. Die meisten zogen es offenbar vor, sich im rauchfreien Salon jenseits einer gläsernen Wand oder im angrenzenden Garten aufzuhalten.

Er fand einen Platz bei einem einzelnen Herrn, der sich hinter einer Zeitung verbarg und sich völlig unempfindlich gegen Gesellschaft erwies.

Ohne es zu wollen, wurde Hansens Aufmerksamkeit von der selbstbewussten, alles übertönenden Stimme eines Mannes gefesselt, der vor einer Runde gut im Futter stehender älterer Herren dozierte, die die benachbarte Sesselrunde bevölkerte. Der Redner selbst wirkte schmächtig, aber drahtig.

»Nein, das ist anders, werter Herr Nachbar, ich habe leider Ihren Namen vergessen, die Franzosen schmelzen den Tran schon an Bord ihrer Schiffe aus, während die Holländer vorsichtiger sind und dies an Land tun, um die Feuergefahr, die stets droht, zu vermeiden. Und …«

»Die Holländer sind eben engherzige Geizkragen, mein lieber Paul, während die Franzosen charmant und großzügig sind. Selbst beim Walfischfang erweist sich das.«

Die Dame schien die Ehefrau des Herrn namens Paul zu sein, der die Lippen für einen Moment erbost zusammenkniff und weitersprach, kaum, dass sie geendet hatte, ohne sich auch nur für eine Sekunde um ihre Einlassung zu scheren. »Um ein Schiff mit Tran zu füllen, braucht man zwanzig bis dreißig Walfische. Das ist natürlich eine ganz andere Beute als die acht Liter, die eine hiesige Robbe ergibt. Deswegen bin ich auch ganz dafür, dass wir den Walfang wiederaufnehmen.«

»Verehrter Herr Dürrschnabel, waren Sie denn in dieser Saison schon auf Robbenjagd?«, fragte einer der Herren.

Zufällig bekam Hansen mit, dass Pauls vermeintliche Ehefrau die Nase abfällig rümpfte. Dann überlegte er, wo ihm der ungewöhnliche Familienname schon begegnet war, ohne dass es ihm einfallen wollte.

»Ein einziges Mal. Ich warte darauf, dass mir ein prächtiger Bulle gemeldet wird. Diese unerfahrenen Jungtiere zu schießen, die die Sandbänke gegenwärtig bevölkern, ist etwas für Anfänger. Damit gebe ich mich nicht ab.« Der Mann nahm den Mund ganz schön voll. Aber die Zuhörer nickten anerkennend und ohne irgendeinen Zweifel zu zeigen. Offenbar war Dürrschnabel als erfolgreicher Jäger bekannt.

»Ich bin sicher, Herr Abgeordneter, dass Sie die Räume Ihrer Villa bereits mit Robbenfellen pflastern können«, mutmaßte jemand einschmeichelnd.

Richtig, das war es! Der Mann war schleswig-holsteinischer Abgeordneter des preußischen Landtages in Berlin.

»Und Ihre Neffen und Nichten mit Kinderschühchen und Muffs aus Fell beglückt haben«, ergänzte ein anderer.

Dürrschnabel streifte Asche an einem glänzenden Aschenbecher ab, ohne auf die anbiedernden Bemerkungen einzugehen. Stattdessen wandte er sich an die Dame, die im Sessel neben ihm saß und mit ihrem korpulenten Körper gut auch noch die leere Hälfte seines eigenen hätte ausfüllen können. »Wolltest du nicht zur Teestunde hinübergehen, herzliebe Dora? Du verträgst doch den Bierdunst nicht, wie du immer sagst.«

»Dorothea!«, fauchte sie zwischen den Zähnen, »nenn mich nicht immer Dora! Das ist so gewöhnlich! Im Übrigen habe ich mich umentschieden. Vielleicht könnten die Herren ja auch etwas Rücksicht nehmen.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Dürrschnabel friedfertig. »Wir entscheiden uns öfter um, ich weiß.« Während seine Frau die vollen Lippen siegreich schürzte, wandte er sich wieder an seine Zuhörerschaft, die inzwischen eiligst die Bierkrüge aus Frau Doras Nähe entfernt hatte. »Um auf den Walfang zurückzukommen, sollte es uns ein nationales Anliegen sein, die Flotte der deutschen Walfanggesellschaften wieder aufzubauen. Es ist in Vergessenheit geraten, dass wir darauf ein altes Anrecht haben. Wir waren einst die führende Nation im Walfang.«

»Norwegen nimmt den Mund neuerdings sehr voll«, äußerte jemand zustimmend. »Die rüsten auf.«

»Genau«, versetzte Dürrschnabel verärgert. »Ich werde mich deshalb in Berlin mit aller Macht für den Bau eines modernen Walfangschiffes verwenden. Dann kommen auch die armen Nordfriesen hier wieder in Arbeit und Brot.«