Tod im Biikefeuer - Kari Köster-Lösche - E-Book

Tod im Biikefeuer E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Langeness 1900. Auf der Hallig Langeness werden die letzten Vorbereitungen für das Biikefeuer am 21. Februar getroffen. Und auch Wasserbauinspektor Sönke Hansen ist eigens aus Husum zu den Feierlichkeiten angereist. Doch dann macht seine Frau einen grausigen Fund und schon findet Sönke sich in einem verzwickten Fall wieder, der bald schon politische Dimensionen anzunehmen scheint …

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Kari Köster-Lösche

Tod im Biikefeuer

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

KartePrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27WorterklärungenAusternrezept
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Prolog

Das Biikefeuer loderte wild und hoch, angefacht durch die Böen nahender Sturmwolken. Sein Schein reichte bis zur Kirchwarf der Hallig Langeneß und hüllte das alte Gebäude mit dem frei stehenden Glockenturm in ein gespenstisch fahles, rötliches Licht.

Die Halligleute sahen staunend zu.

»Wenn nur die Funken nicht bis auf die Warf fliegen«, murmelte eine ängstliche Stimme.

Einige der Schaulustigen drehten sich zu den gefährdeten Gebäuden um, zu denen auch das reetgedeckte Pastorat gehörte. Hin- und hergerissen zwischen Neugierde auf das in diesem Jahr besonders große Feuer und dem Verantwortungsgefühl für die Häuser, machten sie sich auf den Weg zur Warf. Man hörte noch die Diskussionen über verfügbare Leitern und Eimer, dann wurden die Männer auf der Ack vom Rauch eingehüllt, und die Stimmen verklangen.

Die Gäste vom Festland interessierten sich nicht für die Gefahr, sondern waren fasziniert von diesem außerordentlichen Ereignis. Brände kannten sie hinreichend, aber kein Biikefeuer, wie es auf den Inseln und Halligen noch Tradition war. Ein Fremder in Uniform lachte sogar, von den Einheimischen mit verwunderten Blicken bedacht.

Die Flammen arbeiteten sich im Holzstoß nach oben, leckten bald an der Strohpuppe, die an einer Stange befestigt war und den Holzhaufen krönte. Erneut fanden die Flammen frische Nahrung. Der Kopf der Puppe nickte nach vorne, die verschlissenen Ärmel ihrer Jacke rutschten zwischen die losen Hölzer, und allmählich sackte die ganze Puppe mit der Stange nach unten, als würde sie von ihrem eigenen Gewicht gezogen.

Hitze verbreitete sich an der Leeseite des Holzstoßes, Funken und graue Ascheflocken stoben durch die Luft, wirbelten um die Gesichter der Nächststehenden und legten sich auf ihre Schultern. Die Zuschauer drängten nach hinten. Ein junger Mann schob mit einem Rechen herabgefallene Hölzer dichter an den Haufen.

Die Windböen kamen in rascherer Folge und wurden stärker. Plötzlich setzte Schneeregen ein, mit scharfen, peitschenden Tropfen aus Südwest. Dort türmten sich Gewitterwolken, Blitze zuckten, das Donnergrollen kam häufiger und wurde lauter. Mehrere Zuschauer flüchteten, die Gesichter gerötet von der Hitze.

Nach einer Weile ließ die Kraft des Schauers nach, und die Böen schliefen ein. Die Flammen an der Spitze des Haufens züngelten nur noch. Von der Strohpuppe war nichts mehr zu sehen.

Der Holzhaufen sackte knarrend und raschelnd in sich zusammen, Glut rollte über das schwarz verbrannte Gras. Zwischen nicht ganz verbrannten Ästen quoll am Boden Rauch hervor.

Die meisten Leute, Einheimische wie Besucher, schüttelten die Nässe von den Jacken und sammelten sich abseits der Biike um einen Kessel, in dem vom Wirt der Warf Hilligenlei Glühwein ausgeschenkt wurde, eine Gabe der Regierung in Berlin, die zum Fest eingeladen hatte.

Ein Mann und eine Frau blieben beim Feuer stehen und wedelten gemeinsam eine Rauchschwade beiseite. Sie zog davon und gab für einen Augenblick die Sicht auf die unterste Lage des Holzhaufens frei, die noch nicht vollständig verbrannt war. Unverkohlte Zweige, die zu einem Bündel verschnürt waren, zogen ihre Blicke auf sich.

Die Frau trat so plötzlich einen Schritt zurück, dass sie stolperte. Der Mann sah sie beunruhigt an. »Was ist?«

Stumm griff sie nach seinem Arm und zerrte ihn ungestüm zu sich heran. »Eine Hand«, flüsterte sie entsetzt in sein Ohr.

Sie bebte vor Angst, und er verstand sie kaum.

Einen Augenblick später gelang es ihr, sich verständlich zu machen. »Siehst du die gedörrte Hand, deren Finger wie Klauen nach einem Ast greifen?«

Er schob den Kopf vor und erkannte, was sie meinte. Unauffällig blickte er sich um. Dann holte er sich den in der Nähe liegen gebliebenen Rechen, schnippte sorgfältig Äste und verkohlte Holzstücke über die Totenhand und warf weitere Zweige darüber, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Danach raunte er der Frau einige Worte zu. Wie auf Kommando begann sie zu lächeln, hakte ihn unter und legte träumerisch ihren Kopf an seine Schulter, als amüsiere sie sich prächtig. Nach einer Weile schlugen sie Hand in Hand gemächlich den Weg ein, der zu ihrem Nachtquartier führte.

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Kapitel 1

Die Dunkelheit senkte sich über den Hafen von Husum, als die Arbeiter mit ihrem Ewer zum Festland zurückkehrten. Sie hatten eine der letzten Fuhren Brennmaterial für das große Biikefeuer, das in wenigen Tagen auf Langeneß angezündet werden sollte, auf die Hallig gebracht, waren müde vom Entladen und Stapeln des Holzes, durchgekühlt, obwohl der Februartag verhältnismäßig warm war, und hatten sich ihren Feierabend redlich verdient.

Alle vier Männer waren sich bewusst, dass sie ein Fest vorbereitet hatten, das so nie mehr wiederholt werden konnte: Ein alter Brauch wurde mit dem Feuer wiederbelebt, aber dieses Mal wurden nicht wie im 17. Jahrhundert die nach Holland aufbrechenden Walfänger verabschiedet.

Der Vormann der Gruppe, Heinrich, streckte die Beine in der schmalen Plicht von sich, so gut es ging, und schob zum Nachdenken die Mütze über die Augen. Er war der Einzige, der sich erkundigt hatte, warum das diesjährige Biikefeuer von Langeneß so wichtig für Preußen und das Kaiserreich war, dass sogar die Bauverwaltung des Dammbaus in Husum in die Vorbereitungen einbezogen worden war.

Es sollte etwas ganz Neues und Aufregendes werden: Die preußische Politik sah vor, mit dem Festakt zur Eröffnung des zweiten Teilstücks des Damms zwischen dem Festland und der Hallig Langeneß auf die einzigartige Halliglandschaft Nordfrieslands aufmerksam zu machen. Gäste sollten kommen und in Zukunft ihre Sommerferien auf den Halligen verbringen, am liebsten Begüterte, aber auch Familien mit Kindern oder Künstler wären willkommen. Der wachsende Fremdenverkehr hatte nach Sylt und Föhr viel Geld gebracht, der Aufschwung war vor allem in den Bädern Westerland und Wyk sichtbar, warum sollte so etwas also nicht auf der Hallig Langeneß möglich sein?

So ließen sich auch die aufwendige und kostspielige Steinbedeichung der flachen Ufer und der gerade abgeschlossene Dammbau von Langeneß zur Hallig Oland besser rechtfertigen, hatte es doch sogar schon Politiker gegeben, die für die Aufgabe der Halligen votiert hatten.

Dieses Biikefeuer sollte zum Paukenschlag für den neu angefachten Fremdenverkehr werden, außerdem würde man nachträglich das zwanzigste Jahrhundert in beispielloser Art und Weise begrüßen. Heinrich überlegte, ob für ihn dabei etwas herausspringen könnte, noch war er sich nicht schlüssig darüber.

 

Das Wasser im schmalen Hafenbecken, in das sie einliefen, schimmerte im Licht weniger Laternen an Hauseingängen. Am Sackende bewegten sich einige Gestalten, aber Kai und Straße längs des Beckens lagen verlassen da, auch in den meisten Häusern rührte sich nichts. Nur aus einer Kneipe kam Lärm.

»Sieh mal! Was ist das denn?«, fragte einer der Arbeiter in die Runde und deutete mit dem Kinn auf ein Schiff.

Die beiden Dösenden wachten auf, und Heinrich schob die Mütze an ihren Platz. Sie alle wussten sogleich, was gemeint war. Am Kai war längsseits ein Boot mit einer unüblich langen Gaffel vertäut.

»Einer der neuen Elbkutter, die Schiffsbaumeister Junge in der Stör für den Krabbenfang baut«, versetzte Heinrich abfällig und schüttelte den Kopf. »Gerader Vorsteven und überhängendes Heck. Neumodischer Kram.«

Der Jüngste der Gruppe interessierte sich weniger für das Boot als für die beiden Männer, die etwas ungeübt Reisetaschen, eine Kiste und mehrere undefinierbare Packstücke an Bord hievten. Zwei auf dem Vorderdeck stehende Seeleute rührten keine Hand, um ihnen zu helfen. »Krabben entlädt der jedenfalls nicht. Was macht er denn hier?«

»Krabben hat er gar nicht geliefert. Auf diesen Kuttern montieren sie die Kessel auf dem Deck. Und der Kessel ist kalt, wie man sieht, sonst würde der Schiffer nicht auf dem Deckel lümmeln.«

»Die Kiste sieht aus wie eine Weinkiste. Aber was dieses lange Paket enthalten könnte, ist mir ein Rätsel.«

»Da gibt es doch so ein Spiel mit langen Schlägern …«, fiel Heinrich ein.

»Golf. Das ist in diesem Jahr erstmals bei der Olympiade dabei«, erklärte der Jüngste eifrig. »Aber die Schläger, die man dafür braucht, sind nicht so lang.«

»Jedenfalls soll das anscheinend eine Vergnügungsfahrt werden. Der Schiffsjunge holt schon die Achterleine ein. Die wollen ablegen. Jetzt, bei Dunkelheit!«

Plötzlich tauchte aus einer Gasse ein Mann in blauer Uniform auf, dessen Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster zwischen den Häusern so laut knallten, dass es widerhallte. Mit schneidigen Bewegungen sprang er an Deck des Kutters.

Auf einmal kam Leben in die Seeleute. Der Eigner eilte ans Ruder. Der Schiffsjunge sprang zur Steuerbordklampe am Bug, schnickte mit geübter Handbewegung die Leine vom landseitigen Poller und stieß das Boot vom Kai ab. Die Passagiere tauchten in das Logis ab.

Heinrich sah mit spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln zu. Kein Zweifel, der Uniformierte war der Tonangebende in der Gruppe.

»Die segeln wirklich in die Nacht hinein«, sagte einer ungläubig.

Heinrich grunzte abfällig. »Vermutlich wollen sie nicht weit. Ich kann mir schon denken, wohin. Bei dem geringen Tiefgang. Höchstens ein Meter.«

»Na?«

»Erst nach Nordstrand. Der mit der preußischen Uniform ist bestimmt ein höherer Dienstgrad aus Berlin. Und morgen wollen sie dann weiter nach Oland, wetten? Dort werden sie im Haus des Regierungsbaumeisters zechen, unter dem Vorwand, den Damm nach Langeneß ein zweites Mal abnehmen zu müssen. Unter den erschwerten Bedingungen eines kalten Winters mit viel Landunter und Eisgang.« Gelächter schüttelte ihn, das kaum lustig war, sondern sich verächtlich anhörte.

»Landunter hatten wir doch gar nicht«, widersprach einer.

»Aber wissen die in Berlin das? Bestimmt nicht!«

»Vermutlich prüfen sie auch, ob wir nicht kostbare Faschinen unter das Brennmaterial für das Biikefeuer geschmuggelt haben.«

»Als ich das letzte Mal die Vorräte kontrolliert habe, hatten wir gar keine mehr«, wandte Heinrich ein. »Jedenfalls werden die Kerle feiern und das Ganze als mehrtägige Dienstreise abrechnen.«

»Woher weißt du das?«

Heinrich wiegte den Kopf, als hüte er ein Geheimnis. Schließlich sagte er: »Das weiß doch jeder. Wir arbeiten, die bedienen sich.«

»Seltsam, dass sie dafür einen Kutter aus Holstein anheuern. Wir haben doch genug eigene Boote, die obendrein für das Wattenmeer gebaut wurden …«

»Seeleute aus Holstein, besonders solche von der Elbe, haben außerdem keine Ahnung von unseren Gewässern hier«, warf der Schiffer ein, der das Gespräch verfolgt hatte, und ließ das Groß raus, damit die Fahrt am Wind sich verlangsamte. »Vielleicht wollen die zahlenden Passagiere nicht, dass man um ihre Anwesenheit weiß. Jedenfalls nicht wir Schiffer, die wir hier zu Hause sind. Schließlich hätten wir Anspruch darauf, dass sie einen von uns anheuern.«

»Merkwürdig. Da steckt doch irgendwas dahinter. Irgendein Schurkenstreich.«

»Ach, was. Dazu sind die zu blöde. Arrogant und hochnäsig. Die Sorte kenne ich.« Heinrich lachte wieder, so laut, dass es über den Hafen scholl. »Was macht ihr hier? Findet ihr überhaupt euren Weg in unseren Gewässern?«, brüllte er.

Schiffer und Schiffsjunge spähten irritiert herüber, während ihr Kutter unter dem vorgeheißten Großsegel und mit dem beginnenden Ebbstrom am einheimischen Ewer vorbeizog. Sie zogen es vor, nicht zu antworten.

Die Arbeiter sahen dem Schiff feindselig hinterher. »Immer dasselbe. Ein fremder Kutter für die Gäste, ein Regierungsbaumeister aus Berlin für unseren Damm, ein Fest, das den Halligleuten übergestülpt wird. Sollen sich doch alle um ihren eigenen Kram kümmern!«

»Genau! Es wäre viel vernünftiger gewesen, den Husumer Wasserbauinspektor den Dammbau überwachen zu lassen, und nicht einen Berliner. Was weiß so einer schon von unseren Strömungen, Prielen und Sänden? Hoffentlich geht das gut mit den Dämmen zum Festland«, meinte der Schiffer.

Alle außer Heinrich nickten. Er machte sich seine eigenen Gedanken.

 

»Herr Sönke Hansen!«

»Ja, Herr Petersen?« Wasserbauinspektor Hansen, von seinem Vorgesetzten auf dem Flur so unvermutet streng angesprochen, zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Wegen Ihrer Fahrt nach Langeneß.«

»Ja?«

»Sie bedenken bitte, dass mit manchen der Herren aus Berlin nicht gut Kirschen essen ist. Seien Sie um Himmels willen vorsichtig.«

»Ich bin immer vorsichtig, Herr Petersen.«

»Sie sind immer geradeheraus. Das ist das Gegenteil von vorsichtig. Aber Ihnen ist bewusst, dass wir das Wohlwollen der Herren aus Berlin und Potsdam benötigen, um Geld für alle weiteren Schutzmaßnahmen bewilligt zu bekommen, nicht wahr?«

»Jede Sekunde«, beteuerte Hansen.

Sein Chef grinste. »Sie werden die Herren so umsichtig betreuen, als wären Sie deren Kindermädchen! Erfüllen Sie ihnen alle Wünsche.«

Hansen verzog das Gesicht.

»Doch, doch! Und vor allem keine Zwischenfälle! Nichts, was die Laune der Besucher beeinträchtigen könnte.«

»Ich weiß, Herr Petersen«, seufzte Hansen. »Keine Orkane, kein Eisgang, keine Brände, keine Ratten, keine harten Betten, saubere Nachttöpfe, keine Beschwerden der Halligleute über die Gäste – wenn, dann nur in friesischer Sprache.«

»Nein, nicht einmal in Friesisch«, warnte Petersen. »Passen Sie auch auf, dass Sie zuverlässige Schiffer dingen, so dass die Rückfahrten der Gäste pünktlich erfolgen können. Die wollen alle ihre Züge erreichen.«

»Ja.«

»Sie haben die volle Verantwortung für ein gelungenes Biikebrennen«, sagte Petersen abschließend. »Wir können keine Gerüchte riskieren, das Wasserbauamt von Husum hätte den Preußen die Übernahme der Aufsicht beim Dammbau geneidet und deswegen das Fest torpediert.«

Hansen nickte ermattet.

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Kapitel 2

Deichbauinspektor Sönke Hansen, Mitarbeiter im Husumer Wasserbauamt, führte seit seiner Heirat mit Jorke Payens, die von der Hallig Langeneß stammte, ein zufriedenes Leben in ihrem gemeinsamen Haus in der ruhigen Woldsenstraße von Husum.

Hier standen bescheidene Häuser aus Backstein mit dem Giebel zur Straße, davor jeweils ein kleiner, meistens mit Hortensien bepflanzter Vorgarten und hinter dem Haus ein längliches Grundstück mit einem oder zwei Pflaumenbäumen und zuweilen einem Gemüsegarten. Aber es gab noch Baulücken in der erst vor etwa zehn Jahren neu errichteten Straße, die nach und nach geschlossen wurden. Nicht selten zogen Leute aus, um in die mehrstöckigen Jugendstilhäuser der Innenstadt überzuwechseln, und andere zogen ein. Es war eine saubere, bürgerliche Wohngegend für Familien mit Kindern und ordentlichem Einkommen. Entsprechend stand am Beginn der Straße eine Litfaßsäule mit Reklame.

Jorke war noch im Besitz ihres elterlichen Anwesens auf der Ketelswarf von Langeneß, nachdem die Eltern, in der offenen Halbtür stehend, vom Blitz erschlagen worden waren, und würde dieses auch nicht aufgeben. Sie segelte regelmäßig zur Hallig, um nach dem Rechten zu sehen, hatte dort aber weder im Wohnhaus noch im Kuhstall Verpflichtungen. Ein entfernter Vetter bewirtschaftete den Hof und hatte dafür Wohnrecht erhalten. Hansen begleitete seine Frau und Agge, ihren gemeinsamen einjährigen Sohn, so oft wie möglich dorthin.

Als Hansen am Spätnachmittag nach Hause kam, streifte er gleich hinter der Haustür die Schuhe ab und stürmte auf Socken nach oben ins Schlafzimmer, wo er Jorke wirtschaften hörte. »Ich habe den Urlaub erhalten«, verkündete er gutgelaunt, hob den krabbelnden Agge vom Boden auf und setzte ihn sich auf den Schoß. Dann wuschelte er ihm ausgiebig die weißblonden Haare, die ihn zu seinem Ebenbild machten. »Trotzdem habe ich Pflichten. Petersen legt Wert darauf, dass ich vom Beginn der Feierlichkeiten auf Langeneß bis zur Abfahrt aller Gäste anwesend bin und ein Auge auf alles habe. Vor allem will er, dass ich mich um die dienstlich anwesenden Preußen kümmere: Erklärungen zu Volksbräuchen abgebe, für Fahrgelegenheiten zwischen Damm und Biike sorge, den Pastor und den Lehrer vorstelle und dergleichen. ›Und bitte keine üblen Zwischenfälle!‹, sagte er noch.«

Jorke, die dabei war, für einen Aufenthalt von mindestens einer Woche Kleidung zusammenzupacken, schmunzelte. »Die Hallig soll also einen möglichst guten Eindruck machen.«

»Ja. Vielleicht könntest du ein paar friesische Lieder vortragen?«, fragte Hansen mit Schalk in den Augen.

»Nein, wirklich nicht, Sönke! Die Hallig ist doch kein zoologischer Garten.«

»Na gut«, sagte Hansen nun wieder ernst. »Vor allem kommt es Petersen darauf an, den Dammbau als notwendig und äußerst gelungen darzustellen. Das Loblied darauf muss ich mir zwar aus den Fingern saugen, aber das wird schon werden.«

»Dieser Damm sollte doch wohl Wind und Wellen aushalten können«, widersprach Jorke erstaunt. »Ein solch für die Ewigkeit errichtetes Bauwerk haben wir Halligleute vorher noch nie gesehen.«

Plötzlich kochte Hansens Zorn wegen der Fehlplanung der Berliner Fachleute wieder hoch. »Ja, gegen die Bauweise ist überhaupt nichts einzuwenden, die Männer haben ohne Fehl und Tadel gearbeitet, auch alle unsere Erfahrungen aus den Uferbefestigungen der Halligen berücksichtigt. Ich bin den Damm vor einer Woche noch abgeschritten.«

»Was beunruhigt dich dann?«

»Immer noch die Streckenführung. Die zwischen Langeneß und Oland halte ich für richtig. Aber ich misstraue diesem schnurgeraden Bauwerk von Oland zum Festland. Da prallt die Strömung des Süderaue-Ausläufers, der sich nördlich von Oland mit der Norderaue vereinigt, im rechten Winkel gegen den Damm. Ich halte das für die ungeschickteste, wenn nicht sogar gefährlichste Lösung.«

»Aber du hast es dem Oberbaudirektor Petersen doch gesagt?«

»Zigmal. Aber er steckt in der Klemme. Er meint, ich solle den Mund halten, weil das Ministerium nur die kürzeste Verbindung zum Festland bezahlen wollte. Andernfalls hätten wir gar nichts bekommen.«

»Das ist natürlich ein einsehbarer Grund«, meinte Jorke und zog im Vorbeigehen Agges Daumen aus Sönkes Mund. »Hast du dir die Hände gewaschen?«

»Hab’s vergessen«, antwortete Hansen reuig. »Außerdem solltest du nicht mich, sondern Agge fragen.«

»Den brauche ich nicht zu fragen.« Jorke betrachtete die schmutzigen Finger ihres Sohnes. »Er hat eben den Staub vom Koffer gewischt und ist in alle Zimmerecken gekrabbelt, um sie zu inspizieren.«

»Das härtet mich gegen Krankheiten ab«, versetzte Hansen, mit den Gedanken ganz woanders. »Eine große Unsicherheit liegt darin, dass der Damm Ende September fertig wurde, wir aber weder im Herbst noch im bisherigen Winter Eisgang oder schwere Stürme gehabt haben. Bei schlechtem Wetter hat sich der Damm noch nicht bewähren müssen, und wir haben keine Ahnung, was im schlimmsten Fall passieren könnte.«

»Ja, ich verstehe«, sagte Jorke teilnahmsvoll. »Hoffentlich wirst du nicht am Ende für alle Schäden verantwortlich gemacht, wenn es tatsächlich schiefgeht.«

»Auf Petersen habe ich bisher immer vertrauen können. Es hängt allein vom Mut seines direkten Vorgesetzten in Schleswig ab, zuzugeben, dass wir rechtzeitig unsere Einwände vorgetragen haben«, bemerkte Hansen nüchtern. »Und wenn wir die Hierarchie bis in die oberste Spitze betrachten, landen wir beim preußischen Kriegsministerium. Ein Glück, dass sie nicht bis zu uns hinunter durchregieren. Denn eines weiß ich genau: Je höher der Dienstrang, desto feiger.«

Jorke nickte. Dann lauschte sie mit schräg gelegtem Kopf. »Horch mal, Sönke. Was ist denn auf der Straße los?«

 

Von draußen waren das wütende Gebrüll eines Mannes, dazwischen aufgeregte kindliche Stimmen und das empörte Quieken eines Schweins zu hören. Aber was in aller Welt hatte ein Schwein in dieser Gegend von Husum zu suchen, in der es keinen einzigen Bauernhof gab? Hansen reichte Agge an seine Frau weiter und nahm die Treppe nach unten in großen Sprüngen.

In der Haustür blieb er verblüfft stehen. Ein Schwein mit auffallend roter Haut rannte wie ein Irrwisch auf der Straße umher, auf der einen Seite gestoppt von Hansens zeterndem Nachbarn Heinrich, auf der anderen Seite von drei jungen Burschen und zwei Kindern, die die Straße mit wild fuchtelnden Armen zu sperren versuchten. Einer der älteren Knaben spurtete todesmutig auf das Tier zu, das ihn sogleich aufs Korn nahm. Beide flitzten im Kreis herum, bis man nicht mehr wusste, wer hinter wem her war. Endlich gelang es dem Jungen durch einen herzhaften Sprung über einen Staketenzaun, seine Waden vor den scharfen Eckzähnen des Schweins in Sicherheit zu bringen.

Vor seiner Gartenpforte stehend, wedelte der neu zugezogene Hausbesitzer hilflos mit den Händen in der Luft herum, ein Däne, der abwechselnd in seiner Muttersprache das Schwein beschwor, in seinen Vorgarten zurückzukehren, und auf Deutsch den Nachbarn aufforderte, zu verschwinden.

»Was quakt er da in seinem Kartoffeldänisch?«, schrie Heinrich.

»Nun ist aber gut«, rief Jorke über Hansens Schulter hinweg in energischem Ton, schob ihren Mann beiseite und eilte an ihm vorbei auf die Gasse. »Du bist jetzt still, Heinrich Sörensen!«, befahl sie dem lautstarken Nachbarn, »und ihr Kinder auch! Die Sau versteht euch doch gar nicht! Sie ist dänisch, was ihr schon an der Farbe sehen könnt. Jeder von euch bekommt einen Winterapfel zur Belohnung für eure Hilfe, aber dann geht ihr brav nach Hause.«

Der älteste Lehrling nickte großzügig, was für alle Kinder das Signal für ihr Einverständnis war. Sie sammelten sich um Sönke Hansen, der die Äpfel bereits aus der Küche geholt hatte und verteilte.

»Heinrich, was ist los?«, erkundigte sich Jorke streng, während sie die Sau mit leisem Händeklatschen vor sich her in Richtung des Dänen scheuchte.

Heinrich, ein stämmiger Mann zwischen vierzig und fünfzig, dessen faltiges Gesicht an einen Boxerhund erinnerte, blies vor Empörung die Backen auf. Dann fand er endlich seine Stimme wieder. »Erkennst du nicht, dass der Kerl ein dänisches Protestschwein in seinem Vorgarten hält?«, bölkte er.

Hansen musterte die Sau interessiert. Nun, nachdem sich alles beruhigt hatte, wanderte sie gemächlich vor Jorke her, naschte unbeeindruckt am Rand der Straße an den winterwelken Resten von Gras und Kräutern und machte nicht im Geringsten den Eindruck, entwischen zu wollen. Ihre Haut war rot vom Rüssel bis zum Kringelschwanz, mit Ausnahme eines handspannenbreiten weißen Bandes, das sich quer über die Schultern bis zu den vorderen Klauen erstreckte. Hansen begann zu lachen, als er verstand. Die Sau war rot und weiß wie der Dannebrog, die Flagge der Dänen und auch die der dänischen Minderheit in Südschleswig.

»Was gibt’s da zu lachen, Sönke?« Heinrich bellte wieder los.

»Es ist doch nur ein Schwein …«

»Aber ein Ersatz für die dänische Flagge! Die Preußen haben sie verboten, und nun kommen die renitenten Dänen uns mit ihren rotbunten Schweinen. Sie hintertreiben die deutschen Gesetze. Was wollen sie überhaupt hier?« Er ballte die Fäuste.

»Wohnen, Heinrich«, antwortete Hansen ruhig. »Sie leben seit Jahrhunderten oder besser seit Jahrtausenden in dieser Gegend. Wir Nordfriesen sind später eingewandert, haben uns aber meistens gut mit den Dänen verstanden. Wir stellten sogar öfter die Leibwache ihrer Könige.«

»Aber heutzutage provozieren sie!«, beharrte Heinrich. »Erst mit Fahnen und jetzt mit Schweinen …«

Jorke beobachtete, wie die Sau durch die Pforte in den dänischen Vorgarten fand, und schlenderte dann zurück zu Heinrich. Sie tätschelte ihm beschwichtigend den Arm. »Ich bin ziemlich sicher, dass ein Schwein besser schmeckt als eine Fahne, Heinrich. Das beweist den guten Geschmack und die Vernunft der Dänen. Außerdem ist es eine sehr schöne Sau. Also, was ist gegen sie einzuwenden?«

Hansen grinste verstohlen. Jorke brachte Heinrich mit ihrer bäuerlichen Vernunft tatsächlich zum Schweigen. Mit saurer Miene ging er in sein Haus zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Er würde sich bald von selbst beruhigen.

 

Jorke und Sönke gesellten sich zu dem Dänen, den sie nach seinem Einzug noch nicht kennengelernt hatten, und stellten sich vor. Mit seiner Latzhose und den Holzpantoffeln war er alles andere als ein Städter, er wirkte fast zierlich, dabei zäh wie ein Halligbauer.

»Ich bin Lars Ebsen«, sagte er. »Danke für eure Hilfe. Mir scheint, Jorke versteht etwas von Schweinen. Jedenfalls mehr als ich. Muss ich ihm einen Stall bauen?«

»Ihr«, verbesserte Jorke. »Es ist eine Sau. Eine Art Sattelschwein. Die sind normalerweise schwarz mit weißem Streifen. Bisher habe ich nur ein einziges Exemplar dieses rotbunten Schlages gesehen, aber schon häufiger davon gehört. Und natürlich, sie braucht einen Verschlag mit einem stabilen Bretterzaun drum herum. Du kannst Erk, deinen Nachbarn zur anderen Seite, bitten, dir beim Bauen zu helfen. Das macht er gerne, er lebt allein, seine Frau ist gestorben, und er ist froh, wenn er was zu tun hat. Er ist sehr geschickt mit den Händen.«

»Ja, das mache ich. Danke für den Rat.«

»Und tu es bald. Die Sau würde sonst deine schön abgestochenen Beete im Vorgarten ruinieren. Dort sind die meisten Würmer.«

»Hast du Familie?«, erkundigte sich Hansen. Man musste sich schließlich beizeiten orientieren, wie alt die Kinder in der Nachbarschaft waren und ob sie sich als Spielkameraden für Agge eigneten.

Lars schüttelte betrübt den Kopf. »Mein Weib ist abgehauen, weil ich wegen meiner Dienstzeiten so selten zu Hause bin. Und Kinder haben wir keine.«

»Ja, was machst du denn beruflich?«, erkundigte sich Hansen verwundert.

»Ich bin bei der Eisenbahn beschäftigt. Seitdem die Marschbahn von Altona nach Tondern einen Anschluss an das dänische Hauptbahnnetz bekommen hat, stellen sie auch mal einen Dänen ein, weil nicht alle Fahrgäste Deutsch sprechen.«

»Man sieht: Preußen können zuweilen auch Vernunft walten lassen«, bemerkte Hansen anerkennend und zwinkerte dem Nachbarn zu.

Lars hakte die Daumen hinter seine Hosenträger und grinste breit. »Ich will euch ersparen, die sieben mir bekannten Fälle von preußischer Vernunft aufzuzählen. Jetzt muss ich erst einmal die Sau nach hinten einrangieren. Wenn ihr Häuschen fertig ist, lade ich euch alle ein, um meinen Einzug und den des Schweins zu feiern. Braucht sie eigentlich einen Namen, Jorke?«

»Besser nicht. Man hat dann Hemmungen, sie zu essen.«

»Leuchtet ein. Mojn, mojn, ihr beiden.«

Jorke und Sönke sahen der Sau nach. Diese wusste bereits, wo sie hingehörte. Folgsam trippelte sie um die Ecke des Hauses und verschwand, Lars in den klappernden Holzschuhen auf den Fersen.

Hansen sah ihm noch nach, während Jorke ins Haus zurückeilte, um sich um Agge zu kümmern. Als er die Pforte schloss und sich umdrehte, stellte er fest, dass Heinrich wieder aus seinem Haus gekommen war und Kurs auf ihn genommen hatte, immer noch mit wütendem Gesicht. »Hast du dir heute freigenommen?«, erkundigte er sich in beschwichtigendem Ton.

»Freigenommen! Von wegen!«, blaffte Heinrich. »Jetzt, wo der Damm fertig ist, braucht die Bauverwaltung uns nicht mehr. Entlassen bin ich!«

Hansen sog erschrocken Luft ein und betrachtete Heinrich mitfühlend. Entlassen! In seinem Alter! Wovon sollte der Mann jetzt leben? Eine neue Stelle zu finden würde nicht einfach sein. Zumal Hansen genau wusste, dass die Bauverwaltung, die den Dammbau unter Aufsicht des preußischen Kriegsministeriums verantwortete, eine ganze Anzahl Arbeiter weiterbeschäftigte. Entlassen wurden üblicherweise die weniger Tüchtigen, die Älteren mit nachlassenden Kräften und die Querulanten. Zu welcher Sorte Heinrich gehörte, war ihm nicht bekannt. Aber zu alt, um kräftig zuzupacken, wirkte sein Nachbar nicht, im Gegenteil. »Warum?«

»Weiß ich nicht!«, gauzte Heinrich.

Hansen schüttelte verständnislos den Kopf, sagte aber nichts.

»Um noch mal auf die Dänen zurückzukommen«, begann Heinrich, als er erkannte, dass er von Hansen keine Meinung hören würde, und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Litfaßsäule. »Da! Lies, was auf dem Plakat steht: Kommt zur Hallig Langeneß. Pflegt alte nordfriesische Bräuche. Das erste wirklich gigantische Biikefeuer im neuen Jahrhundert findet statt am 21. Februar 1900. Was sagst du dazu, dänisch gesinnter Nachbar Sönke Hansen!«

»Ich sage, dass wir alle friedlich miteinander leben können, Heinrich. Du benutzt den Begriff ›dänisch gesinnt‹ wie eine Beschimpfung und meinst mich. Es gibt dazu nicht den geringsten Anlass. Ich bin von Amts wegen sogar ausgeguckt worden, den preußischen Gästen beim Biikefeuer die nordfriesischen Bräuche zu erklären und nahezubringen.«

Heinrich starrte ihn einen Augenblick mit offenem Mund an. »Du? Ausgerechnet du?«, stammelte er dann.

»Ich bin so nordfriesisch, wie einer nur sein kann«, erinnerte Sönke ihn freundlich.

Heinrich schwenkte seinen Kopf wie ein angriffslustiger Bulle. »Ich bin nur froh, dass sie nicht dir die Überwachung des Dammbaus übertragen haben. Da ist ja ein Preuße noch besser. Mit den Dänen haben die auch nichts am Hut.« Er drehte sich um und stapfte davon, rechtschaffen bis unter die Pudelmütze.

Du liebe Zeit, dachte Hansen, will der Mann den deutsch-dänischen Krieg auf eigene Faust fortsetzen?

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Kapitel 3

Einige Tage später fanden sich Sönke Hansen, Jorke und Agge in aller Frühe bei dem Ewer Magdalena ein, der regelmäßig von Husum nach Langeneß verkehrte, sofern das Wetter es zuließ. Der Küstensegler war im Außenhafen vertäut, wo er zwischen Bug- und Heckleine schaukelte. Das Schwatzen anderer Passagiere erreichte die kleine Familie bereits, bevor sie zustieg. Etliche saßen in der kleinen Kajüte unter Deck, andere drängten sich in der Plicht.

Die meisten wollten offensichtlich zum Biikefeuer, wahrscheinlich hauptsächlich Verwandte vom Festland oder von den Inseln Pellworm und Nordstrand, die erst nach Husum mussten, um dort in das Boot nach Langeneß umzusteigen. Alle waren spürbar in erwartungsvoller Stimmung und manche schon festlich angezogen. Auch Jorke hatte das dunkle Kopftuch der Halligfrauen über ihre blonden, lockigen Haare gelegt und trug dazu das große Schultertuch, das sie in der Stadt sonst nicht benutzte.

Sie legten ab.

Hansen kannte keinen der Mitfahrer und setzte sich achtern zum Schiffer Ingwert Lorenzen, mit dem er über dies und jenes, vor allem über das Wetter, klönen konnte, sobald sie aus dem Hafen und in der Hever waren, wo bei dieser Windrichtung wenig Segelmanöver vonnöten waren. Jorke blieb bei den Frauen weiter vorne. Agge würde für die nächsten Stunden genügend Gesprächsstoff abgeben.

Der Südostwind war handig und trieb sie auf dem Ebbstrom zügig vorwärts. Noch war es dunkel. Der Schiffer ließ das Großsegel weit auswehen und zündete sich dann gemächlich seine Pfeife an.

Spät am Vormittag wurde endlich die Sonne sichtbar. Noch lag sie winterlich tief über dem Horizont und ließ die kurzen Wellen blitzen und blinken. Weit im Südwesten ballten sich Wolken wie schwarze Klumpen über dem Wasser zusammen.

»Sieht ziemlich düster aus da hinten«, bemerkte Hansen, nachdem sie in Pohns Bucht eingebogen waren und er, um Lorenzen ein wenig zur Hand zu gehen, beim Halsen den Baum abgefangen hatte. Den kleinen Ruck, den das Boot dabei erfuhr, merkten die schwatzenden Frauen gar nicht, und Lorenzen nickte ihm zu, weil Hansen ihm das erschrockene »Huch« bei größeren Schaukelbewegungen erspart hatte.

Lorenzen nahm die Pfeife aus dem Mund. »Bei der Windrichtung kann es noch Tage dauern, bis das Wetter hier ankommt. Wenn überhaupt. Bis dahin habe ich hoffentlich alle Gäste zur Hallig geschafft. Was dann wird, werden wir sehen.«

Hansen musterte sorgenvoll den Horizont und fand, dass die Schwärze sich trotzdem seit dem Morgen weiter ausgebreitet hatte. »Und ich hoffe, das Wetter spielt uns keinen bösen Streich. Wer weiß, wie viel Geld die Preußen für die weitere Bedeichung bewilligen, wenn sie oder gar ihre Ehefrauen schlechte Erfahrungen auf der Hallig machen. Die erwarten mit Sicherheit ein rauschendes Fest.«

»Ich habe die Ankündigungen auf diesen Reklamesäulen in Husum gelesen. Rauschendes Fest! Und was die für ein Holz zur Hallig haben transportieren lassen! Das Ganze ist ja eine einzige Schnapsidee«, spie Lorenzen förmlich heraus. »Man möchte denen Hagel, Sturm und Landunter wünschen, damit sie mal sehen, wie es ist, wenn man es trotz aller Widrigkeiten auf Inseln und Halligen aushält. Die haben ja keine Ahnung, dass das Festland geschützt wird, weil wir Halligleute unsere Köpfe hinhalten. Und sie wissen auch nicht, wozu Dämme benötigt werden. Aber ein Fest wollen sie dort feiern!«

»Tja, es gibt eben Menschen, die sich in Berliner Salons vergnügen und das für das Leben halten«, stellte Hansen fest. »Ich gönne ihnen trotzdem ein erfreuliches Erlebnis am Petritag.«

Der Schiffer sog emsig an seiner Pfeife, bis der aufsteigende Qualm ihn zufriedenstellte. Dann wies er mit dem Pfeifenstiel zu einem kleinen Eiland an Steuerbord. »Auf Nordstrandischmoor ist die Flagge aufgezogen. Von dort wollen auch noch Leute mit nach Langeneß. Das nimmt ja gar kein Ende in diesen Tagen.«

Hansen schmunzelte. Lorenzen wirkte zufrieden. Die zusätzlichen Einnahmen konnte er gut gebrauchen.

»Morgen soll ich übrigens noch Gäste am Anleger von Oland absetzen. Einen Preußen und seine Frau.«

»Seine Frau?« Sönke hörte es ungläubig. »Bauleiter Zimmermann weiß doch, wie es hier zugeht. Wie kann er seine Frau mitbringen?«

»Nicht der Bauleiter. Jemand Höheres aus Berlin, der bei Zimmermann auf Oland unterkommt.«

»Und dem Höheren mit Frau wird zugemutet, am Abend des Biikefeuers notfalls über den Damm von Oland nach Langeneß zu stapfen? Bei Dunkelheit, Wind, Regen, Hagel und was es da sonst noch gibt, hin und wieder zurück? Hast du das wirklich richtig verstanden, Ingwert?«

»Ich kann ja lesen! Der Brief kam gestern. Vielleicht wollen sie sich in eine Lore hocken, die vom Bauleiter höchstpersönlich geschoben wird.« Der Schiffer brach in ein vergnügtes Lachen aus, und die Vorstellung war so komisch, dass Hansen ebenfalls lachen musste.

Anschließend verfiel er in Schweigen. Welche Vorstellung machten die in Berlin sich eigentlich von einer Hallig? Und war der Regierungsbaumeister Zimmermann, der seine Dienstwohnung für die Zeit des Dammbaus auf Oland hatte, über diese Gäste überhaupt informiert, oder sollte es auch für ihn eine Überraschung sein? Hätte Petersen davon gewusst, hätte er ihn, Hansen, jedenfalls darauf aufmerksam gemacht. Denn je größer die Zahl der Gäste auf Oland war, desto schwieriger wurde es, die passende Anzahl von Loren am richtigen Ende des Schienenstrangs bereitzuhalten, um sie hin und her zu befördern.

Die einzige Personengruppe, um die er sich nicht zu kümmern brauchte, waren Zeitungsschreiber. Petersen hatte nur einen aus Berlin erwähnt.

 

Am Ilef, dem neuen Hafen an der Nordküste von Langeneß, wartete ein Bauer mit Pferd und Wagen auf Sönke und seine Familie. Wegen seines dringenden Interesses, Hansen rechtzeitig und wohlbehalten auf der Hallig zu wissen, hatte Wasserbauamtsleiter Petersen, ohne Hansen zu informieren, zum Telefon gegriffen und alles organisiert. Immerhin hatte der Bauleiter in seinem Dienstraum auf Oland einen Fernsprecher, und von dort war alles zu Fuß über den Damm nach Langeneß übermittelt worden.

Schließlich waren sie sechs Leute, die auf dem Wagen mitfuhren, alle fröhlich und in gespannter Erwartung. Mit Ausnahme von Sönke Hansen.

»Warum bist du so still?«, flüsterte Jorke ihm ins Ohr. »Machst du dir wegen des Wetters Sorgen? Ich habe gesehen, wie ihr beide über die schwarze Wand am Horizont diskutiert habt.«

»Das ist gar nicht mal das Schlimmste«, gab Sönke leise zurück. »Ich erzähle es dir später.«

 

Die Ketelswarf war die größte Warf auf Langeneß und hatte die meisten Einwohner. Als Jorke und Sönke ankamen, waren einige der Frauen in den Hausgärten, um dort vor dem Fest Ordnung zu schaffen und winterliche Überbleibsel wie herabgewehtes Reet oder von Büschen abgebrochene Ästchen zusammenzurechen. Sie winkten und riefen: »Willkommen!«

In Jorkes Haus stand alles zum Besten, die Küche war eingeheizt und warm, und auch in der Dörns hatte sich die Wärme über den Hinterladerofen ausgebreitet.

Jorke merkte nach einiger Zeit, dass Vetter Jellef humpelte. Er hatte sich ein dickes Knie geholt, wie er zugab, und zuckte zusammen, als Agge, der auf ihn zulief, sich an dem Bein festhalten wollte.

»Wie ist das gekommen?«, erkundigte sich Jorke teilnahmsvoll.

»Eine spakende Kuh … beim Ausmisten.«

»So was passiert. Ich kann dir einen Umschlag mit Öl vom Gurkenkraut machen, der nimmt die Schmerzen. Und du, Brodina, wie geht es dir? Ja, ich sehe schon.«

Die Nachbarin Brodina war über siebzig, trotz ihres Alters aber frisch und kregel. Sie hatte bereits begonnen, Grünkohl zu zupfen, wie immer bereit, helfend einzuspringen, wenn Jorke mit ihrer Familie kam.

»Gut, dass ihr heil angekommen seid«, meinte Brodina mit freundlicher Miene, die sich jedoch sogleich verdüsterte.

»Warum sagst du das?«

»Habt ihr euch auf See denn gar nicht umgesehen? Helllichter Tag, aber Hooge liegt da wie eine tote schwarze Ratte vor noch schwärzeren Wolken. Ich sage euch, es wird ein Unglück geben.«

»Aber, Brodina«, rief Jorke entsetzt. »Doch nicht jetzt! Alle kommen zum Feiern.«

»Sie sollten besser auf dem Festland bleiben!«

»Es ist zu spät, Brodina«, wandte Hansen nüchtern ein. »Die Gäste sind unterwegs, die Fahrten verabredet, nichts lässt sich mehr aufhalten.« Abgesehen davon, dass eine Spökenkiekerin nicht als verlässliche Quelle für das Wetter galt, jedenfalls bestimmt nicht bei preußischen Besuchern.

»Auf diesem Fest liegt kein Segen. Ich sehe Streit und Tod kommen. Und Feuer.« Brodina erschauerte, schwenkte die Hand im Waschwasser und zog ihr Schultertuch fester um den Hals.

Sönke atmete tief durch, um nicht etwas Heftiges von wegen Aberglauben zu erwidern, und blickte zu Jorke hinüber. Streit war abzusehen, aber Tod? Wer sollte denn sterben? Und Feuer? Feuer lag auf der Hand, deswegen waren sie schließlich hier. Hatte sie etwa Angst vor dem brennenden Holzstoß? Biike gab es doch seit jeher auf den Halligen.

Jorke verstand. »Aber, Brodina«, sagte sie und streichelte tröstend deren faltige, bräunliche Wange. »Es wird schon nichts passieren.«

»Schiffer Ingwert Lorenzen meint, es könnte noch Tage dauern, bis diese Wolkenwand sich zu uns vorgeschoben hat«, warf Sönke bekräftigend ein.

»Ach, Ingwert. Was weiß der schon!«

Der eigensinnige Ton der alten Frau signalisierte Sönke, dass sie jetzt besser von etwas anderem sprechen sollten.

»Agge hat neulich die Windpocken gehabt«, verkündete Jorke, die ein feines Gespür für Stimmungen hatte. »Aber er hat sie gut überstanden.«

»Er ist ein munteres Kerlchen«, bestätigte Brodina und strich ihm über die Locken. »Er ähnelt sehr meinem Eschel, den ich mit drei Jahren begraben musste.«

Auch nicht das angenehmste Gesprächsthema. Sönke rollte die Augen und stöhnte verhalten. Jorke sah zu ihm herüber.

»Ich denke, ich sollte die Federbetten in der Dörns beziehen. Hilfst du mir dabei, Sönke? Du könntest die Bettwärmer füllen.« Jorke öffnete resolut die Tür zur Stube.

Hansen folgte ihr aufatmend. Das Beunruhigende an Brodinas Voraussagen war, dass sie nach übereinstimmender Meinung oft zutrafen. Aber daran wollte er wirklich nicht glauben.

»Jorke, willst du nicht lieber mit Agge zurückfahren? Jetzt ist noch Zeit«, rief Brodina in eigensinnigem Ton hinter ihnen her, bevor Sönke die Tür hinter sich schließen konnte.

Jorke antwortete nicht. Aber als sie sich zu Sönke umdrehte, erkannte er, dass Brodinas Prophezeiung sie nicht unberührt ließ. Er nahm sie in den Arm. Allmählich beruhigte sich ihr klopfendes Herz, und sie schmiegte sich in seine Umarmung.

»Manchmal ist der Umgang mit den Alten schwierig«, sagte sie schließlich und löste sich aus Sönkes Armen, um Agge zu küssen und an seinem sonnengelben Haar zu schnuppern, was sie zu trösten schien.

Sönke lächelte auf Jorke hinunter. »Ja. Das Schlimme ist, dass diese Prophezeiungen immer so vage sind, dass es leichtfällt, sie zu bestätigen, sofern man daran glauben möchte. Wenn es übermorgen hagelt, sagt man, Brodina habe recht gehabt. Und wenn an Ostern jemand stirbt, erinnert man sich auch an ihre Vorhersage und meint, dass sie es schon zu Petri gewusst hat.«

Jorke richtete sich wieder auf und nahm Sönkes Hand. »Du meinst also nicht, dass ich mit Agge zurückfahren sollte?«

»Auf gar keinen Fall. Wir lassen unser Leben doch nicht von einer Spökenkiekerin bestimmen. Außerdem geht das gar nicht.«

»Dass du keine Zweifel hast, beruhigt mich etwas.« Jorke nahm Agge auf und setzte sich mit ihm in einen der beiden Alkoven, um ihm Mütze und Jacke auszuziehen. Plötzlich runzelte sie die Stirn und blickte zu Sönke hoch. »Wieso geht es eigentlich nicht? Was meinst du damit?«

»Das liegt klar auf der Hand. Petersen sieht sich als Verantwortlicher für den Dammbau, und ich bin sein Mitarbeiter vor Ort, auch wenn ich für die Biikewoche Urlaub genommen habe, um mich keinen Vorwürfen auszusetzen. Ich bin also offiziell als Vertreter des Wasserbauamtes hier. Du als meine Ehefrau bist in gewisser Weise in diese dienstlichen Angelegenheiten eingebunden und bist obendrein die Besitzerin eines hiesigen Hofes.«

»Ja. Und?«

»Jetzt stell dir vor, dass du mit Agge vor einem gewöhnlichen Sturm nach Husum zurückfährst: Man würde es als Flucht auslegen. Kurz gesagt, dein eigener Ehemann, der die Schutzmaßnahmen für die Hallig plant und baut, misstraut diesen. Nur dir erzählt er unter vier Augen die Wahrheit. Und du lässt deinen Vetter, dein Vieh und deinen Hof im Stich, um dein Kind zu retten.«

»Ich verstehe. So ein Unsinn.« Jorke schüttelte sich vor Unbehagen.

»Und – würde es ausführlicher heißen – Sönke Hansen hat uns die Durchdämmung der Priele zwischen den Halligen Nordmarsch, Langeneß und Butwehl aufgeschwatzt, und wir waren dumm genug, ihm zu vertrauen. Obwohl dadurch unser ganzes bisheriges Leben über den Haufen geworfen wurde, wir den Bootsverkehr zwischen den drei Halligen aufgeben, Brücken bauen und Pferde anschaffen mussten, und so weiter. Hansen tönt laut, dass alle Gefahren durch Sturmfluten für die Hallig jetzt beseitigt sind – aber beim ersten drohenden Sturm schickt er die Familie zum Festland. Wahrscheinlich vermutet er, dass der neue Damm einen unheilvollen Einfluss auf die Strömungen an den Halligufern haben wird.«

»Wir sind die Verlierer«, setzte Jorke die möglichen Gedanken der Halligleute fort. »Traue keinem vom Wasserbauamt und keinem Preußen!«

»Ja, genau. Vermutlich würden sie sich sogar in Zukunft gegen alle weiteren baulichen Maßnahmen sträuben.«

»Warum müsstest eigentlich im Gefahrenfall du den Kopf hinhalten und nicht die Preußen?«

Sönke zuckte mit den Schultern. »Das ist einfach so. Niemand traut den Preußen großes Wissen über die Verhältnisse hier zu, Strömungen, Winde, Watt et cetera. Uns vom Wasserbauamt aber durchaus. Wenn es schiefgeht, sind infolgedessen wir schuld, weil wir es nicht verhindert haben.«

»Die Hallig hat schon schreckliche Stürme überstanden, und das wird sie auch weiterhin«, befand Jorke. »Umso mehr, als jetzt manche Ufer gegen Abbruch befestigt worden sind. Und wenn sich wirklich Anwachs am neuen Damm bildet, wie ihr behauptet, wird es hier mit jedem Jahr sicherer werden. Wer würde denn ausgerechnet jetzt abhauen?«

Sönke schmunzelte erleichtert. »Du hast vergessen, die Warfen zu erwähnen. Ich glaube fest daran, dass in Zukunft keine mehr durch Sturmfluten zerstört werden und auch keine Menschen mehr ertrinken. Du wirst feststellen, dass unsere Schutzmaßnahmen der reinste Segen für die Halligen sind.« Sollte allerdings die Wasserhöhe aus irgendwelchen bisher unbekannten Gründen steigen, sähe es anders aus … Aber das verschwieg er.

 

»Was war denn eigentlich das Schlimme, über das du vorhin nicht sprechen wolltest?«, fragte Jorke, während sie die Betten bezog, um den übermüdeten Agge hinzulegen.

Sönke, der am Fenster stand und über das Meer hinwegsann, drehte sich um. »Es kommt noch ein höheres Tier zu Besuch. Unangemeldet. Also vermutlich zur Kontrolle. Oder er versteht sich nicht mit dem Mann, der für die Berliner Seite alles organisiert, und beabsichtigt, ihn zu ärgern.«

»Auf jeden Fall wird es für dich dadurch wieder ein Stück komplizierter. Wenn es nicht sogar Zwietracht gibt, in die du zwangsläufig verwickelt wirst«, folgerte Jorke.

Sönke nickte und wandte sich wieder der See zu. Von der Dörns aus hatte man den schönsten freien Blick über das Fahrwasser im Süden, während von der Küche an der Nordseite des Hauses der Fething zu sehen war und dahinter drei andere Häuser die Sicht nach Norden und Westen verstellten.

Das Wasser lag wie bleiern unter den letzten Sonnenstrahlen, ohne dass eine Wellenbewegung erkennbar gewesen wäre, selbst die Pricken neigten sich nur leicht im Strom. Hinter Hooge drohte unverändert die schwarze Wand, es schien, als wäre sie kein bisschen vorangekommen. Vielleicht hatte der Schiffer recht, und die Hallig käme wieder einmal davon.

Gedankenlos fuhr Hansen mit den Fingern über die Geranien, die auf den Fensterbrettern auf kleinen Holzgestellen standen, damit sie es von unten nicht kalt hatten. Brodina hatte liebevoll für sie gesorgt, und dank der Sonnenstunden auch im Winter blühten sie schon.

Um die Ketelswarf herum führte ein sandiger Weg zu den weiter östlich gelegenen Warfen. Niemand war darauf unterwegs, bis ein schwerer Ackergaul in Sicht kam, der einen Wagen mit Kratt zog. Kratt, das niedrige Gestrüpp von der Geest, konnte nur vom Festland stammen, hier auf der Hallig gab es das nicht. In einigen Hausgärten waren Johannisbeerbüsche und Pflaumenbäume gepflanzt worden, mehr ließ die unwirtliche Natur nicht zu. Offensichtlich war die Fuhre zur Kirchwarf bestimmt, in deren unmittelbarer Nähe die Biike gezündet werden sollte.

Hinter dem Wagen her wanderten zwei Männer, einträchtig in ein Gespräch vertieft.

»Sieh mal, Jorke«, sagte Sönke verblüfft. »Der neue Ratmann Ewert Knutsen und der Regierungsbaumeister Alfred Zimmermann schwatzen miteinander wie dicke Freunde.«

»Das kann nicht sein«, widersprach Jorke, während sie das Daunenbett in Agges Rücken feststopfte. »Ewert war der streitbarste Gegner des Dammbaus, auch noch, als sie ihn schon längst begonnen hatten. Zuweilen giftete er sehr ungerecht gegen die Preußen. Gegen euch vom Wasserbauamt allerdings nicht weniger.«

»Inzwischen ist offenbar die große Versöhnung eingetreten. Übrigens wollen sie auf die Warf. Sie biegen auf unsere Ack ein.«

»Ach, du lieber Gott!« Jorke sprang zu dem kleinen Spiegel zwischen den Alkoven hinüber und begann ihre Locken unter das Kopftuch zu schieben.

Hansen lachte. »Gib dir keine Mühe. Du siehst mit den Locken im Gesicht reizend aus, niedlich, würde ich sagen, wenn du es mir nicht verboten hättest.«

»Du weißt, warum, Sönke.« Auch Jorke konnte streitbar sein – die Zeitungsnachrichten aus Berlin und aus aller Welt bestätigten ihr immer wieder aufs Neue den Anspruch der Frauen auf Respekt und Gleichberechtigung.

Sönke beschwichtigte sie mit einem Kuss.

»Besuch für euch«, rief Jellef von nebenan.

 

Die beiden Besucher hatten bereits am Küchentisch Platz genommen. Brodina war verschwunden, kein Wunder, denn sie konnte Ewert nicht ausstehen und pflegte daraus kein Hehl zu machen.

»Auch wieder mal da, Jorke?«, fragte Ewert Knutsen.

Sie ersparte sich eine Antwort auf die dümmliche Frage und zog sich einen Stuhl heran. Sönke setzte sich auf einen Hocker neben sie.

»Immerhin bist du zurückgekommen, um mit uns den neuen Damm zu feiern.« Knutsens Gesicht verzog sich zu einem künstlichen Grinsen, das Jorke abscheulich fand, wie immer, wenn sie mit ihm zu tun hatte.

»Ja, selbstverständlich. Hast du etwas anderes vermutet?«, fragte sie kühl.

»Guten Morgen, Herr Hansen«, grüßte Zimmermann förmlich und streckte ihm die Hand entgegen.

»Moin, Herr Zimmermann.« Hansen schlug ein. Der Mann war zu hochnäsig, um ihm sympathisch zu sein, aber das ließ ihn nicht seine übliche Höflichkeit vergessen. »Sie bereiten ja ein mächtig aufwendiges Fest vor. Donnerwetter! Ich habe schon auf dem Schiff gehört, dass immer noch Holz vom Festland auf den Weg geschickt wird.«

»Ja, das ist notwendig. Die hiesige Bevölkerung stellt uns kaum Holz zur Verfügung.«

»Das ist wahr, Herr Zimmermann«, griff Jorke mit blitzenden Augen ein. »Die Bevölkerung, wie Sie uns nennen, hat kaum Holz! Schwemmholz ist selten!«

Der Baumeister sah sich um. »Aber hier ist es doch warm.«

»Dank der Ditten.«

»Ach, dieser Kuhmist in Fladen.«

Jorke sah bei seinem abfälligen Ton rot. »Möchten Sie sich nicht einmal selbst an der Herstellung beteiligen? Mist aus der Kuhle schaufeln, auf der Warf ausbreiten, mit den Füßen durchkneten und verdichten, in Form stechen, Fladen aufstellen, trocknen lassen, wenden, auf den Dachboden transportieren … Aufwendig, das versichere ich Ihnen.«

Zimmermann schmunzelte über ihren Eifer. »Wenn Sie gestatten, Frau Hansen, das hört sich an, als ob wir hier bei Eingeborenen in unterentwickelten Kolonialländern wären, wie in …« Ihm fiel nichts ein. »Das kann ich doch kaum glauben.«

»Türkei, Indien«, schlug Hansen vor. »Azoren.«

»Danke, Herr Kollege. Die genau meinte ich«, sagte Zimmermann gönnerhaft.

Bevor er es sich mit Jorke ganz verdarb, wechselte Hansen hastig das Thema. »Bei der Menge an Holz fragt man sich, ob sichergestellt ist, dass der Holzstoß nicht zu nah an Kirche, Pastorat und Lehrerwohnung aufgebaut wird. Man denke an Funkenflug, wenn es auffrischen sollte.«

»Das lass nur meine Sorge sein, Sönke. Wir wohnen schon eine Weile auf der Hallig. Ein paar Jahrhunderte.« Knutsen verzog die Lippen in einer Weise, die Hansen wohl bedeuten sollte, dass es ihn nichts anging.

»Einen Lütten für die Herren?«, meldete sich Jellef neben dem Herd zu Wort und schwenkte einladend eine braune Tonflasche.

»Das ist Medizin für streitbare Leute«, sagte Jorke erleichtert, noch bevor jemand ablehnen konnte.

Jellef humpelte herbei, fünf Gläschen auf der Handfläche balancierend, die er geschickt auf dem Küchentisch abstellte. Jorke war die Einzige, die ablehnte, als er auch ihr einschenken wollte.

»Nun denn. Zum Wohl!« Zimmermann stürzte den Klaren in einem Zug hinunter. »Jetzt ist ja doch mit dem Bau in preußischer Hand alles etwas schneller gegangen, nicht wahr, Hansen? Berlin hat eben mehr Möglichkeiten, durchzugreifen.«

»Durchzugreifen«, wiederholte Hansen betont respektvoll. »Oh, zweifellos.«

»Sie hören sich nicht sehr überzeugt an.«

»Doch, doch«, widersprach Hansen.

»Weshalb sind Sie eigentlich hergekommen?«, erkundigte sich Jorke schnippisch. »Einfach nur, um sich bei meinem Mann zu melden?«

»Zu melden? Natürlich nicht. Und jetzt halten Sie sich mal aus dem Gespräch von Männern heraus, Frau Jorke«, befahl Zimmermann und wandte sich Hansen zu. »Es geht darum, dass nach dem Biikebrennen jemand mit amtlicher Verantwortung dafür sorgen muss, dass alle Gäste aus Berlin und Schleswig zuverlässig zu ihren Gastgebern auf den Weg gebracht werden. Derjenige muss sich auch darum kümmern, dass die Herren, die in meiner Dienstwohnung auf Oland Nachtquartier nehmen, zuerst zum Festessen nach Hilligenlei gefahren und danach zurück zum Damm und in die Loren gesetzt werden.«

»Derjenige soll also ich sein?«

Zimmermann überging die Frage. »Vier Loren sind ja wohl betriebsbereit, soviel ich weiß.«

»Das habe ich auch gehört«, bestätigte Hansen freundlich. »Direkt bin ich im Gegensatz zu Ihnen mit dem Dammbau ja nicht befasst gewesen. Werden die Herren die Loren selber schieben?«

»Selber schieben?« Zimmermann betrachtete ihn, als wäre er eine Art Gewürm. »Die Herren aus den Ministerien? Das können sie nicht, sie sind dafür weder ausgebildet, noch haben sie das passende Schuhwerk. Nein, da müssen Sie schon Einheimische rekrutieren.«

»Wie hoch werden die bezahlt?« Jorke mischte sich kämpferisch ein, bevor Sönke sich danach erkundigen konnte. Über sie würde sich im Amt niemand beschweren, sie konnte man auch nicht unter Druck setzen.

»Dies ist eine Feier zu Ehren der Bauherren und zum Vergnügen der Nutznießer«, bölkte Zimmermann ungehalten. »Es ist doch wohl selbstverständlich, dass die Halligbevölkerung sich dankbar erweist!« Er erhob sich, klopfte mit der Faust auf den Tisch und marschierte zur Tür. Knutsen folgte ihm wortlos. Augenblicke später fiel die Außentür zu.

»So ungefähr habe ich mir den Ablauf vorgestellt«, sagte Jorke. »Sie lehnen sich nach der Befehlsübermittlung zurück, und die schwierigen Details überlassen sie dir.«

Niemand sagte etwas.

»So, und jetzt bekommst du deinen Umschlag, Jellef. Setz dich hin und leg das Bein auf den Hocker. Du hinkst ja erbärmlich. Beinwurz wäre in diesem Fall besser als Öl vom Gurkenkraut. Das weiß ich vom Apotheker, mit dem ich mich öfter über Heilmittel unterhalte. Aber da hättest du mit deinem Unfall bis April, Mai warten müssen.«

Jellef senkte resigniert den Kopf. Gegen die Hausherrin war kein Ankommen.

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Kapitel 4

Kaum dass sein Knie verbunden war, sprang Jellef auf und goss ihnen allen noch einen Schnaps ein. Dieses Mal protestierte auch Jorke nicht. »Hast du Töne!«, brummte er aufgebracht. »Was für eine Bagage, Sönke.«