Das Grab im Wald - Harlan Coben - E-Book
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Das Grab im Wald E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Zwanzig Jahre ist es her, dass vier Jugendliche nachts aus einem Sommercamp in den Wald liefen. Zwei von ihnen wurden kurz darauf brutal ermordet aufgefunden, von den anderen beiden, Gil und Camille, fehlt seither jede Spur. Camilles großer Bruder Paul, mittlerweile ein angesehener Staatsanwalt, sitzt gerade an seinem ersten großen Mordprozess, da wird plötzlich Gils Leiche gefunden – und über Nacht holt die Vergangenheit Paul wieder ein. Verzweifelt versucht er herauszufinden, was damals wirklich geschah. Und gerät immer tiefer in einen wahren Albtraum. Denn auch er spielte eine Rolle in dem Drama vor zwanzig Jahren ...

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Buch

Paul Copeland, Bezirksstaatsanwalt in New Jersey, hat es mit seinem bisher aufsehenerregendsten Fall zu tun. Er hat zwei Studenten aus reichem Haus angeklagt, eine junge Prostituierte vergewaltigt zu haben. Alle Indizien sprechen gegen die Angeklagten, doch ihre Familien versuchen um jeden Preis, einen Freispruch zu erwirken. Sie scheuen nicht einmal davor zurück, in Copelands Vergangenheit nach belastendem Material zu suchen, um ihn zu diskreditieren. Aber auch privat holt Copeland die Vergangenheit ein. Als er eine Leiche identifizieren soll, glaubt er einen Bekannten zu erkennen, der seit zwanzig Jahren für tot gehalten wurde: Gil Perez. Dieser war damals zusammen mit Copelands Schwester Camille und zwei weiteren Jugendlichen in einem Wald verschwunden und vermeintlich einem Serienkiller zum Opfer gefallen. Wenn aber Perez jene Nacht im Wald überlebte, könnte dann auch Camille noch am Leben sein? Copeland macht sich daran, den Fall von damals neu aufzurollen und stößt dabei auf eine perfide Intrige …

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nach einem Studium der Politikwissenschaften arbeitete er in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Thriller werden heute in über zwanzig Sprachen übersetzt und stürmen regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Harlan Coben wurde als erster Autor mit allen drei großen amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New Jersey. Mehr zu Autor und Buch unter www.harlancoben.com

Von Harlan Coben bei Goldmann lieferbar:

Kein Sterbenswort. Roman · Kein Lebenszeichen. Roman · Keine zweite Chance. Roman · Kein böser Traum. Roman · Kein Friede den Toten. Roman

Aus der Myron-Bolitar-Serie:

Das Spiel seines Lebens. Roman · Schlag auf Schlag. Roman · Der Insider. Roman · Ein verhängnisvolles Verspre- chen. Roman

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34 Kapitel 35 Kapitel 36 Kapitel 37 Kapitel 38 Kapitel 39 Kapitel 40 Kapitel 41 Kapitel 42 Epilog - Einen Monat später Danksagung Copyright

Dieses ist für

ALEK COBEN THOMAS BRADBEER ANNIE VAN DER HEIDE

Die drei Lebensfreuden, die ich das Glück habe, meine Enkel nennen zu dürfen

Prolog

Ich sehe meinen Vater mit dem Spaten vor mir.

Tränen laufen ihm übers Gesicht. Ein heiseres, gequältes Schluchzen bahnt sich den Weg aus der Brust über seine Lippen. Er hebt den Spaten und stößt ihn in den Boden. Die Erde reißt auf wie frisches Fleisch.

Dies ist die lebhafteste Erinnerung an meinen Vater: Ich bin achtzehn Jahre alt und sehe ihn mit dem Spaten im Wald. Er weiß nicht, dass ich ihn beobachte. Ich stehe hinter einem Baum versteckt. Er gräbt voller Wut, als wolle er sich rächen, weil die Erde ihn persönlich erzürnt hat.

Nie zuvor habe ich meinen Vater weinen sehen – weder als sein eigener Vater starb, noch als meine Mutter uns verließ, nicht einmal, als er das über meine Schwester Camille zum ersten Mal gehört hat. Aber jetzt weint er. Er weint hemmungslos und ohne jede Scham. Die Tränen strömen ihm über die Wangen. Das Schluchzen verhallt zwischen den Bäumen.

Es war das erste Mal, dass ich ihn so bespitzelt habe. Fast jeden Samstag hatte er behauptet, er ginge Angeln, aber das habe ich ihm nie wirklich geglaubt. Ich habe wohl immer geahnt, dass dieser furchtbare Ort das Ziel seiner heimlichen Ausflüge war.

Denn manchmal war es auch meins.

Ich stehe hinter dem Baum und beobachte ihn. Das werde ich noch achtmal tun. Ich unterbreche ihn nie. Ich zeige mich nie. Ich glaube, er weiß nicht, dass ich da bin. Ich bin mir sogar sicher. Doch eines Tages, als er zum Wagen geht, sieht mein Vater mich mit leerem Blick an und sagt: »Heute nicht, Paul. Heute fahre ich alleine.«

Ich sehe ihm hinterher. Er fährt zum letzten Mal in den Wald.

Fast zwanzig Jahre später liegt mein Vater auf seinem Totenbett und ergreift meine Hand. Er bekommt starke Schmerzmittel. Seine Hände sind schwielig und rau. Er hat sein Leben lang damit gearbeitet – selbst in seinen besseren Jahren, in einem Land, das es nicht mehr gibt. Sein Äußeres wirkt derb, vor allem wegen seiner hart und gegerbt aussehenden Haut, die an einen Schildkrötenpanzer erinnert. Er erleidet ungeheure Schmerzen, aber er weint nicht.

Er schließt nur die Augen und wartet, dass die Schmerzen nachlassen.

Wenn mein Vater in der Nähe war, habe ich mich immer sicher gefühlt. Das ging mir auch jetzt noch so, obwohl ich inzwischen erwachsen war und ein eigenes Kind hatte. Vor drei Monaten, als er noch bei Kräften war, kam es in einer Bar zu einer Schlägerei. Mein Vater stellte sich vor mich und wollte es mit jedem aufnehmen, der mir zu nahe kam. In seinem Alter. So war das eben.

Ich sehe ihn an, wie er vor mir im Bett liegt. Ich denke an jene Tage im Wald zurück. Ich denke daran, wie er damals gegraben und schließlich damit aufgehört hat, und ich erinnere mich, dass ich dachte, er hätte aufgegeben, nachdem meine Mutter uns verlassen hat.

»Paul?«

Plötzlich ist er ganz aufgeregt.

Ich will ihn anflehen, er solle nicht sterben, aber das wäre falsch. Ich war schon mehrmals hier. Es wurde nicht besser – weder für ihn, noch für mich.

»Schon gut, Dad«, sage ich zu ihm. »Das wird schon wieder.«

Er beruhigt sich nicht. Er will sich aufsetzen. Ich versuche, ihm zu helfen, doch er stößt meine Hand weg. Er sieht mir tief in die Augen, und ich meine Klarheit in seinem Blick zu erkennen, aber vielleicht redet man sich so etwas am Ende doch nur ein und erlaubt sich damit eine letzte, versöhnliche Notlüge.

Eine Träne quillt ihm aus dem Augenwinkel. Ich sehe zu, wie sie langsam seine Wange hinabläuft.

»Paul«, sagt mein Vater in dem breiten russischen Akzent, den er nie abgelegt hat. »Du weißt, dass wir sie immer noch finden müssen.«

»Das werden wir auch, Dad.«

Er sieht mich noch einmal an. Ich nicke ihm beschwichtigend zu. Wahrscheinlich will er aber nicht beschwichtigt werden. Ich glaube, er sucht zum ersten Mal nach einem Anzeichen von Schuld.

»Hast du es gewusst?«, fragt er fast unhörbar.

Ich spüre, wie ein Schauer meinen ganzen Körper erfasst, aber ich zucke nicht mit der Wimper und wende den Blick nicht ab. Ich frage mich, was er in mir sieht, was er glaubt. Aber das werde ich nie erfahren.

Denn in diesem Moment schließt mein Vater die Augen und stirbt.

1

Drei Monate später

Ich stand in der Turnhalle einer Grundschule und sah meiner sechsjährigen Tochter Cara dabei zu, wie sie vorsichtig auf einem Schwebebalken balancierte, der gerade einmal zehn Zentimeter über dem Boden schwebte. In nicht einmal einer Stunde würde ich einem Mann ins Gesicht sehen, der grausam ermordet worden war.

Das dürfte eigentlich niemanden schockieren.

Im Lauf der Jahre habe ich gelernt – auf die schrecklichste Art, die man sich vorstellen kann –, dass die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen außergewöhnlicher Schönheit und grauenerregender Hässlichkeit, zwischen einem absolut unschuldigen Szenario und einem fürchterlichen Blutbad außergewöhnlich durchlässig sein kann. Es dauert keine Sekunde, dann hat man diesen schmalen Grat überschritten. Gerade ist das Leben noch die reinste Idylle. Man befindet sich an einem so unschuldigen Ort wie einer Schulturnhalle. Die kleine Tochter macht gerade eine Pirouette. Sie juchzt ausgelassen. Ihre Augen sind geschlossen. Man sieht ihre Mutter in ihr, weil sie genauso lächelt und dabei die Augen zusammenkneift, und in diesem Moment fällt einem wieder ein, wie schmal dieser Grat eigentlich ist.

»Cope?«

Greta, meine Schwägerin, musterte mich mit dem üblichen, besorgten Gesichtsausdruck. Ich lächelte dagegen an.

»Woran denkst du gerade?«, flüsterte sie.

Sie wusste ganz genau, dass ich sie sowieso belügen würde.

»An Mini-Videokameras«, sagte ich.

»Was?«

Die anderen Eltern saßen auf den Klappstühlen. Ich lehnte mit verschränkten Armen hinter ihnen an der Zementwand. Über dem Eingang hing die Hallenordnung, und an den Wänden standen diverse unangenehm bedeutungsschwangere Sinnsprüche, wie: »Du kannst mehr, als du meinst, nur wollen musst du.« Die zusammengeklappten Esstische lehnten neben mir an der Wand und boten einen weiteren Beweis dafür, dass sich Grundschulturnhallen nicht verändern. Sie werden nur kleiner, wenn man älter wird.

Ich deutete auf die Eltern. »Hier sind mehr Videokameras als Kinder in der Halle.«

Greta nickte.

»Und die Eltern filmen alles. Einfach alles. Was machen sie mit den ganzen Videos? Guckt sich die wirklich noch mal jemand von Anfang bis Ende an?«

»Tust du das nicht?«

»Lieber würde ich ein Kind gebären.«

Sie lächelte. »Nein«, sagte sie, »würdest du nicht.«

»Also gut, das vielleicht nicht, aber sind wir nicht alle Teil der MTV-Generation? Es geht um schnelle Schnitte. Viele Perspektivwechsel. Aber so etwas einfach abzufilmen und diese Bilder dann nichts ahnenden Verwandten oder Freunden vorzusetzen, erfüllt doch …«

Die Tür ging auf. Den beiden Männer, die die Turnhalle betraten, sah ich sofort an, dass sie Polizisten waren. Selbst ohne meine Erfahrung mit Polizisten – ich bin der Bezirksstaatsanwalt von Essex County, zu dem auch die recht gewalttätige Stadt Newark gehört – wäre mir das aufgefallen. Manchmal zeigt das Fernsehen doch die Wahrheit. Dazu gehören zum Beispiel gewisse Vorlieben vieler Polizisten bei der Wahl ihrer Kleidung  – die Väter im grünen Ridgewood kleiden sich einfach anders. Wir kommen nicht in Anzügen, um unseren Kindern beim Turnen zuzugucken. Wir tragen Kordhosen oder Jeans und einen Pullunder über dem T-Shirt. Die beiden Männer trugen schlecht sitzende Anzüge in einem Braunton, der mich an Holzspäne nach einem Gewitter erinnerte.

Sie lächelten nicht. Ihre Blicke durchstreiften die Halle. Ich kenne die meisten Polizisten aus dieser Gegend, die beiden hatte ich jedoch noch nie gesehen. Das irritierte mich. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste natürlich, dass ich nichts getan hatte, trotzdem empfand ich dieses »Ich war’s nicht, komme mir aber trotzdem ein bisschen schuldig vor«-Gefühl.

Meine Schwägerin Greta und ihr Mann Bob hatten drei Kinder. Madison, die Jüngste, war sechs Jahre alt und ging mit meiner Cara in eine Klasse. Greta und Bob haben mir sehr geholfen. Nach dem Tod meiner Frau Jane – Gretas Schwester – waren sie nach Ridgewood gezogen. Greta hat immer behauptet, sie hätten das sowieso vorgehabt. Ich habe da meine Zweifel. Aber ich bin ihnen so dankbar, dass ich nicht allzu viele Fragen stelle. Ich weiß nicht, ob ich es ohne sie geschafft hätte.

Die anderen Väter stehen normalerweise mit mir hinten an die Wand gelehnt, aber bei solchen Veranstaltungen mitten am Tag haben nur wenige Zeit. Die Mütter – außer der, die mich jetzt mit finsteren Blicken über ihre Videokamera anstarrte, weil sie meinen kurzen Anti-Videokamera-Vortrag mitgehört hatte – himmeln mich an. Das liegt natürlich nicht an mir, sondern an meiner Vorgeschichte. Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, und ich erziehe meine Tochter allein. Hier in Ridgewood gibt es eine ganze Menge alleinerziehende Eltern, vor allem geschiedene Mütter, aber mir lässt man fast alles durchgehen. Wenn ich vergesse, eine Nachricht zu schreiben, meine Tochter zu spät abhole oder ihr Mittagessen auf dem Küchentisch stehen lasse, springen die anderen Mütter oder die Büroangestellten in der Schule ein, indem sie ihr helfen oder etwas zu essen beisteuern. Männliche Hilflosigkeit finden sie niedlich. Wenn das einer alleinstehenden Mutter passieren würde, würden sie ihr vorwerfen, dass sie ihr Kind vernachlässigt, und übel über sie herziehen.

Die Kinder kullerten und stolperten weiter eifrig herum. Ich beobachtete Cara. Sie konnte sich sehr gut konzentrieren und machte ihre Sache gut, trotzdem konnte ich mich des Verdachts nicht ganz erwehren, dass sie etwas von den Koordinationsproblemen ihres Vaters geerbt hatte. Ein paar Mädchen aus dem Turn-Team der Highschool gaben Hilfestellung. Sie waren im letzten Schuljahr, mussten also siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Das Mädchen, das Cara beim Versuch, einen Purzelbaum zu schlagen, unterstützte, erinnerte mich an meine Schwester. Meine Schwester Camille war gestorben, als sie etwa so alt war wie diese Mädchen, und die Medien hatten dafür gesorgt, dass ich das nie vergaß. Aber das war vielleicht auch besser so.

Meine Schwester wäre jetzt Ende dreißig gewesen, also mindestens so alt wie diese Mütter hier sind. Das ist ein seltsamer Gedanke. Ich sehe Camille immer als Teenager. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie jetzt tun würde – eigentlich müsste sie mit diesem etwas debil-glücklich-besorgten »Zuerst einmal bin ich Mutter«-Lächeln in einem von diesen Stühlen sitzen und ihren Nachwuchs filmen. Ich frage mich, wie sie jetzt wohl aussehen würde, aber wieder habe ich nur den verstorbenen Teenager vor Augen.

Es macht vielleicht den Eindruck, dass ich etwas besessen vom Tod bin, aber zwischen der Ermordung meiner Schwester und dem verfrühten Ableben meiner Frau besteht ein riesiger Unterschied. Erstere hat meine Berufswahl bestimmt und mir meine heutige Karriere beschert. Im Gerichtssaal kann ich solche Ungerechtigkeiten bekämpfen. Und das tue ich auch. Ich versuche, die Welt sicherer zu machen, indem ich die Menschen, die anderen Schaden zufügen, hinter Gitter bringe, um dadurch anderen Familien das zu geben, was meiner Familie nie vergönnt war – einen Schlusspunkt.

Beim zweiten Tod, dem meiner Frau, war ich hilflos und habe Mist gebaut, und das werde ich – ganz egal, was ich jetzt oder in der Zukunft noch tue – nie wiedergutmachen können.

Die Schulleiterin, die zu viel Lippenstift aufgelegt hatte, setzte ein besorgtes Lächeln auf und ging zum Eingang. Sie sprach die Polizisten an, die sie aber kaum beachteten. Ich verfolgte ihre Blicke. Als der größere Polizist – der Chef der beiden – mich sah, zögerte er kurz. Wir sahen uns einen Moment lang in die Augen. Mit einem fast unmerklichen Nicken forderte er mich auf, ihm nach draußen zu folgen, heraus aus diesem Refugium aus Lachen und Luftsprüngen. Ich bestätigte mit einem ebenso knappen Nicken, dass ich ihn verstanden hatte.

»Wo gehst du hin?«, fragte Greta.

Ich will nicht herzlos klingen, aber Greta war die hässliche Schwester. Sie sah ihr ähnlich, meiner lieblichen, toten Braut. Man sah, dass sie Schwestern waren. Doch die Merkmale, die die Schönheit meiner Jane noch erhöht hatten, hatten bei Greta eine andere Wirkung. Meine Frau hatte eine markante Nase, die irgendwie sexy war. Greta hat eine markante Nase, die, na ja, irgendwie groß war. Die weit auseinanderliegenden Augen hatten meiner Frau eine exotische Ausstrahlung verliehen. Greta sieht mit diesem großen Augenabstand ein wenig reptilienhaft aus.

»Weiß ich selbst nicht genau«, sagte ich.

»Arbeit?«

»Möglich.«

Sie blickte kurz zu den beiden vermeintlichen Polizisten hinüber und sah mich dann wieder an. »Ich wollte mit Madison bei Friendly’s zu Mittag essen. Soll ich Cara mitnehmen?«

»Klar, das wäre prima.«

»Ich kann sie auch nach der Schule abholen.«

Ich nickte. »Das wäre eine große Hilfe.«

Dann gab Greta mir einen kurzen Kuss auf die Wange – das tut sie nur sehr selten. Ich machte mich auf den Weg. Lautes Kinderlachen begleitete mich. Ich öffnete die Tür und trat in den Flur. Die beiden Polizisten folgten mir. Auch Schulflure verändern sich nicht sehr. Mit ihrer fast vollständigen Stille und dem schwachen, aber charakteristischen Geruch, der gleichzeitig beruhigt und anregt, erinnern sie mich ein bisschen an Spukschlösser.

»Sind Sie Paul Copeland?«, fragte der größere Polizist.

»Ja.«

Er sah seinen kleineren Partner an. Der war fleischig und hatte keinen Hals. Er war gebaut wie ein Betonblock, ein Eindruck, der durch die grobporige Haut noch verstärkt wurde. Ein paar Schüler kamen um die Ecke. Vermutlich Viertklässler. Ihre Gesichter waren noch rot vor Anstrengung. Wahrscheinlich kamen sie direkt vom Sportplatz. Sie gingen an uns vorbei. Ihre abgekämpfte Lehrerin folgte ihnen. Sie bedachte uns mit einem steifen Lächeln.

»Am besten unterhalten wir uns draußen«, sagte der Größere.

Ich zuckte die Achseln. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Ich hielt mich für unschuldig, war aber erfahren genug, um zu wissen, dass man bei Polizisten immer vorsichtig sein musste. Offenbar ging es nicht um den großen, schlagzeilenträchtigen Fall, an dem ich arbeitete. Sonst hätten sie bei mir im Büro angerufen, und ich hätte eine Nachricht aufs Handy oder meinen BlackBerry bekommen.

Nein, es ging um etwas anderes – etwas Persönliches.

Auch da war ich sicher, dass ich mir nichts hatte zuschulden kommen lassen. Aber ich habe schon viele Verdächtige erlebt, die auf ganz verschiedene Arten reagiert haben. Einige davon hätten Sie bestimmt überrascht. Wenn die Polizei zum Beispiel einen Hauptverdächtigen in Gewahrsam nahm, ließ sie ihn oft stundenlang allein im Vernehmungsraum sitzen. Man sollte meinen, die Schuldigen würden die Wände hochgehen, aber meistens war es genau umgekehrt. Die Unschuldigen wurden ganz hektisch und nervös. Sie hatten keine Ahnung, warum sie da waren oder welchen falschen Verdacht die Polizei gegen sie hegte. Die Schuldigen schliefen oft einfach ein.

Wir standen vor dem Schulgebäude. Die Sonne brannte auf uns herab. Der Größere kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit der Hand vor der Sonne ab. Der Betonblock weigerte sich, irgendeine Schwäche zu zeigen.

»Ich bin Detective Tucker York«, sagte der Größere. Er zog seine Polizeimarke heraus und deutete auf den Betonblock. »Und das ist Detective Don Dillon.«

Auch Dillon zückte seine Polizeimarke. Sie zeigten sie mir. Ich weiß nicht, warum sie das immer tun. Es wäre ein Leichtes, die zu fälschen. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich.

»Würden Sie uns erzählen, wo Sie gestern Nacht waren?«, fragte York.

Bei einer solchen Frage hätten die Alarmsirenen sofort losgehen müssen. Ich hätte sie sofort darauf hinweisen müssen, wer ich war und dass ich ohne meinen Anwalt keine Fragen beantworte. Aber ich war Anwalt. Ein verdammt guter sogar. Und als solcher war man ein noch größerer Narr, wenn man sich selbst vertrat. Aber ich war auch ein Mensch. Und als solcher wollte man gefallen, wenn man von der Polizei aufgeschreckt wurde. Dagegen konnte man nichts machen – trotz aller Erfahrung.

»Ich war zu Hause.«

»Kann das jemand bestätigen?«

»Meine Tochter.«

York und Dillon blickten in Richtung Turnhalle. »Das Mädchen, das da eben den Purzelbaum geschlagen hat?«

»Ja.«

»Sonst noch jemand?«

»Ich glaub nicht. Worum geht’s?«

York hatte das Reden übernommen. Er ignorierte meine Frage. »Kennen Sie einen Mann namens Manolo Santiago?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Warum nur ziemlich sicher?«

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ja«, sagte York. Er hustete in seine Faust. »Sollen wir vielleicht vor Ihnen niederknien oder Ihren Ring küssen oder so etwas?«

»Das meinte ich nicht.«

»Gut, dann liegen wir ja auf einer Wellenlänge.« Ich mochte sein Verhalten nicht, ließ es ihm aber durchgehen. »Also, warum sind Sie nur ›ziemlich sicher‹, dass Sie Manolo Santiago nicht kennen?«

»Ich meine damit, dass mir der Name nicht bekannt vorkommt. Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Aber ich kann nicht ausschließen, dass ich einmal Klage gegen ihn erhoben habe, dass er Zeuge in einem meiner Fälle war oder dass ich ihm vielleicht vor Jahren bei irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung begegnet bin.«

York nickte und forderte mich damit auf weiterzureden. Ich schwieg.

»Hätten Sie etwas dagegen, uns zu begleiten?«

»Wohin?«

»Es dauert nicht lange.«

»Dauert nicht lange«, wiederholte ich. »Wo liegt das denn ungefähr?«

Die beiden Polizisten sahen sich an. Ich versuchte, entschlossen zu wirken.

»Ein Mann namens Manolo Santiago ist gestern Nacht ermordet worden.«

»Wo?«

»Seine Leiche wurde in Manhattan gefunden. In der Nähe der Washington Heights.«

»Und was hab ich damit zu tun?«

»Wir hoffen, dass Sie uns helfen können.«

»Wieso sollte ich Ihnen helfen können? Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich den Mann nicht kenne.«

»Sie haben gesagt … «, York sah tatsächlich in sein Notizheft, was allerdings nur Show war, da er meine Antworten nicht aufgeschrieben hatte, » … Sie wären ›ziemlich sicher‹, dass Sie ihn nicht kennen.«

»Okay, dann bin ich mir eben sicher. Gut? Ich bin mir sicher.«

Er klappte das Notizheft mit einer theatralischen Geste zu. »Mr Santiago kannte Sie.«

»Woher wissen Sie das?«

»Es wäre uns lieber, wenn wir Ihnen das zeigen könnten.«

»Und mir wäre es lieber, wenn Sie es mir sagen.«

»Mr Santiago …«, York zögerte, als müsste er über jedes Wort genau nachdenken, »hatte gewisse Gegenstände bei sich.«

»Gegenstände?«

»Ja.«

»Könnten Sie das etwas näher ausführen?«

»Gegenstände«, sagte er, »die auf Sie hinweisen.«

»Inwiefern weisen die auf mich hin?«

»Yo, Mr Staatsanwalt?«

Dillon – der Betonklotz – beteiligte sich am Gespräch.

»Ich bin Bezirksstaatsanwalt«, sagte ich.

»Egal.« Er reckte den Hals und deutete auf meine Brust. »Langsam geh’n Sie mir echt auf die Eier.«

»Wie bitte?«

Dillon trat extrem nah an mich heran. »Sehen wir so aus, als ob wir Lust auf Ihre Wortklauberei hätten?«

Ich hielt das für eine rhetorische Frage, aber er wartete auf eine Antwort. Schließlich sagte ich: »Nein.«

»Dann hören Sie mir gut zu. Wir haben eine Leiche. Es gibt eindeutige Hinweise auf eine Verbindung zu Ihnen. Wollen Sie jetzt etwas zur Aufklärung beitragen oder lieber noch ein paar Worte verdrehen, womit Sie sich immer verdächtiger machen?«

»Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie hier reden, Detective?«

»Mit einem Mann, der eine Wahl gewinnen will und hofft, dass wir mit unserem Verdacht nicht direkt an die Presse gehen.«

»Wollen Sie mir drohen?«

York ging dazwischen. »Hier will keiner irgendjemandem drohen.«

Dillon hatte jedoch einen Volltreffer gelandet. Es stimmte, meine Berufung war noch befristet. Mein Freund, der aktuelle Gouverneur des Garden State, hatte mich zum geschäftsführenden Bezirksstaatsanwalt ernannt. Es gab auch ernst zu nehmende Überlegungen, ob ich für die Wahl als Kongressabgeordneter kandidieren oder mich sogar auf das freie Senatorenamt bewerben sollte. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass ich keine politischen Ambitionen hatte. Ein Skandal oder auch nur der Anflug eines Skandals käme absolut ungelegen.

»Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte«, sagte ich.

»Vielleicht können Sie es, vielleicht auch nicht«, ließ Dillon vernehmen. »Aber Sie wollen uns doch sicher helfen, wo Sie nur können, oder?«

»Selbstverständlich«, sagte ich. »Jedenfalls möchte ich nicht, dass Ihre Eier mehr unter Druck geraten als unbedingt nötig.«

Er hätte fast gelächelt. »Dann steigen Sie doch mal mit ein.«

»Heute Nachmittag habe ich einen wichtigen Termin.«

»Bis dahin sind Sie wieder zurück.«

Ich hatte mit einem verbeulten Chevrolet Caprice gerechnet, aber sie fuhren einen sauberen, neuen Ford. Ich setzte mich nach hinten. Meine beiden neuen Freunde nahmen vorne Platz. Auf der Fahrt sagten wir nichts. Die George Washington Bridge war verstopft, aber wir machten einfach die Sirene an und fuhren durch. Als wir in Manhattan waren, sagte York: »Wir halten Manolo Santiago für einen Decknamen.«

Ich sagte, »Mhm«, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.

»Na ja, wir haben das Opfer noch nicht eindeutig identifiziert. Die Leiche wurde erst gestern Nacht gefunden. Der Mann hatte einen Führerschein auf den Namen Manolo Santiago bei sich. Wir haben das überprüft. Es scheint nicht sein richtiger Name zu sein. Seine Fingerabdrücke haben wir in unseren Datenbanken nicht gefunden. Also wissen wir nicht, wer er ist.«

»Und Sie glauben, dass ich ihn kenne?«

Sie antworteten nicht.

Yorks Stimme klang so sonnig wie ein Frühlingstag. »Sie sind Witwer, Mr Copeland, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte ich.

»Muss schwer sein. So ganz allein mit einem Kind.«

Ich sagte nichts.

»Wir haben gehört, dass Ihre Frau Krebs hatte. Und Sie haben eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet, die Gelder für die Suche nach einer Therapie sammelt.«

»Mhm.«

»Bewundernswert.«

Als ob die was davon verstünden.

»Das muss schon eigenartig sein für Sie«, sagte York.

»Was?«

»Auf der anderen Seite zu stehen. Normalerweise sind Sie derjenige, der die Fragen stellt, nicht der, der sie beantwortet. Muss ein seltsames Gefühl sein.«

Er lächelte mir durch den Rückspiegel zu.

»Hey, York«, sagte ich.

»Was ist?«

»Haben Sie ein Plakat oder ein Programm dabei?«, fragte ich.

»Ein was?«

»Ein Programm«, sagte ich. »Damit ich mir Ihre alten Kritiken ansehen kann, wissen Sie – bevor Sie die begehrte Rolle als guter Bulle gekriegt haben.«

York gluckste. »Ich hab ja nur gesagt, dass es seltsam sein muss, weiter nichts. Ich meine, sind Sie vorher schon mal von der Polizei vernommen worden?«

Das war eine Fangfrage. Das mussten sie wissen. Ich hatte als Achtzehnjähriger in einem Ferienlager gejobbt. Vier Jugendliche  – Gil Perez und seine Freundin Margot Green, Doug Billingham und seine Freundin Camille Copeland (also meine Schwester) – hatten sich am letzten Abend vor der Abfahrt in den Wald geschlichen.

Sie wurden nie wieder lebend gesehen.

Nur zwei der Leichen wurden gefunden. Die siebzehnjährige Margot Green lag mit durchschnittener Kehle nicht einmal hundert Meter vom Camp entfernt. Doug Billingham, auch siebzehn Jahre alt, fand man knapp einen Kilometer vom Camp entfernt. Er hatte mehrere Stichwunden, die Todesursache war aber auch bei ihm eine durchschnittene Kehle. Die Leichen der beiden anderen – von Gil Perez und meiner Schwester Camille  – blieben verschwunden.

Der Fall hatte Schlagzeilen gemacht. Wayne Steubens, ein jugendlicher Betreuer aus gutem Hause, wurde zwei Jahre später verhaftet – allerdings erst nach dem dritten Sommer des Schreckens  –, und da hatte er noch mindestens vier weitere Jugendliche ermordet. Man hat ihn den Sommer-Schlitzer genannt, was ein sehr naheliegender Spitzname war. Waynes nächste beiden Opfer wurden in der Nähe eines Pfadfinder-Camps bei Muncie in Indiana gefunden, ein weiteres Opfer bei einem dieser Allround-Sommercamps in Vienna, Virginia. Sein letztes Mordopfer hatte er bei einem Sportcamp in den Poconos in Pennsylvania erwischt. Den meisten hatte er die Kehle durchgeschnitten. Er hatte sie alle im Wald begraben, manche noch bevor sie tot waren. Ja, er hatte sie lebendig begraben. Alle Leichen wurden erst nach längerer Suche entdeckt. Bei dem Jungen in Pocono hatte es zum Beispiel ein halbes Jahr gedauert, bis seine Leiche gefunden wurde. Die meisten Fachleute glaubten, dass auch die Vermissten noch irgendwo da draußen im Wald vergraben lagen.

Wie meine Schwester.

Wayne hat nie ein Geständnis abgelegt, und obwohl er seit achtzehn Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt, beharrt er darauf, mit den ersten vier Morden nichts zu tun zu haben.

Ich glaube ihm nicht. Die Tatsache, dass irgendwo da draußen noch mindestens zwei Leichen lagen, hatte Spekulationen und Geheimniskrämerei Tür und Tor geöffnet. Dadurch war Wayne stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Ich glaube, das gefällt ihm. Aber die Ungewissheit – dieser kleine Hoffnungsschimmer  – brennt immer noch in mir wie eine offene Wunde.

Ich habe meine Schwester geliebt. Das haben wir alle. Die meisten Menschen denken, der Tod wäre das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Das ist nicht wahr. Nach einer Weile ist die Hoffnung eine sehr viel grausamere Gefährtin. Wenn man so lange damit lebt wie ich inzwischen, wenn der Hals dauernd auf dem Hackklotz liegt und die Axt erst tagelang, dann monatelang, schließlich jahrelang über einem schwebt, sehnt man sich schließlich danach, dass sie fällt und einem den Kopf abtrennt. Die meisten Menschen glauben, meine Mutter hätte uns verlassen, weil meine Schwester ermordet worden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Meine Mutter hat uns verlassen, weil wir nie beweisen konnten, dass sie tot war.

Ich wünschte, Wayne Steubens würde erzählen, was er mit ihr gemacht hat. Nicht um eine richtige Trauerfeier zu veranstalten oder so etwas. Das wäre schön, aber darum ging es mir nicht. Der Tod hat die reine Zerstörungskraft einer Abrisskugel. Wenn er einen traf, war man am Boden zerstört, fing dann aber bald wieder an, etwas Neues aufzubauen. Aber durch die Ungewissheit  – den Zweifel, diesen winzigen Hoffnungsschimmer – nagte der Tod wie Termiten an einem Haus, oder er zerstörte einen wie eine zehrende Krankheit den Körper. Man wurde von innen heraus zerfressen. Diesen inneren Verwesungsprozess kann man nicht aufhalten. Und man konnte nicht mit dem Neuaufbau beginnen, weil die Zweifel immer weiternagten.

Und das taten sie in mir wohl immer noch.

So gern ich diesen Aspekt meines Lebens auch für mich behalten hätte, hatte ich doch keine Chance, weil er immer wieder von den Medien in die Öffentlichkeit gezerrt wurde. Selbst bei der oberflächlichsten Google-Suche wäre mein Name sofort in Verbindung mit dem Geheimnis der ermordeten und vermissten Jugendlichen aus dem Ferien-Camp ganz oben auf der Liste der Suchergebnisse erschienen. Der Fall wurde auch immer mal wieder im Zuge der »Real Crime«-Programme im Discovery Channel oder bei Court-TV aufgegriffen. Ich war in jener Nacht im Wald dabei gewesen. Mein Name war unausweichlich mit dieser Sache verbunden. Und damals war ich auch von der Polizei vernommen worden. Eine Zeit lang hatte ich sogar zu den Verdächtigen gehört.

Also mussten sie das wissen.

Ich zog es vor, die Frage nicht zu beantworten. York und Dillon hakten nicht nach.

Im Leichenschauhaus führten sie mich dann einen langen Flur entlang. Niemand sagte etwas. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. York hatte natürlich Recht gehabt. Ich stand auf der anderen Seite. Oft genug hatte ich Zeugen einen solchen Flur entlanggehen sehen. Ich kannte alle erdenklichen Reaktionen im Leichenschauhaus. Die meisten Zeugen gaben sich anfangs unerschütterlich. Warum, weiß ich nicht. Wollten sie sich auf die schreckliche Gewissheit vorbereiten? Oder hatten sie vielleicht noch ein Fünkchen Hoffnung? Wieder dieses Wort. Ich weiß es nicht. Egal, die Hoffnung schwand sofort. Bei der Identifikation von Toten machten wir keine Fehler. Wenn wir glaubten, dass es sich um Ihren Liebsten handelte, dann war er es auch. Im Leichenschauhaus gab es keine Wunder in letzter Sekunde. Niemals.

Ich wusste, dass York und Dillon mich beobachteten und neugierig auf meine Reaktion waren. Ich versuchte, meinen Schritt, meine Haltung und meinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. Ich wollte in jeder Beziehung neutral wirken. Dann fing ich an zu überlegen, was das sollte.

Sie führten mich an ein Fenster. Man betritt den Raum, in dem die Leichen aufgebahrt sind, nicht, man bleibt hinter einer Glasscheibe. Der Raum hinter dieser Scheibe war gefliest, damit man ihn leichter ausspülen konnte – eine schicke Einrichtung oder teure Reinigungsgeräte wären Verschwendung gewesen. Bis auf eine waren die fahrbaren Bahren leer. Die Leiche, die darauf lag, war mit einem Laken bedeckt, so dass nur der große Zeh mit dem Schildchen herausragte. Diese Schildchen benutzen die wirklich. Ich betrachtete den freiliegenden großen Zeh eingehend – er kam mir völlig unbekannt vor. Genau das dachte ich in diesem Moment. Ich dachte, ich erkenne den großen Zeh des Mannes nicht.

Das Gehirn macht seltsame Dinge, wenn man unter Stress steht.

Eine Frau mit einer Maske schob die Bahre näher ans Fenster heran. Mir kam ausgerechnet die Geburt meiner Tochter in den Sinn. Ich dachte an die Neugeborenenstation. Das Fenster dort war fast genau wie dieses hier gewesen, mit diesen schrägen Karomustern. Die Krankenschwester, die ungefähr so groß war wie die Frau im Leichenschauhaus, hatte den kleinen Wagen mit meiner Tochter darin ans Fenster gerollt. Es war genau wie hier abgelaufen. Normalerweise hätte ich darin wohl etwas Tiefsinniges gesehen, mir Gedanken über den Anfang und das Ende des Lebens gemacht, heute tat ich das jedoch nicht.

Sie hob das obere Teil des Lakens an und klappte es zurück. Ich betrachtete das Gesicht. Alle sahen mich an. Das wusste ich. Der Tote war ungefähr in meinem Alter. Ungefähr Mitte dreißig. Er trug einen Bart. Sein Kopf schien rasiert zu sein. Er trug eine Duschhaube. Die Duschhaube sah ziemlich albern aus, aber ich wusste, warum sie da war.

»Kopfschuss?«, fragte ich.

»Ja.«

»Wie viele?«

»Zwei.«

»Kaliber?«

York räusperte sich, als wollte er mich daran erinnern, dass es nicht mein Fall war. »Kennen Sie ihn?«

Ich sah ihn noch einmal an. »Nein«, sagte ich.

»Sind Sie sicher?«

Ich wollte nicken, aber etwas hielt mich davon ab .

»Was ist?«, fragte York.

»Warum bin ich hier?«

»Wir wollten wissen, ob Sie diesen Mann …«

»Klar, aber wie kommen Sie drauf, dass ich ihn kennen könnte?«

Ich drehte mich um und sah, wie York und Dillon sich anguckten. Dillon zuckte die Achseln, und York wandte sich wieder an mich. »Er hatte Ihre Adresse in der Tasche«, sagte York. »Und ein paar Zeitungsausschnitte, in denen Sie erwähnt werden.«

»Ich bin eine Person des öffentlichen Lebens.«

»Das ist uns bekannt.«

Er schwieg. Ich sah ihn an. »Was noch?«

»Es ging in den Zeitungsausschnitten nicht um Sie. Wenigstens nicht direkt.«

»Worum ging’s dann?«

»Um Ihre Schwester«, sagte er. »Und darum, was damals im Wald passiert ist.«

Es war schlagartig fünf Grad kälter im Raum, aber hey, schließlich waren wir hier im Leichenschauhaus. Ich versuchte gleichgültig zu klingen. »Vielleicht ist er ein ›Real Crime‹-Fan? Von denen gibt’s jede Menge.«

Er zögerte. Die beiden Polizisten sahen sich an.

»Was noch?«, fragte ich.

»Wie meinen Sie das?«

»Was hatte er noch bei sich?«

York wandte sich an einen Untergebenen, dessen Anwesenheit mir überhaupt noch nicht aufgefallen war. »Können wir Mr Copeland die persönliche Habe des Verstorbenen zeigen?«

Ich betrachtete das Gesicht des Toten. Es war pockennarbig und faltig. Ich versuchte, mir das Gesicht ohne die Narben und Falten vorzustellen. Ich kannte den Mann nicht. Manolo Santiago war für mich ein Fremder.

Jemand brachte einen roten Plastikbeutel mit der Kleidung und den persönlichen Gegenständen des Toten. Sie leerten ihn auf einen Tisch aus. Aus der Entfernung sah ich eine Jeans und ein Flanellhemd. Außerdem ein Portemonnaie und ein Handy.

»Haben Sie das Handy überprüft?«, fragte ich.

»Ja. Ist ein Wegwerfhandy. Die Ruflisten sind leer.«

Ich wandte den Blick vom Gesicht des Toten ab und ging zum Tisch. Ich hatte weiche Knie.

Auf dem Tisch lagen mehrere zusammengefaltete Zettel. Ich nahm einen und faltete ihn vorsichtig auseinander. Es war der Newsweek-Artikel. Mit Bildern von den vier toten Teenagern – den ersten Opfern des Sommer-Schlitzers. Das erste zeigte immer Margot Green, weil man ihre Leiche sofort gefunden hatte. Doug Billingham wurde erst einen Tag später entdeckt. Das eigentliche Interesse lag aber auf den anderen beiden. Von Gil Perez und meiner Schwester hatte man blutverschmierte, zerrissene Kleidungsstücke gefunden – aber nicht die Leichen.

Und wieso nicht?

Ganz einfach. Der Wald war riesig. Wayne Steubens hatte sie gut versteckt. Aber manche Leute, besonders die, die gute Verschwörungstheorien mochten, wollten nichts davon wissen. Warum waren gerade die beiden nicht gefunden worden? Wie hätte Steubens die Leichen so schnell wegschaffen und begraben sollen? Hatte er vielleicht einen Komplizen gehabt? Wie hatte er das hingekriegt? Und was hatten die vier da eigentlich im Wald gemacht?

Selbst heute, achtzehn Jahre nach Waynes Verhaftung, sprachen die Menschen in der Umgebung noch über die »Geister« in diesem Wald – oder sie spekulierten, ob da ein Geheimkult in einer verlassenen Hütte hauste oder entflohene Patienten aus einer Nervenheilanstalt oder Männer mit Haken statt Händen, die Opfer eines bizarren medizinischen Experiments geworden waren. Hinter vorgehaltener Hand unterhielten sie sich auch über eine Art Waldschrat und erzählten sich, dass man die Überreste seines heruntergebrannten Lagerfeuers gefunden hatte, um das herum noch die Knochen der Kinder gelegen hätten, die er gefressen hatte. Sie sagten auch, dass sie nachts noch manchmal das Heulen und die Schreie nach Vergeltung von Gil Perez und meiner Schwester Camille hörten.

Ich habe viele Abende allein in diesem Wald verbracht. Ich habe nie jemanden heulen oder schreien hören.

Mein Blick streifte über die Fotos von Margot Green und Doug Billingham. Dann kam das meiner Schwester. Ich hatte es schon hunderttausendmal gesehen. Die Medien mochten es, weil es so wunderbar normal wirkte. Camille sah aus wie das Mädchen von nebenan, jedermanns Lieblings-Babysitter, der nette Teenager, der unten an der Straße wohnte. Das Bild passte überhaupt nicht zu Camille. Sie war schadenfroh gewesen, mit lebhaften Augen und konnte Jungs mit einem schrägen »Scher dich zum Teufel«-Grinsen auf Distanz halten. Das Foto traf sie überhaupt nicht. Sie war viel mehr als das. Und genau das hatte sie vielleicht das Leben gekostet.

Gerade wollte ich mir das letzte Foto angucken, das von Gil Perez, aber plötzlich zuckte ich zusammen.

Mir blieb das Herz stehen.

Ich weiß, dass das dramatisch klingt, aber so fühlte es sich an. Ich musterte den Stapel Münzen aus Manolo Santiagos Tasche, und da sah ich ihn, und es fühlte sich an, als hätte mir eine Hand in die Brust gegriffen und mein Herz so fest zusammengepresst, dass es nicht mehr schlagen konnte.

Ich trat zurück.

»Mr Copeland?«

Meine Hand bewegte sich wie von selbst. Ich sah, wie meine Finger ihn hochnahmen und vor meine Augen führten.

Es war ein Ring. Ein Frauenring.

Ich betrachtete das Foto von Gil Perez, dem Jungen, der zusammen mit meiner Schwester im Wald ermordet worden war. Ich versetzte mich zwanzig Jahre zurück. Dann fiel mir die Narbe wieder ein.

»Mr Copeland?«

»Zeigen Sie mir seinen Arm«, sagte ich.

»Bitte?«

»Seinen Arm.« Ich drehte mich zum Fenster um und deutete auf die Leiche. »Zeigen Sie mir seinen Scheiß-Arm.«

York gab Dillon ein Zeichen. Dillon drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Er will den Arm des Toten sehen.«

»Welchen?«, fragte die Frau in der Leichenhalle.

York und Dillon sahen mich an.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Beide, würde ich sagen.«

Sie waren überrascht, aber dann tat die Frau, was ich gesagt hatte. Das Laken wurde weiter zurückgezogen.

Die Brust war jetzt behaart. Er war schwerer, wog mindestens fünfzehn Kilo mehr als damals, aber das war nicht überraschend. Er hatte sich verändert. Das hatten wir alle. Aber das wollte ich nicht wissen. Ich betrachtete seine Arme, suchte nach der gezackten Narbe.

Da war sie.

Auf dem linken Arm. Ich schnappte nicht nach Luft oder so etwas. Es war so, als ob man mir plötzlich einen Teil meiner Realität entrissen hätte und ich zu benommen war, um etwas dagegen zu tun. Ich stand einfach nur reglos da.

»Mr Copeland.«

»Ich kenne ihn«, sagte ich.

»Wer ist das?«

Ich deutete auf das Foto in der Zeitschrift. »Das ist Gil Perez.«

2

Früher einmal hatte Professor Lucy Gold, mit ihren beiden Doktortiteln in Englisch und Psychologie, ihre Sprechzeiten geliebt.

Man hatte die Gelegenheit, sich von Angesicht zu Angesicht mit den Studenten zu unterhalten und sie richtig kennenzulernen. Es machte ihr Spaß, wenn die stillen Typen, die immer mit gesenkten Köpfen hinten im Seminarraum saßen und mitschrieben wie beim Diktat, diejenigen, denen die Haare wie ein schützender Vorhang vors Gesicht fielen – wenn sie bei ihr vor der Tür standen, den Blick hoben und ihr erzählten, was sie auf dem Herzen hatten.

Aber meistens – so wie jetzt gerade – kamen nur noch die Arschkriecher, diejenigen, die glaubten, dass ihre Zensur einzig und allein von dem öffentlich zur Schau gestellten Enthusiasmus abhing und sich direkt proportional dazu verbesserte, wie sehr sie sich im Seminar und in der Sprechstunde produzierten, als würde Extrovertiertheit in diesem Land nicht sowieso schon ausreichend belohnt.

»Professorin Gold«, sagte das Mädchen namens Sylvia Potter. Lucy versuchte, sie sich in jungen Jahren vorzustellen, als Schülerin in der Mittelstufe. Wahrscheinlich war sie damals die penetrante Klassenbeste, die vor jedem Test gejammert hatte, dass sie eine Fünf schreiben würde, um dann als Erste mit selbstgefälligem Grinsen ihre Einser-Arbeit abzugeben und den Rest der Zeit damit zu verbringen, die Notizen in ihrem Heft zu vervollständigen.

»Ja, Sylvia?«

»Als Sie vorhin diese Stelle von Yeats vorgelesen haben, also, da war ich ja so ergriffen. Die Worte und die Art, wie Sie Ihre Stimme eingesetzt haben, das klang wie eine richtig ausgebildete Schauspielerin …«

Lucy Gold überlegte, ob sie sie unterbrechen und sagen sollte: »Tun Sie mir einen Gefallen und backen Sie mir einfach ein paar Kekse«, aber sie lächelte einfach weiter. Das fiel ihr nicht leicht. Sie sah auf die Uhr und kam sich sofort schlecht vor, weil sie das getan hatte. Sylvia war eine Studentin, die versuchte, ihr Bestes zu geben. Mehr nicht. Wir suchen uns schließlich alle unsere Nischen, an die wir uns anpassen, damit wir darin überleben können. Und Sylvias Nische war vermutlich besser gewählt und weniger selbstzerstörerisch als viele andere.

»Und den Bericht zu schreiben, hat mir auch Spaß gemacht«, sagte sie.

»Das freut mich.«

»In meinem ging’s um … na ja, mein erstes Mal, wenn Sie wissen, was ich meine …«

Lucy nickte. »Das soll vertraulich und anonym bleiben, ja?«

»Oh, klar.« Sie blickte zu Boden. Das überraschte Lucy. Sylvia sah sonst nie nach unten.

»Wenn Sie wollen, können wir uns dann hinterher, nachdem wir alle Berichte besprochen haben, noch einmal über Ihren unterhalten. Ganz persönlich, meine ich.«

Sie hatte den Kopf immer noch gesenkt.

»Sylvia?«

Das Mädchen antwortete leise: »Okay.«

Die Sprechstunde war zu Ende. Lucy wollte nach Hause. Sie versuchte, nicht halbherzig zu klingen, als sie fragte: »Oder wollen Sie jetzt darüber sprechen?«

»Nein.«

Sylvia sah immer noch zu Boden.

»Na denn«, sagte Lucy und sah noch einmal auf die Uhr. »In zehn Minuten muss ich bei einer Konferenz sein.«

Sylvia stand auf. »Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.«

»War mir ein Vergnügen, Sylvia.«

Sylvia sah aus, als wollte sie noch etwas sagen. Aber das tat sie nicht. Fünf Minuten später stand Lucy am Fenster ihres Büros und schaute auf den Innenhof hinunter. Sylvia kam aus der Tür, wischte sich übers Gesicht, hob den Kopf und zwang sich zu lächeln. Mit federndem Schritt ging sie über den Campus. Lucy sah, wie sie anderen Studenten zuwinkte, sich zu einer Gruppe stellte, sich nahtlos einfügte und dann ganz in der Masse verschwunden war.

Lucy wandte sich ab. Sie betrachtete sich im Spiegel, und was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. War das nicht ein Hilfeschrei gewesen?

Wahrscheinlich, Luce, und du hast ihn geflissentlich überhört. Gute Arbeit, Superstar.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die untere Schublade. Da lag der Wodka. Wodka war gut. Den konnte man im Atem nicht riechen.

Ihre Bürotür wurde geöffnet. Der Typ, der eintrat, hatte seine langen, schwarzen Haare hinter die Ohren geklemmt und trug mehrere Ohrringe. Er war modisch unrasiert und auf eine Art attraktiv, die an einen alternden Boy-Group-Star erinnerte. Er hatte ein silbernes Piercing am Kinn, ein Anblick, der immer wieder für Irritation sorgte, und die tiefsitzende Jeans wurde nur unzulänglich von einem beschlagenen Gürtel gehalten. Außerdem hatte er die Worte »Mehret euch redlich« auf den Hals tätowiert.

»Du«, sagte der Typ und lächelte sie an, »siehst echt rattenscharf aus.«

»Danke, Lonnie.«

»Nee, ist mein Ernst. Echt rattenscharf.«

Lonnie Berger war ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter, obwohl sie gleich alt waren. Er war auf Dauer in der Fortbildungsfalle gefangen, machte immer wieder neue Abschlüsse und hing auf dem Campus rum. An der Augenpartie sah man ihm sein Alter an. Lonnie hatte genug vom politisch korrekten Umgang mit dem Sex auf dem Campus, daher hatte er beschlossen, die Grenzen auszuweiten, indem er jede Frau anbaggerte.

»Du solltest dir was anziehen, was dein Dekolleté mehr betont«, fuhr Lonnie fort, »vielleicht einen von diesen neuen Push-up-BHs. Die Jungs im Seminar passen dann auch gleich viel besser auf.«

»Ja, genau das fehlt mir noch.«

»Ehrlich, Boss, wann hast du es zum letzten Mal getrieben?«

»Das muss jetzt acht Monate, sechs Tage und so etwa«, Lucy sah auf die Uhr, »vier Stunden her sein.«

Er lachte. »Du willst mich verarschen, stimmt’s?«

Sie sah ihn nur an.

»Ich habe die Berichte ausgedruckt«, sagte er.

Die vertraulichen, anonymen Berichte.

Sie unterrichtete ein Seminar, das die Universität Kreative Vernunft genannt hatte, in dem neueste Erkenntnisse der Psychologie mit kreativem Schreiben und Philosophie kombiniert werden sollten. Lucy fand das Konzept großartig. Die aktuelle Aufgabe bestand darin, dass jeder Student über ein traumatisches Ereignis in seinem Leben schreiben sollte – etwas, über das man normalerweise mit niemandem sprach. Es wurden keine Namen genannt. Es wurde nicht benotet. Wenn der anonyme Student am Ende des Textes seine Zustimmung gab, durfte der Bericht im Seminar vorgelesen werden, damit darüber diskutiert werden konnte – aber auch da blieb der Verfasser anonym.

»Hast du schon angefangen, sie zu lesen?«, fragte sie.

Lonnie nickte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Sylvia vor ein paar Minuten gesessen hatte. Er legte die Füße auf den Schreibtisch. »Das Übliche«, sagte er.

»Schlechte erotische Literatur?«

»Ich würde eher sagen, schlechter Softporno.«

»Wo liegt der Unterschied?«

»Woher soll ich das denn wissen? Hab ich dir von meiner neuen Puppe erzählt?«

»Nein.«

»Zum Anbeißen.«

»Mhm.«

»Ist mein Ernst. Kellnerin. Der knackigste Arsch, mit dem ich je im Bett war.«

»Und warum sollte mich das interessieren?«

»Eifersüchtig?«

»Ja«, sagte Lucy. »Das muss es wohl sein. Gib mir die Berichte, ja?

Lonnie gab ihr ein paar. Sie vertieften sich in die Texte. Nach etwa fünf Minuten schüttelte Lonnie den Kopf.

Lucy fragte: »Was ist?«

»Wie alt sind die Kids so im Schnitt?«, fragte Lonnie. »So um die zwanzig, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und ihre sexuellen Eskapaden dauern immer um die zwei Stunden?«

Lucy lächelte. »Aktive Fantasie.«

»Haben die Männer zu deiner Zeit so lange durchgehalten?«

»So lange halten sie immer noch nicht durch«, erwiderte sie.

Lonnie zog eine Augenbraue hoch. »Bei dir liegt das aber daran, dass du so scharf bist. Sie können nicht an sich halten. Es ist also eigentlich deine eigene Schuld.«

»Hmm.« Sie klopfte sich mit dem Radiergummi des Bleistifts auf die Unterlippe. »Den Spruch bringst du auch nicht zum ersten Mal, was?«

»Findest du, ich brauch einen neuen? Wie wär’s mit dem: ›Das ist mir noch nie passiert. Das schwör ich dir‹?«

Lucy stieß ein Summen aus. »Leider daneben. Einen Versuch hast du noch.«

»Mist.«

Sie lasen weiter. Lonnie pfiff und schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind wir einfach zur falschen Zeit aufgewachsen.«

»Eindeutig.«

»Luce?« Er sah sie über das Papier an. »Du brauchst es wirklich mal.«

»Mhm.«

»Ich bin auch bereit, dir zu helfen, weißt du. Ganz ohne jede Verpflichtungen.«

»Und was ist mit Mrs Kellnerin-zum-Anbeißen?«

»Wir haben eine offene Beziehung.«

»Verstehe.«

»Also ich seh das als rein körperliche Sache. Gegenseitiges Rohrreinigen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Psst, ich lese.«

Er schwieg. Eine halbe Stunde später beugte Lonnie sich vor und sah sie an.

»Was ist?«

»Lies das mal«, sagte er.

»Wieso?«

»Lies es einfach, okay?«

Sie zuckte die Achseln, legte den Bericht zur Seite, den sie gerade gelesen hatte – noch eine Geschichte von einem Mädchen, das sich zusammen mit ihrem neuen Freund betrunken und am Ende in einem flotten Dreier wiedergefunden hatte. Lucy hatte schon viele Berichte über flotte Dreier gelesen. Offensichtlich war dabei immer Alkohol im Spiel.

Aber kurz darauf hatte sie das alles vergessen. Sie hatte vergessen, dass sie allein lebte und keine echte Familie mehr hatte, dass sie Professorin war und sich in ihrem Büro mit Blick auf den Innenhof befand, und sie hatte auch vergessen, dass Lonnie ihr noch immer gegenübersaß. Lucy Gold war verschwunden. An ihrem Platz saß eine jüngere Frau, eigentlich noch ein Mädchen, das einen anderen Namen hatte und kurz davor war, erwachsen zu werden, aber sie war immer noch ein Mädchen.

Was ich jetzt erzähle, passierte, als ich siebzehn Jahre alt war. Ich war in einem Sommerlager und hatte einen Ferienjob als Hilfsbetreuerin. Es war nicht schwer gewesen, den Job zu kriegen, weil das Lager meinem Vater gehörte …

Lucy brach ab. Sie sah sich das Deckblatt an. Natürlich stand da kein Name. Die Studenten hatten die Berichte per E-Mail geschickt. Lonnie hatte sie ausgedruckt. Es sollte keine Möglichkeit geben zurückzuverfolgen, wer welchen Bericht geschickt hatte. Es war eine vertrauensbildende Maßnahme. Die Studenten riskierten nicht einmal, dass ihre Fingerabdrücke auf dem Papier waren. Sie klickten einfach nur auf den Senden-Button:

Das war der beste Sommer in meinem Leben. Wenigstens bis zur letzten Nacht. Selbst jetzt bin ich mir sicher, dass ich nie wieder eine so schöne Zeit erleben werde. Eigenartig, was? Trotzdem bin ich mir absolut sicher. Ich weiß, dass ich nie wieder so glücklich sein werde wie damals. Nie. Mein Lächeln hat sich verändert. Es ist trauriger geworden, als ob es zerbrochen wäre und nicht wieder repariert werden könnte.

In jenem Sommer habe ich einen Jungen geliebt. Ich werde ihn für diese Geschichte P nennen. Er war ein Jahr älter als ich und als Betreuer beschäftigt. Seine ganze Familie war im Sommerlager. Seine Schwester war auch Betreuerin, und sein Vater war der Arzt des Camps. Die sind mir aber kaum aufgefallen, denn als ich P begegnet bin, hatte ich gleich dieses Gefühl im Bauch.

Ich weiß, was Sie denken. Es war nur eine Sommerliebe unter Jugendlichen. Aber das stimmt nicht. Und ich habe immer noch Angst, dass ich nie mehr jemanden so lieben werde, wie ich P geliebt habe. Das klingt albern? Das denken alle. Vielleicht haben sie Recht. Ich weiß es nicht. Ich bin noch so jung. Aber mein Gefühl sagt etwas anderes. Es sagt mir, dass ich einmal im Leben die Chance auf Glück und Zufriedenheit hatte, und die habe ich verstreichen lassen.

In Lucys Herz bildete sich ein Loch, das von Satz zu Satz größer wurde.

Einmal sind wir nachts in den Wald gegangen. Das durften wir nicht. Es gab strenge Regeln. Keiner kannte die Regeln besser als ich. Ich habe schon seit meinem zehnten Lebensjahr die Sommerferien in diesem Lager verbracht. Damals hatte mein Dad das Camp gekauft. Aber P hatte »Nachtwache«. Und weil meinem Dad das Camp gehörte, konnte ich überall hin. Clever, was? Zwei verliebte Jugendliche, die auf die anderen aufpassen sollten? Ein toller Plan!

Erst wollte er nicht mitkommen, sondern seine Pflicht tun, aber hey, ich wusste schon, wie ich ihn da wegkriege. Jetzt bedauere ich das natürlich. Aber damals habe ich ihn weggelockt. Also sind wir in den Wald gegangen, nur wir beide. Ganz allein. Der Wald da ist riesig. Wenn man in die falsche Richtung läuft, kann man sich für immer verlaufen. Ich habe Geschichten von Kindern gehört, die in den Wald gegangen und nie wieder zurückgekommen sind. Manche Leute sagen, dass sie da immer noch herumirren und wie die Tiere leben. Manche Leute sagen, dass sie gestorben sind oder noch Schlimmeres mit ihnen passiert ist. Na ja, man kennt ja diese Lagerfeuer-Geschichten.

Früher habe ich über solche Geschichten immer gelacht. Sie haben mir keine Angst eingejagt. Jetzt läuft mir schon ein Schauer über den Rücken, wenn ich nur daran denke.

Wir gingen weiter. Ich kannte den Weg. P hielt meine Hand. Es war sehr dunkel im Wald. Man konnte kaum drei Meter weit sehen. Wir hörten ein Rascheln und wussten, dass noch jemand im Wald war. Ich blieb stehen, aber ich weiß noch, dass P in der Dunkelheit lächelte und seltsam den Kopf schüttelte. Wissen Sie, der einzige Grund, aus dem die Camp-Teilnehmer in den Wald gingen, war der, na ja, es war eben ein gemischtes Lager. Es gab eine Jungen- und eine Mädchen-Seite, und der Waldstreifen, in dem wir waren, lag genau dazwischen. Den Rest kann man sich denken.

P seufzte. »Lass uns lieber nachgucken«, sagte er. Oder so etwas Ähnliches. An die genauen Worte kann ich mich nicht mehr erinnern.

Aber ich wollte das nicht. Ich wollte mit ihm allein sein.

Die Batterien in meiner Taschenlampe waren leer. Ich weiß noch, wie schnell mein Herz schlug, als wir zwischen die Bäume traten. Ich war allein in der Dunkelheit, Hand in Hand mit dem Jungen, den ich liebte. Sobald er mich berührte, schmolz ich förmlich dahin. Kennen Sie dieses Gefühl? Wenn man nicht einmal fünf Minuten lang von einem Mann fernbleiben kann? Wenn man alles, was mit einem passiert, mit ihm in Verbindung bringt? Wenn man sich, ganz egal, was man auch tut, fragt: »Wie würde er darüber denken?« Es ist ein verrücktes Gefühl. Es ist wunderbar, aber es schmerzt auch. Man ist so angreifbar und verletzlich, dass man Angst bekommt.

»Psst«, flüsterte er. »Bleib stehen.«

Das taten wir. Wir blieben stehen.

P zog mich hinter einen Baum. Er nahm mein Gesicht in beide Hände. Seine Hände waren groß, und sie fühlten sich toll an. Ganz sanft drückte er meinen Kopf nach hinten, und dann küsste er mich. Ich spürte es im ganzen Körper, ein Zittern, das im Herzen anfängt und sich von da aus in alle Richtungen ausbreitet. Er nahm die Hand von meinem Gesicht. Er legte sie auf meinen Brustkorb, direkt neben meinen Busen. Meine Ungeduld wuchs. Ich stöhnte laut.

Wir haben uns weitergeküsst. Es war so leidenschaftlich. Wir konnten uns gar nicht nah genug sein. Jede Faser meines Körpers hat gelodert. Er hat die Hand unter meine Bluse geschoben. Mehr will ich darüber nicht sagen. Das Rascheln hatte ich vollkommen vergessen. Aber jetzt erinnere ich mich wieder daran. Wir hätten jemandem Bescheid sagen müssen. Wir hätten die anderen davon abhalten müssen, tiefer in den Wald hineinzugehen. Aber das haben wir nicht. Stattdessen haben wir uns geliebt.

Ich war so hin und weg, so verloren in unserem Tun, dass ich die Schreie anfangs gar nicht wahrgenommen habe. Und P ging es wahrscheinlich genauso.

Aber es folgten noch weitere Schreie, und wissen Sie, wie Menschen, die dem Tod ganz nahe waren, ihre Erfahrungen beschreiben? Bei mir war es ganz ähnlich, aber umgekehrt. Es war so, als ob wir gemeinsam auf ein wunderbares Strahlen zuliefen, aber die Schreie waren wie ein Seil, das uns immer wieder zurückzog, obwohl wir immer weiterlaufen wollten.

P hatte aufgehört, mich zu küssen. Und jetzt kommt das Furchtbare .

Er hat mich nie wieder geküsst.

Lucy blätterte weiter, aber das war das Ende. Ihr Kopf schnellte hoch. »Wo ist der Rest?«

»Das ist alles. Du hast doch gesagt, dass sie Teile schicken können, weißt du das nicht mehr? Das ist alles, was bisher da ist.«

Sie blätterte die Seiten noch einmal durch.

»Alles okay, Luce?«

»Du kannst doch gut mit Computern umgehen, stimmt’s, Lonnie?«

Wieder zog er eine Augenbraue hoch. »Mit den Ladys kann ich besser umgehen.«

»Seh ich so aus, als ob ich in Stimmung wäre?«

»Okay, schon gut. Ja, ich kann gut mit Computern umgehen. Wieso?«

»Ich muss rauskriegen, wer das geschrieben hat.«

»Aber …«

»Ich muss«, wiederholte sie, »rauskriegen, wer das geschrieben hat.«

Er sah ihr in die Augen und betrachtete sie nachdenklich. Sie wusste, was er sagen wollte. Es war ein Betrug an allem, worum es in diesem Seminar ging. Sie hatten hier einige wirklich schreckliche Geschichten gelesen, eine sogar über einen sexuellen Missbrauch des Vaters, aber selbst da hatten sie nicht versucht, die Verfasserin ausfindig zu machen.

Lonnie sagte: »Erzählst du mir, worum es hier geht?«

»Nein.«

»Aber ich soll das ganze Vertrauen zerstören, das wir uns hier mühsam aufgebaut haben?«

»Ja.«

»Ist es so schlimm?«

Sie sah ihn nur an.

»Ach, was soll’s«, sagte Lonnie. »Ich schau mal, was sich machen lässt.«

3

»Ich sag es Ihnen doch«, wiederholte ich noch einmal, »das ist Gil Perez.«

»Der Junge, der vor zwanzig Jahren mit Ihrer Schwester zusammen gestorben ist?«

»Ganz offensichtlich«, sagte ich, »ist er ja nicht gestorben.«

Sie glaubten mir wohl nicht.

»Es könnte vielleicht sein Bruder sein«, bot York an.

»Und der hat den Ring meiner Schwester dabei?«

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »The Woods« bei Dutton, published by Penguin Group (USA) Inc., New York

1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2008

Copyright © der Originalausgabe 2007 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur Umschlagfoto: FinePic®, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Redaktion: Sigrun Zühlke AB · Herstellung: Str.

eISBN 978-3-641-08434-9

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