1,99 €
»Nimm die Zügel!«, befahl Cataran und reichte Juna die Lederriemen weiter. »Ich muss ein wenig Theaterdonner machen.« Juna nahm die Zügel angewidert aus den Händen des Dämons. Sie ließen sich nur schwer bändigen, wie immer. Sie waren aus der Haut eines lebenden und magisch behandelten Elefanten geschnitten und imprägniert worden. Nur mit Hilfe der dunklen Energien, die durch die Riemen flossen, gelang es, die dämonischen Rösser ihres Wagens zu beherrschen. »Der Jahrmarkt Chernadusha kommt nach Wien!«, rief Cataran mit lauter und viel geübter Stimme und winkte dabei den Menschen am Straßenrand zu. »Der Jahrmarkt Chernadusha ist erstmals nach vielen Jahren zurück in der schönsten Stadt der Welt. Nach umjubelten Vorführungen in Pressbaum, Budapest, Prag und Graustedt können nun auch die Wiener die sensationellen Leistungen unserer Athleten bewundern und die wildesten Tiere aus den dunkelsten Regionen unserer Welt erleben. Kommen Sie, kommen Sie! Der Jahrmarkt Chernadusha bietet Ihnen Spannung, Spaß und Gänsehaut! Nur für zehn Tage! Der Jahrmarkt Chernadusha ist zurück in Wien ...«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Was bisher geschah
DIE KUCKUCKSBRÜDER
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
mystery-press
Vorschau
Hat Ihnen diese Ausgabe gefallen?
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Coco Zamis ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern der Eltern Michael und Thekla Zamis, die in einer Villa im mondänen Wiener Stadtteil Hietzing leben. Schon früh spürt Coco, dass dem Einfluss und der hohen gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie ein dunkles Geheimnis zugrundeliegt.
Die Zamis sind Teil der Schwarzen Familie, eines Zusammenschlusses von Vampiren, Werwölfen, Ghoulen und anderen unheimlichen Geschöpfen, die zumeist in Tarngestalt unter den Menschen leben. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht Coco den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. So lernt sie während der Ausbildung auf dem Schloss ihres Patenonkels ihre erste große Liebe Rupert Schwinger kennen. Auf einem Sabbat soll Coco zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an, doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut und verwandelt Rupert Schwinger in ein Ungeheuer.
In den folgenden Jahren lässt das Oberhaupt keine Gelegenheit aus, gegen die Zamis-Sippe zu intrigieren. So verlangt Asmodi von Coco, einen gewissen Dorian Hunter für ihn töten. Es gelingt Coco, Dorian zu becircen – doch anstatt den Auftrag sofort auszuführen, verliebt sie sich in ihn. Zur Strafe verwandelt Asmodi Dorian Hunter in einen seelenlosen Zombie, der fortan als Hüter des Hauses in der Villa Zamis sein Dasein fristet.
In Wien übernimmt Coco ein geheimnisvolles Café. Sie beschließt, es als neutralen Ort für Menschen und Dämonen zu etablieren. Zugleich stellt sie fest, dass sie von Dorian Hunter schwanger ist. Coco, Michael und Toth bitten Asmodi um Hilfe gegen die Todesboten, müssen dafür jedoch jeweils ein wertvolles Pfand hinterlegen. So wird Coco ihr Ungeborenes genommen. Schließlich gelingt es ihr, das Kind zu finden und es im Totenreich zu verstecken.
Durch einen Fluch der Hexe Mother Goose werden Coco und die anderen Zamis immer jünger. Als das Haus der Hexe in Flammen aufgeht, erlischt der Fluch. Außer bei Lydia, die zusehends altert und zudem schlimme Brandwunden davonträgt.
Indessen ist Michaels Großtante Fürstin Bredica verstorben. Die Testamentsvollstreckung findet auf ihrer Temeschburg statt. Michael trifft dort seine uneheliche Tochter Juna wieder, die er der Fürstin übergeben hatte, um sie zur Hexe ausbilden zu lassen. Nach langem Martyrium gelang Juna die Flucht. Hilfe erhoffte sie sich von Thekla. Als sie ihr jedoch verriet, dass Michael ihr Vater ist, verbannte Thekla sie an einen schrecklichen Ort namens Graustedt. Mit Michaels Hilfe flieht sie von dort und schließt sich dem dämonischen Jahrmarkt Chernadusha an. In der Gegenwart bekämpfen sich die versammelten Erben gegenseitig und metzeln sich nieder. Am Schluss überleben nur noch Michael, Thekla, Coco und Juna. Juna gehört nun auch offiziell zur Familie. Coco lädt sie ein, mit ihr nach Wien zu kommen ...
von Michael M. Thurner
»Nimm die Zügel!«, befahl Cataran und reichte Juna die Lederriemen weiter. »Ich muss ein wenig Theaterdonner machen.«
Juna nahm die Zügel angewidert aus den Händen des Dämons. Sie ließen sich nur schwer bändigen, wie immer. Sie waren aus der Haut eines lebenden und magisch behandelten Elefanten geschnitten und imprägniert worden. Nur mit Hilfe der dunklen Energien, die durch die Riemen flossen, gelang es, die dämonischen Rösser ihres Wagens zu beherrschen.
»Der Jahrmarkt Chernadusha kommt nach Wien!«, rief Cataran mit lauter und viel geübter Stimme und winkte dabei den Menschen am Straßenrand zu. »Der Jahrmarkt Chernadusha ist erstmals nach vielen Jahren zurück in der schönsten Stadt der Welt. Nach umjubelten Vorführungen in Pressbaum, Budapest, Prag und Graustedt können nun auch die Wiener die sensationellen Leistungen unserer Athleten bewundern und die wildesten Tiere aus den dunkelsten Regionen unserer Welt erleben. Kommen Sie, kommen Sie! Der Jahrmarkt Chernadusha bietet Ihnen Spannung, Spaß und Gänsehaut! Nur für zehn Tage! Der Jahrmarkt Chernadusha ist zurück in Wien ...«
Juna schaffte es nur unter Mühen, die beiden Hengste zu bändigen, während ihr Wagen an einer Gruppe junger Mädchen vorbeirollte, die aufgeregt schnatterten und mit den Fingern in Richtung des langen Wagenzugs deuteten. Noch zögerten sie, noch blieben sie auf Distanz zu den Jahrmarktwagen, die die Brünner Straße entlangratterten.
Die Tiere wurden noch unruhiger. Sie rochen das Jungfrauenblut – und sie waren hungrig. Bereits seit Tagen war der Jahrmarkt unterwegs, zogen die Wagen nach mehreren Gastspielen im südlichen Burgenland und Niederösterreich auf Nebenstraßen Richtung Wien. Die Instinkte der Tiere sagten ihnen, dass sie endlich wieder mal für längere Zeit rasten durften und etwas Anständiges zum Fressen bekommen würden.
Cataran tat einige großartige Gesten. Der Weißclown des Jahrmarkts zog unter dem Gelächter von Kindern und Jugendlichen einen riesigen Sack aus seiner Hose hervor, tat geheimnisvoll und griff dann hinein.
»Für all unsere jungen Freunde!«, rief Cataran und warf fein verpackte Süßigkeiten in die Traube der Wartenden. »Esst nur, esst! Denkt an den Jahrmarkt Chernadusha! Kommt zu den Vorstellungen auf dem Wiener Messegelände! Die ersten Vorführungen beginnen morgen Nachmittag, Kinder bis zwölf Jahre kommen zum Halbpreis aufs Gelände!«
Die Kinder stritten sich um die Bonbons, wie auch die etwas älteren Mädchen, die nun allesamt ihre Scheu überwanden. Sie zupften die Süßigkeiten aus dem Papier, schoben sie sich in den Mund und schmatzten genussvoll darauf herum.
Cataran schrie und brüllte und tanzte auf der Pritsche des Wagens umher, während Juna alle Mühe hatte, die Pferde auf dem Kopfsteinpflaster der Brünner Straße zu behalten.
Eigentlich war sie froh darüber, den Kindern nicht beim Essen der Süßigkeiten zusehen zu müssen. Denn ihre Münder färbten sich allmählich rot, grünrotes Blut troff von ihren Lippen.
Die Jugendlichen unterlagen einer geringen Hypnosewirkung, die Cataran bewirkte. Sie glaubten, Bonbons zu lutschen – und stopften sich stattdessen Würmer, Maden und Ungeziefer in den Mund.
Der Aufbau des großen Hauptzelts erfolgte unter einem wolkenverhangenen Himmel und bei unangenehmem Nieselregen. Ringsum brüllten die Arbeiter einander Anweisungen zu. Der Riese Gorgon trieb mit dem Dreißig-Kilogramm-Hammer die meterlangen Pflöcke in den Asphalt. Die siamesischen Vierlingsschwestern kletterten behände auf die großen Zeltsteher und vertäuten sie, um sich gleich danach wieder zusammenzustellen und magisch miteinander zu verwachsen, die Köpfe einander zugewandt. Die Trapezkünstler der Gergely-Familie ließen von den sechs prall gefüllten Eutern ihrer Mutter ab und fixierten in schwindelnder Höhe die Querstreben, während die beiden Elefanten, Himeropa und Leukosia, mit schweren Tauen um den Hals Teile des Podiums und der Tribüne hinter sich herschleppten ...
Juna liebte das Durcheinander auf der Baustelle. In diesen Stunden hatte es beinahe den Anschein, als wäre sie Mitglied einer völlig normalen Jahrmarkttruppe – und nicht das Anhängsel einer Schar von Dämonen.
Seit zwei Monaten war sie nun schon mit dem Jahrmarkt unterwegs ...
»Träumst du schon wieder?!«, herrschte sie Cataran an. »Kümmer dich gefälligst um die Rösser. Wassere sie und bring ihnen Blutheu.«
Juna gehorchte. Es war nicht gut, den Weißclown zu reizen und ihn darauf hinzuweisen, dass die Vorräte an Blutheu zur Neige gingen. Sie würde zusammenkratzen, was noch da war, um die dämonischen Rösser sattzubekommen.
Cataran stürmte weiter und kümmerte sich um andere Helfershelfer. Er schob dabei die gewaltige Wampe wie eine Trophäe vor sich her. In ihr steckte ein Kind, das der Schlangenmann vor einigen Tagen verschlungen hatte und seitdem verdaute.
Noch gestern hatte Juna die Hilferufe der Kleinen gehört, die in Catarans Magensekret unendlich langsam aufgelöst wurde. In den Nachtstunden waren die Schreie verstummt.
Juna empfand kein Mitleid. Das Mädchen war vor einigen Monaten aus einem Eigehege geschlüpft, das Cataran selbst angelegt hatte. Der Schlangenmann hatte das vorlaute Ding, sein eigenes Kind, für seine vielen Frechheiten bestraft. Und es wuselten noch mehr als ein Dutzend Kinder seiner Brut auf dem Gelände umher. Allesamt waren sie vorlaut, bösartig, abgefeimt. Sie behinderten die Arbeiter, wo sie nur konnten.
Juna fütterte die Rösser und ging dann beim Aufhängen der Zeltplanen zur Hand. Viele kleine Holzbuden mussten aufgestellt und für den morgigen Tag vorbereitet werden, die Raubtierkäfige gereinigt und die Sperrgitter rings ums Jahrmarktgelände angebracht werden.
Junas Hände waren während der zwei Monate, die sie schon mit dem Jahrmarkt unterwegs war, schwielig geworden. Ihr Körper zäh, das Gesicht schmaler und härter.
Was nichts daran änderte, dass viele der Jahrmarktsfahrer hinter ihr her waren und sie zur Teilnahme an dämonischen Orgien überreden wollten. Sie galt als menschenähnlich, aber auch als ausnehmend hübsch.
Juna unterdrückte ein Lächeln. Sie würde sich keinem von diesen Kerlen hingeben – und sie hatte während der Reise gelernt, sich gegen deren Avancen zu wehren. Wenn da bloß nicht Amatholyx wäre ...
Der Regen hörte auf, bald darauf brach die Dämmerung herein. Wenige Straßenlaternen spendeten Licht, während ihre Arbeiten allmählich zu einem Ende kamen.
Aus der Ferne war vielstimmige Musik zu hören. Aufkommender Wind brachte den Geruch nach gebratenen Hühnern, Stelzen und Knoblauch mit sich. In den Vergnügungsstätten des Wurstelpraters waren Tausende Wiener unterwegs, um sich an uralten Fahrgeräten zu vergnügen oder auf dem alten Riesenrad die Aussicht über die Stadt zu genießen.
Juna fühlte Hunger, so wie jeden Abend. Sie würde viel zu wenig zu essen bekommen, so wie jeden Abend.
»Genug für heute!«, hörte sie Cataran schreien. »Den Rest erledigen wir morgen Vormittag.«
Überall ließen die Arbeiter ihre Werkzeuge sinken. Allesamt waren sie müde und angeschlagen, vom harten Tagwerk erschöpft. Viele der Dinge hätten sie mit Hilfe von Magie leichter und einfacher erledigen können. Doch es gab reichlich Zaungäste, die sie beobachteten. Überall entlang der rasch angebrachten Absperrgitter hingen Menschen, die jeden ihrer Handgriffe beobachteten.
Eine Glocke bimmelte. Drei alte Hutzelweiber, deren Namen Juna nie in Erfahrung gebracht hatte, riefen zum gemeinsamen Abendessen. Gewiss gab es denselben Eintopf wie gestern und an den Tagen zuvor. Er stank bestialisch und war mit knorpeligen Fleischstücken versetzt, über deren Herkunft Juna nicht nachdenken wollte. Das Essen war kaum besser als das, was ihr in Graustedt vorgesetzt worden war.
Sie holte ihre Schüssel und stellte sich in der bereits langen Reihe an, unmittelbar hinter dem einbeinigen Carlos, der morgen in der Wurfbude Dienst tun würde.
Juna blickte über den ehemaligen Illusionisten hinweg. Cataran stand unmittelbar neben dem halbmannsgroßen Topf und bestimmte, wer wie viel zu essen bekam. Der Schlangenmann spielte sich als Jahrgangsdirektor auf, obwohl er erst seit Kurzem dessen neue rechte Hand war.
Der eigentliche Anführer ihrer Truppe blieb zumeist in seinem Wohnwagen. Dann und wann war seine befehlsgewohnte Stimme zu hören, und manchmal schickte er seine »kleinen Boten« aus, um Nachrichten zu überbringen. Juna hasste die handgroßen Kakerlaken, die der Direktor in seinem Wagen hielt. Sie erzeugten mit Hilfe ihrer Mandibeln hässliche Geräusche, die Ohren zum Bluten brachten – oder sogar töteten.
»Hallo mein kleiner Spatz!«, hörte sie eine Stimme, kaum verständlich und dennoch wohlbekannt.
»Hallo Amatholyx.«
Juna vermied den Augenkontakt mit dem spindeldürren Mann, der sie um mehr als einen Kopf überragte.
»Bist froh, mich zu sehen. Nicht wahr?« Er spuckte unmittelbar neben ihr aus.
»Wie man's nimmt.«
»Hast dir mein Angebot überlegt? Willst mich haben? Weißt ja eh, was ich zu bieten habe.«
Er beugte sich so weit zu ihr herab, dass Juna gar nicht anders konnte, als ihm ins Gesicht zu blicken. In eine vernarbte Fratze mit mehreren Löchern, aus denen Augäpfel an ausgeleierten Fleischbändchen hingen.
»Ich finde es schmeichelhaft, dass du dich für mich interessierst, Amatholyx. Aber ich bin gerne alleine.«
»Brauchst einen Beschützer, Juna. Irgendwann wird Cataran wieder Hunger bekommen und keine Kinderchen mehr haben, die er vernaschen kann.«
»Ich weiß mich zu wehren, Amatholyx.«
»Magst mich nicht, hm? Findest mich nicht attraktiv. S'ist nicht gut, wenn du mich ablehnst. Könnte böse werden.«
»Das hatten wir doch alles schon mal.«
»Ich werd's so lange wiederholen, bis du das Strohlager mit mir teilst. Was glaubst du, was ich mit meiner Zunge alles bei dir anstellen könnte?«
Amatholyx entrollte ein blaues, fleischiges und zweigeteiltes Ding. Es fiel bis auf seine Brust hinab. Die beiden Hälften bewegten sich unabhängig voneinander, verknoteten und lösten sich wieder, glitten bis zu den Schultern des großen Mannes, bevor sie im Mundraum des Dämons verschwanden.
»Könnte dir Vergnügen bereiten, wie du es noch nie erlebt hast. Könnte dir Kinderchen machen. Schöne Kinder mit vielen, vielen Hängeaugen.«
Sie erreichten die Spitze der Schlange. Die drei Küchenweiber standen stumm nebeneinander. Sie hielten rostige und halb gefüllte Schöpfkellen in der Hand.
Cataran trat vor den Kessel. »Verpiss dich, Amatholyx!«, sagte er. »Die Kleine ist nicht zu haben.«
»Aber ...«
»Kein warmes Essen heute für dich. Geh in den Prater und grab dir Würmer aus dem Boden, wenn du Hunger hast. Los, verschwinde!«
»Du handelst dir Probleme ein, fetter Mann.«
»Willst du mir etwa drohen?«
»Weißt ganz genau, was ich dir antun kann. Möchtest du, dass ich böse werde? So richtig böse?«
»Verschwinde, Triefäuger!«, brüllte Cataran und hängte dabei seinen Unterkiefer aus, sodass die Reste des halb verdauten Kinds in seinem Rachen zu sehen waren.
Juna hielt den Atem an. Amatholyx' Augen schlüpften in die Höhlen zurück, sein Körper straffte sich. Er machte sich kampfbereit – und Juna hätte nicht zu sagen gewusst, welcher der beiden Dämonen siegreich aus einer Auseinandersetzung hervorgehen würde.
»Großer Fehler, fetter Mann«, sagte Amatholyx. »Wirst es bitter bereuen.« Er griff in die Tasche seiner weit geschnittenen Latzhose, holte einen Zigarettenstummel hervor und zündete ihn an. »Gehe jetzt. Essen. Werdet es alle bereuen, mich so behandelt zu haben.«
Er wandte sich ab und stelzte mit weiten Schritten davon, weg von den Zelten und hin zu den Baumreihen des Praters, die in der Dunkelheit kaum mehr zu erkennen waren.
»Danke«, sagte Juna zu Cataran.
»Du brauchst dich nicht zu bedanken«, schnitt ihr der fette Mann das Wort ab, nachdem er den Kiefer wieder eingerenkt und laut gerülpst hatte. »Du bist ein Übel für das gesamte Ensemble. Immer wieder habe ich Probleme wegen dir. Amatholyx ist ein wertvoller Mann für den Jahrmarkt. Seine Auftritte im Kuriositätenkabinett locken viele, viele Kinder an – und er versteht sich ausgezeichnet darauf, unsere Opfer zu filetieren. Ich habe niemals zuvor einen größeren Meister seines Fachs mit den Messern gesehen.«
»Aber ...«
»Los, verschwinde! Du bekommst ebenfalls nichts zu essen und wirst die Nacht bei den Elefanten verbringen. Verstanden?!«
Juna wollte widersprechen, ließ es aber bleiben. Sie nickte ergeben und schlich davon, hin zu den Elefantenkäfigen, die abseits des Jahrmarktgeländes und uneinsichtig für die Besucher aufgebaut worden waren.
Ihren Durst konnte sie an einem der bereitstehenden Wassereimer stillen. Doch in ihrem Magen grummelte es. Die Arbeit hatte viel Substanz gekostet.
»Ich habe doch gar nichts getan«, sagte sie leise zu sich selbst und zu den beiden Elefanten, Himeropa und Leukosia, die eng aneinander gelehnt dastanden und gegen die hintere Bretterwand ihres Käfigs starrten.
Wieder einmal musste sie daran denken, dass sie vom Regen in die Traufe gekommen war. Das Plakat in Graustedt hatte sie in die Irre geführt. Es hatte ihr eine lustige, farbenfrohe Welt vorgegaukelt – aber weder Cataran noch Amatholyx waren darauf abgebildet gewesen. Geschweige denn einer der anderen Dämonen. Nur der Riese war etwas aus der Art geschlagen. Dass sich das Plakat vor ihren Augen in eine dämonische Szenerie verwandelt hatte, hätte sie warnen müssen. Und auch, dass ihr Vater erstaunt gewesen war, als sie ihm gegenüber den Wunsch geäußert hatte, sich dem Jahrmarkt Chernadusha anzuschließen. Ausgerechnet! Jetzt erst wusste sie, warum er laut und schallend gelacht hatte.
Donnerwetter, Juna. Ich glaube, aus dir wird wirklich noch eine richtige Dämonin!
Sie richtete sich zwei Strohballen her und machte es sich darauf so gemütlich wie möglich. Ihr blieben zwei, vielleicht drei Stunden Ruhe, bevor die Tiere unruhig wurden.
Bis dahin musste Juna Kräfte sammeln. Sie wusste ganz genau, wie schwer der Umgang mit den Blut-Elefanten war.
Juna erwachte vom lauten Getrampel der Tiere. Sie stießen gegen die Holzwand, ließen die Rüssel über die Metallstangen rattern, stampften immer wieder mit den Vorderbeinen auf dem Holzboden auf.
»Hunger, kleines Mädchen!«, trötete Himeropa, der Größere der beiden. »Gib uns, was wir brauchen, bevor wir dich zu uns holen.«
Juna wischte sich den Schlaf aus den Augen. Sie musste möglichst rasch einen klaren Kopf bekommen. Sie hatte nicht das erste Mal mit den verdammten Elefanten zu tun und wusste ganz genau, wie schlau die Tiere waren.
»Es ist zu früh«, erwiderte sie und kroch von ihrem Strohhaufen.
»Es ist niemals zu früh, kleines Mädchen«, trompetete Leukosia. »Komm schon, komm! Wir benötigen es. Wir wollen es. Oder willst du dich uns darbieten? Möchtest du einen Teil von dir selbst opfern? Möchtest du uns ein Bein geben, wie es einstmals Carlos getan hat? Armer, alter Carlos, kann nur noch am Stock gehen ...«
Die beiden Elefanten schlangen die Rüssel ineinander und ließen die Köpfe hin und her wogen, wie sie es immer taten, wenn sie ihrer Freude Ausdruck verliehen.
»Ihr müsst warten«, beharrte Juna. »Wenn ihr schon jetzt esst, seid ihr in den Morgenstunden wieder hungrig und untertags nicht mehr zu gebrauchen.«
»Wir brauchen nur diese eine Mahlzeit, kleines Mädchen. Wir versprechen es dir.«
Himeropa und Leukosia logen. Sie waren die heimtückischsten Viecher, die ihr jemals untergekommen waren. Und sie setzten dabei ihre dämonischen Stimmen ein, verstärkt durch eigenartige Musik, die aus den Rüsseln drang.
»Ihr müsst euch gedulden. Schlaft jetzt weiter!«
Himeropa und Leukosia ließen voneinander ab und streckten die Rüssel nach ihr aus. Die Töne, die sie dabei erzeugten, waren so irritierend, so betörend, dass Juna Mühe hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur zu gerne wäre sie den Verlockungen gefolgt und zu den Tieren ins Innere des Käfigs gekrochen. Sie brauchte sich bloß auf den Boden legen und ein Bein in Richtung Himeropas ausstrecken ...
