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Jörg Kastner

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Beschreibung

1914 an der chinesischen Ostküste. Helene, in einer unglücklichen Ehe gefangen, hat ihre Familie verlassen und wird für tot gehalten. Sie liebte ihren Mann Erich über alles, aber der hatte nur Augen für ihre Schwester Amelie. Mit ihrer Arbeit beim Chinesischen Roten Kreuz will sich Helene ablenken. Dort, inmitten revolutionärer Wirren, trifft sie auf den verletzten Einheimischen Kang, der schon bald ihr Herz erobert. Doch plötzlich taucht Erich auf und beginnt, um seine Frau zu kämpfen. Für welchen der beiden Männer wird sich Helene entscheiden?

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Jörg Kastner

Das Jade-Medaillon

Roman

Kein Weg ist länger als der Weg vom Kopf zum Herzen.(Chinesisches Sprichwort)

Prolog

Qingdao, im September 2012

»Christa, hallo, geht es Ihnen gut?«

Durch Christas Körper ging ein Ruck, und sie schlug die Augen auf. Für ein paar Sekunden hatte sie die Orientierung verloren und blickte sich verwirrt um.

Sie saß an einem Tisch bei Kaffee und Kuchen, und ihr Gegenüber war eine hübsche Chinesin, deren Alter sie auf fünfundzwanzig bis achtundzwanzig schätzte. Yan-Tao, das war ihr Name, fiel es Christa wieder ein. Sie saßen im offenen Dachgarten eines Hochhauses und hatten einen guten Blick auf die Stadt am Gelben Meer: Qingdao.

»Geht es Ihnen gut, Christa?«, wiederholte Yan-Tao ihre Frage. »Sind Sie von der langen Reise erschöpft?«

»Ja, das wird es sein. Mein Lufthansa-Flug hatte ja einige Verspätung.« Christa lächelte der Frau zu, die sie erst seit wenigen Stunden persönlich kannte. »Umso dankbarer bin ich Ihnen, dass Sie mich vom Flughafen abgeholt haben.«

Sie griff nach ihrer Tasse und fragte sich, ob es wirklich nur die Ermüdung nach der langen Reise war. Vor zwei Tagen war sie von Berlin nach Frankfurt geflogen und hatte dort eine Nacht im Hotel verbracht. Gestern Abend hatte sie dann den Airbus bestiegen, der fast elf Stunden bis zur chinesischen Industriemetropole Shenyang gebraucht hatte. Dort hatte sich der eigentlich recht kurze Weiterflug nach Qingdao verzögert. Sie war wirklich hundemüde, obwohl sie endlich hier war – in Qingdao!

Aber vielleicht lag es nicht nur an der anstrengenden Reise. Vielleicht, dachte Christa, lag es auch an ihren Medikamenten. Oder an der Krankheit, die sie zwang, diese Medikamente einzunehmen. Aber das blieb sich letztlich gleich.

Hatte sie sich zu viel vorgenommen, als sie beschloss, im fernen Tsingtau, wo ihre Großeltern sich vor mehr als hundert Jahren kennengelernt hatten, auf Spurensuche zu gehen?

Würde sie hier fündig werden?

Es war so ganz anders als die Stadt, von der ihre Großeltern erzählt hatten.

Sie blickte abermals hinunter auf die pulsierende Großstadt. Ein Häusermeer mit mehr als acht Millionen Einwohnern. Wolkenkratzer reckten ihre Spitzen in den smogbleichen Himmel.

Nein, das war nicht mehr das bei aller Geschäftigkeit beschauliche Tsingtau, in dem Amelie und Tian sich kennengelernt hatten. Dies war eine pulsierende Industrie-und Hafenstadt, wie es viele gab im ständig wachsenden modernen China.

»Natürlich habe ich mich vorher über das heutige Qingdao informiert«, seufzte sie, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte. »Aber ich habe es mir doch ein wenig anders vorgestellt.«

»So wie aus den Erzählungen Ihrer Großmutter Amelie?«, fragte Yan-Tao.

Die Chinesin sprach ein perfektes Englisch, viel besser als Christa. Aber immerhin, Christas Englisch genügte, um sich fließend mit ihr zu unterhalten.

»Ein wenig schon, ja. Wenn meine Großmutter die Stadt beschrieb, sprach sie von einem süßen, honiggleichen Duft und von Hügeln in der Stadt und ringsum. Hier sehe ich kaum welche, und auch von dem alten Straßenbild ist nur wenig zu erkennen.«

»Viele Hügel wurden eingeebnet, um Platz für neue Wohngebiete zu schaffen. Früher war die Kolonialzeit kein beliebtes Thema in China, und viele der alten Gebäude wurden abgerissen. Was noch da ist, zeige ich Ihnen gern in den kommenden Tagen. Heute stehen wir der damaligen Zeit viel unbekümmerter gegenüber und bauen ganze Wohnsiedlungen ›in deutscher Art‹, wie wir es nennen.«

Christa horchte auf.

»In deutscher Art?«

»Keine Hochhäuser, sondern kleinere Gebäude, die sich in die Landschaft einfügen und eben deutsch aussehen.« Yan-Tao musste lachen. »Na ja, jedenfalls unserer Ansicht nach.«

»Das würde ich mir gern einmal ansehen«, sagte Christa.

»Schön, es ist die richtige Jahreszeit für Ausflüge. Der September ist vom Klima her ein guter Monat in Qingdao. Mildes Wetter, sehr angenehm.«

Christa nickte. »Auch Amelie und Helene sind im September hergekommen, im September 1908.«

Ihr Gegenüber strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. »Ich finde es einfach toll, dass Sie hier sind, Christa! Als ich Ihre Anfrage im Forum las, konnte ich es kaum glauben: ›Nachfahrin von Liu Tian und Amelie Liu, geborene Kindler, sucht Informationen über Erich Schweiger und Helene Schweiger, geborene Kindler.‹ Ich wollte schon so lange mehr über das Schicksal von Amelie und Liu Tian erfahren! Deshalb habe ich mich auch in dem Internetforum über das historische Tsingtau angemeldet. Aber dass ich Sie dort finde, unglaublich!«

»Denken Sie, so alte Leute wie ich benutzen kein Internet?«

Yan-Tao maß sie mit einem kurzen Blick.

»Wieso, Sie sind doch allenfalls Anfang fünfzig.«

»Danke für die Blumen«, lachte Christa. »Ich habe ja schon gehört, dass die Chinesen sehr höflich sein sollen.«

»Älter hätte ich Sie wirklich nicht geschätzt.«

»Schön für mich, aber Sie können da noch mal satte zehn Jahre draufschlagen.«

Die Chinesin aß ein Stück von der Kirschtorte nach Schwarzwälder Art, die hier im Deutschen Kaffeehaus als Spezialität angeboten wurde, und sagte: »Auch wenn es Ihr Bild von den höflichen Chinesen zerstört, darf ich Sie zuerst bitten, mir über Amelie und Liu Tian zu erzählen? Ich bin schon so gespannt. Soviel ich weiß, haben die beiden Tsingtau im Frühjahr 1919 mit dem Schiff in Richtung Europa verlassen. Sind sie jemals wieder zurückgekehrt?«

»Nie wieder«, sagte Christa und bestellte bei einem vorbeieilenden Kellner noch einen Kaffee. »Sie haben sich mit ihrem kleinen Sohn Erich Cheng, meinem Vater, in der Nähe von Berlin niedergelassen. Dort hatten sie später, als ich ein Kind war, ein kleines Haus mit einem schönen Garten. Ich bin immer gern bei ihnen gewesen und habe mir die Geschichten von China angehört.«

Christa erzählte von ihren Großeltern, von deren Erlebnissen in Tsingtau und ihrem späteren Leben in Deutschland, bis es dunkel wurde und sie immer öfter gähnen musste.

»Jetzt habe ich Sie derart lange aufgehalten, obwohl die Reise Sie so sehr ermüdet hat«, sagte Yan-Tao. »Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Hotel, und dort schlafen Sie sich richtig aus. Ich habe morgen Frühdienst. Aber am Nachmittag hole ich Sie ab und zeige Ihnen etwas von Qingdao und auch vom alten Tsingtau, wenn Sie möchten.«

»Liebend gern, Yan-Tao, aber vielleicht können wir das an einem der nächsten Tage machen. Vorher würde ich gern hören, was Sie zu erzählen haben. Über damals, meine ich. Ich bin nämlich auch schon so gespannt.«

»Oh, natürlich. Dann fahren wir einfach zu mir, und ich koche etwas für uns. Da sind wir ganz ungestört.«

Als sie am nächsten Tag mit dem Taxi vom Hotel zu Yan-Tao fuhren, war Christa überrascht. Die Chinesin wohnte in einer der »deutschen Siedlungen«, von denen sie gestern erzählt hatte.

Die Häuser waren dicht an ein Stück Wald gebaut. Auf den ersten Blick konnte man wirklich glauben, sich in einem Vorort irgendwo in Deutschland zu befinden.

Yan-Tao führte Christa in ihre stilvoll eingerichtete Zweizimmerwohnung im ersten Stock und fragte: »Möchten Sie deutschen Kaffee oder chinesischen Tee?«

»Ich versuche es mit dem Tee«, sagte Christa und ließ sich auf dem hellblauen Sofa nieder.

Die Zeit, die ihre Gastgeberin in der Küche verbrachte, gab ihr Gelegenheit, eine ihrer Pillen zu nehmen.

Die Chinesin kam mit einem großen Holztablett zurück und setzte sich in den Sessel zu Christas Rechten.

»Chrysanthementee. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.« Sie sah Christa an. »Ich habe ja noch viele Fragen zu Ihrer gestrigen Erzählung über Amelie und Tian, aber heute bin ich wohl erst einmal mit dem Erzählen an der Reihe.«

»Das wäre schön«, sagte Christa und probierte eins von den kleinen Gebäckstücken. »Sie sagten, Sie seien in gewisser Weise eine Nachfahrin meiner Großtante Helene. Das hat mich natürlich neugierig gemacht. Offiziell galt Helene ja als tot. Zum vermuteten Zeitpunkt ihres Todes hatte sie keine Kinder gehabt.«

Yan-Tao nickte.

»Man hielt sie für tot, weil sie auf dieser Insel über die Klippen gestürzt ist, ich weiß.«

»Großmutter Amelie erzählte mir, später sei Helenes Jade-Medaillon mit dem Abbild eines Hundes wiederaufgetaucht, und daraufhin habe ihr Mann Erich sich auf die Suche nach ihr begeben.«

»Mit dem Flugzeug, das er zusammen mit seinem Freund Jakob gebaut hatte«, ergänzte Yan-Tao.

»Ja, das stimmt. Er ist nachts gestartet, weil die Japaner Tsingtau besetzt hatten. Amelie, Tian und ein paar Freunde haben ihn zum Flugplatz begleitet, um ihm beim Start zu helfen. Das war im November 1914. Erich ist mit seinem Flugzeug, dem Adler von Tsingtau, im Nachthimmel verschwunden. Das ist das Letzte, was meine Großeltern von Erich gesehen oder gehört haben. Auch von ihrer Schwester Helene hat Amelie nie wieder etwas gehört. Wir haben uns immer gefragt, ob Helene wirklich noch am Leben war – und ob Erich sie gefunden hat.«

»Wenn Sie möchten«, sagte Yan-Tao gedehnt, »kann ich Ihnen das verraten.«

Christa legte beide Hände zusammen wie ein kleines Kind, das artig »Bitte, bitte« machte.

»Ich bitte sehr darum, Yan-Tao, deshalb bin ich ja hier.«

Die Chinesin lächelte.

»Meine Geschichte beginnt da, wo Ihre aufhört. Es war im November 1914 …«

Erster Teil

Im Tal der Lotosblumen

1

Es war November, und in der alten Heimat, in Deutschland, mochte bereits Schnee liegen, mochte die Luft schon vor Frostkälte klirren. Davon war hier nichts zu spüren. Die Provinz Schantung an der chinesischen Ostküste hatte im Winter ein mildes Klima, was die deutsche Handelsniederlassung Tsingtau zu einem beliebten Kur- und Erholungsort hatte werden lassen. Deutsche und andere Europäer, die rund um das Gelbe Meer lebten, waren in den Wintermonaten gern nach Tsingtau gereist, und man hatte die geschäftige Stadt wegen der. internationalen Prägung das »chinesische Monte Carlo« oder das »Neapel am Gelben Meer« genannt.

Vor Helenes innerem Auge tauchten die Bilder der Vergangenheit auf: Tsingtau mit seinen teils deutsch geprägten, teils chinesischen Straßenzügen. Rikschaläufer, die eilfertig deutsche Geschäftsleute durch die Straßen zogen. Geschäftsleute wie ihren Vater Heinrich Kindler und ihren Bruder Fritz. Sie sah das Villenviertel der wohlhabenden Europäer, die Handwerkergassen der Chinesen, die Strandpromenade und den Badestrand mit den vielen Badehütten und dem dreistöckigen Strandhotel.

Vor die Straßen und Gebäude schoben sich Gesichter: ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Schwester Amelie, an der sie sehr gehangen hatte und von der sie doch so enttäuscht worden war.

Ein weiteres Gesicht verdrängte, wie so oft in ihren Erinnerungen an das verlorene Leben, alle anderen. Das Gesicht eines Mannes, gut geschnitten, bartlos, mit graublauen Augen. Ein kräftiger roter Haarschopf verlieh der Erscheinung eine besondere Prägung.

Sie hatte sich sofort in diesen Mann verliebt, als seine Familie sie, ihre Eltern, ihren Bruder und ihre Schwester zum Essen eingeladen hatte. Liebe auf den ersten Blick, so nannte man das wohl in den Romanen von Hedwig Courths-Mahler, von E. Marlitt oder von Wilhelmine Heimburg. In all den Büchern von großer, scheinbar unerfüllbarer Liebe einfacher Frauen zu Männern, denen sie ganz und gar verfallen waren.

Zu Männern wie jenem, dem Helene ganz und gar verfallen war.

»Erich!«

Ohne es zu wollen, hatte sie den Namen laut ausgesprochen. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr das noch immer passierte, hatte sie ihn doch seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Wenn es nach ihr ging, würde sie ihn auch nie mehr wiedersehen.

Er hatte sich für eine andere entschieden und hatte es nicht einmal fertiggebracht, es ihr offen zu sagen. Aber nur zu gut erinnerte sie sich an die eindeutige Szene auf der Insel Schui ling schan und auch an den Namen, den Erich oft voller Verlangen geflüstert hatte.

Nicht ihren Namen, sondern den ihrer drei Jahre älteren Schwester: Amelie.

Amelie, die nicht nur an Jahren reifer war als sie. Amelies ganzes Wesen war erfahrener, erwachsener. Sie konnte aus sich herausgehen und zeigen, wenn ihr etwas gefiel. Oder jemand.

Jemand wie Erich. Auch. Amelie hatte sich an jenem Abend in den großen, rothaarigen Kaufmann verguckt, dessen Leidenschaft der Fliegerei galt. Das war ein Schock für Helene gewesen, hatte sie doch gewusst, dass sie gegen ihre Schwester niemals eine Chance haben würde.

Nicht äußerlich, da waren sich die beiden Töchter des Kaufmanns Heinrich Kindler sogar sehr ähnlich. Beide waren hübsch und hatten das gleiche dunkelblonde, lockige Haar. Nein, nicht mit ihrem Aussehen war Amelie der Schwester überlegen, sondern mit ihrem offenen, einnehmenden Wesen.

Und natürlich war es Amelie gewesen, die Erich an jenem Abend darum gebeten hatte, ihn zu einem Rundflug über Tsingtau zu begleiten, nicht Helene. Wobei Helene, wenn sie ehrlich zu sich war, nicht wusste, ob sie denselben Mut wie Amelie hätte aufbringen können und zugesagt hätte. Das war eben der Unterschied zwischen ihr und Amelie.

Dass schließlich Helene und nicht Amelie Erichs Frau geworden war, hatte sie damals als eine Fügung des Schicksals aufgefasst. Eine glückliche Fügung, hatte sie gedacht, aber wie sehr hatte sie sich da getäuscht!

Amelie hatte sich in den Chinesen Liu Tian verliebt und ihn gegen alle Widerstände geheiratet, obwohl sie mit Erich bereits verlobt gewesen war. Als Erich daraufhin Helene einen Antrag gemacht hatte, hatte sie gedacht, das Schicksal oder der liebe Gott meine es gut mit beiden Schwestern.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht gewusst, dass Erich nur Amelie in ihr gesehen und gesucht hatte. Dass er sie lediglich deshalb geheiratet hatte, weil sie ihn so sehr an ihre Schwester erinnerte.

Wenn sie aufrichtig mit sich war, dann musste sie sich eingestehen: Vielleicht hatte sie es geahnt. Aber diese schwache Ahnung, den Hauch einer Vermutung, hatte sie schnell und konsequent verdrängt. Ganz so, wie man ein lästiges Insekt mit einer Handbewegung verscheuchte. Sie würde Erich eine gute, treue Frau sein, und er würde sie dann um ihrer selbst willen lieben und nicht, weil er in ihr eine zweite Amelie sah.

So oder ähnlich musste sie damals gedacht haben, sie wusste es nicht mehr genau. Für sie hatte nur gezählt, dass Erich, der Unerreichbare, um sie geworben und sie gebeten hatte, seine Frau zu werden. Ohne zu überlegen, hatte sie Ja gesagt und war mit ihm zurück nach China gegangen, zurück in die deutsche Handelsniederlassung Tsingtau.

»Vorbei, für immer vorbei!«, sagte sie halblaut zu sich selbst und schüttelte sich heftig, als könne sie die Bilder aus ihrem früheren Leben auf diese Weise loswerden.

Da hörte sie ein Räuspern hinter sich und eine männliche Stimme: »Ist Ihnen kalt, Helene? Soll ich Ihren Mantel holen?«

Helene drehte sich um und sah Dr. Ehrmann in der Tür stehen, die sie nicht hinter sich geschlossen hatte. Sie war unter das Vordach getreten, um die noch frische Morgenluft zu genießen, bevor die Arbeit begann.

Rudolf Ehrmann war ein kleiner, drahtiger Mittfünfziger mit kurz geschorenem eisgrauen Haar und einem ebenfalls grauen Bart um Mund und Kinn. Er war der Leiter dieses Hospitals, zugleich seine gute Seele – die Kraft, die alles zusammenhielt. In dem schmalen Körper steckte eine enorme Energie, und einiges davon schien auf Helene übergegangen zu sein, seitdem sie mit ihm zusammenarbeitete.

Sie hatte sich verändert, zu ihrem Vorteil, wie sie selbst fand, und das verdankte sie zu einem nicht geringen Anteil Dr. Ehrmann.

Helene lächelte leicht und sagte: »Ich friere nicht, vielen Dank, Herr Doktor.«

»Ich dachte, Sie hätten gezittert.«

»Das habe ich, aber nicht wegen der Temperatur. Es war etwas anderes.«

Für einen Augenblick las sie Zweifel und Besorgnis im Blick seiner graubraunen Augen, dann bemühte auch Dr. Ehrmann sich um ein Lächeln.

»Seien Sie nicht zu leichtsinnig. Die Sonne, die sich da über die Hügel schiebt, kann einen leicht täuschen. Wir haben November. Und noch etwas: Vergessen Sie nicht zu frühstücken, bevor Sie zum Dienst erscheinen!«

»Ich habe gar keinen Hunger.«

»Spielt keine Rolle, Sie frühstücken!«, sagte er zwar streng, aber doch mit einem Schmunzeln um die Mundwinkel.

»Ist das eine ärztliche Anordnung, Herr Doktor, oder gar ein dienstlicher Befehl?«

»Ein wohlgemeinter Rat, und ein egoistischer noch dazu.«

»Wieso das?«

»Na, wer soll Ihre Arbeit übernehmen, wenn Sie mir zusammenklappen, Schwester Helene?«

Nach diesen Worten verschwand er im Halbdunkel des Hauses, und Helene stand wieder allein auf der großen Veranda des Lián-Hospitals.

Der Name hätte nicht passender gewählt sein können. »Lián« war das chinesische Wort für den Lotos, und Lotosblumen wuchsen tatsächlich zahlreich in dem kleinen See unweit des Hospitals. Der Lotos war mit seiner Fähigkeit, Wasser und damit auch Schmutz von sich abperlen zu lassen, ein Symbol für Reinheit und Treue. Für ein Krankenhaus war das alles andere als ein schlechtes Aushängeschild.

Helene betrachtete den See, in dem im Sommer die rosafarbene Lotospracht erblühte, lauschte dem Quaken eines unsichtbaren Frosches und lächelte dabei leicht. Es war ein Lächeln der Zufriedenheit. Hier im Lián-Hospital schien alles andere so weit weg, weit genug, um sie nicht einzuholen. Vor allem die Stadt Tsingtau mit Amelie und Erich und all den bösen Erinnerungen.

War sie ein Feigling, dass sie davor geflohen war? Dass sie sich einfach davongestohlen und die anderen, ihren Mann und ihre Familie, über ihr Schicksal im Unklaren gelassen hatte?

Sie beantwortete sich diese Fragen nach inzwischen reiflichem Nachdenken mit einem deutlichen Nein.

Warum hätte sie sich selbst weiter quälen sollen? Was hätte ihr oder den anderen das genutzt?

Was ihr auf der Insel Schui ling schan zugestoßen war, war vielleicht vom Schicksal so beabsichtigt gewesen. Helene wollte nicht zurück in ihr altes Leben, auf keinen Fall.

Deshalb war es vielleicht am besten, dass alle anderen sie für tot hielten. Oder wie Dr. Ehrmann zu sagen pflegte: »Ein klarer Schnitt ist oft die beste Lösung.«

Und doch quälte sie sich selbst in dieser Zeit der Unruhe und des Krieges mit der Frage, ob sie richtig handelte. Wie oft war sie in den letzten Wochen von einem schlechten Gewissen gepackt worden, wenn sie an die blutigen Kämpfe dachte, die Tsingtau auszustehen hatte.

Drüben in Europa waren alle verrückt geworden und hatten sich gegenseitig den Krieg erklärt, nachdem der österreichisch-ungarische Thronfolger und seine Gemahlin bei einem Besuch in Sarajevo einem Attentat zum Opfer gefallen waren. Deutschland und Österreich-Ungarn kämpften gegen Serben und Russen, gegen Engländer und Franzosen und jetzt auch gegen die Japaner, die doch eigentlich so weit weg waren von Europa.

Letztere wollten sich die deutsche Handelsniederlassung Tsingtau einverleiben und hatten einen immer dichter werdenden Belagerungsring um die Stadt gezogen. In der alten Missionsstation in den Bergen hatten sie den Geschützdonner gehört, und sie hatten Verwundete gepflegt, manche schrecklich zugerichtet und einige mit tödlichen Wunden.

Hätte Helene nach Tsingtau zurückkehren müssen, um ihrer Familie beizustehen – und Erich?

Sie hatte oft darüber nachgedacht, aber dann hatte sie es doch verworfen. Dieses alte Leben war vorbei, und in ihrem neuen als Schwester Helene tat sie ihre Pflicht, häufig mehr als das, wenn sie sich bis zum Rande der Erschöpfung um Kriegsverletzte kümmerte.

Auch das lag jetzt zum Glück hinter ihr. Die Missionsstation in den Bergen war von ihrer Betreiberin, einer kleinen evangelisch-lutherischen Gemeinschaft, unter dem zunehmenden Druck der Kampfhandlungen aufgegeben worden.

Aber Dr. Ehrmann wollte sich weiterhin um die Einheimischen kümmern, gerade in dieser schweren Zeit, und hatte ein Angebot des Chinesischen Roten Kreuzes angenommen, das weiter im Hinterland der Provinz Schantung gelegene Lián-Hospital zu leiten. Helene war überglücklich gewesen, als Ehrmann sie mitgenommen hatte, hierhin, an diesen idyllischen Ort, wo Hass und Krieg und Gewalt so weit weg waren. Kurze Zeit war sie erst hier, und doch fühlte sie sich schon heimisch und wollte gar nicht mehr fort.

Ihr Blick glitt hinüber zu den Hügeln, die das lang gestreckte Tal von der kriegerischen Welt abschirmten. Durch den kleinen Fluss, der das Tal in der Mitte durchschnitt und in den See am Hospital mündete, war dies eine sehr fruchtbare Gegend, und wie die Perlen an einer Schnur reihte sich ein kleines Bauerndorf an das nächste.

Dort arbeiteten einfache Menschen, pflanzten Hirse und Mais an und waren doch zufrieden mit dem Wenigen, das sie hatten. Im Gegensatz zu vielen Europäern, deren Bekanntschaft Helene in ihrem früheren Leben gemacht hatte und die umso gieriger wurden, je mehr sie besaßen.

Dies war jetzt ihre Welt, und sie war zufrieden hier, zufriedener als jemals zuvor in ihrem Leben.

Sie verließ den hölzernen Vorbau, um sich mit einem kleinen Spaziergang am See den nötigen Frühstückshunger zu holen. Das Quaken des einsamen Frosches verstummte, als fühle er sich durch sie gestört. Dafür hörte sie etwas anderes.

Waren es Stimmen?

Leises Getuschel?

Am Seeufer blieb sie stehen und lauschte. Nein, sie musste sich getäuscht haben. Da war nichts sonst, nur das leichte Rascheln des Schilfgrases in der Morgenbrise.

Sie wollte gerade weitergehen, als sie erneut Stimmen zu hören glaubte.

Zu ihrer Linken, keine hundert Meter entfernt, bewegte sich das Schilfgras. Es sah aus, als liefen darin große Tiere, die vor ihr Reißaus nahmen.

Ihr Herz schlug schneller, und ein Anflug von Furcht erfasste sie. Ihre Nackenhaare sträubten sich bei dem Gedanken an wilde, gefährliche Tiere, die sich nicht weit von ihr herumtreiben mochten. Aber dann sagte sie sich, dass es in dieser Gegend überhaupt keine wilden Tiere gab, jedenfalls keine von gefährlicher Größe.

Das Schilfgras war wieder still, beugte sich nur leicht im Wind, und auch die an Stimmen erinnernden Geräusche waren nicht mehr zu hören.

Hatte Dr. Ehrmann recht, fehlte ihr einfach ein gutes Frühstück?

Sie dachte an seinen »wohlgemeinten Rat« und wollte schon zurück ins Haus gehen, um sich an den Frühstückstisch zu setzen, aber ihre Neugier hielt sie davon ab. Da war bestimmt etwas gewesen, und sie wollte herausfinden, was hier vor sich ging.

Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen und näherte sich der Stelle, an der sie die Bewegungen im Schilfgras erstmals wahrgenommen hatte.

Sie sah etwas Großes, Dunkles, das am Rand des Schilfes lag, ganz still, wie ein riesiger Stein oder ein totes Tier.

Aber als sie näher trat, erkannte sie die Wahrheit: Es war ein Mensch, ein Mann, und er war offenbar verletzt.

2

Als er zu sich kam, fühlte er sich wie zerschlagen. Er lag im hohen Gras und musste mühsam seine Erinnerung zusammenklauben.

Wo war er?

Wie war er hierhergekommen?

Er lag auf dem Rücken und starrte in einen blauen Himmel, der nur wenige Wolken kannte. Die Sonne stand niedrig – war es Abend oder Tagesanbruch? Irgendwo in seiner Nähe plätscherte etwas, vielleicht ein Bach. Der Gedanke machte ihm bewusst, wie durstig er war. Er musste unbedingt zu diesem Bach, um etwas zu trinken.

Bei dem Versuch, sich aufzurichten, schoss ein jäher Schmerz durch seinen rechten Arm. Es war unmöglich, sich damit abzustützen.

Er sackte zurück und lag wieder auf dem Rücken wie ein umgeworfener Riesenmaikäfer. In seinem Kopf brummte es kräftig, als habe sich dort ein ganzer Bienenschwarm eingenistet.

Eine ganze Weile blieb er so liegen, atmete tief durch und sah in den weiten Himmel über sich. Die Sonne stieg langsam höher, also war es Morgen.

Plötzlich erinnerte er sich an seine Flucht aus Tsingtau und an seinen nächtlichen Flug mit dem Adler von Tsingtau, wie Jakob Winterkorn und er ihr selbst gebautes Flugzeug genannt hatten. Ganz deutlich sah er jetzt alles vor sich.

Tsingtau.

Die Belagerung durch die Japaner.

Die Aufklärungsflüge mit dem Adler bei der ständigen Gefahr, von japanischer Artillerie oder japanischen Flugzeugen abgeschossen zu werden.

Sein Freund Jakob Winterkorn, der nach einem Absturz mit dem Adler im Lazarett gelegen hatte.

Die Flucht aus der Stadt, nachdem die deutschen Verteidiger kapituliert und Tsingtau ehrenvoll an den Feind übergeben hatten.

Begleitet von guten Freunden hatte er sich nachts zum Iltisplatz geschlichen und den gefährlichen Start in der Finsternis gewagt. Nur weil er den Flugplatz so gut kannte wie seine Westentasche, war dieses Unterfangen geglückt.

Der Adler hatte sich in die Lüfte erhoben, höher und höher, und hatte Tsingtau auf seinem Flug landeinwärts hinter sich zurückgelassen.

Aber die Hoffnung, die Linien der Japaner in der Dunkelheit unbeschadet hinter sich lassen zu können, hatte sich nicht erfüllt. Er dachte zurück an die Scheinwerfer, die plötzlich unter ihm aufgeflammt waren und die den Adler schon bald erfasst und in ihren grellen Lichtkegel getaucht hatten.

Dem gleißenden Scheinwerferlicht folgten Detonationen: Geschütze, die unter ihm ihre tödlichen Granaten in den Himmel spuckten.

Er hatte den Kurs noch zu ändern versucht, aber zu spät: Die linke Tragfläche war getroffen worden, zersplitterte, und der verwundete Adler trudelte abwärts.

Er hatte sich bemüht, den flügellahmen Vogel so lange wie möglich in der Luft zu halten, um einen großen Abstand zu den feindlichen Linien zu gewinnen. Aber schließlich war der Boden, in der Nacht nichts als eine dunkle Fläche, doch rasend schnell näher gekommen. An diesem Punkt setzte seine Erinnerung aus.

Er hatte überlebt, so viel stand fest. Damit war es ihm besser ergangen als seinem Flugzeug, dessen Trümmer um ihn verstreut im Gras lagen. Wie das zerlegte Skelett eines urzeitlichen Riesenvogels.

Der Adler von Tsingtau würde sich nie wieder in die Lüfte erheben. Große Traurigkeit erfüllte ihn, als er daran dachte, wie viele Stunden ihrer freien Zeit, abends, nachts, und an den Wochenenden, Jakob und er in den Bau ihres Eindeckers investiert hatten.

Aber er musste an das Positive denken: Er lebte und war offenbar in einer so großen Entfernung zu den japanischen Linien heruntergekommen, dass die Japaner ihn bisher nicht gefunden hatten.

Dass sie ihn suchten, stand für ihn außer Frage. Sie würden wissen wollen, wen sie abgeschossen hatten und ob jemandem die Flucht aus Tsingtau gelungen war. Vielleicht jemandem, der wichtige Dokumente aus der Stadt herausgebracht hatte. Ein Geheimkurier, ein Verräter oder ein Spion.

In der Dunkelheit war es schwierig für sie gewesen, ihn zu finden. Aber jetzt, wo die klare Novembersonne höher kletterte und das Land unter sich flutete, war es nur eine Frage der Zeit, bis die japanischen Patrouillen die ersten Wrackteile aufspüren würden. Von den Trümmern bis zu dem Piloten war es kein weiter Weg, jedenfalls im Augenblick. Er musste von hier verschwinden, so schnell wie möglich.

Vorsichtig erst, dann energischer, bewegte er Arme und Beine. Fast alle seine Glieder schmerzten, aber es fühlte sich nicht so an, als habe er sich etwas gebrochen. Nur Prellungen, vielleicht Verstauchungen, mehr nicht.

Er hatte das sprichwörtliche Glück im Unglück gehabt. Offenbar hatte seine gut gepolsterte Pilotenkleidung einiges abgefangen. Seine Verletzungen waren zwar schmerzhaft, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.

Bevor er den zweiten Versuch unternahm, sich zu erheben, fuhr seine rechte Hand unter die Lederjacke und nestelte einen kleinen Gegenstand aus einer Tasche seines Uniformhemds. Er betrachtete den grünen Anhänger, ein Jade-Medaillon. Es zeigte einen Hund, weil die Frau, der das Medaillon gehörte, im Jahr des Hundes geboren war.

Die Frau, die er suchte. Die er liebte, auch wenn er das spät erkannt hatte.

Zu spät?

»Ich werde dich finden, Lene, ich werde dich finden!«, sagte Erich Schweiger leise, fast flüsternd, aber mit Nachdruck, als er seinen Oberkörper allen Schmerzen zum Trotz erhob.

Mitten in der Bewegung hielt er inne, weil er ein Geräusch gehört hatte. Es hörte sich an wie Schritte, die näher kamen, zögernde Schritte.

Er wagte kaum zu atmen, und eine einzige Frage schoss ihm durch den Kopf: Freund oder Feind?

3

Helene hatte den Mann im Schilfgras fast erreicht und sah auf ihn hinab. Er war groß und breitschultrig, und seine Statur erinnerte sie an Erich.

Aber der Mann vor ihr hatte schwarzes Haar und nicht rotes, und das längliche Gesicht trug eindeutig chinesische Züge.

Dieses Gesicht war gut geschnitten, eine weitere Gemeinsamkeit mit Erich, aber ihr fiel es schwer, sich die markanten Züge lächelnd vorzustellen. Die Mundwinkel deuteten leicht nach unten und verliehen dem Antlitz einen sehr ernsten Zug.

Der Mann lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und atmete flach, ungleichmäßig. Sein Hemd war zerrissen, bestand nur noch aus Fetzen, und sein muskulöser Oberkörper war mit mehreren provisorischen Verbänden umwickelt. Schmutzige Verbände. Ein paar der Wunden waren aufgebrochen, und das Blut begann, den Stoff der Verbände mit seinem kräftigen Rot zu durchtränken.

Plötzlich zitterten die Lider, und die eben noch geschlossenen Augen öffneten sich weit. Hatte der Mann Helene gehört oder ihr Kommen gar gespürt?

Die Augen des Verwundeten waren fast so schwarz wie sein Haar. Helene las weder Furcht noch Flehen in seinem Blick. Nur eine Frage des Chinesen lag darin: Würde man ihm helfen?

Helene kniete sich neben ihn und achtete nicht darauf, dass das feuchte Schilfgras ihre dunkelblaue Arbeitshose durchnässte. Sie trug diese Hose, wie sie auch von vielen Chinesen und Chinesinnen benutzt wurde, weil sie sich bei der täglichen Arbeit im Hospital einfach als praktisch erwiesen hatte.

Mit der flachen Hand strich sie sanft über die schweißnasse Stirn des Mannes und sagte: »Keine Sorge, wir werden uns um Sie kümmern. Ich werde Hilfe holen, und dann bringen wir Sie ins Haus.«

Sie hatte deutsch gesprochen, was hier in Schantung von vielen Chinesen verstanden wurde, aber zur Sicherheit wiederholte sie ihre Worte in der Landessprache.

Die beherrschte sie dank ihrer Tätigkeit erst in der Missionsstation und jetzt hier im Hospital recht ordentlich, wenn auch noch nicht perfekt. Das Chinesische war eine schwierige Sprache, in der ein Wort schon durch eine leicht andere Betonung eine vollkommen neue Bedeutung erhalten konnte.

Hatte der Unbekannte sie verstanden? Sie wusste es nicht. Seine Mundwinkel zuckten leicht wie zu einem Lächeln, aber vielleicht war es auch nur ein Ausdruck der Schmerzen, die er gewiss empfand.

Sie strich noch einmal über seine Stirn und erhob sich dann, um zum Haus zurückzulaufen. Dabei rief sie laut, dass sie dringend Hilfe brauche, erst auf Deutsch, dann auf Chinesisch.

Dr. Ehrmann erschien auf der Veranda und blickte sie irritiert an.

»Was ist denn, Helene?«

Sie blieb stehen und zeigte zum Schilf.

»Da drüben liegt ein Verletzter.«

»Wie …«, begann der Arzt, weiter kam er nicht.

»Er hat mehrere Wunden und scheint mir sehr schwer verletzt zu sein. Wir müssen ihm umgehend helfen, Herr Doktor!«

Ehrmann rief in Richtung des Hauses: »Tao-Wei und Zhong, kommt schnell nach draußen und bringt eine Trage mit!«

Tao-Wei war der Koch des Hospitals, und Zhong arbeitete hier als Kuli, was in diesem Fall so etwas wie ein – männliches – Mädchen für alles bedeutete.

Der Arzt wartete nicht auf die beiden. Er lief zu Helene und ließ sich von ihr zu dem Verwundeten führen. Auch Ehrmann ließ sich auf die Knie nieder, um den ungewöhnlich hochgewachsenen Chinesen, dessen Augen inzwischen wieder geschlossen waren, zu untersuchen.

Es dauerte nicht lange, und er sagte zu Helene: »Es war gut, dass Sie mich gleich gerufen haben, Schwester. Wir müssen sofort operieren. Die Kugeln stecken noch in seiner Brust.«

»Also sind es Schusswunden, das dachte ich mir.« Helene erhob sich. »Ich werde schon vorgehen und alles für die Operation vorbereiten.«

»Das tun Sie nicht. Nicht, bevor Sie etwas gefrühstückt haben!«

»Dazu ist jetzt keine Zeit«, widersprach sie.

Dr. Ehrmanns Brauen zogen sich zusammen wie Wolken bei einem drohenden Gewitter. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er keinen Widerspruch duldete.

»Wenn Sie mir mitten in der Operation zusammenklappen, hat niemand etwas davon, dieser Mann hier am allerwenigsten. Also essen Sie bitte etwas, trinken Sie eine Tasse Kaffee, und dann machen wir uns an die Arbeit! Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Herr Doktor«, antwortete Helene leicht missgestimmt, was sie vor dem Arzt gar nicht zu verbergen versuchte.

Vermutlich, wahrscheinlich sogar, hatte er ja recht mit seiner Ermahnung, aber sie befürchtete, dass jede Minute, die verstrich, über Leben und Tod des Verwundeten entschied.

Als sie sich umdrehte, sah sie Tao-Wei und Zhong, die im Laufschritt herbeikamen. Der bullige Kuli hatte sich eine zusammenklappbare Trage unter den Arm geklemmt.

Helene fragte sich, ob der Verletzte überhaupt stark genug war, um den kurzen Transport ins Hospital zu überstehen. Er musste es einfach, sie hatte es ihm doch versprochen.

Mit schnellen Schritten lief sie zum Hospital zurück und bat den Koch um ihr Frühstück.

Während sie im Speiseraum saß, den viel zu dünnen Kaffee trank, den Tao-Wei einfach nicht stärker hinbekommen wollte, und sich zwang, zwei der frisch zubereiteten und noch ofenwarmen Hirseküchlein zu verdrücken, versuchte sie sich mit dem Gedanken zu trösten, dass Rudolf Ehrmann ein hervorragender Arzt war. Ein Mann, der schon vieles gesehen und erlebt hatte und der unbedingt wusste, was er tat. Sie würde ihm vertrauen müssen, da blieb ihr ebenso wenig eine Wahl wie dem verwundeten Fremden.

4

Halb aufgerichtet verharrte Erich bewegungslos im hohen Gras und lauschte.

Er glaubte, nur die Schritte eines einzelnen Menschen zu hören. Aber wenn es ein Japaner war, dann waren dessen Kameraden bestimmt nicht weit.

Erichs Rechte fuhr zu der ledernen Pistolentasche an seiner rechen Hüfte und öffnete sie. Seine Finger glitten über den Knauf der Luger, und er fühlte sich ein bisschen sicherer. Besonders, als er die Waffe durchgeladen und entsichert in der Hand hielt.

In Gedanken verfluchte er den Umstand, dass er auf einer großen Lichtung lag. Sie bot ihm außer dem Gras keine Deckung, machte ihn zu einem leichten Ziel für jeden Feind. Andererseits: Hätten an dieser Stelle Bäume gestanden, hätte er sich bei seiner Bruchlandung wohl sämtliche Knochen gebrochen.

Man kann halt nicht alles haben, sagte er sich und dachte dabei an jene Zeit zurück, als er Helene an seiner Seite, aber nur Augen für ihre Schwester Amelie gehabt hatte.

Wie dumm er gewesen war! Und wie ungerecht Helene gegenüber!

Das nahe Knacken eines Zweigs alarmierte ihn, und die Mündung der Luger schwenkte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

Dort wucherte ein Gestrüpp aus ihm unbekannten Sträuchern, und hinter dem Gestrüpp schob sich jetzt die schlanke Gestalt eines Mannes hervor.

Er war Chinese, kein Japaner, trug keine Uniform, sondern einen blauen Kittel und eine Hose in gleicher Farbe. Auch lag kein Karabiner in seinen Händen, er stützte sich nur auf einen Bambusstab.

Der graue Zopf, der unter seiner ausgebleichten Kappe hervorlugte, war die traditionelle Kopfzier der chinesischen Männer. Aber jetzt, wo das chinesische Kaiserhaus nicht länger an der Macht war, hatten sich viele Chinesen den Zopf, ein Symbol für die Unterordnung gegenüber der kaiserlichen Dynastie, abgeschnitten. Hier im Hinterland war die neue Mode offenbar noch nicht angekommen.

Oder der Mann fühlte sich einfach zu alt, um neue Moden mitzumachen. Als der Chinese näher trat, erkannte Erich, dass er die Blüte seiner Jahre längst überschritten hatte und, vom Alter gebeugt, etwas krumm ging. Ein dünner grauer Bart lag um Mund und Kinn, und zahllose Falten und Fältchen verdeckten das wahre Alter mehr, als dass sie es preisgaben.

Abrupt blieb der Fremde stehen, hob beide Hände bis in Schulterhöhe, wobei er mit der Rechten weiterhin den Bambusstab hielt, und sagte auf Deutsch: »Bitte du nicht schieß, deutscher Mann. Schieß nicht auf Ho Dewei, den guten chinesischen Mann. Oder du etwa bist böser japanischer Mann?«

»Sehe ich aus wie ein Japaner?«, erwiderte Erich, ohne die Luger auch nur einen Millimeter zu senken.

»Nein, ein böser japanischer Mann bestimmt nicht hat so rotes Haar wie du. Du aussiehst wie ein guter deutscher Mann, der böse gefallen ist vom Himmel.«

»Warum magst du die Japaner nicht?«

»Alles war gut, als die deutschen Männer hier das Sagen hatten. Ich hatte Arbeit in Fabrik in Tsingtau. Dann kamen die bösen japanischen Männer und haben geschossen alles kaputt mit Bomben und Granaten. Fabrik kaputt, Bruder kaputt, Sohn verschwunden. Japaner nicht gut, sie böse!«

»Hast du Japaner gesehen?«

»In Tsingtau?«

»Nein, hier. Heute Morgen.«

»Nein, keine Japaner hier. Nur ich und Mann vom Himmel, den ich gesucht habe.«

»Du hast mich gesucht? Warum?«

»In der Nacht ich habe das Licht von Riesenlampen gesehen und gehört das Geräusch von Schießen. Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich kann helfen.«

Der Alte hatte ein ehrliches Gesicht, und Erich entschloss sich, ihm zu vertrauen. Er sicherte die Luger-Pistole und steckte sie zurück in die Ledertasche, ließ diese aber offen.

»Du kannst mir helfen, hier fortzukommen, Ho Dewei. Die Japaner werden mich suchen. Wenn sie mich finden, war alles umsonst.«

»Dann deine Mission ist so kaputt wie dein Fluggerät?«

»Was weißt du von meiner Mission?«, fragte Erich mit neu erwachter Skepsis.

»Nichts, gar nichts. Aber du musst eine wichtige Mission haben, sonst hättest du dich nicht in die Lüfte erhoben wie ein kühner Adler.«

»Wie ein Adler, wie wahr«, murmelte Erich und sah dem Chinesen in die Augen. »Ich habe tatsächlich eine Mission: Ich suche die Frau, die ich liebe, meine Frau.«

Ho Dewei hielt seinem Blick stand, antwortete aber nicht sofort. Erich hatte das Gefühl, sein Gegenüber blicke ihm mit seinen alten, erfahrenen Augen direkt in die Seele.

Schließlich öffneten sich seine dünnen, rissigen Lippen, und er sagte bedächtig: »Dann bist du auf der wichtigsten Mission, die ein guter Mann haben kann. Komm jetzt mit, ich bringe dich in mein Haus.«

»Ist das weit von hier?«

»Weniger als eine halbe Stunde für alten Mann, wie ich bin. Für halb kaputten Mann wie dich wohl etwas mehr.«

»Halb kaputt, so fühle ich mich tatsächlich.« Erich sah den hilfsbereiten Chinesen an. »Du bist ein guter Mensch, Ho Dewei. Ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe, und deshalb lehne ich sie ab.«

Der Alte legte den Kopf schief.

»Ich bin alt und höre nicht mehr gut. Du hast bestimmt nicht gesagt, dass du nicht willst meine Hilfe, deutscher Mann?«

»Das habe ich auch nicht. Deine Hilfe ist mir willkommen, sehr willkommen sogar. Trotzdem lehne ich sie ab. Gerade weil ich dein Angebot zu schätzen weiß.«

»Bist du mehr kaputt, als ich dachte?«, fragte der Chinese. »Bist du vielleicht aus Himmel da oben auf deinen Kopf gefallen?«

»Möglich ist es«, ächzte Erich, der von einer Übelkeitsattacke heimgesucht wurde. »Aber auch wenn es so ist, kann ich noch klar denken. Ich will dich und die Deinen nicht in Gefahr bringen. Und das wärt ihr unweigerlich, würdet ihr mir Zuflucht gewähren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Japaner das Flugzeugwrack entdecken. Wenn sie mich nicht finden, werden sie weitersuchen. Sie werden auch zu deinem Haus kommen, Ho Dewei. Mich bei dir zu verbergen kann für dich und deine Leute böse enden. Vielleicht nimmt man euch nur gefangen, vielleicht nimmt man euch aber auch das Leben.«

»Aus deinem Mund Wahrheit und Sorge sprechen, deutscher Mann. Du wirklich bist guter Mann, und gerade darum ich dir helfen will. Sorge dich nicht um mich und meine Leute. Ich gutes Versteck für dich habe.« Der Alte trat näher und streckte eine Hand aus. »Komm jetzt, steh auf. Wir besser verlassen diesen Ort.«

Erich ergriff die ausgestreckte Hand und kam schwankend auf die Beine. Der linke Fuß tat ihm besonders weh, und er vermutete eine Verstauchung.

Solange das nicht besser wurde, würde er kaum große Strecken zurücklegen können, jedenfalls nicht auf Schusters Rappen. Dagegen waren die Schmerzen an mehreren anderen Körperstellen zu vernachlässigen.

Sorgen bereitete ihm noch sein Kopf. War er tatsächlich darauf gefallen? Sein Schädel fühlte sich halb benommen an. Am liebsten hätte er sich ganz benommen gefühlt, dann hätte er die heftigen Anfälle von Übelkeit, die ihn schubweise überfielen, nicht so stark wahrgenommen.

»Vorwärts nun, ein Fuß vor den anderen«, verlangte der Chinese, während er Erich stützte. »Auch auf dem Weg zu großem Ziel der kleinste Schritt es wert ist, getan zu werden.«

»Ist das eine alte chinesische Weisheit?«, fragte Erich verwundert.

Ho Dewei verneinte und sagte: »Das nur die Weisheit eines alten Chinesen ist.«

5

Es war ein langer Kampf gewesen. Etliche Stunden. Helene hatte sie nicht gezählt. Dr. Ehrmann und sie hatten alles dafür getan, um das Leben des Verwundeten zu retten. Vier Kugeln hatte Ehrmann aus seiner Brust herausgeholt, und besonders bei der letzten hatte er sich schwergetan. Die Kugel saß so nah beim Herzen, dass selbst ein so erfahrener Arzt wie Ehrmann fast verzweifelt wäre. Aber dann war es doch gelungen.

Der Kuli Zhong und der Boy Wu hatten den durch den Blutverlust arg geschwächten Patienten auf ein kleines Zimmer gebracht, das er für sich allein hatte.

»Er braucht jetzt Ruhe«, hatte Ehrmann gesagt und dabei selbst erschöpft geklungen. »Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe.«

Das Wasser in der breitrandigen Blechschüssel färbte sich rot, als sie sich mit einem großen Stück Kernseife Hände und Arme abschrubbte. Der operierte Chinese schien ein kräftiger Mann zu sein, aber er hatte so viel Blut verloren, dass er von seiner Körperkraft in den kommenden Tagen kaum etwas haben würde. Augenblicklich war er so schwach wie ein kleines Kind.

Als Helene sich endlich gesäubert hatte und durch das schmale Fenster des Waschraums nach draußen blickte, sah sie, dass die Sonne längst im Zenit stand. Es war Mittag.

Mein Gott, dachte sie, wir haben wirklich lange gebraucht!

Im Gegensatz zu heute Morgen hatte sie jetzt wirklich Hunger und ging in den Speiseraum, wo sie zu ihrer Verwunderung noch allein war. Müde ließ sie sich an einem Fenstertisch nieder und lächelte dankbar, als der Koch ihr eine heiße Hühnerbrühe und einen Teller mit kleinen Teigfladen servierte.

Sie aß mit großem Appetit, sehr zur Freude von Tao-Wei, der ihr ungefragt eine zweite Schale Brühe brachte. Während sie die Hühnerbrühe löffelte, dachte sie über den Mann nach, den sie heute Morgen im Schilfgras aufgefunden hatte.

Ein geheimnisvoller Mann. Er hatte keinerlei Papiere bei sich gehabt.

Wie war er mit seinen Wunden hergekommen? Wer hatte auf ihn geschossen und warum?

Stammte er aus einem der umliegenden Dörfer? Unwahrscheinlich, denn keiner der Chinesen im Hospital schien ihn zu kennen.

Ganz in ihre Gedanken über den Fremden versunken, bemerkte Helene wohl erst nach einiger Zeit, dass jemand energisch an ihrem linken Ärmel zupfte. Irritiert sah sie zur Seite. Dort stand Ah-Kum, ein chinesisches Mädchen mit einem so niedlichen Gesicht, dass man die Kleine schon beim ersten Anblick gernhaben musste. Auch Helene hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen, als sie ihr das erste Mal begegnet war.

So erging es allen im Hospital, und Ah-Kum konnte sich darum so manche Freiheit herausnehmen. Was sie aber niemals ausnutzte, um sich selbst einen Vorteil oder gar anderen einen Nachteil zu verschaffen. Auch wenn sie dank der allgemeinen Zuwendung um einiges zutraulicher geworden war, im Grunde ihres Wesens war sie schüchtern, geradezu verschlossen.

Vermutlich hing das mit den Erlebnissen Ah-Kums zusammen, bevor sie in die Missionsstation gekommen war. Aber niemand außer ihr kannte diese Erlebnisse, und niemand kannte ihren wahren Namen.

Ah-Kum war stumm.

Sie war gleich zu Beginn der Belagerung Tsingtaus durch die Japaner in der Mission aufgetaucht. Hatte sie ihre Familie durch japanischen Granatbeschuss verloren oder durch chinesische Banditen, die sich die allgemeine Unordnung für ihre Raubzüge zunutze machten?

Niemand konnte das sagen, aber Helene und auch Dr. Ehrmann vermuteten etwas in dieser Richtung. Unklar blieb auch, ob das ungefähr fünf- oder sechsjährige Mädchen den Weg zur Missionsstation allein gefunden hatte oder ob jemand anderes sie zu früher Morgenstunde einfach vor der Tür ausgesetzt hatte, Nachbarn oder Verwandte vielleicht.

Dr. Ehrmann fand schnell Gefallen an dem Kind und nannte es oft seinen kleinen Schatz. Daher der Name Ah-Kum, die chinesische Bezeichnung für Schatz.

Als die Mission geräumt wurde, war es Ehrmann nicht schwergefallen, die Kleine mitzunehmen. Er hing wirklich sehr an ihr, täuschte aber ein medizinisches Interesse vor. Seiner Meinung nach war das Mädchen aufgrund dessen, was sie erlebt hatte, verstummt.

»Eines Tages wird Ah-Kum wieder sprechen, so wahr ich Ehrmann heiße!«, hatte er einmal zu Helene gesagt.

Natürlich wollte er das erreichen, dessen war sich Helene gewiss. Aber Ehrmanns eigentlicher Antrieb war seine Zuneigung zu Ah-Kum, da konnte er ihr nichts vormachen.

Während Ah-Kum mit einer Hand an Helenes Ärmel zupfte, hielt sie mit der anderen den braunen Plüschteddy fest, den Ehrmann ihr noch in der Missionsstation geschenkt hatte und den die Kleine seitdem hütete wie ihren Augapfel.

Helene streichelte sanft den Kopf des Mädchens.

»Guten Tag, Ah-Kum, wir haben uns heute noch gar nicht gesehen. Ich hoffe doch, dir und deinem Teddy geht es gut. Was möchtest du denn, hm?«

Sie hatte deutsch gesprochen und ging davon aus, dass die kleine Chinesin diese Sprache zumindest ansatzweise verstand. Wie die anderen Waisenkinder auch nahm Ah-Kum, obwohl sie stumm war, an dem von Helene gegebenen Deutschunterricht teil.

Ah-Kum jedenfalls schien den Sinn ihrer Worte begriffen zu haben. Sie ließ Helenes Ärmel los und deutete auf den Teller mit Teigfladen.

Helene hatte nur einen der kleinen Fladen gegessen, die anderen lagen unberührt auf dem Teller. Sie nahm den Teller und hielt ihn dem Mädchen hin.

Ah-Kum ließ sich nicht lange bitten, ergriff einen der Fladen und verspeiste ihn mit sichtlichem Wohlbehagen. Der kleine Mund war bis zum Rand gefüllt und schien jeden Augenblick platzen zu können, während das Kind kaute und kaute.

Der Speiseraum füllte sich zusehends, und Dr. Ehrmann trat an ihren Tisch.

Auch er streichelte den Kopf des Mädchens, während er zu Helene sagte: »Schön, dass Sie sich ein wenig um Ah-Kum kümmern. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Gern«, antwortete Helene. »Das wird sicher auch Ah-Kum freuen. Übrigens kümmert sie sich genauso um mich.«

Prompt erschien der Koch, um Ehrmann Brühe zu servieren. Außerdem stellte er einen neuen Teller mit Teigfladen auf den Tisch. Der Arzt nahm Ah-Kum auf den Schoß, und sie vertraute ihm tatsächlich ihren Teddy an, den er sorgsam auf den leeren Stuhl neben sich setzte. Nachdem Ah-Kum sich vergewissert hatte, dass es ihrem kleinen Plüschfreund gut ging, nahm sie einen weiteren Fladen vom Teller, diesmal mit beiden Händchen, und biss herzhaft hinein.

Als Ehrmann auf seine zweite Schale Brühe wartete, fragte er: »Wie haben Sie das eben gemeint, Helene? Dass Ah-Kum sich genauso um Sie kümmere?«

Helene berichtete ihm von den tausend Gedanken, die sie sich um den Mann mit den Schussverletzungen machte, und fügte hinzu: »Dank Ah-Kums Erscheinen konnte ich mich von dem Wirrwarr in meinem Kopf ein wenig befreien.«

»Sie machen sich ähnliche Gedanken wie ich«, sagte Ehrmann und blickte besorgt drein. »Ich hoffe sehr, wir haben uns mit dem neuen Patienten keine Schwierigkeiten ins Haus geholt.«

»Wieso Schwierigkeiten?«

»Offenkundig hat jemand versucht, dem Mann das Leben zu nehmen. Vier Kugeln in der Brust fängt man sich nicht durch einen Zufall oder ein Versehen ein. Wer immer dahintersteckt, könnte versuchen, das zu beenden, was ihm nur beinah gelungen ist. Dann wäre unser Hospital in unmittelbarer Gefahr.«

»Von wem droht uns diese Gefahr?«

»Wenn ich das wüsste«, seufzte Ehrmann und zog, ein plötzliches Lächeln auf sein Gesicht zaubernd, den Teller mit den Teigwaren näher zu Ah-Kum heran.

»Banditen?«, fragte Helene. »Oder die Japaner?«

»An die Japaner glaube ich nicht, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Gegenwärtig dürften sie noch weit genug von uns entfernt sein. Wir müssen aber damit rechnen, dass sie weiter ins Landesinnere vordringen, sobald Tsingtau gefallen ist. Banditen, das wäre die eine Möglichkeit. Ein Streit unter Dorfbewohnern wird es kaum gewesen sein. Danach sieht mir die ganze Sache nicht aus.« Ehrmann sah zum Fenster hinaus auf die fernen Hügel, die das Tal umschlossen, als stünde dort die Wahrheit zu lesen. »Wenn wir Pech haben, ist es mit dem Frieden hier schon bald vorbei.«

Helene wollte sich das gar nicht vorstellen. Als sie vor ein paar Wochen das Hospital übernommen hatten, war sie überglücklich gewesen, einen Ort gefunden zu haben, an dem Ehrmann und sie ihr Wirken aus der Missionsstation fortsetzen konnten.

Sollte das Glück nur so kurz währen?

Nein, sie wollte wirklich nicht daran denken, aber das half nichts. In der Vergangenheit hatte sie, die einstmals wohlbehütete Kaufmannstochter aus gutem Haus, auf bittere Weise lernen müssen, sich den Realitäten des Lebens zu stellen.

»Woran denken Sie noch, Herr Doktor?«, fragte sie daher. »Sie sprachen von der einen Möglichkeit, den Banditen. Dann muss es noch mindestens eine weitere Möglichkeit geben.«

»Das wären dann die Kriegsherren oder Warlords, wie sie sich gern von uns Europäern nennen lassen. Bei den meisten von ihnen ist allerdings die Abgrenzung zu Banditen sehr fließend. Wären sie nicht ehemalige Offiziere und hätten sie nicht häufig große, ehemals reguläre Truppenteile unter sich, würde man wohl ganz klar von Banditen sprechen. Der Untergang der Qing-Dynastie und die damit einhergehende Auflösung des Kaiserhauses haben leider auch zu einer Auflösung, besser gesagt, einer Zersplitterung des chinesischen Militärs geführt. Überall im Land gibt es größere und kleinere lokale Machthaber, ehemalige Offiziere und Provinzgouverneure, die ganz nach ihrem Belieben über vormals reguläre Truppenteile und frisch angeworbene Rekruten verfügen, manchmal nur über kleinere Einheiten, manchmal auch über ganze Armeen.«

Helene hatte sich darüber bisher kaum Gedanken gemacht. Die Umwälzungen, die das riesige China seit zwei, drei Jahren erfasst hatten, waren für die Menschen im deutschen Pachtgebiet Kiautschou und seiner näheren Umgebung nicht so einschneidend gewesen wie im Rest des Landes. Die militärische Präsenz der Deutschen hatte hier Banditentum und Ausschreitungen im Zaum gehalten.

Aber jetzt standen die Japaner kurz davor, die Stadt Tsingtau und ganz Kiautschou in ihre Gewalt zu bringen. Vielleicht hatten sie es auch schon vollbracht. Nachrichten benötigten lange, um in dieses stille Tal zu gelangen. Die Anwesenheit der Japaner jedenfalls änderte die Verhältnisse und führte möglicherweise zu größeren Unruhen in der Gegend.

Helene wollte Dr. Ehrmann nach seiner Meinung dazu fragen, aber Ah-Kum, die noch auf seinem Schoß saß, war offenbar gesättigt und rutschte unruhig hin und her.

»Du findest unsere Unterhaltung wohl nicht sonderlich spannend, hm?«, lächelte Ehrmann die Kleine an. »Da müssen wir eine andere Beschäftigung für dich finden.«

Er rief dem Kuli Zhong, der gegessen hatte und gerade von seinem Tisch aufstand, etwas zu, und kurz darauf brachte der kräftige Chinese eine Pappschachtel mit Buntstiften und einen Block weißen Papiers zu ihnen. Das war genau das Richtige für Ah-Kum, die liebend gern malte, besonders Bilder, auf denen ihr Teddy im Mittelpunkt stand. Auch jetzt war ihr Plüschtier das Erste, was sie zu Papier brachte.

Helene sah ihr eine Weile zu und wandte sich dann wieder an den Arzt.

»Glauben Sie, wir werden hier Schwierigkeiten mit diesen … diesen Warlords bekommen?«

»Ich befürchte es. Die deutschen Truppen in Kiautschou sind so gut wie besiegt. Bevor die japanischen Sieger zu mächtig werden, wird der eine oder andere Warlord versuchen, ihnen die Macht streitig zu machen. Chao Li-Hu zum Beispiel, der als unversöhnlicher Feind der Japaner gilt.«

»Wird er es schaffen?«

»Vermutlich nicht. Die Japaner sind nicht dumm und haben einen anderen der hiesigen Warlords auf ihre Seite gebracht, einen gewissen Lin Gang. Sie unterstützen ihn wohl mit Geld und Waffen. Das Ergebnis ist, dass die beiden Kriegsherren sich untereinander bekämpfen, sodass die Japaner den Rücken frei haben, um den letzten deutschen Widerstand niederzuringen.«

Helene fühlte, wie die kalte Hand der Angst nach ihrem Herzen griff. Das Hospital war ihr Heim, Dr. Ehrmann und die anderen hier ihre Familie. Wenn er mit seinen Ausführungen recht hatte, dann war beides in großer Gefahr.

»Herr Doktor, woher wissen Sie das alles?«

»Ich ziehe viele Erkundigungen ein, bei unseren chinesischen Helfern, aber auch bei den Patienten. Schließlich trage ich als Leiter des Hospitals auch die Verantwortung für die Sicherheit der Menschen hier.«

»Warum haben Sie niemandem davon erzählt, auch mir nicht?«

Ehrmann lächelte schwach, fast ein wenig entschuldigend. »Reicht es nicht, wenn ich mir Sorgen mache?«

Helene wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie dachte wieder an den frisch Operierten und betrachtete ihn nach den Ausführungen des Arztes in einem ganz neuen Licht.

»Was denken Sie über unseren Verwundeten?«, fragte sie schließlich. »Gehört er zu einem dieser Warlords?«

Tao-Wei servierte ihnen Tee, und der Arzt nahm genüsslich einen Schluck, bevor er antwortete: »Mit großer Wahrscheinlichkeit gehört er den Truppen Chao Li-Hus oder seines Gegenspielers Lin Gang an. Die schweren Schusswunden sprechen nicht gerade für einen Streit unter Bauern oder Dörflern. Da geht es eher handfest zur Sache. Auch hätte man den Verwundeten dann wohl auf normalem Wege zu uns gebracht. Diese Heimlichtuerei heute Morgen spricht eine andere Sprache. Offenbar haben ein paar Kameraden den Verletzten still und leise hergebracht und sind dann ebenso still und leise wieder verschwunden.«

»Aber warum fürchten sie uns? Wir können ihnen doch nichts tun.«

»Vielleicht fürchten sie Verrat. Die Gegenseite könnte Spione hier haben und durch sie erfahren, dass ihre Feinde in der Nähe sind.«

»Spione? Unter unseren Helfern?«

Sie dachte an den fleißigen Kuli Zhong, an den fürsorglichen Koch Tao-Wei, an die beiden Hausboys Wu und Hao und an die alte Fang. Sollte wirklich ein Verräter unter ihnen sein?

Ehrmann hob langsam die Schultern und ließ sie dann wieder sinken.

»Weiß man es?«

Helene schüttelte den Kopf und seufzte: »Mir ist das alles zu kompliziert. Vielleicht sollte ich mir weniger Gedanken machen und mich einfach um unseren neuen Patienten kümmern. Er kann gute Pflege vertragen, um wieder auf die Beine zu kommen.«

»Das kann er ganz sicher«, stimmte Ehrmann zu und beugte sich zu Ah-Kum vor. »Und was hat meine Kleine da Schönes gemalt?«

Bereitwillig zeigte das Kind ihm sein Bild. Es zeigte unverkennbar den Plüschteddy in einem ganzen Haufen anderer Tiere, die eher nach Ameisen oder Käfern aussahen.

»Da hat dein Teddy aber eine Menge Spielkameraden«, lachte Ehrmann. »Wo hat er die denn her? Hat er etwa ein Warenhaus ausgeplündert?«

Ah-Kums Gesicht blieb ernst. Offenbar verstand sie ihn nicht.

Helene sah an diesem Tag stündlich nach dem operierten Chinesen, der meistens fest schlief. Den Schlaf der Erholung und Gesundung, wie sie hoffte.

Ihr fiel erst bei ihrem zweiten oder dritten Besuch in seinem kleinen Zimmer auf, dass er keinen Zopf trug, so wie all jene chinesischen Männer, die ihre Abkehr von der alten Kaiserherrschaft nach außen bekunden wollten. Hier auf dem Land, unter lauter Bauern und gewöhnlichen Leuten, war das eher selten.

Aber der Unbekannte war gewiss kein Bauer, kein gewöhnlicher Mann, das sah sie ihm an. Selbst in seinem geschwächten Zustand umgab ihn eine Aura des Bedeutungsvollen. Sie konnte sich das nicht näher erklären, sie spürte es einfach.

Gegen Abend, als sie erneut nach ihm sah, schlug er plötzlich die Augen auf. Sein Blick war auf sie gerichtet, fast so, als wolle er sie damit verschlingen.

Ein seltsames Kribbeln erfasste sie, und ein Schauer lief über ihren Rücken, aber ihr war nicht unwohl dabei. Im Gegenteil: In dem Blick lag etwas Anziehendes, eine magnetische Kraft.

Ähnlich war es damals bei Erich gewesen, als sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte.

Sie musste sich eingestehen, dass sie sich zu dem chinesischen Patienten hingezogen fühlte.

Zu dem Mann, den sie erst heute Morgen aufgefunden und mit dem sie noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Von dem sie nicht wusste, wer er war und ob man nicht vielleicht ganz zu Recht auf ihn geschossen hatte.

Vielleicht war er ein brutaler Bandit, der Angst und Schrecken verbreitete und der Mord und Plünderung zu verantworten hatte. Wenn dem so war, dann versteckte er sich einfach nur vor dem Arm des Gesetzes und nicht vor den Truppen eines rivalisierenden Warlords.

Aber je länger sie in seine dunklen Augen sah, desto weniger konnte sie ihn für einen Mörder und Räuber halten. Wahrscheinlich war er ein unbeugsamer Mann, jemand, der seinen Willen gegen andere auf Biegen und Brechen durchsetzte. Aber ein ungerechter Mann, ein Verbrecher, der Schwache unterdrückte, um sich selbst zu bereichern? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen.

Er öffnete die Lippen und brachte mit zitternder Stimme ein Wort hervor: »Danke!«

Seine Augen schlossen sich wieder, und er fiel in den Schlaf zurück.

Was hatte ihn überhaupt geweckt? Hatte sie beim Eintreten ein lautes Geräusch verursacht? Oder hatte er ihre Anwesenheit gar gespürt?

Erst mit einiger Verzögerung wurde ihr klar, dass der Chinese sich auf Deutsch bedankt hatte.

Aber mehr noch als die Sprache hatte sie seine Stimme beeindruckt. Trotz seines geschwächten Zustands war sie tief und klangvoll. In dieser Stimme klang etwas mit, das sie seltsam berührte.

Noch vor dem Einschlafen sann sie darüber nach, was das sein mochte – vergebens. Dann, im Traum, hörte sie die Stimme wieder, wie sie sanft und zärtlich einen Namen aussprach: »Helene!«

6

Erich schrak zusammen, als er die Schritte hörte. Er benötigte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Dann wusste er wieder, wo er war.

Der flackernde Schein eines Talglichts fiel auf die rauen, kalten Wände seines Verstecks. Nackter Fels. Der alte Ho Dewei hatte ihn hergebracht. In eine Höhle, die ungefähr fünfzehn Minuten von dem Hof des Chinesen entfernt lag.

Eine gute Idee, fand Erich. Falls die Japaner bei Ho Dewei nach dem abgeschossenen Flieger suchten, würden sie ihn nicht finden. Spürten sie ihn aber in seinem Versteck auf, so fiel kaum ein Verdacht auf den hilfsbereiten Chinesen. Außerdem konnten Ho Deweis Angehörige weder absichtlich noch unabsichtlich etwas verraten, wussten sie doch von nichts.

Ho hatte Erich mit allem Nötigen versorgt: mit Decken, Lebensmitteln, Wasser und sogar mit einer Flasche selbst gebranntem Kornschnaps.

»Macht Feuer von innen, wenn Nacht ist kalt«, hatte der Chinese beim Überreichen der Flasche gesagt. »Das besser als gar kein Feuer.«

Womit er recht hatte, denn ein Feuer anzuzünden, das wagte Erich nicht. Wenn in dieser Höhle der Rauch nicht richtig abzog, konnte er leicht ersticken. Zog er aber ab, konnte das Erich verraten. Selbst wenn man den Rauch in der Nacht nicht sah, man konnte ihn riechen.

Erich hatte, bevor er sich zum Schlafen hinlegte, zwei, drei Schlucke von dem Schnaps getrunken, und der Fusel brannte tatsächlich wie ein Feuer in ihm. Danach hatte Erich tief und fest geschlafen. Er wusste nicht, ob das aufgrund des Gesöffs oder der hinter ihm liegenden Strapazen passiert war.

Die Schritte, die ihn aufgeweckt hatten, wurden lauter.

Japaner?

Waren sie seiner Spur vom Flugzeugwrack bis hierher gefolgt?

Oder hatte ihn jemand verraten?

Ho Dewei?

Vielleicht einer seiner Angehörigen, der doch etwas mitbekommen hatte?

Erich zog die Luger und lud sie mit einer schnellen Bewegung durch.

Das metallische Klacken des Durchladens, das in der Höhle viel lauter klang als im Freien, war offenbar gehört worden. Die Schritte verstummten schlagartig.

»Nicht schießen, Mann mit rotem Haar«, bat eine Männerstimme auf Chinesisch. »Hier nur ist der gute Ho Dewei.«

»Und wen hat der gute Ho Dewei mitgebracht?«, rief Erich in die Dunkelheit, die sich rings um ihn jenseits des begrenzten Lichtkreises des Talglichts ausbreitete.

Er hatte deutsch gesprochen wie auch der Chinese. Falls Japaner bei ihm waren und ihn zwangen, Erichs Versteck zu verraten, bestand gute Aussicht, dass diese kein Deutsch beherrschten. Das wiederum gab Ho Dewei die Gelegenheit, Erich eine Warnung zukommen zu lassen.

Erich war bereit, das Licht jederzeit auszublasen, um kein zu leichtes Ziel zu bieten.

Neben ihm lag eine Schachtel Sturmzündhölzer. Kurz dachte er daran, ein Zündholz anzureißen und in die Finsternis vor sich zu werfen.

»Ich allein bin«, beantwortete der Chinese endlich Erichs Frage. »Ich jetzt komme, wenn guter Mann mit rotem Haar nicht schießt auf mich.«

»Tritt vor. Wenn du wirklich allein bist, hast du nichts zu befürchten.«