Herzog der Cherusker - Jörg Kastner - E-Book
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Herzog der Cherusker E-Book

Jörg Kastner

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Beschreibung

Werden die Germanen endlich siegen? Erfolgreich betreibt der machthungrige Präfekt Sejanus seine Ränkespiele in Germanien: Die alte Zwietracht unter den Germanenstämmen lebt wieder auf und die Krieger rüsten zum Kampf. Auch im Cheruskerstamm selbst herrscht Uneinigkeit und nur ein starker Anführer vermag den freien Germanen zum Sieg verhelfen. Doch Herzog Arminius, der Anführer der Cherusker, soll ermordet worden sein. Seine Leiche wurde allerdings nie gefunden und sein Blutsbruder Thorag bezweifelt diesen Tod. Wenn Arminius aber wirklich tot ist, wer soll die Cherukserkrieger dann vereinen und in die letzte Schlacht führen? Der letzte Band der zwölfteiligen Romanserie »Die Saga der Germanen« von Jörg Kastner.

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Jörg Kastner

Herzog der Cherusker

Finale der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen

Historischer Roman

Kapitel 1 – Der Fimbulwinter

Nach einem Sprung über drei Felder stieß der schwarze Gott gegen einen Riesen und warf ihn um.

„Riesenwurf!“, ertönte Sikkos dunkle Stimme, und eine seiner Bärenpranken hob den daumengroßen Riesenstein hoch. „Zwei Striche“, grinste der Chatte beim Betrachten der Unterseite. „Der Riese gehört mir.“ Er stellte den ersten Riesen, der in dieser Runde geworfen worden war, neben das Spielbrett aus Eichenholz und griff wieder nach seinen Göttersteinen. Wer einen Riesen geworfen hatte, war noch einmal am Zug. Und der führte Sikkos Gott zu einer der weißen Götterscheiben, auf die er seine bislang aus drei Steinscheiben bestehende Götterfigur setzte. Seine Augen blitzten sein Gegenüber an. „Jetzt ist mein Gott so stark wie deiner, Donarsohn, und ich habe schon einen Riesen geworfen. Zaudern zahlt sich nicht aus, im wirklichen Kampf so wenig wie auf dem Spielfeld!“

„Einen Plan zu verfolgen, solltest du nicht mit Zaudern verwechseln, Sikko.“ Thorag zog den roten Gott an einem Riesen vorbei und erhöhte die Stärke seiner Figur um einen weiteren Götterstein. „Auch Donar war oft auf List angewiesen, wenn es galt, der unbändigen Stärke der Riesen zu widerstehen.“

Seine letzten Worte wurden von einem lauten Krachen fast verschluckt. Die Sturmriesen, die schon seit vielen Nächten und Tagen tobten, Bäume entwurzelten, Zäune umwarfen, das Rohr von den Dächern rissen und das Flechtwerk der Hauswände zerfetzten, hatten etwas Schweres gegen eine Außenwand des großen Langhauses geschleudert. Was es war, konnte niemand sagen. Türen und Windaugen waren fest verschlossen, und nur das Licht des Herdfeuers und einiger Öllampen erhellte das Innere des Hauses. Selbst die abgebrühten Recken aus Thorags Kriegergefolgschaft zuckten bei dem unerwarteten Lärm zusammen. Der nicht enden wollende Winter zerrte an ihnen. Seit Monaten auf dem Donarhof eingesperrt, fragten sie sich, ob die Wut der Sturmriesen sich jemals wieder legen würde.

Die Frostriesen hielten das Land mit solcher Stärke in ihrem eisigen Griff, dass die Hirschkrieger, die Thorag zum Donarhof begleitet hatten, bislang nicht die Heimkehr in ihren Gau gewagt hatten. Die Cherusker hatten schon geglaubt, sie könnten den Winter verabschieden, da suchten plötzlich neue Kälte, neuer Schnee und die mit jeder Nacht anschwellenden Stürme ihr Land heim.

Kriegserprobte Männer, die ohne Zögern gegen eine Übermacht in die Schlacht zogen oder sich Eber und Bär entgegenstellten, fragten sich jetzt, ob der Fimbulwinter angebrochen war, der alles verheerende Riesenwinter, der zwei Sommern die Wärme und das Leben raubte, indem er aus Nord, Ost, Süd und West Schnee herantrug und das Land mit klirrendem Frost und tosenden Stürmen überzog. In den alten Liedern hieß es, der Fimbulwinter sei die Strafe für die Zwietracht auf der Menschenwelt, wo ein Bruder den Bruder bekämpfte, wo Sippen auseinanderbrachen, wo Treue nicht einmal mehr zwischen Mann und Weib herrschte, wo die Sommer widerhallten vom Klirren der Kriegsbeile, der Schwerter und Schilde. Und war die Welt nicht wahrhaftig so, wie die Lieder erzählten?

Als Thorag darüber nachdachte, fühlte er die eisige Hand eines Frostriesen nach seinem Herzen greifen. Wenn das unablässige Getöse da draußen das Brüllen des Fimbulwinters war, stand das Ende der Menschen wie der Götter bevor: Die Midgardschlange würde das Wasser des Meeres über das Land peitschen, der Fenriswolf würde die Sonne verschlingen, und Surturs flammende Horden würden die ganze Welt mit Feuerbrand überziehen. Die meisten der Götter, ihnen voran Wodan und Donar, würden im vergeblichen Kampf gegen das Schicksal fallen, und wenn die Götter starben, war auch das Ende der Menschen gekommen.

„Der zweite Riese!“, drang Sikkos Stimme durch seine finsteren Gedanken. „Du wirkst wie erstarrt, Donarsohn. Hast du eingesehen, dass dein Zaudern ein Fehler war?“

Thorag hatte kaum darauf geachtet, wie Sikko einen Riesen mit drei Strichen warf und seinen Götterstein im Anschluss in die Nähe eines weiteren Riesensteins zog. Nachdenklich blickte er den Chatten an, der sich dank Irmils guter Pflege von seinen Verletzungen erholt hatte. Ebenso wie Thorag, dessen Beine nicht länger schmerzten. Nur zahlreiche rote Narben, die sich von den Füßen bis zu den Knien hinzogen, zeugten noch von seinem Bad im Blut der Tamfana.

„Hältst du mich noch immer für einen Feigling, Sikko?“

Der Chatte zog verwundert die dunklen Brauen hoch. „Was soll ich antworten? Ich bin in deiner Gewalt.“

„Ich habe dich nicht gesund pflegen lassen, um dich wegen einer ehrlichen Antwort zu töten.“

„Bist du sicher, dass du eine ehrliche Antwort haben willst?“

„So sicher, wie ich der Sieger dieses Spiels sein werde.“

Sikko brach in ein so heftiges Lachen aus, dass die ganze Bank, auf der er saß, erbebte. „Deine Worte zeigen mehr Zuversicht als der Stand des Spiels, Donarsohn. Zwei Riesen für mich, keiner für dich.“

„Ich habe Augen, die das sehen. Und ich habe Ohren, die auf deine Antwort warten, Chatte.“

„Du bist Donars Sohn, und der ist nicht feige. Ich habe gesehen, wie du dem Blut der Tamfana widerstanden hast. Ich habe die Narben vergangener Schlachten und Prüfungen gesehen, die deinen ganzen Leib bedecken wie die Mäntel der Frostriesen unser Land. Ein ganzer Winter gab mir Zeit zum Nachdenken. Ich erahne zumindest, was dich davon abhielt, dein Leben im Kampf gegen meine Hundinge zu geben. Es ist eine Ehre, dein Gefangener zu sein.“

„Aber es wäre dir lieber, auf diese Ehre zu verzichten.“

„Du kennst meine geheimsten Gedanken, Cherusker“, feixte Sikko und hielt sein Trinkhorn einem Schalk hin, der mit einem Bierkrug von Tisch zu Tisch ging.

Auch Thorag ließ sein Horn auffüllen, und beide tranken. Dann fragte der Donarsohn: „Wann wirst du fliehen? Sobald die Mäntel der Frostriesen zu Wasser werden, nehme ich an.“

„Soll ich dir vorher Bescheid geben?“

„Nein, Sikko, ich möchte dich um etwas anderes bitten: Unterlass jeden Fluchtversuch. Als Gegenleistung darfst du dich auf dem Donarhof frei bewegen. Und wenn der Tag gekommen ist, wirst du als freier Mann von uns scheiden, auf eigenem Ross und in voller Bewaffnung.“

„Ein seltsamer Vorschlag, Fürst Thorag. Was versprichst du dir davon?“

„Das kann ich noch nicht sagen.“

„Aha. Und wann ist der Tag gekommen, an dem du mich als freier Mann entlassen willst?“

„Auch das kann ich noch nicht sagen“, antwortete Thorag.

Sikko musterte ihn zweifelnd. „Ich glaube, wenn ich fliehe, bin ich eher ein freier Mann.“

„Vermutlich, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass dir die Flucht gelingt.“ Thorag sah wieder auf das Spielbrett. „Du glaubst also, du schlägst mich?“

„Ich glaube es nicht, ich weiß es. Unsere Götter sind gleich stark, und ich habe schon zwei Riesen geworfen. Wie willst du das noch einholen?“

„Bevor ich dir das zeige, schlage ich dir einen Handel vor. Wenn du das Spiel gewinnst, darfst du den Donarhof jederzeit als freier Mann verlassen, bewaffnet und mit einem Ross, das du dir aus meinem Stall aussuchen kannst. Siege ich aber, so bleibst du so lange mein Gast, bis ich dich entlasse.“

„Einverstanden, und vielen Dank für Pferd und Waffen“, kicherte Sikko. „Dein Zug, Donarsohn!“

Als die Bärenkrieger die Tür aufzogen, blies eiskalter Wind in das Langhaus, und selbst das Herdfeuer erzitterte unter dem Hauch der Sturmriesen. Unzählige Eisfedern hingen in den Bärenfellen der beiden Eintretenden. Einer zeigte mit seiner Framenspitze auf Ragnar, der mit Jorit in einer Ecke beim Würfelspiel hockte.

„Berold schickt mal wieder nach mir“, seufzte der Junge und ließ den hartledernen Würfelbecher sinken. „Er ist hartnäckig wie Loki, der sich einen Streich vorgenommen hat.“

„Ich fürchte, er hat mehr als nur einen Streich im Sinn“, sagte Jorit. „Aber lass ihn nicht warten. Sicher gibt es wieder heißen Saft und süße Honigfladen.“

Ragnar stand von der dicken Flechtmatte auf und folgte den beiden Bärenmännern nach draußen. Sunna verbarg ihr Antlitz hinter Wolkenbergen und Tausenden Eisfedern, die der Sturmwind durch die Schlucht des kauernden Bären trieb, wie die Bärenkrieger diesen Ort nannten. Aber selbst der Felsvorsprung mit der Form eines sich duckenden Bären lag hinter dem Schneegestöber verborgen. Zum Schutz gegen den scharfen Biss des Windes senkte Ragnar sein Haupt, zog die Augen zu Schlitzen und presste die Lippen fest aufeinander, während er vornübergebeugt durch das kalte Weiß stapfte, das ihm bis zu den Hüften reichte. Zweimal zogen die Krieger ihn mit sich, weil er kaum noch vorankam.

Berold wies seinem Gast einen Platz dicht am Herdfeuer zu. Nach der eisigen Kälte draußen erschien Ragnar die Wärme des Herdes wie die Hitze Muspelheims, wo das Urfeuer brannte. Er schloss die Augen, und für kurze Zeit bestand die Welt nur aus Wärme und dem heimeligen Knacken der verbrennenden Holzscheite. Die Erinnerung an längst dahingeschmolzene Winter kehrte zurück, und er sah sich wieder mit seinen Eltern auf dem Donarhof. Thorag kroch auf allen vieren um das Herdfeuer. Auf seinem breiten Rücken hockte Ragnar und trieb sein menschliches Ross in die Schlacht. Auja blickte lächelnd zu ihnen herüber und rief sie zu Tisch, von wo der Duft heißen Brombeersaftes und frischer Fladen aufstieg. Und endlich, endlich erinnerte sich Ragnar wieder an das Gesicht seiner Mutter!

„Schon lange war kein Winter mehr so kalt und stürmisch wie dieser. Die Männer munkeln, der Fimbulwinter sei gekommen.“

Berolds Stimme zerstörte den kurzen Traum. Ragnar öffnete die Augen, und die Züge seiner Mutter lösten sich im Qualm des Herdfeuers auf, der als zitternde Rauchfahne zur Uhlenflucht aufstieg. Dort staute er sich und breitete sich wie auf der Suche nach einem Unterschlupf unter dem Gebälk aus. Selbst der Atem des Feuers schien Sturm und Kälte zu fürchten.

„Der Fimbulwinter?“, fragte Ragnar, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte.

„Der letzte und der strengste Winter von allen, der jedes Grasbüschel bedeckt und das Vieh vor Kälte sterben lässt. Die Menschen hungern und frieren und sind fast froh, wenn am Ende des Fimbulwinters die Riesen und Ungeheuer ihrem kärglichen Dasein ein Ende setzen.“ Berolds ernste Miene verwandelte sich in ein Lächeln, und er schob einen Tonbecher mit dampfendem Saft und einen Honigfladen zu Ragnar. „Die Macht der Sturm- und Frostriesen erweicht die Herzen selbst tapferer Krieger, weil sie spüren, wie klein und schwach sie sind. Furcht vor dem, das ihnen unbegreiflich ist, lässt sie an das Ende der Zeiten denken. So wie die Furcht vor der ihnen unheimlichen Bärensippe den Hass der Cherusker weckt. Du erinnerst dich?“

„Du sprichst oft darüber.“ Ragnar biss herzhaft in den Fladen.

„Leider nur ein Gerstenfladen, der Weizenvorrat ist erschöpft“, sagte Berold. „Schmeckt er trotzdem?“

Ragnar nickte nur, zum Sprechen war sein Mund zu voll.

„Fein. Was die Furcht und den Hass der Menschen auf meine Brüder und mich betrifft, hast du dir darüber Gedanken gemacht?“

„Habe ich“, kam es undeutlich über Ragnars Lippen, während er versuchte, durch eifriges Schlucken seinen Mund zu leeren.

„Und? Glaubst du noch immer, dass die achte Sippe böse ist?“

Ohne nachzudenken, antwortete Ragnar: „Ja.“

„Ja?“ Berold beugte sich weit über den Tisch und sah Ragnar zweifelnd an. „Ich dachte, in den vergangenen Monden hätte ich dich gelehrt, zwischen den Gedanken der Furcht und des Unwissens auf der einen und denen des Erkennens auf der anderen Seite zu unterscheiden.“

„Das hast du, Berold.“

„Wieso antwortest du dann mit Ja?“

„Als ich hierherkam, wusste ich nicht viel von der Bärensippe. Ich hielt sie für böse, weil alle das von ihr sagten. Inzwischen weiß ich es aus eigener Erfahrung.“

„Du redest unverständlich, Ragnar!“

„Finde ich nicht. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich hergekommen bin. Nämlich gegen meinen Willen. Ihr habt mich verschleppt. Und Jorit habt ihr auch verschleppt. Ihr habt uns überfallen. Hättet ihr nichts Böses vorgehabt, hättet ihr uns offen entgegentreten und uns fragen können, ob wir mit euch kommen.“

„Wir Bärenmänner sind nicht sehr beliebt. Ihr beide hättet kaum freiwillig mit meinen Kriegern gesprochen.“

„Sie waren in der Überzahl und hatten uns umzingelt. Wir hätten nicht fliehen können.“

„Oho!“, machte Berold, halb belustigt, halb erzürnt. „Du hast doch zu entkommen versucht, Ragnar!“

„Ich habe es nicht geschafft und hätte es auch dann nicht geschafft, wenn deine Krieger Alard nicht angegriffen hätten.“

Berolds geballte Rechte krachte auf die Tischplatte, und der Beerensaft schwappte über den Rand von Ragnars Becher.

„Das ist es also! Du hast den Tod deines Rappen noch nicht verwunden. Ich habe dir doch erklärt, dass Alard eine Art Opfer gewesen ist. Wodan opferte ein Auge, um aus der Quelle der Erkenntnis zu trinken. Du musstest dein Ross opfern, um zu uns zu gelangen. Dieses Tal ist für dich, was Mimirs Quelle für Wodan bedeutet – der Ort des Erkennens, wo Furcht zu Wissen, wo bloße Ahnung zu festem Glauben wird.“

„Ein Opfer ist etwas, das gebracht werden muss“, sagte Ragnar den Satz, den er sich lange überlegt hatte. „Aber Alard hätte nicht sterben müssen. Deine Krieger hätten mich ohnehin gefangen.“

„Sie sind das Kämpfen so gewohnt, dass sie nicht groß überlegt haben. Alard zu töten, erschien ihnen als der sicherste Weg, deiner habhaft zu werden. Sie haben die Falle lange vorbereitet und fürchteten, du könntest ihnen im letzten Augenblick entkommen.“

Das war die Antwort, mit der Ragnar gerechnet hatte. Und die Erwiderung fiel ihm leicht, da er sie sich in langen Nächten zurechtgelegt hatte: „Dann seid ihr es, die Bärenmänner, die voller Furcht und Zorn stecken. Vielleicht ist es nicht die Unwissenheit der anderen, sondern eure eigene, die euch in Verruf bringt. Hört auf damit, euch zu verstecken und andere aus dem Hinterhalt anzugreifen, wenn ihr wollt, dass die anderen euch nicht länger fürchten! Nicht die übrigen Sippen der Cherusker tragen die Schuld am gegenseitigen Hass. Die achte Sippe muss sich ändern, Berold!“

Der Graukopf schwieg lange und starrte in die Flamme des Herdfeuers. Offensichtlich hatte er mit dieser Antwort nicht gerechnet. Und was Ragnar noch mehr befriedigte: Berold schien nicht zu wissen, wie er die Worte des Jungen widerlegen sollte.

Stolz gesellte sich zu Ragnars Befriedigung. Zum ersten Mal verstand er, dass ein Sieg der Worte und Argumente bedeutsamer sein konnte als einer, der mit Schwert und Frame errungen war. Er wünschte sich, jetzt bei seinem Vater zu sein und mit ihm darüber zu sprechen.

Früher hatte Ragnar sich oft über Thorags Verhalten gewundert. In der Zeit nach der Varusschlacht, als Thorag sich von Armin losgesagt hatte, wollte es nicht in Ragnars Kopf hineingehen, dass eine andere Entscheidung wichtiger – besser – sein konnte als Krieg und blutiger Kampf. Es hatte dem Jungen wehgetan, wenn andere Kinder seinen Vater als Feigling verspotteten. Er erinnerte sich an den Morgen nach Armins Hochzeit mit Thusnelda, als Thorag dem Sohn vergeblich den Unterschied zwischen Dummheit und Mut, zwischen Arglosigkeit und Angstüberwindung beizubringen versucht hatte. Einen Satz seines Vaters hatte Ragnar nie vergessen, aber erst heute verstand er ihn: ‚Nur wer weiß, was Angst bedeutet, kann ein tapferer Krieger werden.‘

Berolds Blick kehrte zu Ragnar zurück. „Du hast den Winter gut genutzt, Ragnar. Meine Hoffnung, aus dir könnte einst ein weiser Fürst werden, scheint sich zu erfüllen. Du hast gelernt, eigene Gedanken gegen fremde zu verteidigen und deine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ich gebe zu, dass mir deine Schlussfolgerung nicht gefällt. Und ich halte sie für falsch!“

Ragnar trank genüsslich von dem Beerensaft, bevor er antwortete: „Du wirst mir bestimmt gleich sagen, warum.“

„Die Bärensippe wird verachtet und verfolgt. Sie ist gezwungen, sich im Verborgenen zu halten. Die anderen sind stärker. Sie könnten ohne Gefahr auf uns zugehen.“

„Als ich auf deine Männer zuritt, bohrten sie einen Ger in meinen Rappen.“

„Hältst du uns wirklich für böse, für schlecht, Ragnar?“

„Ja.“

„Und das glaubst du in deinem tiefsten Herzen?“

„Ich glaube es nicht, ich weiß es.“

„Woher?“

„Ihr habt mein Pferd getötet!“

„Riesenwurf!“

Der rote Gott zog über fünf Felder und kippte einen Riesen um. Drei Striche auf der Unterseite des Riesensteins – damit war der Riese schwächer als der Götterstein, und nun gehörte er Thorag. Der Siebte in seiner Sammlung. Und schon wanderte der rote Gott weiter, um sich einen weiteren Götterstein einzuverleiben. Sechsfach war jetzt seine Kraft, und sechs Felder weit durfte er in einem Zug zurücklegen.

Sikko winkte den Bierschalk herbei und starrte missmutig auf den Tisch mit dem Spielbrett und den daneben aufgehäuften Riesensteinen. Sieben für Thorag, fünf für ihn, das konnte er kaum begreifen. Er stürzte das frisch eingefüllte Bier in seine Kehle und griff nach seinem Götterstein. Fünf Felder weit durfte er höchstens ziehen. Ging er nach vorn, konnte er eine der weißen Götterscheiben gewinnen, um seine Stärke und seine Schnelligkeit zu erhöhen. Aber links stand ein Riese in seiner Reichweite. Ihn zu werfen, würde den schmerzlichen Abstand zu Thorag verringern.

Der Chatte stieß ein urtümliches Grunzen aus zog den schwarzen Gott nach links.

„Riesenwurf!“

Der graue Riesenstein kippte und enthüllte sechs Striche. Voller Unglauben starrte Sikko auf die Unterseite des Steins, als könnte er dadurch ein paar der Striche weggucken.

Lässig griff Thorag nach dem Riesen und stellte ihn wieder auf das Feld, von dem der Hundingsführer ihn geworfen hatte.

„Ich bin an der Reihe, Sikko. Du musst zurück auf das Feld, von dem aus du diesen Zug begonnen hast. Und vergiss nicht, eine Götterscheibe abzulegen.“

„Das ist ungerecht“, brummte Sikko, dessen Zunge schon ein wenig schwerfällig vom vielen Bier war. „Warum gerate ich immer an die Riesen mit den hohen Werten?“

„Weil du nicht abwartest, bist dein Gott stark genug zum Angriff ist“, sagte Thorag und zog den roten Gott in Richtung auf eine Götterscheibe, die er aber nicht ganz erreichte, über das Brett.

Sikko zeigte auf einen Riesen. „Den hättest du werfen können.“

„Hätte ich, aber warum etwas überhasten? Ich liege sowieso vorn.“

„Hmmm“, machte der Chatte gedehnt und blickte auf das Trinkhorn des Donarsohnes. „Warum lässt du dir nicht mehr nachschenken, Cherusker?“

„Weil ich auf deine Gesellschaft nicht so rasch verzichten möchte“, antwortete Thorag mit einem offenen Lächeln.

Sikko legte seine Stirn in Falten. „Hast du mich etwa in eine Falle gelockt?“

„Wie meinst du das?“

„Vor etlichen Nächten, als du erstmals mit dem Spiel zu mir gekommen bist...“

„Ja?“

„Hast du da etwa den Einfall gehabt, diese Wette mit mir zu schließen und mich zu besiegen?“

„Nein, Sikko.“

„Ehrlich nicht, Thorag?“

„Ehrlich nicht.“

Skeptisch blinzelte Sikko ihn an. „Würdest du das schwören, bei deinem Ahnen Donar?“

„Selbstverständlich. Denn Donar weiß, dass mir der Einfall schon kam, als ich im Tamfanaberg anordnete, dich mitzunehmen.“

Eine ganze Weile starrte Sikko den Donarsohn an, als wollte er ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Dann schüttelte er sich und brach in ein brüllendes Gelächter aus, das durch das ganze Haus schallte.

„Beim Schoß der Tamfana, du gefällst mir mit jedem Tag mehr, Cherusker! Wenn ich mir vorstelle, wie viele Nächte ich hier gelegen und Fluchtpläne geschmiedet habe. Und jeder einzelne Gedanke an ein Entkommen war verschwendet. Du hattest längst vor, mich nicht durch Fesseln, sondern durch mein Wort zu binden.“

„Noch ist der Krieg nicht gewonnen. Acht Riesen stehen noch auf dem Feld.“

„Wahrscheinlich weiß du schon genau, wie du mindestens vier davon werfen kannst“, meinte Sikko mit einem breiten Grinsen.

„Genau weiß ich es nur bei dreien“, erwiderte Thorag mit demselben Grinsen. „Beim Vierten bin ich noch unsicher.“

„Angeber!“, knurrte der Chatte mit nur gespielter Entrüstung.

„Wenn es so ist, dann schlag mich doch!“

„Und wenn es mir gelingt?“, fragte Sikko mit einem drohenden Unterton. „Selbst wenn du die mehr Riesen wirfst als ich, kann ich dich schlagen. Die Riesen, die ich werfe, müssen nur mehr Striche haben als deine.“

„Ich kenne die Regeln beim Riesenwurf“, erwiderte Thorag gelassen. „Und gerade deshalb frage ich mich, wie du mit einem nur vierfach starken Gott Riesen mit vielen Strichen werfen willst.“

„Wart’s nur ab!“

Verbissen setzte Sikko das Spiel fort und hätte dem Bierschalk, der unaufgefordert sein Trinkhorn nachfüllen wollte, fast einen Tritt versetzt. Der Chatte warf vier weitere Riesen, bis Thorag seinen elften Riesen warf, den letzten, der noch auf dem Brett stand. Und nicht nur an der Zahl, auch an der Stärke der geworfenen Riesen war der Cherusker dem Chatten überlegen.

Thorag ließ ihre Hörner auffüllen und sagte: „Hiermit endet die Zeit deiner Gefangenschaft, Sikko. Ab jetzt bist du ein willkommener Gast auf dem Donarhof!“

„Mir wird ganz warm ums Herz“, spottete der Hundingsführer und leerte zeitgleich mit Thorag das Horn. Sein Gesicht wurde ernst. „Du kannst dich auf mein Wort verlassen, Donarsohn, ich werde nicht fliehen!“

„Warum auch?“ Thorag spielte den Verständnislosen. „Schließlich bist du ab heute freiwillig hier.“

In der Nacht, als die Feuer klein wurden, wickelten die Cherusker sich in ihre Decken, die sie fast bis zu den Ohren zogen, um den kalten Fingern der Frostriesen zu trotzen. Thorag und Auja hatten sich in ihrer kleinen Kammer dicht aneinandergedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen. Lange Zeit lagen sie so da, und beide atmeten tief und ruhig.

Bis Auja leise sagte: „Du schläfst nicht.“

„Du auch nicht“, erwiderte Thorag. „Warum nicht?“

„Weil ich nachdenke.“

„Über Ragnar, nehme ich an.“

„Natürlich. Meine Sorge um ihn ist größer als in der langen Zeit, die ich weit weg von ihm und von dir verbringen musste. Nur du scheinst dich nicht sehr zu sorgen. Beim Spiel mit Sikko hast du dich offenbar prächtig vergnügt.“

Thorag hatte den Vorwurf in ihren Worten gehört und entgegnete: „Ich habe ja auch gewonnen. Und du weißt, warum ich gegen Sikko gespielt habe.“

„Weil die Sorge um den Frieden zwischen Cheruskern und Chatten dich umtreibt. Bloß frage ich mich, ob die Sorge um unseren Sohn nicht die drängendere sein sollte.“

„Du bist ungerecht, Auja. Ich denke jede Nacht und jeden Tag an Ragnar. Aber ich bin zurzeit nicht in der Lage, etwas für ihn zu tun. Erst wenn die Frostriesen das Land verlassen haben, können wir ihn suchen. Aber ich kann jetzt etwas für den Frieden tun. Anfangs stand Sikko mir feindlich gegenüber, er hat mich sogar verachtet. Jetzt mag er kein Freund sein, aber er achtet mich.“

„Ja, mit Achtung voreinander werft ihr im Spiel die Riesen, und mit Achtung voreinander werdet ihr, sobald es Sommer ist, im Krieg die Klingen kreuzen.“

„Vielleicht muss es nicht dazu kommen. Sikko könnte mir helfen, einen Krieg zwischen Chatten und Cheruskern zu verhindern.“

„Und wie?“

„Darüber denke ich noch nach. Aber eins weiß ich: Wenn die Götter uns Ragnar zurückgeben, wird das Glück kurz sein, gelingt es uns nicht, den Frieden zu bewahren.“

Nach langem Schweigen sagte Auja: „Du hast recht.“

„Damit, den Frieden zu bewahren?“

„Damit auch. Ich meinte aber deinen Vorwurf, ich sei ungerecht zu dir gewesen. Nach Armins Tod lastet die Sorge um unseren Stamm besonders schwer auf deinen Schultern. Ich sollte froh sein über jeden Augenblick, den die Götter dich lächeln lassen.“

„Ich weiß, dass auch du dich sorgst, Auja, dass du vor Sorge um Ragnar fast verrückt wirst.“

„Trotzdem sollte ich meine Furcht und Wut nicht an dir auslassen. Wie kann ich das wiedergutmachen?“

„Indem du dich enger an mich drückst“, antwortete Thorag und küsste ihre Wangen.

Er strich zärtlich und zugleich verlangend über ihren warmen Leib und schob ihren Kittel hoch. Als er unter dem Stoff ihre bloßen Brüste berührte, keuchte Auja und erbebte. Die kleinen Hügel ihrer Brustwarzen wurden zwischen seinen Fingern hart, und Ähnliches fühlte Thorag zwischen seinen Lenden.

Auja löste sich von ihm, um seinen Unterleib zu entblößen. In ihren mal zärtlichen, mal kräftigen Händen wuchs seine Erregung. Sie beugte sich über ihn. Ihr Haar kitzelte seinen Bauch und seine Beine. Als er die Wärme und Feuchtigkeit ihres Mundes um sein Fleisch spürte, lief ein Schauer über seinen Rücken. Seine Hände packten ihr Haar und hielten ihren Kopf mit sanfter Gewalt zwischen seinen zuckenden Beinen fest.

Die Menschenwelt bestand nur noch aus der kleinen Kammer, und auf ihr existierten keine anderen Wesen als die beiden Liebenden. Ihre erhitzten Leiber erregten einander, und jeder tat alles, um dem anderen die höchste Lust zu bereiten. Sie umschlangen einander und hielten sich gegenseitig so fest, als wären sie miteinander verwachsen. Alle Sorgen verblassten. Es gab nur Thorag und Auja für einen langen, viel zu kurzen Augenblick des Glücks.

Kapitel 2 – Eine Frage der Ehre

Das Ende der Zeiten war nicht angebrochen. Die Welt verbrannte nicht im heißen Atem der Feuerriesen. Götter und Einherier trafen sich nicht zur letzten Schlacht gegen die Riesen und Ungeheuer. Wodan und Donar fanden nicht den Tod im heldenhaften Kampf gegen Fenriswolf und Midgardschlange. Sunnas Strahlen stachen Löcher in die Mäntel der Frostriesen und brachen das Eis, das Seen und Flüsse überzogen hatte. Wo sich gestern noch weiße Unendlichkeit erstreckt hatte, zeigte sich heute erstes, noch zaghaftes Grün, würden sich morgen schon Rehe und Hasen tummeln, begleitet von den Dankesliedern der Vögel. Gesänge des Dankes und der Freude erschollen auch bei dem Fest, das die Bärenkrieger am ersten Abend nach Einsetzen der Schneeschmelze feierten, um die Vorboten des Sommers zu begrüßen. Unter dem Felsen des kauernden Bären brannte ein großes Feuer, und jeder Bärenmann warf eine Opfergabe hinein: eine Handvoll Getreide oder Nüsse, etwas Käse oder gar ein Stück Fleisch. Sie schlugen ihre Waffen aneinander und sangen im selben Takt.

Fürchtet mich, verehrt mich!

So sprichst du,

mächtiger Bärengott.

Du kommst!

Du bist ein tapferer Krieger,

mächtiger Bärengott.

Du kriechst aus deinem weißen Pelz,

du kommst!

Wir fürchten dich,

wir verehren dich,

wir opfern dir,

mächtiger Bärengott!

Du kommst,

Achtfüßiger, Achthändiger.

Wir sind du,

und du bist wir!

Wieder und wieder sangen die Männer das Lied, und jedes Mal in einem schnelleren Takt, in größerer Ekstase. Schweiß glänzte auf ihren Stirnen, nicht nur wegen der Hitze des Feuers. Jeweils bei der dritten Strophe flogen die Opfergaben ins Feuer, und immer bei der vierten neigten die Krieger ihre Leiber vor und pendelten von einer Seite zur anderen, wie es die Angewohnheit der Bären war. Mit ihren umgehängten Fällen und den Bärenhäuptern auf dem Kopf glichen die zuckenden Schatten, die das Licht der Flammen auf die Felswand malte, tatsächlich einer Bärenhorde.

Ragnar und Jorit hockten ein Stück entfernt auf einem hüfthohen Felsen und aßen von dem Rind, das über dem Feuer briet. Die Wachposten am Ausgang der Schlucht nahmen nicht an der Zeremonie teil, spähten aber neidisch zum Festplatz herüber. Das Feuer warf einen weiten Lichtschein. Die beiden Donarsöhne hätten sich nicht davonstehlen können, ohne den Wachen aufzufallen. Also saßen sie bei den Frauen und Kindern, aßen gebratenes Fleisch, tranken frischen Met oder, soweit es Ragnar betraf, mit Wasser vermischten Schlehenwein, und fragten sich, was der Sommer für sie bereithielt.

„Kann sein, dass sie uns fortbringen“, meinte Jorit. „Vielleicht ist diese Schlucht nur ihr Winterlager.“

„Aber wohin sollten sie uns bringen?“, fragte Ragnar. „Weit weg vom Cheruskerland?“

„Unwahrscheinlich, immerhin sind auch sie Cherusker.“

„Aber wozu halten sie uns fest?“

„Ich denke, Berold hat es dir gesagt. Er will aus dir einen Edeling nach seinem Geschmack formen.“

„Ich glaube, das hat er aufgegeben“, sagte Ragnar mit deutlicher Enttäuschung. „Seit ich ihm sagte, dass ich die Bärensippe für böse halte, hat er mich nicht mehr zu sich rufen lassen.“

„Vielleicht hättest du deine Meinung nicht so offen äußern sollen.“

„Ich hielt es für richtig.“ Lustlos kaute Ragnar auf dem Fleisch herum und spie ein zähes Stück aus. „Jorit, weshalb halten sie dich fest? Du warst nicht so oft bei Berold wie ich. Was wollte er von dir?“

„Er wollte auch mich auf seine Seite ziehen. Er sagte, noch sei die Bärensippe klein, und jeder neue Anhänger des Bärengottes sei wichtig. Ich sagte ihm, dass ich zu viel Schlechtes über die achte Sippe wüsste, um ihr jemals anzugehören. Da ich kein Abkömmling Donars bin, nicht einmal ein Edeling, hat der Alte sich mit mir nicht so viel Mühe gegeben wie mit dir.“

Ragnar grinste und ahmte Jorits Tonfall von eben nach: „Vielleicht hättest du deine Meinung nicht so offen äußern sollen.“

„So habe ich wenigstes meine Ruhe und kann ungestört über eine Fluchtmöglichkeit nachdenken.“

„Und?“, fragte Ragnar begierig. „Hast du eine gefunden?“

„Noch nicht. Aber vielleicht können wir entkommen, wenn der Sommer die Krieger auf die Jagd lockt. Oder wenn sie uns an einen anderen Ort bringen. Aus dieser Schlucht zu fliehen, ist fast so schwer, wie den Fenriswolf zu fesseln.“

Das hatte Ragnar auch erkannt, und deshalb hatte er Jorit nichts von seinem Fluchtplan gesagt. Denn falls Ragnars Flucht gelang, konnte er Jorit nicht mitnehmen. Er konnte nur versuchen, möglichst schnell Hilfe zu holen, um den Krieger, der für ihn fast so etwas wie ein großer Bruder war, zu befreien. Ragnar schwieg auch jetzt, besonders, als er Berold auf sich zukommen sah. Der Gesang war verstummt, und die Bärenmänner ließen sich auf Steinen oder um das Feuer aufgestellten Bänken nieder.

Berold, der sein weißes Bärenfell und ein ebenfalls weißes Bärenhaupt trug, blieb vor den Gefangenen stehen und erklärte: „Wir haben dem Bärengott Opfer gebracht, aus Dank dafür, dass er den ganzen Winter über schützend über uns gewacht hat. Keiner von uns ist verhungert oder erfroren. Nur wer dankbar ist und Opfer bringt, kann auch in kommenden Zeiten göttlichen Schutz erwarten. Auch ihr habt den Winter gut überstanden, Donarsöhne. Wollt ihr dem Bärengott nicht durch Opfer danken?“

„Sollen wir uns dafür bedanken, dass seine Anhänger uns hier gefangenhalten?“, entgegnete Jorit bitter.

Berold heftete seinen Blick auf Ragnar. „Was ist mit dir, junger Edeling? Hast du deine Ansicht über die achte Sippe geändert?“

„Dazu hatte ich keinen Anlass.“

Ragnars Mundwinkel zuckten. Erst hielt Ragnar es für einen Ausdruck der Verärgerung, doch dann sah es ihm mehr nach einem unterdrückten Lächeln aus.

„Komm mit mir, Ragnar!“, sagte Berold, bevor er sich umdrehte und zurück zum Feuer schritt.

Ragnar warf Jorit einen fragenden Blick zu, aber der zuckte mit den Schultern.

„Geh nur, Ragnar, das hält ihn bei Laune. Und sag was Nettes über die achte Sippe, auch wenn’s dir schwerfällt!“

Berold holte zog einen brennenden Ast aus dem Feuer und ging in Richtung der kleinen Siedlung. Entgegen Ragnars Erwartung hielt er nicht auf das Haus zu, in dem der Anführer mit einem Teil seiner Krieger wohnte, sondern auf den großen Pferdestall. Im Innern begrüßten die von dem unerwarteten Besuch verwirrten Tiere sie mit lautem Schnauben und vereinzeltem Gewieher. Langsam schritt Berold, gefolgt von Ragnar, den langen Mittelgang entlang, und das Licht seiner Fackel beleuchtete die Rosse.

„Gute Pferde aus unserer Heimat, keine Römertiere“, sagte er. „Die mögen größer sein und schneller, aber wenn es drauf ankommt, lässt ihre Ausdauer und Widerstandskraft schnell nach, besonders bei kaltem Wetter. Das sind die Römerpferde einfach nicht gewohnt. Auch du hast kein Römerpferd geritten, nicht wahr?“

„Ich bin doch noch nicht erwachsen. Ein großes Römerross ist für mich schwer zu reiten.“

„Ein Grund mehr, deinem Rappen nachzutrauern“, meinte Berold und blieb stehen. „Du vermisst Alard noch immer, nicht wahr?“

„Ja“, gab Ragnar ehrlich zur Antwort.

„Und weil meine Krieger Alard getötet haben, hältst du uns für besonders schlecht.“

„Ja.“

„Das spricht für dich, Donarsohn“, sagte Berold zu Ragnars Überraschung. „Ein Friling und besonders ein Edeling ist nichts ohne seine Ehre. Die Tötung seines Pferdes hinzunehmen, als wäre nichts geschehen, mindert die Ehre eines jeden Cheruskers. Nur wer auf Vergeltung besteht, wird seiner Ehre gerecht und sorgt dafür, dass eine verbotene Tat anderen kein schlechtes Beispiel ist. Das habe ich übersehen, als ich dich mit Verachtung dafür strafte, dass du in deiner Ansicht verharrtest, die Bärensippe sei böse. Dafür entschuldige ich mich. Aber ich weiß, dass die Entschuldigung nicht ausreicht, den Verlust zu ersetzen und die Ehre wiederherzustellen. Das kann nur eine Sühnegabe erreichen. Würdest du eine solche annehmen, Donarsohn?“

Ragnar war beeindruckt. Berold sprach zu ihm wie zu einem Gleichgestellten, einem Erwachsenen, einem angesehenen Edeling, nicht wie zu einem Kind. Das schmeichelte Ragnar, doch zugleich fühlte er, dass der Anführer der Bärenkrieger es ehrlich meinte. Und das beeindruckte ihn noch mehr.

„Ich werde eine Sühnegabe annehmen, falls sie eine ausreichende Sühne darstellt. Aber das heißt nicht, dass ich deshalb meine Meinung über die achte Sippe ändere.“

„Das musst du auch nicht. Ich möchte nur, dass der Tod deines Rappen dich nicht länger davon abhält, dich unvoreingenommen mit dem Bärengott und uns, seiner Gefolgschaft, zu beschäftigen. Versprichst du, noch einmal in Ruhe über all das nachzudenken, was wir besprochen haben, wenn Alards Tod gesühnt ist?“

„Ich verspreche es.“

Berold nickte zufrieden und schwenkte den allmählich niederbrennenden Ast, um einen größeren Teil des Stalles zu beleuchten.

„Dein Rappe war ein einzigartiges Tier, und kein anderes Ross kann so sein wie er, das weiß ich. Aber hier stehen bestimmt ein paar Pferde, die ihm nahekommen. Du darfst dir eins aussuchen, egal welches, und es soll dir gehören. Das biete ich dir als Sühne für den Verlust deines Pferdes und deiner Ehre, Ragnar.“

Ragnar tat, als überlegte er, während er innerlich jubilierte. Genau das hatte er erreichen wollen! War Berold wirklich in seine Falle gegangen? Oder ahnte der Mann mit dem weißen Bärenhaupt etwas und stellte ihm eine viel geschicktere Falle? Lange sah Ragnar in das faltige, narbige Gesicht, ohne etwas anderes als erwartungsvolle Anspannung darin zu entdecken.

Und schließlich sagte der Junge: „Einverstanden, Berold. Ich werde mir ein Ross aussuchen, nachdem ich alle in Ruhe geprüft habe.“

„Gut, damit kannst du morgen beginnen, wenn Sunnas Strahlen das Land erhellen. Der Ast ist bald verbrannt, lass uns zum Feuer zurückgehen.“

Dort konnte Ragnar nirgends Jorit entdecken, und er fragte Berold nach dem Freund.

„Jorit ist nicht mehr bei uns. Er hat sein Pferd zurückbekommen und ist mit einer Botschaft fortgeritten.“

Erst jetzt fiel Ragnar auf, dass er Jorits Falben nicht im Stall gesehen hatte. „Eine Botschaft?“ wiederholte er verwirrt. „An wen?“

„Darüber sprechen wir ein anderes Mal, wenn es an der Zeit ist“, sagte Berold und wandte sich dem Feuer zu. „Dies ist nicht die Zeit für Erklärungen, sondern für Gesänge und Gebete.“ Und mit lauter Stimme rief er allen zu: „Preisen wir den Bärengott, den Stammvater unserer Sippe!“

Längst hielt Nott den Donarhof umschlungen, als der Runenbote kam. Es war ein langer Tag gewesen, der erste, nachdem Sunna große Löcher in die Mäntel der Frostriesen gerissen hatte. Früh am Morgen waren Thorags berittene Boten aufgebrochen, um im ganzen Gau Helfer für die Suche nach Ragnar und Jorit zu sammeln. Auch die zehn Hirschkrieger hatten ihre Hilfe angeboten, aber Thorag hatte sie heimgeschickt, als er in ihren Augen die Sehnsucht nach Freunden und Geliebten gesehen hatte. Er hat jedem als Dank für ihre Hilfe ein gutes Ross geschenkt.

Schon morgen sollte die große Suche nach Ragnar und Jorit im ganzen Westgau beginnen. Der Abend aber war den Göttern gewidmet und der Freude der Menschen darüber, dass Wodan und die Seinen sie vor dem Fimbulwinter bewahrt hatten. Ausgelassenes Gelächter und dröhnender Gesang schallte über den Donarhof, und nur die Wächter am Südtor bemerkten den einsamen Reiter, der keine Furcht vor der Finsternis zu kennen schien. Sie ließen ihn ein und grüßten den noch jungen Mann ehrerbietig, als sie die bronzene Fibel mit Wodans einäugigem Gesicht an seiner rechten Schulter erblickten. Jeder Friling im Cheruskergau kannte diese Fibel, hatte sie schon bei den Heiligen Steinen gesehen. Silbern war sie bei den Priestern, bronzen bei ihren Helfern.

„Ist der Gaufürst auf dem Hof?“, fragte der Priesterhelfer, kaum dass er vom Rücken der braunen Stute gerutscht war.

Einer der Wächter bejahte es und bot sich an, den Fremden zu Thorag zu führen. Der saß mit Auja, Hatto, Sikko, dem Friesen Menold und dem kleinwüchsigen Nigrinus an einem der reich mit Speisen bedeckten Tische in Thorags großem Langhaus. Alle in dem großen Saal lauschten einem Friling, der mit einer Trommel zwischen den Beinen auf einer Bank saß und zu dem Takt, den er selbst schlug, das Lied von den weichenden Frostriesen sang, die sich vor Sunnas Strahlen einen ganzen Sommer lang in ihren eiskalten Höhlen hoch im Norden verbergen mussten. Nach jeder Strophe wiederholten die versammelten Cherusker seine Worte im Chor.

Ihr Gesang verstummte, als sie den Priesterhelfer erblickten, der einen länglichen Gegenstand aus seinem Gürtel zog, einen hölzernen Stab, den er Thorag hinhielt. In das frische Holz waren drei Runen geschnitzt. Ein senkrechter Strich, von dem ganz oben und etwas weiter unten jeweils ein abzweigender Strich schräg nach rechts unten wies: Ansuz, die Asenrune, die für Wodans Macht und Weisheit stand. Ein weiterer senkrechter Strich, mit dessen oberem Teil zwei kleinere Striche ein Dreieck bildeten: Thurisaz, die Rune der Riesen und des Riesenbezwingers Donar. Und ein nach oben weisender Pfeil: Tiuwaz, die Rune des Gottes Tiu.

Wodan, Donar und Tiu, die drei mächtigsten Götter! Donar und Tiu waren die Schutzgötter des Things, und Wodan half den zu einem Thing Zusammengeströmten, weise Entscheidungen zu fällen. Als Thorag den Runenstab sah, kannte er bereits die Botschaft, die der Priesterhelfer laut aussprach: „Fürst Thorag, diesen Zweig, frisch geschnitten von Donars heiligem Baum, sendet dir Alfhard, Ewart der Heiligen Steine. Ein Stammesthing ist geboten, sobald Manis Wagen sich rundet. Im Namen der Götter bittet der Ewart dich, alle Frilinge deines Gaus zu den Heiligen Steinen zu führen.“

Thorag nahm den Stab aus der Hand des Boten und sagte: „Ich habe die Botschaft vernommen und werde die Frilinge des Donargaus zu den Heiligen Steinen führen. Setz dich und stärk dich, mein Freund, und sei mein Gast in dieser Nacht. Aber vorher sag mir, weshalb schon jetzt, kaum dass die Frostriesen sich zurückgezogen haben, ein Thing abgehalten wird. Der Hirschstamm sollte sich nach altem Brauch erst zum runden Mond nach der Tagundnachtgleiche versammeln.“

Der Priesterhelfer sah ein wenig unglücklich drein. „Ich weiß nicht genau, was die Priester zu dieser Entscheidung bewogen hat. Ein Edeling aus dem Hirschgau kam zu den Heiligen Steinen und sprach mit dem Ewart. Der rief eine Versammlung der Priester ein, und kurz darauf sandte Alfhard Runenboten in alle Gaue.“

Während der von dem langen Ritt erschöpfte Bote sich dankbar an den Tisch setzte, sahen Thorag und Auja sich betreten an. Beide wussten, was die Vorverlegung des Stammesthings bedeutete, und Thorag fühlte sich hin und her gerissen zwischen seiner Pflicht als Vater und seiner Pflicht als Fürst des Donargaus. Er brannte darauf, Ragnar zu suchen und in Aujas Augen wieder das glückliche Leuchten zu sehen, das er so lange schon vermisste. Aber als Donarfürst musste er der Ladung zum Thing Folge leisten, besonders jetzt, wo der Cheruskerstamm von den chattischen Nachbarn bedroht wurde und ohne Herzog dastand. Die Wahl eines neuen Herzogs konnte über Fortbestehen oder Untergang des ganzen Stammes entscheiden. Dabei kam der Stimme des Donarfürsten, der noch dazu ein Blutsbruder des toten Herzogs war, ein besonderes Gewicht zu.

Noch etwas anderes beschäftigte ihn: die Bemerkung des Runenboten über den Edeling aus dem Hirschgau, der den Ewart besucht hatte. Das schien im Zusammenhang mit der Vorverlegung des Things zu stehen. Doch Thorag konnte sich nicht vorstellen, was für Ereignisse in Armins Gau zu dem Besuch geführt hatten.

Auja legte eine Hand auf seine Rechte und sagte: „Du musst mit den Frilingen zu den Heiligen Steinen reiten, Thorag! Was du in jener Nacht zu mir gesagt hast, ist wahr. Alles Glück wird nicht von Dauer sein, wenn in unseren Gauen kein Frieden herrscht. Die Priester werden gute Gründe haben, das Thing zu gebieten.“

„Das sind auch meine Gedanken“, sagte Thorag, dankbar über Aujas Worte, aber nicht erleichtert. „Doch was soll aus Ragnar werden? Wer soll ihn suchen?“

„Ich“, sagte Auja.

„Du?“

„Warum nicht?“, meinte sie lächelnd. „Ich habe einige Winter und Sommer als römische Geisel verbracht und habe in der Arena gegen die Bestien gekämpft. Traust du mir nicht zu, nach unserem Sohn zu suchen?“

„Doch, aber du allein?“