Eine Falle für Varus - Jörg Kastner - E-Book
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Eine Falle für Varus E-Book

Jörg Kastner

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Beschreibung

Ein historischer Roman über die Varusschlacht im Teutoburger Wald. Nach dem Tod seines Vaters wird Thorag neuer Gaufürst der Donarsöhne. Gemeinsam mit seinem alten Waffenbruder Arminius, dem Herzog der Cherusker, bereitet er einen Aufstand gegen den römischen Statthalter Varus vor, der das ganze Land zu seiner persönlichen Bereicherung auspresst. Den Cheruskern und ihren Verbündeten steht eine gewaltige Streitmacht gegenüber: drei kampferprobte Legionen des Varus. Mutig wollen Arminius und Thorag dennoch den Angriff wagen. Die große Varusschlacht wird nicht nur über die Freiheit Germaniens entscheiden, sondern auch über Thorags Schicksal. Denn mit den Legionen warten Thorags römische Geliebte Flaminia und ein alter Feind auf ihn … Der dritte Band der zwölfteiligen Romanserie »Die Saga der Germanen« von Jörg Kastner.

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Jörg Kastner

Eine Falle für Varus

Folge 3 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen

Historischer Roman

Kapitel 1 – Der Sumpf

Mit jedem Hieb stoben Funken auf, wenn Eisen hart auf Eisen klirrte. Wie Glühwürmchen tanzten sie hinaus in die Dunkelheit, wo ihr kurzes Leben verlöschte.

„Das Eisen der römischen Schwertklingen scheint genauso weich zu sein wie das ihrer Speerspitzen“, fluchte Thorag, hielt kurz inne und wischte sich mit dem zerrissenen Ärmel seiner Tunika die Nässe aus den Augen.

Schweiß vermischte sich mit dem Wasser des Platzregens, vor dem auch die dichte, weit ausladende Krone der mächtigen Eiche nur unzureichend Schutz bot. Aber der Felsblock, der sich an den alten, verwitterten Stamm lehnte, war für die Zwecke der beiden Flüchtlinge wie geschaffen. Er diente ihnen als natürlicher Amboss bei dem Versuch, die Ketten, die ihre Hände fesselten, zu durchtrennen.

„Es muss gehen“, sagte Thidrik, der vor dem Felsen hockte und seine Hände so auf die glatte Oberfläche des Steins gelegt hatte, dass die Kette fest gespannt war. „Mach schon weiter! Ich will endlich wieder ein freier Mann sein.“

„Das will ich auch“, erwiderte Thorag, der mit seinen beiden gefesselten Händen das Schwert hob und es zum wiederholten Mal auf die Mitte der Kette niederfahren ließ. „Aber ich weiß nicht, ob das möglich ist, solange die Römer in unserem Land sind.“

Klirren und Funken waren die Folge des Schlages, aber die Kette blieb heil.

Thidrik hob den Kopf und sah den über ihm stehenden Donarsohn erstaunt an. „Das sind seltsame Worte für einen Römerfreund.“

„Ich war ein Freund der Römer, weil ich es für richtig hielt, das Beste aus ihrer Welt mit dem Besten aus unserer zu verbinden. Ich habe bei ihnen vieles gesehen, was den Cheruskern nützlich wäre. Aber auch vieles, das ich am liebsten nie gesehen hätte.“ Thorag dachte an die Arena und an Eilikos sinnlosen Tod. „Und ich glaube, Letzteres überwiegt.“

Wieder und wieder fuhr das Schwert auf den Stein hinab und schien diesen eher zu spalten als die Kette. Die stumpfsinnige Arbeit ließ Thorags Gedanken freien Lauf, und sie wandten sich der Flucht aus der Ubierstadt zu. Alles war fast zu glatt verlaufen.

Die beiden Cherusker ruderten ein Stück flussabwärts und kamen, durch die Strömung begünstigt, rasch voran. An einer verhältnismäßig schmalen Stelle überquerten sie den Rhein, ohne auch nur einem einzigen Boot zu begegnen. Als sie endlich am rechten Flussufer standen, wollte Thidrik das Boot zurück ins Wasser schieben.

„Warte!“, sagte Thorag und hielt es fest.

„Ich halte es für besser, das Boot in den Fluss zurückzustoßen“, erklärte der Bauer. „Wir können es nicht mehr gebrauchen. Wenn wir es hier an Land ziehen, wissen die Römer genau, an welcher Stelle wir den Rhein überquert haben. So dumm sind sie nicht, dass sie nicht beide Ufer genau absuchen werden.“

„Nein, dumm sind sie nicht“, wiederholte der Edeling, nahm die Ruder aus dem Boot und schleuderte sie nacheinander weit in den Fluss hinein.

Mit gerunzelter Stirn verfolgte Thidrik, wie die Ruder ins Wasser klatschten. „Was soll das?“

„Hilf mir, das Boot umzudrehen!“, verlangte Thorag, aber der andere sah ihn nur zweifelnd an. „Ich bin ganz deiner Meinung, Thidrik, es wäre ein Fehler, das Boot an Land zu ziehen. Aber falls die Römer es irgendwo umgestürzt finden, könnten sie vielleicht glauben, die beiden dummen Barbaren seien im Fluss ertrunken.“

Der Bauer nickte verständig und grinste. „Eine gute Idee.“

Mit vereinten Kräften drehten sie das Boot mit dem Rumpf nach oben und stießen es dann zurück in den Fluss. Das Wasser leckte an den Holzplanken und zog das Boot tiefer ins den Fluss hinein, wo die Strömung es flussabwärts trug.

Thidrik wollte ins Ufergebüsch eintauchen, aber Thorag hielt ihn am Arm fest und zeigte auf die tiefen Spuren, die das Boot und ihre Füße auf dem lehmigen Boden hinterlassen hatten. „Wenn wir die Spuren nicht verwischen, war unser ganzes Täuschungsmanöver vergebens.“

Das sah Thidrik ein und half ihm dabei, mit abgeknickten Zweigen die Spuren zu verwischen. Thorag hatte die Zweige aus der Mitte der Büsche genommen, sodass die Bruchstellen den Augen eines Suchtrupps wohl verborgen blieben. Er arbeitete sorgfältig, denn es war nicht nur ein Täuschungsmanöver für Thidrik. Die römischen Suchtrupps wussten nichts von Thorags Absprache mit Varus und Maximus. Für sie war er ein entflohener Todgeweihter, den man, wenn man ihn fasste, genauso folgenlos töten durfte wie eine lästige Mücke. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, warfen sie auch die Zweige weit hinaus ins Wasser.

Sie flohen in Richtung des nahen Waldes. Und das war gut so. Sie waren noch nicht lange im dichten Gehölz untergetaucht, als sie eine berittene Patrouille ganz in der Nähe vorbeireiten hörten. Das musste der Weg sein, auf dem Thorag damals mit Flaminia zum Oppidum gekommen war. Sie zogen sich tiefer in den Wald zurück und hatten keine weitere Berührung mit den Suchtrupps, von denen zweifellos mehrere beide Flussufer durchkämmten.

Mit der Dämmerung kam auch der Regen. Der Himmel hatte sich zusehends bewölkt und öffnete seine Schleusen so plötzlich und gründlich, dass Thorag und Thidrik innerhalb von Sekunden völlig durchnässt waren.

„Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen“, schlug der Bauer vor.

Der Edeling schüttelte den Kopf. „Wozu? Nass sind wir doch ohnehin. Außerdem wäre es zu gefährlich. Wir sind noch nicht weit genug von der Stadt entfernt.“

„Du hast wohl recht“, gab Thidrik widerwillig zu, und sie setzten ihren Weg zwischen hohen Bäumen, dichtem Gestrüpp und über einen sich zusehends in schlammigen Morast verwandelnden Boden fort.

Der Regen hörte und hörte nicht auf. Immer wieder blieben sie im Morast stecken. Thidrik hatte bereits seine Schuhe verloren und lief barfuß weiter. Die großen Regentropfen prasselten trotz der schützenden Baumkronen so heftig hernieder, dass die Berührung schmerzte. Die Bewohner der großen Stadt, aus der sie geflohen waren, waren in ihren festen Häusern gut gegen das Unwetter geschützt, aber nach den Erfahrungen der letzten Tage bereute Thorag nicht, das Oppidum zu verlassen. Im Gegenteil, der Gedanke, ins Land seiner Väter zurückzukehren, erfüllte ihn mit Kraft und Freude, die allerdings durch den Gedanken an Wisars Tod getrübt wurde.

Erschöpft und hungrig erreichten die Flüchtlinge gegen Mitternacht die große Eiche, die wenigstens etwas Schutz gegen den Regen versprach. Sie ließen sich an ihrem Stamm nieder, um ein wenig auszuruhen, als Thorag beim Anblick des Felsens die Idee kam, ihre Ketten zu sprengen.

Jetzt, da Thorag wieder und wieder vergeblich auf die Kette einhieb, verfluchte er seine Idee. An der Stelle des Felsgesteins, wo die Schwertklinge auftraf, bildete sich bereits eine Scharte, aber das eiserne Glied der Kette, das der Edeling als Ziel ausgewählt hatte, wollte einfach nicht nachgeben.

„Eher spalte ich den Felsen, als dass ich die Kette durchtrenne“, keuchte er.

„Weiter!“, knurrte Thidrik bloß.

Thorag dachte an die römischen Sklavenfänger, die Eiliko gefangen und an das Amphitheater verkauft hatten, und sein Zorn entlud sich in einem gewaltigen Hieb. Die Schwertklinge zerbrach, und die abgebrochene Spitze sprang in die Luft.

Thorag fluchte zum wiederholten Mal und hielt erst inne, als er überrascht sah, wie Thidrik aufstand und beide Hände weit auseinanderstreckte.

„Du hast es geschafft“, jubelte der Bauer und reckte die Hände hoch. „Ich bin frei!“

„Sagen wir, du hast deine Bewegungsfreiheit wiedererlangt“, dämpfte Thorag seine Begeisterung. „Die Eisenringe liegen noch um die Handgelenke, und das Rasseln der Kettenglieder ist auch nicht gerade das Geräusch, das einen freien Cherusker verrät. Dafür kann es verräterisch sein.“

„Wenigstens sieht man nicht mehr auf den ersten Blick, dass wir entflohene Gefangene sind“, meinte Thidrik und zog sein Schwert aus dem Gürtel. „Hock dich hin, Donarsohn. Jetzt zeige ich dir, wie man so etwas macht!“

Thorag ging vor dem Felsen auf die Knie, ließ das zerbrochene Römerschwert fallen und streckte seine Hände in der Weise auf dem Stein aus, wie es Thidrik zuvor getan hatte. Der Bauer trat dicht an ihn heran, hob mit beiden Händen das Schwert, blickte mit funkelndem Blick auf den Edeling herab und ließ die Klinge heruntersausen.

Vielleicht war es das seltsame Funkeln in den Augen gewesen, das Thorag damals auf Thidriks Hof zuerst bei Hasko bemerkt hatte. Vielleicht war es die langjährige Erfahrung Thorags als Krieger, die ihn warnte. Jedenfalls wusste er, als die Klinge auf ihn zuraste, dass ihr Ziel nicht die Kette, sondern sein Kopf war.

Er ließ sich zur Seite fallen und entging nur äußerst knapp dem Hieb, der seinen Schädel gespalten hätte. Die Schwertspitze fuhr erst an der Kette entlang und schrammte dann kreischend den Felsen. Thorag rollte sich über den schlammigen Boden ab und sprang auf.

Thidrik fuhr zu ihm herum und starrte ihn hasserfüllt an, das Schwert bereits zum neuen Schlag erhoben.

„Was tust du?“, ächzte der Edeling.

„Das siehst du doch. Ich töte dich!“

Thidrik sprang vor und schlug erneut zu. Thorag riss beide Arme hoch und streckte sie aus, sodass die Klinge an der gespannten Kette abprallte.

Als der Bauer einen Schritt zurück machte, setzte der Edeling sofort nach. Thorag war zwar der erfahrenere Krieger, aber das Schwert und die Bewegungsfreiheit der Hände waren zwei nicht zu unterschätzende Vorteile auf Thidriks Seite. Deshalb wollte der Edeling ihn gar nicht erst zu Atem kommen lassen.

Doch Thidrik reagierte schnell und stieß mit der Schwertspitze nach Thorags Brust. Der blonde Hüne sprang zur Seite. Die Klinge zerteilte seine Tunika und strich nur knapp an seiner linken Seite vorbei.

„Warum?“, keuchte Thorag, der fünf Schritte von dem anderen entfernt stand und ihn abwartend anstarrte.

„Weil du ein Römling bist! Weil du Hasko getötet hast!“

„Hasko musste ich töten. Und ich bin nicht länger ein Freund der Römer.“

„Haskos vergossenes Blut schreit nach Vergeltung, nach deinem Blut!“

„Zählt es nichts, dass ich dir im Fluss das Leben gerettet habe, als ihr die Brücke abbranntet? Und dass ich dir zur Flucht aus dem Amphitheater verholfen habe?“

„Bist du ein Feigling, Thorag, dass du um Gnade winselst wie ein altersschwacher Hund, der erschlagen werden soll?“, fragte Thidrik verächtlich.

„Ich fürchte dich nicht und bitte dich nicht um Gnade. Ich versuche dir nur klarzumachen, dass es falsch ist, wenn wir uns bekämpfen. Wir stehen auf derselben Seite und sind aufeinander angewiesen!“

„Ich stehe nicht auf der Seite eines verfluchten Römlings!“, schrie Thidrik und setzte zu einem neuen Angriff an.

Wieder konnte Thorag ausweichen, und der Angreifer wurde von seinem eigenen Schwung zu Boden gerissen. Mit einem Sprung landete Thorag auf ihm, als sich Thidrik gerade erheben wollte. Der Oberkörper des Bauern sackte zurück, und der Edeling saß fest auf seiner Brust. Thorag verkürzte seine Kette, indem er sie mit beiden Händen ergriff, und drückte sie gegen Thidriks Kehle. Ein auf Thidriks rechten Oberarm gepresstes Knie verhinderte, dass der Bauer sein Schwert einsetzte.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich kein Freund der Römer mehr bin?“, fragte Thorag laut. „Hat der Hass deine Ohren verstopft? Oder dein Gehirn?“

„Man wird nicht … von einem Tag zum anderen … vom Römerfreund … zum Römerfeind …“, brachte Thidrik, der durch Thorags Kette nur schwer Luft bekam, abgehackt hervor.

„Nein, wohl nicht. Aber irgendwann erkennt man, wo man wirklich steht. Ich habe es vielleicht schon erkannt, als dieser krummbeinige Statthalter mich auspeitschen ließ. Spätestens aber heute, als ich Eiliko sterben sah.“

„Wie soll … ich wissen, ob du … die Wahrheit sprichst?“

„Hat dir das unsere Flucht nicht gezeigt?“

Thidriks Antwort bestand in einem kräftigen Aufbäumen, mit dem Thorag nicht gerechnet hatte. Der Donarsohn verlor das Gleichgewicht, fiel von Thidrik hinunter und rollte durch den Schlamm, bis er mit dem Kopf gegen einen Baumstamm prallte. Er schüttelte die Benommenheit, die ihn ergriff, von sich ab und wollte sich an dem Baum hochziehen. Die Klinge, die er auf seine Hände zufliegen sah, veranlasste ihn, den Baum loszulassen. Während Thidriks Schwert splitternd ins Holz fuhr, fiel Thorag erneut in den Schlamm.

„Ich glaube dir nicht!“, sagte Thidrik hart und riss die Klinge aus dem krummen Buchenstamm. „Unsere Flucht verlief mir ein bisschen zu reibungslos.“

Er hatte kaum ausgesprochen, da stürmte er mit erhobenem Schwert auf Thorag los. Statt auszuweichen, warf sich der Angegriffene nach vorn und duckte sich so tief wie möglich. Er krachte gegen Thidriks Beine und brachte den Bauern zu Fall, während das Schwert die Luft zerteilte. Als Thidrik aufschlug, verlor er seine Waffe. Er streckte sich, um nach ihr zu greifen. Aber Thorag hielt den schweren Mann fest. Sie rangen miteinander, rollten über den Boden, durch den Schlamm und bemerkten zu spät, dass sie auf abschüssiges Gelände gerieten.

Plötzlich waren sie bis zur Brust von Morast umgeben. Thorag strampelte mit den Beinen, aber er fand keinen festen Grund. Ein Sumpf!, schoss es durch seinen Kopf, und er ließ den Gegner los, um beide Arme, soweit es seine Fesseln erlaubten, flach auszustrecken, wie er es von Wisar gelernt hatte.

Jede heftige Bewegung vermeidend, suchte Thorag vorsichtig mit den Füßen nach festem Boden. Ein paarmal stieß er kurz an harten Untergrund. Er konnte nicht stehen, aber es genügte, um ihn voranzubringen, dem festen Land entgegen. Hinter sich hörte er Thidriks verzweifelte Hilferufe. Der Bauer schien nicht so viel Glück zu haben wie er. Aber er konnte sich jetzt nicht um ihn kümmern. Er konnte nicht zwei Leben zugleich retten.

An einer in den Sumpf ragenden mannsgroßen Baumwurzel konnte sich der über und über mit Morast bedeckte Donarsohn aufs feste Land ziehen. Er gönnte sich nur wenige Sekunden Atempause und hielt dann nach Thidrik Ausschau. Der Bauer war bereits bis zum Kinn versunken und hatte seine Hilferufe eingestellt. Er schien sich mit seinem Tod abgefunden zu haben.

Thorag sprang auf und brach einen langen Ast von einer Birke ab. Vorsichtig watete er so weit in den Sumpf, wie er noch festen Grund unter seinen Füßen spürte. Er streckte den Ast in Thidriks Richtung und rief: „Pack zu, Thidrik! Ich zieh dich raus!“

Es kostete den Bauern einige Anstrengung, wenigstens einen Arm aus dem Sumpf zu ziehen. Der tödliche Morast stand ihm schon bis zum Mund, als seine Hand das äußerste Astende ergriff. Thorag zog zu heftig, und Thidriks Hand rutschte ab.

„Nochmal!“, schrie Thorag und streckte den Ast möglichst weit aus.

Wieder packte Thidriks Hand zu.

„Gut festhalten!“, brüllte Thorag und zog den Ast ganz langsam zu sich heran.

Thidrik rutschte noch mehrmals ab, und es kostete einige Mühen, aber schließlich konnte Thorag den Bauern mit den Händen greifen und ans feste Land ziehen. Dort lagen beide Männer einige Minuten reglos nebeneinander und schnappten nach Luft, während der Regen den ärgsten Schmutz von ihren ausgepumpten Körpern spülte. Thorag erhob sich als Erster und richtete sich auf, damit der Regen ihn ganz von dem klebrigen, stinkenden Morast befreite.

Ein am ganzen Leib zitternder Thidrik tat es ihm nach, blickte Thorag tief in die Augen und sagte: „Danke! Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt schon im Totenreich.“

Thorag grinste. „Und ich wäre es mit deiner Hilfe fast gewesen, Thidrik.“

„Es tut mir leid“, sagte Thidrik leise. „Mein Hass hat mich dazu getrieben.“

Thorag glaubte ihm. Das bösartige Funkeln war aus Thidriks Blick verschwunden.

„Und jetzt?“, fragte der Edeling. „Hasst du mich jetzt nicht mehr?“

Thidrik zeigte auf den Sumpf. „Mein Hass steckt da drin.“ Er schlug sich auf die linke Brust. „Aber die Trauer über Haskos Tod wird immer hier drin bleiben. Er war der einzige meiner Söhne, der lange genug lebte, um ein Mann zu werden.“

Thidrik nickte und suchte dann den Boden ab. Er fand Thidriks Schwert und gab es dem Bauern.

Dieser starrte ungläubig auf die Klinge und dann auf den Edeling. „Warum gibst du es mir?“

Thorag hob die gefesselten Hände. „Wolltest du mir nicht zeigen, wie man die Kette durchtrennt?“

„Ja.“

Sie gingen zu der Eiche, und Thorag kniete sich abermals vor den Felsblock.

Als Thidrik mit dem Schwert vor ihm stand, fragte der Bauer: „Bist du sicher, dass du mir vertrauen kannst?“

„Gleich werde ich es wissen.“

Thidriks Schwert fuhr nieder, immer wieder, und schließlich zerbrach die Kette. Der Donarsohn stand auf und bedankte sich bei Thidrik.

„Du musst dich nicht bedanken“, entgegnete dieser. „Ich werde auf ewig in deiner Schuld stehen.“

„Wenn du das glaubst, dann tu etwas, um die Schuld abzutragen.“

Thidrik sah überrascht auf. „Was?“

„Erzähl mir die Wahrheit über die Morde, die Onsaker mir zu Last legt!“

In Thidriks Gesicht trat Erschrecken, und er stammelte: „Das … das kann ich nicht.“

„Warum nicht?“

„Onsaker ist mein Fürst. Ich bin ihm zur Treue verpflichtet.“

„Ich zwinge dich nicht, mir etwas zu sagen, was du nicht willst“, seufzte Thorag resigniert. „Aber dann rede nie wieder von deiner Schuld mir gegenüber. Ein Mann sollte nichts sagen, was er nicht in Taten umsetzen kann.“

Eine ganze Weile stand Thidrik schweigend da und starrte in die Dunkelheit und in den Regen hinaus.

„Ich weiß nicht viel darüber, wie Asker und Arader gestorben sind“, sagte er schließlich.

„Aber du hast auf dem Thing eine falsche Aussage gemacht.“

Der Bauer nickte beschämt.

„Und was ist die Wahrheit?“

„Onsaker hat mich zu der Aussage gezwungen. Im Gegenzug hat er meine Steuerschulden bei den Römern beglichen. Das war der Grund, weshalb ich ihn aufsuchen wollte. Die Römer hatten gedroht, mein Haus niederzubrennen und die Meinen zu versklaven. Ich war verzweifelt. Als ich aber Onsakers Hof erreichte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Onsaker ist für seinen Jähzorn bekannt, besonders wenn man ihn um etwas bittet. Ich verzog mich in das Gebüsch und überlegte, was ich tun sollte. Darüber wurde es dunkel. Plötzlich warst du da. Dann ergab sich alles wie von selbst. Onsaker half mir, und ich half ihm mit der falschen Aussage.“ Thidrik räusperte sich. „Und er hat gedroht, mir die Haut bei lebendigem Leib abzuziehen, wenn ich die Wahrheit verrate.“

„Weiter“, sagte Thorag nur.

„Nachdem ich dir in jener Nacht entkommen war und Onsakers Krieger alarmiert hatte“, fuhr Thidrik fort, „lief ich wieder nach draußen, um den anderen bei der Suche nach dir zu helfen. Ich wollte Onsaker meine Ergebenheit beweisen und seine Dankbarkeit erringen. Es war ein einziges Durcheinander. Überall liefen Ebermänner herum, aber von dir war nichts zu sehen. Vorsichtig ging ich in das Gebüsch, wo auf einmal Onsaker vor mir stand. In der Nähe lag Asker, tot, mit durchbohrter Brust. Onsaker sagte, du hättest seinen Sohn getötet. Und ich sollte das vor Gericht bezeugen.“

„Hast du geglaubt, dass ich Asker tötete?“, fragte Thorag.

„Ich weiß nicht.“

„Glaubst du es heute?“

Thidrik sah in Thorags Augen. „Warst du es?“

„Nein.“

„Ich glaube dir“, sagte Thidrik leise.

„Was ist mit Araders Tod?“

„Davon weiß ich nichts. Ich übernachtete in dem Dorf bei Onsakers Gehöft. Am nächsten Morgen kehrte einer der Trupps, die Onsaker auf die Suche nach dir ausgeschickt hatte, mit Araders Leichnam zurück, den die Krieger auf seinem Hof gefunden hatten.“

Thorag legte seine Hände auf Thidriks Schultern. „Ich danke dir für deine Offenheit. Würdest du mir noch zwei Gefallen tun?“

„Welche?“

„Widerrufe deine Aussage auf dem nächsten Thing! Hab keine Angst, ich stelle dich unter meinen Schutz. Und führe mich in den Bund der Fenrisbrüder ein!“

„Du willst mit uns gegen die Römer kämpfen?“

„Ja“, antwortete Thorag ehrlich.

„Dann haben wir ein Problem.“

„Wieso?“

„Die Fenrisbrüder werden immer mächtiger. Ich weiß nicht, wer ihr oberster Kopf ist. Sie nennen ihn nur den Schwarzwolf, weil er bei den Zusammenkünften stets ein sehr dunkles Wolfsfell trägt. Wie er aussieht, weiß niemand. Sein Gesicht ist unter einer Wolfsmaske verborgen. Ich könnte dich nur dem Unterführer empfehlen, den ich kenne.“

„Und wer ist das?“

„Onsaker!“

„Das habe ich mir fast gedacht“, seufzte Thorag. „Ich werde mir etwas einfallen lassen, damit …“

Er brach ab, denn weißes Feuer erhellte plötzlich den Nachthimmel. Ein Blitz jagte zur Erde nieder und fuhr mitten in die alte Eiche, unter der die beiden Männer standen. Dem Blitz folgte ein Donner, so laut, dass es nichts anderes sein konnte als der Widerhall von Miölnirs Schlag. Der riesige Baum stand binnen Sekunden lichterloh in Flammen. Brennende Äste regneten auf die Menschen herab.

Thorag lief in den Regen hinaus und zerrte den wie erstarrt dastehenden Bauern mit sich. In sicherer Entfernung kauerten sie sich unter ein Gebüsch und sahen zu, wie die Eiche im Feuer verging, während immer neue Blitze den Himmel aufrissen und der Donner das schwere Prasseln des Regens noch übertönte. Das Feuer war mit solcher Macht in den Baum gefahren, dass es der Sturzregen nicht zu löschen vermochte. Die beiden Männer spürten die starke Hitze, obwohl ihr Unterschlupf fünfzig Schritte von der riesigen Fackel entfernt lag.

„Donar vernichtet den heiligen Baum, der ihm geweiht ist“, flüsterte Thorag erschrocken. „Das ist ein böses Vorzeichen!“

Kapitel 2 – Ein ungleicher Kampf

Lange Zeit – es mochte eine kleine Ewigkeit sein – stand Thorag stumm vor dem Grab seines Vaters auf der kleinen Lichtung im Heiligen Hain. Sie hatten Wisars Leiche in Thorags Abwesenheit verbrannt und die Überreste neben denen seiner Söhne bestattet, als Thorag trotz des ausgesandten Boten nichts von sich hören ließ.

Der Himmel hatte sein Antlitz mit dunklen Wolken verhüllt, aber auf Thorags Gesicht stand ein leichtes Lächeln. Sein Geist hatte eine Reise durch die Zeit gemacht, zurück zu jenen fernen, glücklichen Tagen, in denen die Römer für ihn nur ein Schreckgespenst winterabendlicher Erzählungen waren, weit weniger greifbar, als die Geister, die hier im Heiligen Hain wohnten. Noch einmal war er seinem Vater begegnet, hatte von ihm gelernt, ein Mann zu werden, und hatte sich dafür bedankt. Dann nahm er Abschied für immer, drehte sich um und verließ die kleine Lichtung durch den schmalen Pfad, der auf die große Lichtung, den Versammlungsplatz, führte.

Thorag schritt durch eine Gasse zwischen den Leibern der Donarsöhne hindurch auf den freien, äußerst kleinen Platz in der Mitte der Lichtung. Seinem Aufruf waren so viele Männer gefolgt, dass sie bis weit in den Wald hinein standen. Erwartungsvoll blickten die Frilinge aus Wisars Gau den Sohn ihres toten Fürsten an.

„Der Fürst ist tot“, sagte Thorag laut, während er sich langsam um seine Achse drehte und die Worte in jede Himmelsrichtung sprach. Jedes Mal wiederholte es die versammelte Schar in einem tausendstimmigen Raunen, das wie verhaltener Donner klang.

Als er sich einmal um sich selbst gedreht hatte, blickte er die hervorragendsten Untertanen seines Vaters an. Um den vierschrötigen Hakon herum standen die Krieger aus Wisars Gefolgschaft in ihrem vollen Waffenschmuck, darunter der junge Garrit, dessen linke, leere Augenhöhle durch eine Klappe aus dunklem Leder verdeckt wurde. Auch die anderen Männer trugen ihre Waffen. Ganz vorn sah er die große, muskelbepackte Gestalt Radulfs, dessen graue Lockenmähne im auffrischenden Wind wehte. Der Schmied hatte eine Hand auf Tebbes Schulter gelegt. Seit seiner Teilnahme am großen Thing gehörte der älteste Sohn des toten Holte zu den Männern, und als solcher nahm er an der Versammlung teil. Radulf war für ihn eine Art zweiter Vater geworden.

„Der Fürst ist tot“, wiederholte Hakon laut die Worte, zog sein altes, prächtig verziertes Schwert aus der Scheide, reckte es hoch in die Luft und rief: „Es lebe der Fürst!“

Auch Radulf stieß sein Schwert in den Himmel und rief: „Es lebe der Fürst!“

Der Ruf pflanzte sich durch die Reihen fort und wurde schließlich von allen Kehlen aufgenommen. Ein paar Männer aus der vordersten Reihe, darunter Hakon und Radulf, traten vor Thorag, knieten sich vor ihm hin und legten Hakons Schild zu seinen Füßen. Thorag stieg auf die lederbespannte Oberfläche, deren verblassende Bemalung einen berittenen Krieger und Miölnir zeigte; das Zeichen des Kriegerführers Hakon, der dem Abkömmling des Donnergottes folgte.

Die Männer hoben den Schild auf ihre Schultern, und Thorag richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Der jetzt einsetzende Jubel wuchs sich zu einem Donner aus, der Donars würdig war. Immer wieder erscholl: „Es lebe der Fürst!“ Und: „Thor-ag! Thor-ag!“

Letzteres weckte unangenehme Erinnerungen in Wisars Sohn, und seine Gedanken kehrten in die Arena des Amphitheaters zurück. Er stand wieder Ater gegenüber, der fürchterlichen schwarzen Bestie, durchlebte noch einmal Eilikos Tod und die gemeinsame Flucht mit Thidrik.

Nachdem Thorag den Bauern aus dem Sumpf gezogen hatte, schien dessen Hass auf den Edeling und sein Misstrauen gegen ihn tatsächlich erloschen zu sein. Als Thorag nach der Gewitternacht erwachte, hockte Thidrik neben ihm, das Schwert in Griffweite. Wenn der Bauer gewollt hätte, hätte er mit Leichtigkeit Thorags Brust durchbohren oder seinen Kopf abschlagen können. Er hatte es nicht getan und stattdessen über Thorags Schlaf gewacht. Die Schwertklinge war schmutzig. Thidrik hatte die Waffe als Werkzeug benutzt und damit einen kleinen Graben ausgehoben, der das Wasser von ihrem Unterschlupf abhielt.

Am Morgen regnete es nicht mehr. Die Sonne brach sich durch die Wolken Bahn und beleuchtete den toten, verkohlten Stamm, der am Abend zuvor noch eine mächtige, alte Eiche gewesen war. Lebendig und von Donars Geist beseelt. Warum hatte ihr der Donnergott den Tod gesandt?

Thorag hatte weder Zeit noch Muße, darüber nachzudenken. Er und Thidrik bahnten sich unter großen Mühen einen Weg über den schlammigen, an vielen Stellen sumpfigen Waldboden. Zudem hatte der Gewittersturm viele Bäume gefällt, die sie immer wieder umgehen mussten. Es war ein anstrengender Marsch, und erst gegen Abend erreichten sie eine kleine Siedlung der Chatten, von denen Thidrik gesagt hatte, die Bewohner seien Freunde der Fenrisbrüder, seit die Römer das Dorf geplündert hatten. Die Chatten versorgten die Flüchtlinge mit Nahrung, neuen Kleidern, Waffen und einem trockenen Schlafplatz für die Nacht. Das überraschsende Auftauchen einer römischen Streife war nicht zu befürchten, weil bereits am Morgen ein Reitertrupp das Dorf durchkämmt hatte.

Nach einem reichhaltigen Frühstück setzten die entflohenen Todgeweihten am nächsten Morgen ihren Marsch ins Cheruskerland fort. Es war ein beschwerlicher Weg, weil sie die unzugänglichsten Wälder, Moore und Gebirgszüge wählten, um vor den Römern sicher zu sein. Tatsächlich erreichten sie ihr Ziel unbehelligt. Hier trennten sie sich, weil Thidrik zu seinem Hof und Thorag zu Wisars Gehöft wollte.

Der Edeling versprach dem Bauern, bis auf weiteres nichts von dem zu erzählen, was er von Thidrik über Onsaker erfahren hatte. Es war ohnehin nicht viel und für Thorag nur von Wert, wenn er mehr über den Doppelmord in Erfahrung bringen konnte. Solange wollte Thorag damit warten, Onsaker der Falschanschuldigung und des Meineides zu bezichtigen.

Ohnehin schien es auf eine offene Schlacht zwischen Eberkriegern und Donarsöhnen hinauszulaufen. Thorags überraschende Heimkehr durchkreuzte den Plan des Eberfürsten, sich Wisars Gau im Handstreich anzueignen. In den sechs Nächten und Tagen, die Thorag wieder daheim war, hatten seine Späher immer wieder Kriegerkolonnen gemeldet, die auf Onsakers Hof zuhielten und in dessen Nähe lagerten. Auch Thorag hatte rasch seine Wehrfähigen zusammengerufen, um Wisars Nachfolge zu regeln und ihr Recht auf einen Gaufürsten aus der Abkommenschaft Donars gegen die Eberkrieger zu verteidigen. So kam es, dass Thorag an die tausend Krieger unter Waffen hatte. Hätte er mehr Zeit gehabt, wären es noch mehr gewesen.

Thorag war durch seine Erlebnisse in der Ubierstadt zu der Erkenntnis gelangt, dass die Römer die wahren Feinde der Cherusker und aller freiheitsliebenden Germanen waren. Gegen sie galt es die Waffen zu erheben, nicht gegeneinander. Daher hätte er eine Schlacht zwischen Donarsöhnen und Eberkriegern gern vermieden, aber seine diesbezügliche Hoffnung war gering.

Der Schrei, der sich plötzlich in den Jubel der Menge mischte, machte auch den letzten Rest von Thorags Hoffnung zunichte. Ein Reiter, der seinen erhitzten Braunen durch die Reihen der Cherusker zwängte stieß ihn aus: „Die Eberkrieger kommen! Onsaker greift an!“

Als Thorag von den Schildträgern zu Boden gelassen wurde, dachte er daran, dass sich Onsaker einen für ihn günstigen Augenblick ausgesucht hatte. Fast Thorags gesamte Streitmacht befand sich hier auf der Lichtung. Lediglich vereinzelte Späher sicherten das Umland. Einer von ihnen war der rothaarige Reiter, der sich endlich bis zu Thorag durchgekämpft hatte und vor ihm aus dem Sattel rutschte. Er wollte vor dem neuen Gaufürsten niederknien, aber Thorag hielt ihn an der Schulter fest und fragte ohne Umschweife nach Einzelheiten.

„Mehrere Kolonnen nähern sich aus dem Ebergau“, berichtete der schnell atmende Späher. „Schwarzbemalte Krieger in voller Bewaffnung. Eine riesige Streitmacht!“

„Wie stark?“

„Zweitausend Krieger mindestens, vielleicht mehr.“

Damit waren die Eberkrieger deutlich in der Überzahl. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, hatte sich Onsaker doch schon seit Wochen auf eine kriegerische Auseinandersetzung um Wisars Nachfolge vorbereiten können. Thorag fasste rasch einen Entschluss.

„Cherusker, freie Männer aus Wisars Gau, Donarsöhne!“, schrie er laut und übertönte die aufgeregte Menge. Als die Männer ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenkten, fuhr er fort: „Onsaker rückt mit starken Kräften an, um seine Herrschaft auf diesen Gau auszudehnen. Wollt ihr dem Fürsten der Ebersippe die Treue schwören?“

„Nein!“, scholl es ihm entgegen, und tausend Stimmen klangen wie eine einzige.

„Wollt ihr mir die Treue halten?“

„Ja!“, brüllten die Cherusker und skandierten dann erneut Thorags Namen.

„Wollt ihr mir in den Kampf gegen die Eberkrieger folgen?“

Wieder war die Antwort ein lautes, mehrmals wiederholtes „Ja!“

Thorag nickte zufrieden und rief die Namen seiner Unterführer auf, allen voran Hakon und Radulf, der nicht nur ein erfahrener Schmied, sondern auch ein kampferprobter Krieger war. Schnell und präzise gab Thorag seine Anweisungen, wo welche Hundertschaften Aufstellung nehmen und wie sie sich verhalten sollten.

„Bleibt auf jeden Fall auf den Hügeln, bis ihr mein Angriffszeichen erhaltet“, schärfte er ihnen ein. „Wenn Onsaker unbedingt kämpfen will, soll er die Höhen heraufkommen. Das wird unser Vorteil sein.“

In Gedanken fügte er hinzu: Der den Vorteil von Onsakers zahlenmäßiger Übermacht – hoffentlich – ausgleicht!

Die Unterführer sammelten ihre Hundertschaften um sich, und eine nach der anderen rückte in Eilgeschwindigkeit ab. Thorag bestieg den kräftigen Grauschimmel, den er seit seiner Rückkehr ritt, und sprengte, gefolgt von Hakon und seinen berittenen Kriegern, auf den höchsten der Hügel zu, die das Gehöft und damit auch das Kernland des Gaues umgaben. Während er der Schlacht entgegenzog, sann er verzweifelt über eine Möglichkeit nach, sie im letzten Augenblick noch zu vermeiden.

Etwa zwei Stunden später standen sich die beiden Kriegerscharen gegenüber. Die Donarsöhne besetzten die Höhen rund um das Gehöft, während die Eberkrieger in die Wälder und Wiesen im Tal strömten. Der Späher hatte nicht übertrieben; ihre Zahl mochte sich wirklich auf zweitausend Mann belaufen. Genau vermochte Thorag das nicht abzuschätzen, weil viele der Feinde in den Wäldern verborgen waren. Onsakers Übermacht war jedenfalls erdrückend.

„Wir sollten endlich angreifen“, knurrte Hakon, der seinen Schecken an die Seite von Thorags Grauschimmel getrieben hatte. „Fast eine Stunde stehen wir uns schon gegenüber. Die Krieger werden allmählich ungeduldig. Je mehr Zeit wir Onsaker lassen, desto günstiger kann er seine Streitmacht aufstellen.“

„Das gilt für unsere Männer auch.“

„Aber Sunna lenkt ihren Sonnenwagen zu den Eberkriegern hinüber.“ Hakon zeigte auf die hoch am Himmel stehende Mittagssonne, die vor einer guten Stunde durch die Wolken gebrochen war und jetzt ihre wärmenden Strahlen auf die beiden Heere niedersandte. „Onsaker ist listig. Er wartet ab, bis Sunna in seinem Rücken steht. Dann wird er angreifen.“

„Das soll er“, erwiderte Thorag gleichmütig. „Unser Vorteil ist die Anhöhe, die seine Leute heraufkommen müssen. Wenn wir aber jetzt hinunterstürmen, geben wir diesen Vorteil auf. Und wir wissen nicht genau, was uns unten erwartet. Wenn die Eberkrieger aus den Wäldern hervorbrechen, kann Onsaker den Vorteil seiner Übermacht ausspielen und uns einkesseln.“

Garrit, der dem Gespräch gefolgt war, ritt näher heran und sagte hart: „Und wenn schon! Auf einen Donarsohn kommen zwei Eberkrieger. Na und? Einer von uns ist so viel wert wie fünf von denen. Wenn unsere Schwerter Ernte halten, wird Onsaker bald keine Übermacht mehr haben.“

„Aus dir spricht der Hass“, meinte Thorag und starrte auf die lederne Augenklappe. „Ich kann dich verstehen. Aber du sprichst zu geringschätzig von den Eberkriegern. Wenn sie so schlechte Kämpfer wären, wäre Onsaker niemals so mächtig geworden. Die Ebermänner sind Cherusker wie wir, und sie verstehen es zu kämpfen wie wir.“

„Ich weiß nicht, ob sich unsere Krieger noch lange zurückhalten können“, brummte der Einäugige und trieb seinen Braunen zurück zu den übrigen Berittenen, die den Stoßkeil von Thorags Gegenangriff bilden sollten.

Thorag blickte dem jungen Krieger nachdenklich hinterher. Mit seinem Hass auf die Ebermänner erinnerte er ihn an den römischem Offizier Lucius. Dessen Narbe und sein hinkendes Bein waren äußerliche Spiegelbilder seines Hasses wie Garrits leere Augenhöhle.

„Kommt der Hass vom Krieg oder der Krieg vom Hass?“, sprach der junge Gaufürst aus, was ihn beschäftigte.

Hakon blickte ihn verständnislos an. „Ich kann die Frage nicht beantworten, Thorag. Ich weiß auch nicht, wozu es gut sein sollte.“

„Wenn wir diese Frage beantworten können, können wir vielleicht Kämpfe wie diesen vermeiden.“

„Warum sollten wir das? Es gibt keinen ehrenvolleren Tod als den in der Schlacht.“

„Das stimmt. Aber ein Mann, mag er auch noch so tapfer sein, kann sein Leben nur einmal hingeben. Ist es nicht ehrenvoller, für eine Sache zu sterben, die sich lohnt, als in einem sinnlosen Kampf wie diesem?“

„Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, gestand der erfahrene Krieger ein. „Jedenfalls halte ich diesen Kampf nicht für sinnlos. Wir müssen Onsaker zeigen, dass es tödlich für einen Eberkrieger ist, diesen Gau in feindlicher Absicht zu betreten!“

Thorag schüttelte den Kopf. „Ich halte es für sinnlos, wenn ein Cherusker den anderen niedermetzelt, während jenseits des Rheins die Römer immer stärker werden.“

„Wir haben ein Bündnis mit den Römern, aber nicht mit Onsaker.“

„Vielleicht ist das ein Fehler, Hakon.“ Thorag sah den Führer seiner Kriegergefolgschaft forschend an. „Versprichst du mir, nach meinem Willen zu handeln und nicht als Erster anzugreifen, ganz gleich, was geschieht?“

Hakons graue Augen blickten plötzlich alarmiert. „Was hast du vor, Fürst?“

„Ich werde hinunterreiten und Onsaker fragen, ob er den Kampf zwischen uns nicht auch für sinnlos hält. Vielleicht gelingt es mir, die Schlacht zu vermeiden.“

„Das gelingt dir bestimmt nicht. Du hast Onsaker schon einmal im Zweikampf besiegt. Ein zweites Mal wird er sich nicht auf so etwas einlassen. Er wird dich gefangen nehmen und dich als Geisel benutzen. Oder er lässt dich töten.“

„Die Gefahr muss ich eingehen. Für den Fall, dass ich tatsächlich nicht zurückkehre, befehle ich dir, nicht auf Onsakers Forderungen einzugehen. Du hast meinem Vater viele Sommer und Winter treu gedient, Hakon. Willst du auch mir treu sein und meine Befehle beachten, selbst wenn sie deinen Ansichten widersprechen?“

Ohne zu zögern zog Hakon sein Schwert und hielt es vor sich. „Dieses Schwert, das für Wisar viele Schlachten focht, wird genauso für dich kämpfen, Thorag. Mein Schwert, mein Schild, mein Mut und mein Herz sind dein!“

„So sei es“, sagte Thorag und nickte dem Älteren dankbar zu. „Liefere den Eberkriegern eine gute Schlacht, falls ich die Donarsöhne nicht anführen kann!“

„Das werde ich“, versprach Hakon, während Thorag seinem Grauschimmel die Fersen in die Seiten drückte und langsam den Hügel hinabritt.

Er hörte die Unruhe in seinem Rücken, die seine Männer beim Anblick ihres dem Feind entgegenreitenden Fürsten erfasste. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten. Sie wussten nur, dass es kein Angriff war. Dazu ritt Thorag viel zu gemächlich den Hügel hinunter. Er tat es absichtlich, um die Eberkrieger nicht zu einer übereilten Tat zu reizen. Während oben Hakon den Donarsöhnen befahl, in Ruhe abzuwarten, erreichte Thorag den Fuß des Hügels und ritt zwischen mannshohen Sträuchern dem für ihn jetzt unsichtbaren Gegner entgegen.