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Jörg Kastner

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Beschreibung

1908, eine deutsche Kolonie im fernen China: Amelie Kindler reist mit ihrer Familie nach Tsingtau, denn ihr Vater will dort einen Neuanfang wagen. Für ihn ist es ein Glücksfall, dass schon bald der Kaufmannssohn Erich um Amelie wirbt. Im Gegensatz allerdings zu Amelie: Sie verliert ihr Herz an den Chinesen Liu Tan – ein Skandal in der deutschen Kolonie. Amelie lässt sich trotz aller Widerstände auf diese Liebe ein – und muss zeit ihres Lebens um sie kämpfen.

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Jörg Kastner

Der Kuss der Schmetterlinge

Roman

Was eine Raupe das Ende des Lebens nennt, nennt der Weise einen Schmetterling.(Chinesisches Sprichwort)

Prolog

Sonntag, 9. September 2012.

Christas Worte waren ein Schock für Bernhard, wie ein Schlag vor den Kopf. Gleichzeitig klangen sie unwirklich. Sie wollten nicht zu der fröhlichen Umgebung passen, zu all den Schmetterlingen, die ihn und seine Tante in bunter Pracht umflatterten.

»Ich werde sterben, Bernhard, das hat mein Arzt mir klipp und klar gesagt. Ich muss davon ausgehen, dass ich längstens noch ein Jahr zu leben habe.«

»Nur noch ein Jahr zu leben?«, brachte er stockend, fassungslos, hervor. »Aber warum?«

»Na, woran sterben die meisten Leute heutzutage wohl; Nachbarn, Freunde, Verwandte? Was frisst sie – und mich – von innen auf? Vielleicht ist es die ganze Chemie, die wir ohne Unterlass einatmen und anfassen, vielleicht sind es elektrische Strahlung und Funkwellen oder Tschernobyl und Fukushima.« Sie seufzte kurz, lächelte dann aber gleich wieder. »Sei’s drum, meine Uhr läuft ab, und da kommst du ins Spiel. Nicht als mein Neffe oder gar mein Haupterbe – dir geht’s finanziell ja wohl blendend –, sondern als mein Anwalt und Testamentsvollstrecker.«

Bernhard nickte nur, zutiefst betroffen über das eben Gehörte.

»Fein«, sagte Christa und betrachtete einen farbenfroh schillernden Schmetterling, der dicht vor ihrem Gesicht tanzte. »Ich wusste, du würdest es verstehen. Ich habe mir nämlich einen Erben ausgesucht, den man als etwas ungewöhnlich bezeichnen könnte.«

»Als dein Neffe wäre es mir lieber, du bräuchtest gar keinen Erben«, sagte er leise. »Aber als dein Rechtsanwalt muss ich wohl danach fragen, wer die Person ist, der du dein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen hinterlassen möchtest.«

»Kein Mann und keine Frau. Wie sagt ihr Rechtsverdreher doch gleich? Es handelt sich um eine juristische Person: dieser Schmetterlingspark.«

»Wie?«, fragte er, weil er glaubte, sich verhört zu haben. Er erinnerte sich an seine Verwunderung darüber, als seine Tante ihn gebeten hatte, mit ihr zu diesem neuen Schmetterlingspark rauszufahren. Seiner Ansicht nach war das eher etwas für Kinder und für Rentner, beides passte nicht zu ihr. Auch mit ihren weit über sechzig Jahren war Christa keineswegs der Oma-Typ. Weder ihre äußerliche Erscheinung – sie ging mit ihrer schlanken Figur und ihrer rotblonden Kurzhaarfrisur für zehn Jahre jünger durch – noch ihr geistiges Auftreten deuteten darauf hin. Die Gespräche mit ihr empfand er anregender als mit so manchem Gleichaltrigen, und nicht zuletzt deshalb schätzte er ihre gemeinsamen monatlichen Treffen. Außerdem war sie seit dem frühen Unfalltod seiner Eltern seine engste Familie. An Politik und Kultur immer interessiert, besuchte Christa mit ihm häufig Ausstellungen, Museen oder Diskussionsrunden.

Sie erklärte ihm alles ausführlich, während sie durch die große Freiflughalle gingen, die mit ihren tropischen Pflanzen, kleinen Wasserfällen und einer Hängebrücke wie ein Miniatur-Urwald anmutete. Aber nicht das tropische Klima trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Eine große Last, scheinbar fast schwerer als einer der Felsen, die als Auflockerung zwischen all dem Grün aufragten, lag auf ihm, seit Christa ihm von ihrer Diagnose erzählt hatte. Verstohlen schaute er sie von der Seite an, aber er konnte keine Anzeichen der tödlichen Krankheit bei ihr erkennen. Sie wirkte so munter und lebensfroh wie immer.

»Für mich begann alles vor mehr als fünf Jahrzehnten, als meine Großeltern väterlicherseits noch lebten, deine Urgroßeltern«, begann Christa, auf deren Handrücken sich ein bunter Falter zutraulich niedergelassen hatte, zu erzählen. »Noch heute, nach so vielen Jahren, denke ich an jenen Sonntagnachmittag im Juni zurück, als ich den Schmetterling fing. Meine Eltern hatten mich zu den Großeltern am Stadtrand gebracht, weil meine Mutter ins Krankenhaus musste. Es war der Tag, an dem mein Bruder, dein Vater, geboren wurde. Aber darüber machte ich mir damals keine Gedanken. Ich war neun Jahre alt, und der riesige Garten meiner Großeltern war für mich ein herrlicher Spielplatz, eine eigene Welt für sich.«

Sonntag, 13. Juni 1954.

»Gib das her!«

Die raue Stimme von hinten ließ Christa zusammenfahren. Beinah hätte sie das Marmeladenglas mit dem auffallend roten Schmetterling fallen lassen. Sie hatte ihren Großvater niemals zuvor so zornig gesehen.

»Gib das Glas her, Christa!«, herrschte er sie an, die Stirn in Falten gelegt, den Mund zusammengekniffen – es war angsteinflößend.

Christa stand starr vor Schreck, da entriss ihr der Großvater das Marmeladenglas. Als er den Deckel öffnen wollte, kehrte das Leben in sie zurück. Blitzschnell griff Christa mit beiden Händen zu.

»Das ist mein Schmetterling, ich habe ihn gefangen!«, rief sie mit aller Widerborstigkeit, derer sie trotz ihrer Angst fähig war.

Sie drückte das Glas an sich und lief auf das Haus zu, wo ihre Großmutter in der Hintertür erschienen war. Erwachsene waren stärker als Kinder, und deshalb, das war ihr klar, brauchte sie einen anderen Erwachsenen als Verbündeten. Sie flüchtete sich in die schützenden Arme der Großmutter und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Großmutters Hand strich tröstend über Christas Hinterkopf, und sie sagte mit sanfter Stimme: »Dein Großvater hat es nicht böse gemeint.«

Christa schaute über die Schulter zu ihrem Großvater, der jetzt hinter ihr stand. Er schien nicht länger wütend, sondern vielmehr erschrocken über sich selbst – und vielleicht sogar ein bisschen traurig.

Trotzdem krampften sich ihre kleinen Hände noch fester um das Glas, als sie ihre Großmutter schluchzend fragte: »Warum hat er mich dann angeschrien? Es ist doch nur ein Schmetterling.«

»Nein, es ist nicht nur ein Schmetterling.« Ihre Großmutter blickte andächtig auf das gefangene Insekt, das reglos auf dem Boden des Glases saß. »Es ist vielleicht die Seele eines Menschen, eine tapfere Seele. Wenn ich dir seine Geschichte erzähle, wirst du es verstehen.«

»Die Seele eines Menschen?«, wiederholte Christa ungläubig und vergaß dabei ihre Tränen.

Die Großmutter nickte. »Er war sehr stark, und das musste er auch sein, weil er viel zu erdulden hatte. Sein Name war Erich …«

Erster Teil

Ankunft in Tsingtau

1

September 1908.

Die Luft in China roch nach Honig, süß und verlockend, zugleich fremd und geheimnisvoll. Der Wind, der von den Bergen herüberwehte, sang ein Lied, das von fernen Ländern und unbekannten Gebräuchen erzählte – und von neuen, aufregenden Erfahrungen. Amelie, die an Deck des Postdampfers stand und auf die vor ihr liegende Bucht hinausblickte, lauschte andächtig jeder Strophe dieses Liedes, jeder Zeile und jedem Wort. Ihr war, als müssten alle Passagiere an Bord der Goeben, die zum ersten Mal diese fremde Küste erblickten, ebenso ergriffen sein wie sie selbst. Aber auf viele ihrer Mitreisenden, die das breite Promenadendeck bevölkerten, schien die Bucht von Kiautschou keinen besonderen Eindruck zu machen. Männer und Frauen in überwiegend heller, leichter Kleidung sahen nur beiläufig auf das hinüber, was doch ihre neue Heimat sein sollte, und ergingen sich dabei in munterem Geplauder, wie sie es die ganze Überfahrt hinweg getan hatten. Amelie achtete nicht weiter auf die Menschen um sie herum. Sie konzentrierte sich ganz auf das wundervolle Lied, das mit jeder Brise erklang, die durch ihre dunkelblonden Locken wehte, und das einen verheißungsvollen Namen trug: China!

Sie hatte in den vergangenen Monaten viel über dieses fremde, große Land gelesen; alles, was ihr in die Finger gekommen war. Reiseberichte, geografische Beschreibungen, Erzählungen aus dem Boxerkrieg, einfach alles, aber das hatte ihre Wissbegier nicht gestillt. Im Gegenteil, ihre ohnehin rege Phantasie war durch all das Gelesene noch befeuert worden, und sie war zum Bersten neugierig auf jenes Land, in dem die Männer lange Zöpfe trugen, in dem die Frauen als begehrenswert galten, wenn sie ihre Füße zusammenbanden, sodass sie kaum laufen konnten, und in dem die Menschen sogar ihr Gesicht verlieren konnten.

Und sie hatte alle Landkarten studiert, derer sie habhaft werden konnte. Die Geografie dieser Region stand ihr so deutlich vor Augen wie vielleicht sonst nur den Seeoffizieren auf der Brücke des großen Dampfers. Das deutsche Pachtgebiet Kiautschou mit der Hafenstadt Tsingtau lag in der chinesischen Provinz Schantung, die wie ein ausgestreckter Finger ins Gelbe Meer hineinzeigte, ungefähr fünfhundert Kilometersüdöstlich der chinesischen Hauptstadt Peking und sechshundert Kilometer nördlich von Schanghai, das die Goeben gestern verlassen hatte. Nur kurz dachte sie an diesen letzten Zwischenhalt zurück. So stark der Eindruck auch gewesen war, den die umtriebige Handelsstadt an der Mündung des Jangtsekiang auf Amelie gemacht hatte, jetzt waren ihre Gedanken ganz und gar auf Tsingtau gerichtet, auf ihre neue Heimat.

Der Reichspostdampfer hatte in langsamer Fahrt die kleinen vorgelagerten Felsinseln passiert. Dann lief er durch eine schmale Einfahrt in die große Kiautschou-Bucht ein und umrundete zur Rechten – oder an Steuerbord, wie man auf See sagte – eine Landzunge, auf der eine Geschützbatterie über die Einfahrt wachte. Dahinter war ein Hafenbecken zu erspähen, und eine helle Stimme hinter Amelie sagte: »Da legen wir gleich an, endlich!«

Die Stimme gehörte ihrer Schwester Helene, die nun auch an Deck gekommen war, aber ein Stück von der Reling entfernt blieb, als fürchte sie, bei all dem Gedränge ins Wasser gestoßen zu werden.

»Da legen wir nicht an«, beschied Amelie, als könne sie darüber bestimmen. »Das ist der Kleine Hafen, in dem vorzugsweise die Chinesen mit ihren kleinen Booten anlegen. Wir steuern den Großen Hafen an, dort.«

Sie streckte den rechten Arm aus und zeigte voraus, nach Norden.

»Woher weißt du das alles?«, staunte Helene.

»Aus Büchern, woher sonst«, sagte Amelie, ohne ihre Schwester anzusehen.

Eine andere Stimme erklang hinter ihr, es war die ihrer Mutter: »Du solltest nicht so viel lesen, Amelie. Das verdirbt die Augen und verwirrt den Verstand. Und wenn überhaupt, dann nimm dir lieber Bücher für junge Damen vor!«

»Welche denn?«, fragte Amelie müde. »Etwa Marlitt, Werner und Heimburg?«

»Warum nicht, keine schlechte Wahl«, befand ihre Mutter.

Obwohl sie diese Autorinnen auch schon gelesen hatte, seufzte Amelie leise: »Dann lieber Karl May.« Ihr war mehr nach Exotik und Abenteuern als nach schwülstigen Liebesgeschichten zumute, während sie den Großen Hafen betrachtete, auf den die Goeben jetzt zulief.

Dort lagen etliche Schiffe vor Anker, längst nicht alle so groß wie der einlaufende Reichspostdampfer, der zur Feldherren-Klasse des Norddeutschen Lloyd gehörte. Überall wurde gearbeitet, wurde Fracht verstaut oder gelöscht, besserten schwielige Hände Schiffsteile aus, wurden Güterwaggons be- oder entladen. Ein Teil der Fracht, die sich im Hafen in Kisten und Fässern ohne Ende stapelte, war wohl für die Goeben bestimmt, für Yokohama oder Schanghai, für Genua oder Bremerhaven. Amelies Blick glitt über die Dächer der großen Lagerhallen und Hafengebäude hinweg, über die qualmenden Schornsteine der Fabriken und Werkstätten zu den landeinwärts auf höherem Gelände erbauten Villen, die ebenso gut in Berlin hätten stehen können. Dahinter erhoben sich die Berge, die im Licht der allmählich sinkenden Sonne rotgrau schimmerten. Sie hatte sich die Anhöhen viel grüner vorgestellt, bedeutete der Name Tsingtau auf Deutsch doch Grüne Insel. Aber das konnte ihren Enthusiasmus nicht schmälern. Sie hoffte, spürte, wusste, dass sie sich hier wohlfühlen würde. Ab heute hieß ihre Heimatstadt nicht länger Berlin, sondern Tsingtau.

»Wie viele Menschen hier wohl leben?«, überlegte Helene laut.

»Fast sechzigtausend«, sagte Amelie, ohne eine Sekunde nachdenken zu müssen.

»Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass sich so viele Deutsche hier angesiedelt haben.«

»Haben sie ja auch nicht. Die meisten sind selbstverständlich Chinesen, dazu kommen ungefähr dreieinhalbtausend Deutsche, das hier stationierte Militär eingerechnet, und einige andere Fremdstämmige: Briten, Franzosen, Russen, Japaner und so weiter.«

»Ah, das wusste ich nicht«, sagte Helene fast ein wenig entschuldigend.

»Das muss man auch nicht wissen«, meinte ihre Mutter. »Schließlich kann man es jederzeit in Büchern nachlesen.«

»Jedenfalls, solange man sich dabei nicht die Augen verdirbt«, murmelte Amelie so leise, dass niemand sonst es verstehen konnte.

Manchmal fragte sie sich, ob ihre Mutter wirklich alles so meinte, wie sie es sagte. Aber wenn sie dann länger darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass es nicht anders sein konnte.

Für Hedwig Kindler war die Welt ein festes Gefüge, und alles hatte gefälligst so zu bleiben, wie es schon immer gewesen war. Frauen hatten in ihren Augen nur eine Bestimmung: zu heiraten, dem Ehemann möglichst viele Kinder zu schenken und für die Familie zu sorgen. Ihre Lektüre hatte aus Kochbüchern und Fibeln zur besseren Haushaltsführung zu bestehen, zur Erbauung durfte es allenfalls noch Die Gartenlaube oder ein ähnlich harmloses Familienblatt sein. Amelie fragte sich, ob sich Mutter in Tsingtau eingewöhnen würde. Auch wenn im deutschen Pachtgebiet deutsche Regeln das Leben bestimmten, würde doch gewiss einiges anders sein als zu Hause.

Amelies Mutter ahnte das zumindest, und nur widerstrebend hatte sie mit ihren beiden Töchtern die Reise angetreten. Aber das Geschäft, das Heinrich Kindler und sein Sohn Fritz aufgebaut hatten, florierte, und so hatte Vater beschlossen, den Rest der Familie nachzuholen. »In Tsingtau werdet ihr ein ganz neues Leben finden, meine Lieben«, hatte in seinem letzten Brief gestanden, doch Mutter hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Was sollen wir mit einem neuen Leben? An dem jetzigen gibt es doch nichts auszusetzen.« Sie hatte in einem Eilbrief an Vater darauf bestanden, die Villa am Wannsee noch eine Weile zu behalten »für den Fall, dass es uns in China doch nicht gefällt. Wir müssen erst einmal schauen, Heinrich, ob es wirklich etwas für die Mädchen ist. Sie müssen schließlich eine gute Partie machen, und dort gibt es ja wohl hauptsächlich Chinesen.«

Vermutlich war Amelie die Einzige der drei weiblichen Familienmitglieder, die sich aus vollem Herzen auf China freute. Und jetzt, während des Anlegemanövers, das kein Ende nehmen wollte, wurde sie regelrecht ungeduldig.

An Land versammelten sich mehr und mehr Menschen, im Hintergrund waren es viele Chinesen in ihren zumeist blauen oder schwarzen Kleidern, im Vordergrund eher Europäer, wohl überwiegend Deutsche, die auf Besuch, Nachrichten oder Fracht aus der Heimat warteten. Vergeblich hielt sie nach Vater und Bruder Ausschau. Stattdessen erspähte sie eine Militärkapelle, die mit flottem Schritt aufmarschierte und auch schon begann, zur Begrüßung des Postdampfers Das Wandern ist des Müllers Lust zu spielen. Warum der Kapellmeister ausgerechnet dieses Lied ausgewählt hatte, erschloss sich Amelie nicht. So laut das Blech der tüchtigen Musikanten auch tönte, gegen das hundertfache Stimmengewirr aus Zurufen und Kommandos, das lang gezogene ›Tuut-Tuut‹ der Schiffssirenen, das Rasseln von Ketten und das Fauchen von Dampfwinden kam es nicht an. Amelie konnte nicht anders, als über die Bemühungen der Musiker, denen aufgrund der großen Hitze bald dicker Schweiß auf die geröteten Stirnflächen trat, zu lachen.

Als die Goeben schließlich fest angelegt hatte, konnte sie gar nicht früh genug an Land gelangen. Männer, Frauen und Kinder strömten in einem unablässigen Drängeln zu den Gangways, und Amelie war mittendrin. Dabei hätten jene Passagiere, die schon in Bremerhaven an Bord gegangen waren und folglich geschlagene eineinhalb Monate auf See verbracht hatten, es noch eiliger haben müssen als sie. Die Kindlers hatten den Hauptteil ihres Gepäcks in Bremerhaven an Bord schaffen lassen, waren selbst aber mit der Eisenbahn nach Genua gefahren und erst dort zugestiegen, was die Reisezeit um zwei Wochen verkürzte. Doch ein ganzer Monat mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einer Vierbettkabine der zweiten Klasse genügten ihr voll und ganz, auch wenn das vierte Bett – zum Glück – nicht belegt gewesen war und ein Steward ihr versichert hatte, dass die entsprechenden Kabinen auf anderen Schiffen viel enger seien.

Während Amelie unablässig nach vorn drängte, um endlich mehr von dieser neuen Welt zu sehen, hatten ihre Mutter und Helene alle Mühe, nicht den Anschluss an sie zu verlieren. Mehrmals hörte sie hinter sich Mutters schrille Stimme, die ihren Namen rief, aber mitten in dem großen Menschenstrom war ein Anhalten und Warten gar nicht möglich. Erst an der Einreise- und Zollkontrolle löste sich das Gewirr langsam auf, was Helene und Mutter nutzten, um zu ihr aufzuschließen. Mutter sagte etwas, das sich vorwurfsvoll anhörte, aber Amelie achtete nicht darauf, denn jenseits des Kontrollpunkts hatte sie zwei bekannte Gesichter entdeckt: Vater und Fritz. Fritz winkte ihnen eher verhalten zu, aber Heinrich Kindler strahlte über sein ganzes Vollmondgesicht, zwirbelte die Spitzen seines Kaiser-Wilhelm-Barts und rief ihnen aus Leibeskräften etwas zu, das aber im allgemeinen Gelärm unterging.

Dann waren sie endlich vereint. Hände wurden kräftig geschüttelt, Amelie und Helene küssten Vater und Bruder auf die Wangen, und Heinrich Kindler drückte seine Frau an sich, um sie vom Boden hochzuheben und sich einmal im Kreis mit ihr zu drehen.

»Lass das, Heinrich!«, ermahnte Mutter. »Uns können doch all die Leute hier sehen!«

»Ja, das können sie wohl«, lachte Vater und hielt sie noch immer hoch. »Aber die sind mit sich selbst beschäftigt.«

Er setzte seine Frau ab, die aufatmete und ihr verrutschtes Tropenkleid glattstrich. Heinrich Kindler legte ihr derweil mit einer Geschicklichkeit, die man ihm angesichts seiner leicht korpulenten Statur und seiner kräftigen Hände kaum zugetraut hätte, eine silberne Kette mit einem grünen Anhänger um den Hals.

»Was ist das?«

»Ein Begrüßungsgeschenk für dich, Hedwiglein. Der Anhänger ist aus Jade, dem die Chinesen heilende Kräfte zuschreiben.«

Amelies Mutter sah ihren Mann besorgt an. »Ich hoffe doch sehr, es gibt hier deutsche Ärzte.«

»Aber ja, und auch deutsche Krankenhäuser und deutsche Apotheken.«

Das beruhigte sie, und sie betrachtete den kleinen Anhänger. »Das ist ja eine Ziege.«

Heinrich Kindler nickte. »Weil du im Jahr der Ziege geboren bist, Hedwiglein. Sieh es nicht als persönliche Anspielung. Wer im Jahr der Ziege geboren ist, gilt in China als besonders charmant.«

»Na dann«, sagte Mutter nur.

Auch Helene hängte der Vater einen Jadeanhänger um, einen Hund, und er erklärte ihr: »Wer im Jahr des Hundes auf die Welt kam, wird hierzulande als sehr klug, gewissenhaft und vertrauenswürdig angesehen.«

Das passte zu ihrer stets zurückhaltenden, in sich gekehrten Schwester, fand Amelie, aber da war sie auch schon selbst an der Reihe, und ihr Vater legte ihr eine Kette mit einem Affen aus Jade um.

»Und welche Eigenschaften habe ich, wenn es nach den Chinesen geht?«

»Du bist kreativ und großzügig, und es fällt dir schwer, deine Gefühle zu verbergen.« Ihr Vater tippte mit der Fingerspitze auf Amelies Nase. »Und das nicht nur, wenn es nach den Chinesen geht. Ach ja, und du bist schnell verliebt.«

Amelie hielt die Figur in ihrer Handfläche und betrachtete sie eingehend. »Obwohl der Affe so klein ist, sieht er sehr natürlich aus, beinah lebendig.«

Ihr Vater nickte eifrig. »Jen Bo ist ein echter Künstler auf seinem Gebiet. Die Figuren sind Unikate, eigens für euch angefertigt. Auf der Rückseite hat er eure Namen eingraviert.«

Amelie drehte den Affen um und las ihren in winzig kleinen Buchstaben geschriebenen Vornamen.

Auch Mutter hatte die Rückseite ihres Anhängers angesehen. »Das ist so klein, das kann man kaum lesen. Immerhin scheint dieser Jen Irgendwas die deutschen Namen zu kennen.«

»Mehr oder weniger«, lachte Heinrich Kindler. »Sagen wir, er gibt sich Mühe. Sicherheitshalber habe ich ihm eure Namen sehr deutlich aufgeschrieben. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, dass er gute Arbeit leistet.«

»Wieso ist das wichtig?«, fragte Mutter.

Fritz gab die Antwort: »Weil wir den Jadeschmuck nach Deutschland exportieren wollen, wir versprechen uns sehr viel davon.«

»Reden wir jetzt nicht übers Geschäft, dafür ist noch Zeit genug«, winkte Vater ab. »Ihr seid bestimmt neugierig auf unser Haus und vielleicht auch hungrig. Lasst uns aufbrechen!«

»Und unser Gepäck?«, fragte Mutter mit einem zweifelnden Blick auf das Gewimmel aus Europäern und Asiaten rund um die Goeben.

»Darum wird sich Fritz kümmern, er kommt dann später nach. Nicht wahr, Fritz?«

Amelies Bruder grinste und salutierte übertrieben. »Jawoll, Herr Papa!«

»Kindskopf«, murmelte Vater, bevor er Frau und Töchter durch die Menge bugsierte.

Einige Herren zogen den Hut vor ihnen und grüßten, was Heinrich Kindler manchmal mit ein paar kurzen Worten, oft aber auch nur mit einem knappen Kopfnicken quittierte.

»Du scheinst hier viele Bekannte zu haben, Heinrich«, sagte Mutter.

»Die meisten meinen nicht mich, sondern unsere beiden Schönheiten. Deutsche Frauen sind in Tsingtau nämlich Mangelware.«

»Oh«, erwiderte Mutter lediglich, aber es genügte Amelie, um einen erfreuten Unterton herauszuhören. Wenn es nach Mutter ging, gehörte Amelie mit ihren zweiundzwanzig Jahren schleunigst unter die Haube, und für die drei Jahre jüngere Helene wurde es auch langsam Zeit. Da ließ Mutter nicht mit sich reden. Und wenn Amelie einzuwenden wagte, dass Fritz fünf Jahre älter sei als sie und auch noch nicht verheiratet, hieß es bloß: »Bei Fritz ist das etwas anderes, er ist ein Mann.«

Heinrich Kindler führte seine Familie zu einem großen Platz voller zweirädriger droschkenähnlicher Karren, die meisten von ihnen so klein, dass nicht mehr als eine Person darin sitzen konnte. Zugtiere suchte man vergebens. Etliche Chinesen standen auf dem Platz und überboten einander an lauten Zurufen. Amelie begriff schnell, dass die Chinesen auf Kundenfang waren. Ihr Vater winkte vier von ihnen zu sich heran.

»Wollen wir etwa damit fahren?«, fragte Mutter zweifelnd. »Die Droschken haben ja gar keine Pferde!«

»Die Kulis sind Kutscher und Zugtier zugleich.«

»Und es sind keine Droschken, sondern Rikschas«, ergänzte Amelie, die Abbildungen solcher kleiner Wagen in einem Band mit Fotografien aus dem Fernen Osten gesehen hatte.

Auch wenn Mutter sich etwas zierte, bald saß jeder von ihnen in einer Rikscha, und die bezopften Männer, von denen sie gezogen wurden, suchten sich mit erstaunlicher Wendigkeit einen Weg durch die Reisenden, die Empfangskomitees und die Chinesen, die das Gepäck der Ankömmlinge trugen oder auf klobigen Schubkarren transportierten. Mutter und Helene hätten wohl, ihren verkniffenen Gesichtern nach zu urteilen, eine Pferdedroschke vorgezogen. Amelie hingegen genoss die Fahrt sehr. Diese neue, unbekannte Art der Fortbewegung erschien ihr die einzig angemessene in diesem neuen, unbekannten Land.

Sie befanden sich noch im Hafenviertel, rechts von ihnen die Kaianlagen und dahinter die vor Anker liegenden Schiffe, links die endlosen Reihen der Lagerhäuser, zwischen denen Dutzende und Aberdutzende Kulis, beladen mit Kisten, Paketen und Fässern, wie große Ameisen hin und her liefen, als vor ihnen ein Unfall geschah. Die vorderste Rikscha, in der Heinrich Kindler saß, geriet ins Schlingern, weil direkt vor ihr ein mit mehreren Kisten beladener Schubkarren umstürzte. Die Bänder, mit denen die Kisten festgezurrt waren, rissen, und die Fracht fiel polternd auf den Fahrweg. Eine Kiste zerplatzte beim Aufprall, und ihr Inhalt verteilte sich auf dem schmutzigen Boden. Es waren kleine, einfache Schuhe, wie sie wohl von den Chinesinnen oder von einheimischen Kindern getragen wurden.

Trotz aller Anstrengungen, die der vorderste Rikschaläufer unternahm, um sein Gefährt vor einem Umkippen zu bewahren, fiel sein Passagier schließlich heraus und landete inmitten der Schuhe. Das Bild ihres Vaters, der wie ein auf den Rücken gefallener Riesenkäfer zwischen all den Schuhen lag und mit Armen und Beinen strampelte, war so komisch, dass Amelie ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Mutter warf ihr einen tadelnden Blick zu, bevor sie sich ihrem Mann zuwandte und ihn fragte, ob er sich etwas getan habe. Der rappelte sich mithilfe des untröstlichen Fahrers auf, klopfte seinen hellen Baumwollanzug ab und versicherte, dass es ihm gut gehe.

Aus dem Schatten eines Vorbaus war ein alter Chinese getreten, den Rücken leicht gebeugt, das Gesicht von tausend Falten durchzogen und von einem grauen Bart geziert, dessen wenige Haare rund um den Mund und am Kinn wie die Borsten einer Drahtbürste abstanden. Er hielt auf die hinterste Rikscha zu, in der Amelie saß, und sagte in einem hellen Singsang: »Junge Frau aus Deutschland ist neu in meinem Land.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ja, ich bin eben erst mit dem Postdampfer angekommen«, sagte Amelie, weniger überrascht als gebannt von der seltsamen Ausstrahlung des Fremden. Seine schmalen Augen, die fast schwarz waren, blickten derart intensiv, dass sie meinte, er könne ihre Gedanken lesen.

Er streckte seine großen, knöchrigen Hände nach ihr aus. »Du zeigst mir deine Hände, ich sage dir deine Zukunft.«

Ein Wahrsager also, dachte Amelie, mittlerweile leicht amüsiert. Einer, der den Neuankömmlingen auflauerte, um ihnen zu erzählen, sie würden in Tsingtau Glück und Reichtum finden. Vielleicht war der Unfall mit dem Schubkarren sogar inszeniert gewesen, damit der alte Chinese an seine Kundschaft kam. Und doch, obwohl die Situation gegen ihn sprach, wirkte er auf sie nicht wie ein billiger Gaukler. Seine verblichene Kleidung war alt und mehrfach geflickt, aber sie war ebenso sauber wie seine Hände und sein Gesicht. Fast wie unter einem hypnotischen Bann streckte sie ihre Hände aus. Der Chinese nahm sie, drehte die Handflächen nach oben und betrachtete sie eingehend.

Schließlich öffneten sich die Lippen zwischen den grauen Bartfäden, und er sagte: »Du bist nach Tsingtau gekommen, um hier das zu finden, was dir fehlt in deinem Land. Dein Haus dort ist voller schöner Dinge, aber dein Herz ist leer. Hier wird dein Herz voll sein und im Einklang mit dem eines Mannes schlagen.« Wahrscheinlich war das die Prophezeiung, die er jeder jungen Frau machte, und sie wollte ihre Hände schon enttäuscht zurückziehen, doch er hielt sie mit sanfter Gewalt fest. »Aber sei auf der Hut, Tochter des Affen. Der helle Tag ist nicht ohne die finstere Nacht, der warme Sommer ist nicht ohne den kalten Winter, und die Glück bringende Liebe ist nicht ohne den Verderben bringenden Hass. Sei auf der Hut vor dem Hass, denn er wird dich verfolgen!«

Der alte Chinese sprach mit solchem Ernst, mit so großer Eindringlichkeit, dass Amelie erschrocken ihre Hände zurückriss. Sie starrte den Mann fragend an, aber er schien sich keinen Spaß mit ihr zu erlauben. Im Gegenteil, in seinen dunklen Augen las sie tiefe Besorgnis.

Amelies Vater war hinzugekommen, drängte den Chinesen von der Rikscha weg und drückte ihm eine silberne Münze in die Hand, einen mexikanischen Peso, der in Tsingtau und ganz China unter der Bezeichnung ›Silberdollar‹ ein beliebtes Zahlungsmittel war. »Nimm das, aber jetzt lass uns in Ruhe, alter Mann!« Heinrich Kindler blickte seine Familie und die Rikschaläufer an. »Wir fahren weiter.«

Die Fahrbahn vor ihnen war inzwischen freigeräumt. Vater nahm wieder in der vordersten Rikscha Platz, und schon setzten sich die Kulis in Bewegung. Amelie schaute sich nach dem alten Chinesen um, aber er war nicht mehr zu sehen. Vermutlich hatte der Schatten des Vorbaus ihn verschluckt. Sie versuchte, nicht mehr an seine Worte zu denken, doch es wollte ihr nicht gelingen. Die Weissagung lag über ihrer eben noch so heiteren Ankunft in Tsingtau wie ein bedrohlicher Schatten.

2

Die kleine Rikschakolonne verließ den betriebsamen Hafen, hielt sich landeinwärts und fuhr durch ein hauptsächlich von Chinesen besiedeltes Gebiet. Die Straßen waren breit und gerade wie in deutschen Städten, der Baustil teils europäisch, teils asiatisch. Die überwiegend zweigeschossigen Gebäude schienen zugleich Wohn- und Geschäftshäuser zu sein. Unter den gestreiften Markisen hockten die chinesischen Schneider, Schuster und Barbiere, die Verkäufer von Seiden, Stickereien und Kuriositäten allerdings im Freien. Einige blickten kurz zu den Rikschas auf, widmeten sich aber rasch wieder ihrer Arbeit, sobald sie erkannten, dass hier kein Geschäft zu machen war.

Heinrich Kindler ließ die Rikschas anhalten, stieg aus und erklärte: »Wir sind in der Schantungstraße, mitten im Chinesenviertel Tapautau. Um die dreißigtausend Chinesen leben hier, die meisten von ihnen sehr fleißig, wie man sieht. Man muss sie nur ordentlich anleiten.«

Amelie deutete auf einen kleinen Asiaten, der kurz geschorenes Haar und einen Anzug europäischen Zuschnitts trug. Er wartete vor einem Uhrmacherladen offenbar auf Kundschaft. »Ist das da ein Japaner? Ich habe gehört, hier sollen sich viele von ihnen niedergelassen haben.«

Vater sah kurz zu dem Mann hinüber. »Ein Japaner, ganz recht, mein Kind. Man findet hier auch einige Inder und Koreaner.«

Der Uhrmacher hatte das Interesse der Deutschen bemerkt und rief zu ihnen herüber: »Der Herr will kaufen schöne Uhren für seine schönen Frauen?«

Vater schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, heute nicht.« Zu den Seinen gewandt, fügte er leiser hinzu: »Nicht minder geschäftstüchtig als die Chinesen, diese Japaner. Klein, aber zäh. Sie kommen gern hierher, wissen sie doch, dass unter deutscher Ordnung alles prächtig wächst und gedeiht. Japan hätte auf diesem herrlichen Flecken Land gern eine eigene Niederlassung errichtet, aber wir Deutschen waren eben fixer.«

Sie fuhren weiter und ließen das Chinesenviertel hinter sich, was Amelie auch an den Straßenschildern ablesen konnte. Die Schantungstraße ging in die Friedrichstraße über, und diese wurde von Straßen mit Namen wie Bremer Straße, Berliner Straße und Kronprinzenstraße gekreuzt. Hier gab es nur wenige Chinesen, Dienstboten zumeist, und alles wirkte so deutsch, dass Amelie sich für einen Augenblick in Berlin wähnte und glaubte, die Reise nach Tsingtau nur geträumt zu haben. Vater grüßte hin und wieder einen Passanten, bis er plötzlich erneut anhalten ließ und ausstieg.

Den Anlass gab ein großer, breitschultriger Mann im hellbraunen Leinenanzug, dessen untere Gesichtshälfte von einem auffallend roten Bart verdeckt wurde. Die beiden begrüßten sich sehr herzlich, und Vater sagte anschließend: »Wilhelm, darf ich dir meine Frau und meine Töchter vorstellen? Sie sind eben mit dem Postdampfer eingetroffen.«

Der Mann trat zu ihnen, verbeugte sich und zog den Hut. Auf dem Kopf war er fast kahl, nur ein spärlicher Haarkranz war übriggeblieben. Der war von einem ähnlich kräftigen Rot wie der Bart, an vielen Stellen mit grauen Flecken gesprenkelt.

»Das ist Wilhelm Schweiger, ein guter Freund und tüchtiger Geschäftsmann«, erklärte Heinrich Kindler.

»Willkommen, meine Damen, willkommen in Tsingtau, der Perle am Gelben Meer«, sprudelte es aus einem enthusiastischen Wilhelm Schweiger hervor. »Einer Perle, die durch Ihre Anwesenheit noch mehr Glanz erhält. Sie müssen mit diesem Glanz unbedingt auch mein Haus erhellen. Heinrich, wie wäre es gleich morgen zum Abendessen, die Damen, Fritz und du?«

»Sehr gern.«

»Dann ist es abgemacht, fein, wunderbar.« Schweiger strahlte über das ganze Gesicht, verbeugte sich noch einmal vor Amelie, Helene und ihrer Mutter und ging dann seines Wegs.

Während Amelie ihm noch amüsiert hinterhersah, sagte Mutter: »Du lieber Himmel, Heinrich, ist der Mann wirklich ein Freund?«

»Ist er, und ein erfolgreicher Geschäftsmann noch dazu. Seine Firma Schweiger & Sohn beliefert das hier stationierte Militär und macht dabei hervorragende Geschäfte. Ich würde mich sehr gern daran beteiligen. Also zieht morgen Abend eure schönsten Kleider an.«

»Schweiger & Sohn?«, wiederholte Mutter.

»Der Sohn heißt Erich und ist unverheiratet.«

Hedwig Kindler lächelte von einer Sekunde zur anderen. »Ich freue mich schon sehr auf den morgigen Abend.«

Amelie zwinkerte ihrer Schwester zu und formte mit den Lippen die unhörbaren Worte: »Merkst du was?«

Helene, offenbar erschöpft von den Anstrengungen dieses Tages, nickte nur müde.

Die Fahrt ging weiter, und die Rikschas bogen nach links in die Prinz-Heinrich-Straße ein, fuhren an zahlreichen Geschäftshäusern und dem Postamt vorbei, bis Heinrich Kindler erneut das Zeichen zum Halten gab.

»Was ist denn nun schon wieder?«, fragte seine Frau. »Noch ein guter Freund?«

»Nein, aber unser Geschäft. Hier!«

Stolz zeigte er auf ein langgezogenes zweigeschossiges Haus, an dessen fast blütenweißer Fassade ein großes Schild mit der Aufschrift »Kindler Import & Export« prangte.

»Das sehen wir uns bei Gelegenheit an«, entschied Mutter. »Zeig uns jetzt bitte unser neues Heim, Heinrich, wir sind alle ein wenig müde.«

Etwas mürrisch gab Vater nach und wies die Rikschaläufer an, sich auf kürzestem Weg ins Villenviertel zu begeben, wo die wohlhabenden Europäer und ein paar Amerikaner wohnten. Die Bebauung wurde spärlicher, und zwischen den häufig in Hanglage errichteten Häusern standen Kiefern, Pappeln und Eichen. Viele der Bäume waren noch nicht sehr groß, offenbar befand sich das Gebiet im Zustand der Aufforstung. Die Fahrt endete vor einem zweistöckigen gelben Haus, das etwas abseits der Straße recht malerisch zwischen etlichen Kiefern stand, die fast schon einen kleinen Wald bildeten. Die Rikschaläufer zogen ihre Gefährte über den gepflegten Kiesweg, und bald las Amelie über der doppelflügeligen Eingangstür in großen gusseisernen Buchstaben »VILLA HEDWIG«.

»Na, Hedwiglein, ist das eine Überraschung?«, fragte Vater feixend. »Ich habe unser Haus nach dir benannt.«

Die Geehrte rang sich ein pflichtschuldiges Lächeln ab, während sie mit einem Spitzentaschentuch ihre Stirn betupfte. »Kommt mir das nur so vor, oder ist die Luft hier sehr feucht?«

Vater winkte ab. »Ach, das ist die Nachwirkung der Regenzeit, da ist es reichlich schwül. Aber es ist schon gar nicht mehr so schlimm, und bald wird die Luft noch besser werden. Tsingtau hat das gesündeste Klima von ganz China und ist ein beliebter Kur- und Badeort. Der Badestrand in der Auguste-Viktoria-Bucht liegt übrigens nicht weit von hier. Er ist sehr hübsch angelegt, ihr werdet ihn mögen.«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Mutter, während sie das Taschentuch sorgfältig zusammenlegte.

Als die Familie mithilfe der Kulis aus den Rikschas stieg, sah Amelie, dass die Villa mehrere Anbauten nach hinten heraus hatte und damit größer war, als sie zuerst angenommen hatte. Aus der Eingangstür traten drei Chinesen und stellten sich nebeneinander auf. Der älteste von ihnen war um die vierzig und hatte ein auffallend rundliches Gesicht. Der Mann neben ihm war etwa zehn Jahre jünger und zeichnete sich durch einen sehr kräftigen Körperbau aus. Der dritte Chinese war mit Abstand der jüngste und mochte fünfzehn oder sechzehn Jahre zählen. Er wirkte neben den beiden anderen eher schmächtig.

»Das ist unsere Dienerschaft«, sagte Vater, nachdem er die Rikschaläufer bezahlt hatte. »Fang De, der Koch und die gute Seele des Hauses« – ein Lächeln überzog das rundliche Gesicht –, »Lu Wei, unser Kuli für die schweren Arbeiten und den Garten« – der kräftige Chinese verneigte sich –, »und Jen Schi, unser Hausboy.« Der junge Chinese verneigte sich ebenfalls und murmelte in paar Worte, die Amelie nicht verstand.

Mutter schlug die Hände vor sich zusammen. »Mein Gott, was für Namen! Die kann sich doch niemand merken. Ich werde sie Franz, Ludwig und Jens nennen. Und wo sind die Mädchen, Heinrich?«

»Welche Mädchen?«

»Die Dienstmädchen.«

»Es gibt keine. Dienstbotinnen sind hierzulande nicht üblich, es sei denn als Amah.«

»Als was?«

»Als Kindermädchen.« Heinrich Kindler blickte seine Töchter an und fügte mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »Aber noch sind wir ja nicht so weit.«

»Und wer macht die Betten, wenn es keine Dienstmädchen gibt?«

»Jen Schi ist sehr fleißig, du wirst dich wundern.«

»Du meinst, er macht auch die Betten in unserem Schlafzimmer und in denen von Amelie und Helene?«

»Selbstverständlich, meine Liebe«, sagte Heinrich Kindler in jenem ihm zuweilen eigenen Tonfall, der zwar weiterhin freundlich klang, aber doch anzeigte, dass jegliche Diskussion beendet war. »Und jetzt hinein, damit ihr euer neues Heim bewundern könnt.«

Es war ein schönes Haus, das überwiegend europäisch ausgestattet war, dessen Einrichtung aber nicht ganz verleugnete, dass es in China stand. Immer wieder gab es asiatische Verzierungen, und Amelie, der das gut gefiel, beschloss insgeheim, ihr Zimmer nach und nach mit chinesischen Einrichtungsgegenständen auszustatten. Es lag neben Helenes Zimmer im Obergeschoss, und durch das große Fenster konnte sie, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ein wenig vorbeugte, einen Zipfel blauen Wassers sehen. Das musste die Auguste-Viktoria-Bucht sein, die Vater erwähnt hatte. Sie brannte darauf, die Bucht und den Badestrand zu erkunden. Kein Zweifel, sie würde sich hier wohlfühlen!

Als sie mit dem Rundgang durchs Haus fertig waren, stand Fritz in der Eingangshalle, und ein paar Kulis trugen das Reisegepäck, drei große Überseekoffer, herein.

»Das ist die erste Fuhre«, rief Fritz ihnen entgegen. »Das schwere Gepäck kommt wohl erst morgen. Du scheinst ja den halben Hausstand nach China eingeschifft zu haben, Mutter.«

»Du weißt besser als ich, was deutsche Waren hierzulande kosten, Fritz.«

»Da hast du allerdings recht, schließlich ist das unser täglich Brot«, lachte Fritz und wandte sich an Vater. »Apropos, Gleiches gilt für die Warenlieferung, die mit der Goeben für uns eingetroffen ist. Sie gehört zu dem Teil der Ladung, der zuletzt gelöscht wird. Ich habe veranlasst, dass man sie in unser Lagerhaus am Hafen bringt.«

Mutter wurde hellhörig. »Wir besitzen auch ein Lagerhaus am Hafen?«

»Das ist angemietet«, erklärte Vater.

»Sind das nicht unnötige Kosten, wo wir doch das Geschäftshaus in der Stadt haben?«

»Für einen reibungslosen Warenumschlag ist ein Lager am Hafen unumgänglich. Zusätzlicher Lagerraum kann außerdem niemals schaden. Platz hat man zu haben, hat mal ein weiser Mann gesagt. Überlass das Geschäftliche ruhig Fritz und mir, Hedwiglein, und kümmere du dich um Haus und Herd.«

»Das werde ich tun«, sagte Mutter und steuerte die Küche an. »Ich will doch mal sehen, wie weit Franz mit dem Abendessen ist.«

Franz, der ja eigentlich Fang De hieß, schien über dieses Eindringen in den Bereich, über den er bislang allein die Herrschaft ausgeübt hatte, alles andere als angetan. Jedenfalls machte er, als er gemeinsam mit Jen Schi das Essen servierte, ein missmutiges Gesicht.

Amelie ahnte nichts Gutes, als Mutter nach der deftigen Gemüsesuppe sagte: »Ich muss mit Franz dringend über die Verwendung der Gewürze reden.«

Später, als Amelie in ihrem neuen Bett lag, konnte sie einfach nicht einschlafen. Und das, obwohl ein langer Tag mit vielen neuen Eindrücken hinter ihr lag. Oder vielleicht gerade deshalb? Alles, was sie gesehen und gehört hatte, seitdem sie in Tsingtau an Land gegangen war, ging ihr im Kopf herum, und das meiste davon bestärkte die freudige Erwartung, die sie schon befallen hatte, bevor sie mit Helene und ihrer Mutter in Berlin in den Zug gestiegen war. Aber da war noch etwas anderes, etwas Düsteres, das jetzt, da die Ablenkungen des Tages sie nicht länger beanspruchten, in den Vordergrund trat. Noch einmal durchlebte sie die Szene am Hafen mit dem Wahrsager und hörte seine Worte: »Aber sei auf der Hut, Tochter des Affen. Der helle Tag ist nicht ohne die finstere Nacht, der warme Sommer ist nicht ohne den kalten Winter, und die Glück bringende Liebe ist nicht ohne den Verderben bringenden Hass. Sei auf der Hut vor dem Hass, denn er wird dich verfolgen!«

Wer sollte sie hassen und warum? Sosehr sie auch hin und her überlegte, sie konnte keinen rechten Sinn in den Worten finden. Aber gab es überhaupt einen? Oder war es hierzulande Sitte, dass die Wahrsager den Menschen Angst einjagten, so wie sie einem in Deutschland alles Glück dieser Erde versprachen? Doch das passte nicht zu dem seltsamen Ernst, den sie in den Augen des alten Mannes gesehen hatte. Es schien aufrichtige Anteilnahme an jenem Schicksal gewesen zu sein, das er in ihren Händen gesehen hatte. Oder das er angeblich gesehen hatte, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht war der Alte einfach überspannt gewesen.

Ihr war schrecklich warm, die Luft in ihrem Zimmer kam ihr auf einmal stickig vor, und das Nachthemd klebte an ihrem Leib. Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Mond schien hell genug, um ihr den Weg zu weisen. Sie stieß das Fenster auf und atmete die frische Luft in vollen Zügen ein.

Vergeblich spürte sie nach jenem Honigduft, den sie an Bord der Goeben wahrgenommen hatte, als der Wind von den Bergen Kiautschous zu ihr herübergeweht war. Jetzt kam der Wind vom Meer und roch nach Salz, so stark, dass sie es auf der Zunge zu schmecken glaubte. Der Wind frischte auf, beugte die Kiefern vor dem Haus und schlug einen Fensterflügel mit lautem Krach gegen den Rahmen. Für einen Augenblick glaubte sie, das Glas sei zersprungen, aber da hatte sie sich getäuscht.

Rasch schloss sie das Fenster wieder, nicht nur aus Vorsicht, sondern auch, weil ihr plötzlich kalt statt warm war. Sie spürte eine Gänsehaut auf ihren Oberarmen und wollte schnell zurück ins Bett huschen, da klopfte jemand leise an ihre Tür. Sie blieb stehen und lauschte. Es klopfte erneut.

»Ja?«, fragte sie halblaut.

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und im blassen Mondlicht erkannte sie das Gesicht ihrer Schwester, das ihrem eigenen so ähnlich war.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte Helene und flüsterte dabei fast.

»Ja, komm nur. Ich bin froh, dass du da bist.«

Helene, die einen Schlafrock übergezogen hatte, trat ein und schloss die Tür vorsichtig hinter sich. Als sie Amelie anblickte, wirkte sie besorgt: »Ich habe irgendetwas gehört und bin davon aufgewacht.«

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken. Ich hatte das Fenster geöffnet, weil mir zu warm war.«

»Ich finde es gar nicht so warm.«

»Ich jetzt auch nicht mehr.« Amelie zuckte mit den Schultern. »Ich kann einfach nicht einschlafen. Bleibst du ein bisschen bei mir?«

Helene nickte, streifte den Schlafrock ab und huschte zu Amelie unter die Bettdecke, ganz so, wie sie es als Kinder oft getan hatten. Die Anwesenheit der Schwester wirkte beruhigend auf Amelie.

Schon immer hatte sie eine größere Nähe zu Helene verspürt als zu ihrem Bruder Fritz. Vielleicht lag es daran, dass er ein Junge war, jetzt ein Mann. Vielleicht spielte auch der Altersunterschied eine Rolle, der fünf Jahre zu Fritz und nur drei zu Helene betrug. Zwei Jahre mehr oder weniger, das hörte sich zwar nicht dramatisch an, aber gerade in der Kindheit machte das viel aus. Der eigentliche Grund war aber wohl die Empfindsamkeit, die Helene zu eigen war, ihre Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen.

Fritz dagegen offenbarte seine Gefühle anderen gegenüber kaum, und er zeigte auch kein Mitgefühl für die Menschen um ihn herum. Amelie erinnerte sich noch gut an jenen Sommertag vor vielen Jahren, als sie noch nicht draußen am Wannsee, sondern mitten in Berlin gewohnt hatten. Der Nachbarsjunge und Spielkamerad Johannes König war von dem schweren Lieferwagen einer Brauerei angefahren worden. Sein linkes Bein wurde unter den Rädern regelrecht zermalmt und war danach nur noch eine unförmige Masse aus aufgerissenem blutigen Fleisch und Knochensplittern. Johannes hatte vor Schmerzen so laut geschrien, wie sie noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Starr vor Schreck hatten Amelie und Helene nur wenige Schritte entfernt gestanden und auf den armen Jungen gestarrt. Fritz aber, der kurz zuvor mit Johannes noch Streiche ausgeheckt hatte, hatte sich abgewandt und gesagt: »Lasst uns nach Hause gehen, ich habe Hunger.«

Eine ganze Weile lagen die Schwestern still nebeneinander, bis Helene unvermittelt fragte: »Liegt es an dem Wahrsager, dass du nicht schlafen kannst? Geht er dir nicht aus dem Kopf?«

»Ich muss immer und immer wieder an ihn denken. Es war wirklich unheimlich, findest du nicht?«

Helene überlegte kurz. »Ein guter Wahrsager muss überzeugend wirken, sonst ist er sein Geld nicht wert.«

»Der Chinese am Hafen wirkte mir zu überzeugend. Er war so ernsthaft, als er mich ansah.«

»Das wird er wohl lange genug geübt haben«, seufzte Helene.

»Aber warum sagt er mir so etwas Düsteres voraus, wenn alles nur Schwindel ist?«

»Was weiß ich.« Helene seufzte erneut. »Du hast doch all die Bücher über China gelesen. Vielleicht ist das hier so Sitte.«

»Ja, vielleicht.« Amelies Worte klangen wenig überzeugt, das merkte sie selbst, dabei hätte sie gern daran geglaubt. Etwas anderes kam ihr in den Sinn: »Der Chinese hat mich ›Tochter des Affen‹ genannt. Wie konnte er wissen, dass ich im Jahr des Affen geboren bin?«

»Er war zwar alt, aber nicht blind, und da hat er das hier gesehen.« Helene zeigte auf Amelies Silberkette mit dem Smaragdanhänger, die auf dem Nachttisch lag. »Lass uns den Vorfall einfach vergessen. Wir sollten lieber überlegen, womit wir den morgigen Tag verbringen.«

»Du meinst, bevor wir abends bei Herrn Perlenglanz-Willkommen-Willkommen eingeladen sind?« Ihre Schwester begann zu kichern, und Amelie fiel dankbar darin ein, bevor sie vorschlug: »Falls die Sonne scheint, sollten wir zum Badestrand gehen.«

»Das wäre schön. Aber Papa wird uns wohl das Geschäft zeigen wollen.«

»Wir sollten gleich beim Frühstück darauf drängen, dann haben wir es hinter uns und den restlichen Tag zum Baden.«

»Das ist eine gute Idee«, fand Helene.

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über Tsingtau, ohne noch einmal auf den Wahrsager zu sprechen zu kommen. Als Helene schließlich in ihr eigenes Zimmer zurückkehrte, fühlte sich Amelie wohler. Jetzt würde sie gewiss schlafen können. Dankbar kuschelte sie sich in das Kissen, das noch die Wärme ihrer Schwester ausstrahlte, und stellte sich vor, wie es morgen und an den folgenden Tagen sein würde, was sie und Helene unternehmen und sehen würden. Sie wurde müde, und die Bilder verschwammen vor ihrem inneren Auge, da klopfte es erneut an ihrer Tür.

»Komm nur herein, Helene«, rief sie halblaut. »Kannst etwa du jetzt nicht schlafen?«

Die Tür wurde ganz langsam, fast Zentimeter um Zentimeter, aufgeschoben, und es war nicht Helene, die sich im Türspalt zeigte. Ein schmales, asiatisch geschnittenes Gesicht lugte herein, und Amelie setzte sich überrascht im Bett auf.

»Jen Schi! Was tust du hier?«

Der junge Chinese hätte um diese Zeit gar nicht mehr im Haupthaus sein dürfen. Die drei Dienstboten schliefen in einem rückwärtigen Anbau und hatten die Anweisung, sich nach Verrichtung aller Arbeiten für die Nacht dorthin zurückzuziehen.

Der Hausboy trat zögernd zwei Schritte näher, schloss lautlos die Tür und legte mahnend den Zeigefinger vor den Mund. »Fräulein Amelie, schimpfen Sie nicht mit mir«, sagte er in einem erstaunlich guten Deutsch. »Ich bin hergeschickt worden, um Sie zu holen.«

»Um – mich – zu – holen?«, wiederholte sie stockend, weil ihr die ganze Szene so unwirklich vorkam. »Jetzt, mitten in der Nacht?«

»Ja, Fräulein Amelie«, sagte Jen Schi ernst.

»Wer hat dich geschickt?«

»Ich kenne seinen Namen nicht. Er wartet im Garten auf Sie.«

»Ein Mann?«

Der Boy nickte.

»Ein Deutscher?«

»Nein, ein Chinese.«

»Was will er von mir?«

»Er will Sie sprechen, Fräulein Amelie. Mehr weiß ich nicht.«

»Ich kenne niemanden in Tsingtau. Fremde haben um diese Uhrzeit kaum etwas auf unserem Grundstück zu suchen. Warum hast du ihn nicht weggeschickt?«

Jen Schis schmale Augen weiteten sich, er schien allein bei diesem Gedanken zu erschrecken. »Ihn schickt man nicht weg.«

»Warum nicht?«

Er zog die Stirn kraus, schien nach den richtigen Worten zu suchen und schüttelte dann, als er sie nicht fand, einfach nur den Kopf.

Auch Amelie begann eifrig nachzudenken. Das Naheliegende wäre gewesen, Jen Schi fortzuschicken oder nach ihrem Vater und Fritz zu rufen. Aber sie fühlte sich nicht bedroht, spürte, dass der Boy nichts Böses plante. Doch traf das auch auf den Unbekannten zu, der ihn zu ihr gesandt hatte? Vielleicht war dieser Mann gar kein Unbekannter, schoss es ihr durch den Kopf, und dann stieg ein vager Verdacht in ihr auf.

Jen Schi bekräftigte ihre Vermutung, als er sagte: »Bitte, kommen Sie mit, Fräulein Amelie! Der Mann hat gesagt, ich soll unbedingt die Tochter des Affen zu ihm bringen.«

Jetzt ahnte, ja, wusste sie, wer der Mann war. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in Schlafrock und Pantoffeln und wollte schon mit dem Boy das Zimmer verlassen, da hielt sie inne, nahm die Silberkette von ihrem Nachttisch und legte sie um.

»Jetzt bring mich zu dem Mann, Jen Schi.«

Der Boy nickte und wirkte erleichtert. »Wir müssen leise sein und dürfen kein Licht anmachen.«

In ihren Filzpantoffeln ging Amelie ebenso leise wie der junge Chinese in seinen einfachen, gleichfalls mit Filz besohlten Schuhen. Sie hielt sich dicht hinter ihm, der sich auch bei dem wenigen Mondlicht, das durch die Fenster fiel, so sicher bewegte, als sei helllichter Tag. Entweder konnten die Chinesen im Dunkeln besser sehen als die Europäer oder er kannte sich hier hervorragend aus. Wahrscheinlich Letzteres, aber Amelie schloss auch die erste Annahme nicht aus. Sie befand sich in einer seltsamen Stimmung, in der sie wahrscheinlich sogar an Geister geglaubt hätte.

Jen Schi führte sie durch die Hintertür in den Garten. Der Rasen und die Beete mit Blumen, Gemüse und Kräutern schimmerten milchig im Mondlicht. Weiter hinten, wo die Kiefern eng zusammenstanden, war es dunkel. Und genau dorthin wies der Boy mit ausgestrecktem Arm.

»Da, Fräulein Amelie. Da wartet er auf Sie.«

Sie nickte leicht und ging langsam auf die Bäume zu. Etwas anderes kam ihr gar nicht in den Sinn. Es war, als handele sie unter dem Einfluss eines fremden Willens, der jede eigene Überlegung und Entscheidung ausschloss. Erst als sie die Kiefern fast erreicht hatte, kam ihr das Seltsame der Situation zu Bewusstsein. Sie fröstelte, als der Wind auffrischte, und zog den Schlafrock enger zusammen.

Wo war Jen Schi? Sie blieb stehen und blickte sich nach ihm um, aber er war verschwunden. Ihr Blick wanderte zu dem flachen Anbau, in dem die chinesischen Diener wohnten, aber auch dort konnte sie ihn nicht entdecken. Und nirgends brannte ein Licht.

Eine helle Stimme, die leise sprach und doch mit jedem Wort Aufmerksamkeit einforderte, drang an ihre Ohren: »Ich danke dir, dass du gekommen bist, Tochter des Affen. Du magst dich wundern, dass ich dich um diese Stunde zu mir bitte, ist das Licht des Mondes doch nur schwach und der Wind kühl, aber ich hatte keine Ruhe, auf den nächsten Tag zu warten. Oft ist das Warten eine Tugend, doch manchmal ist jede Stunde, die man wartet, auch eine Gelegenheit, die man vergibt. Wer kann sagen, was morgen ist, wo wir morgen sind, ob unsere Wege sich noch einmal kreuzen?«

Im Schatten der Kiefern stand der alte Chinese und blickte sie mit Augen an, die schwärzer erschienen als die Nacht.

Als die Stimme erklang, hatte Amelie sich erschrocken, aber jetzt riss sie sich zusammen und entgegnete: »Können Sie das nicht sagen? Ich dachte, Sie seien ein Wahrsager oder etwas in der Art.«

Er schien schwach zu lächeln. »Ich kann die Wege des Schicksals sehen, die Menschen beschreiten werden, aber meinen eigenen Weg sehe ich nicht. Darüber bin ich sehr froh. Übergroße Vorfreude kann einen Menschen ebenso vom rechten Weg abbringen wie die Furcht vor dem, was kommen wird. Seinem Schicksal entfliehen zu wollen, heißt, es herauszufordern.«

»Dann kann ich meinem Schicksal nicht entfliehen?«, fragte sie zögernd. »Dem Hass, von dem Sie am Hafen gesprochen haben?«

»Du musst keine Angst vor deinem Schicksal haben, auch nicht vor den Schatten, die es bereithält, denn es wartet genauso viel Licht auf dich. Das eine ist nicht ohne das andere.«

»Na, ich weiß nicht. Auf Schatten und Hass könnte ich gut verzichten.«

»Ein Leben nur voller Glück und Freude ist unmöglich, wäre es doch ein Leben in Eintönigkeit. Wer den Schatten nicht kennt, sieht nicht das Licht. Wer den Schmerz nicht kennt, labt sich nicht an der Linderung. Wer den Hass nicht kennt, kann die Liebe nicht spüren.«

»Soll mich das trösten? Sind Sie deshalb gekommen?«

»Ich bin gekommen, um dir das hier zu geben.«

Er trat auf Amelie zu und legte etwas Kleines, Metallisches in ihre rechte Hand. Sie drehte die Handfläche so, dass das Mondlicht darauf fiel, und erkannte eine silbrig schimmernde Münze mit dem Bild eines Adlers und dem Schriftzug ›estados unidos mexicanos‹ darum herum. Sie drehte die Münze um, und die andere Seite zeigte einen aus dem Himmel kommenden Strahlenkranz und darunter die Aufschrift ›un peso‹.

»Der mexikanische Dollar, den mein Vater Ihnen heute gegeben hat?«, fragte sie ungläubig.

Der Chinese nickte. »Du schuldest mir keinen Lohn, Tochter des Affen. Was du für mein Volk tun wirst, ist mehr als genug.«

»Wovon sprechen Sie? Was werde ich tun?«

»Gutes, viel Gutes. Du wirst eine wahre Freundin werden.«

»Ich hätte es gern ein bisschen genauer gewusst – und auch das mit dem Hass, der mich verfolgen wird.«

»Ich sehe nur gewisse Dinge, aber keine Einzelheiten. Nicht alles ist vorherbestimmt, und vieles hängt von deinen Entscheidungen ab. Hab keine Furcht, du wirst deinen Weg gehen!«

Damit drehte er sich um und schritt auf die Kiefern zu. Sie wollte ihn zurückhalten, hatte noch so viele Fragen, aber keine einzige kam über ihre Lippen. Sie wusste nicht einmal, wie sie ihn ansprechen sollte. Und dann, bevor sie auch nur eine einzige Silbe hervorbringen konnte, war er auch schon zwischen den Bäumen verschwunden, eins geworden mit den Schatten der Nacht.

Amelie starrte noch eine kleine Ewigkeit auf die Bäume, aber alles blieb ruhig. Nur die Zweige raschelten im Wind, und in der Ferne schrie eine Eule. Hieß es nicht, die Eule sei ein Teufelsvogel und ihr Schrei sei der Vorbote großen Unglücks? Sie schloss die rechte Hand fest um die Silbermünze und kehrte zum Haus zurück. Kurz bevor sie die Tür hinter sich schloss, erklang abermals der langgezogene Schrei der Eule.

3

Erst spät fand Amelie Schlaf, und auch dann schlief sie sehr unruhig, sah im Traum das Gesicht des alten Chinesen vor sich, und seine unwirklich schwarzen Augen starrten sie durchdringend an. War es eine Warnung? Sie verstand nicht, was er von ihr wollte.

Als das helle Morgenlicht sie weckte, fühlte sie sich kaum erholt. Die vergangene Nacht erschien ihr als ein untrennbares Geflecht aus Traum und Wirklichkeit.

Wirklichkeit? War sie tatsächlich nachts im Garten gewesen und hatte mit dem Wahrsager – oder was immer er auch sein mochte – gesprochen?

Sie schüttelte den Kopf, dass ihre schulterlangen Haare von einer Seite zur anderen wehten, und lachte leise in sich hinein. So ein Unsinn, natürlich war das alles nur ein Traum gewesen. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, da fiel ihr Blick auf ihre Pantoffeln, an denen Erde klebte, und auf die mexikanische Silbermünze, die auf ihrem Nachttisch lag.

Beim Frühstück sagte Mutter: »Amelie, du siehst gar nicht gut aus. Hast du schlecht geschlafen?«

Sie nickte müde. »Wahrscheinlich war ich noch zu aufgeregt von unserer Ankunft. All das Neue, das uns in Tsingtau erwartet, ist mir durch den Kopf gegangen.«

Amelie hatte beschlossen, ihren Eltern nichts von dem nächtlichen Ausflug in den Garten zu erzählen. Mutter hätte sich unnötig aufgeregt. Außerdem hätte es ernste Konsequenzen für den alten Chinesen bedeuten können, dass er nachts das Anwesen eines Europäers betreten hatte. Und auch für Jen Schi, der ihm, warum auch immer, geholfen hatte.

Der Hausboy ließ sich nichts anmerken, als er gemeinsam mit dem Koch das Frühstück auftrug, aber ihr fiel auf, dass er jeden Blickkontakt mit ihr vermied. Sie war froh, als Helene das Gespräch auf die Besichtigung des Geschäftshauses in der Prinz-Heinrich-Straße brachte und fragte, ob sie Vater und Fritz gleich nach dem Frühstück begleiten durften. Vater war einverstanden, aber Mutter wollte im Haus bleiben, »um den Haushalt ein wenig auf Vordermann zu bringen«. Amelie hoffte, dass die Dienstboten nicht zu sehr unter ihr zu leiden hatten.

Als sie aus dem Haus traten, verzogen sich die letzten Wolken, und die Sonne breitete ihre wärmenden Strahlen über das Villenviertel und ganz Tsingtau aus. Diesmal fuhren sie nur mit drei Rikschas. Die beiden Schwestern teilten sich ein Gefährt, was dem Kuli nichts auszumachen schien. Die drei Chinesen waren nicht die Einzigen, die ihre zweirädrigen Droschken in Richtung Geschäftsviertel zogen. Viele der wohlhabenden Europäer, die sich im Villenviertel niedergelassen hatten, waren in dieselbe Richtung unterwegs. Amelie genoss die Fahrt, die die meiste Zeit über an der Bucht entlangführte. Der Blick auf das blaugrün schimmernde Wasser mit den vielen Dampfbarkassen und chinesischen Dschunken, die geschäftig hin und her fuhren, lenkte sie von den Gedanken an die vergangene Nacht und den Wahrsager ab.

Bis Helene fragte: »Bist du nachts draußen gewesen?«

»Wie kommst du darauf?«, erwiderte Amelie vorsichtig.

»Heute Nacht war mir, als hätte ich Stimmen in deinem Zimmer gehört und Schritte auf dem Gang, aber dann dachte ich, es sei nur Einbildung gewesen oder ein Traum. Aber heute Morgen wurde ich sehr früh wach, von Geräuschen vor meiner Tür. Als ich vorsichtig durchs Schlüsselloch hinaussah, bemerkte ich den Boy, der den Fußboden auf dem Gang offenbar von Erdspuren reinigte.«

»Man merkt, dass du während der Reise fleißig Sherlock Holmes gelesen hast, Schwesterlein«, sagte Amelie und erzählte ihr nächtliches Abenteuer, so leise, dass Vater und Fritz in den Rikschas vor ihnen nichts davon mitbekommen konnten. »Aber behalt das alles für dich, sonst soll dich der Fluch der Baskervilles treffen!«

»Warum?«

»Ich möchte nicht, dass Jen Schi bestraft wird.«

»Weshalb wohl hat er dem Wahrsager geholfen?«

»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen, ohne eine Antwort zu finden. Vielleicht aus Respekt oder aus Furcht, obwohl mir der alte Chinese nicht böse erschien, eher wohlwollend.«

»Oder verrückt«, sagte Helene kopfschüttelnd. »Wer kommt schon auf den Einfall, einen fremden Menschen mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen, um ihm einen Silberdollar in die Hand zu drücken?«

»Jemand, der keine Schulden haben will«, erwiderte Amelie nachdenklich.

Sie fuhren auf dem Kaiser-Wilhelm-Ufer entlang, links die Bucht, rechts das Geschäftsviertel mit seinem regen Treiben. Immer mehr Lieferwagen kreuzten ihren Weg, dazu Lastträger und Kulis mit schwer beladenen Schubkarren. Dieser Teil Tsingtaus war längst zum Leben erwacht. Am Eingang von Kindler Import & Export wurden sie von einem kleinen, auffallend breitschultrigen Chinesen begrüßt, der Chin Li hieß und dessen Stellung irgendwo zwischen Wachmann und Hausmeister angesiedelt war. Er hatte eine kleine Wohnung in einem Anbau des Geschäftshauses, für die er keine Miete zahlen musste.

»Chin Li ist sehr zuverlässig«, erklärte Vater in seinem Beisein, und der Chinese freute sich über das Lob. »Mir ist es lieb, wenn auch nachts jemand ein Auge auf das Haus und die hier lagernden Waren hat. Wir importieren nicht mehr länger nur für andere Händler, sondern verkaufen jetzt auch selbst. Die Auslagen in den Schaufenstern können leicht jemanden verführen, sich im Schutz der Nacht ohne Bezahlung selbst zu bedienen. Aber kommt, ich zeige euch alles.«

Stolz führte er seine Töchter durch die Verkaufsräume im Erdgeschoss mit Abteilungen für Herren- und Damenwäsche, für Jagd-, Fahr- und Reitutensilien und Sportartikel, für Haushaltsgeräte, Porzellan, Steingut und Glas, für Konserven, für Bücher und Landkarten und für medizinische Apparate.

»Bei medizinischen Apparaten sind wir die führende Firma vor Ort. Seht her, alles vorhanden: Sauerstoff-Chloroform-Apparate für die Narkose und Sauerstoff-Inhalations-Apparate. Und gleich daneben wichtige Rettungsgeräte für den Bergbau: Atmungsapparate mit auswechselbaren Kalipatronen und Sauerstoffkoffer zur Wiederbelebung bei drohendem Ersticken, auch geeignet bei drohendem Ertrinken auf See. Wir vergrößern unsere Angebotspalette ständig, nur bei den Militäreffekten kriegen wir keinen Fuß auf die Erde.«

»Dafür aber dein guter Freund, der Herr Schweiger«, sagte Amelie leicht süffisant.

»Ja, der Wilhelm.« Ihr Vater seufzte. »Es wäre schön, wenn ich in das Militärgeschäft einsteigen könnte. Ich hoffe, ihr macht heute Abend einen guten Eindruck auf ihn, meine beiden Engel!«

»Was meinst du, werden wir heute Abend einen guten Eindruck auf Wilhelm Schweiger machen?«, fragte Helene ihre Schwester ein paar Stunden später, als sie am Badestrand lagen und sich die Nachmittagssonne auf den Bauch scheinen ließen.

Amelie hatte, ein Handtuch über dem Gesicht, schon eine ganze Weile vor sich hin gedöst. Das Plätschern der sich am Strand verlaufenden Wellen, die hellen Rufe der Möwen und hin und wieder das langgezogene Signal einer fernen Dampfsirene hatten sie fast in den Schlaf gesungen, und erste Traumbilder zeigten ihr ein seltsames Gemenge von Chinesen und Matrosen, von Dampfschiffen und Rikschas. Die Frage ihrer Schwester holte sie in die Wirklichkeit zurück.

Sie nahm das Handtuch weg, setzte sich auf und blinzelte in das helle Licht. Leichter Wellengang ließ das Wasser in der Auguste-Viktoria-Bucht zu weißer Gischt werden, und einige Badende stürzten sich mit wonnigem Jauchzen in die Wellen. Da kein Sonntag war, herrschte nicht sonderlich viel Betrieb. Die meisten der aus Holz oder leichtem Fachwerk erbauten Badebuden, die den gelben Sandstrand in mehreren unregelmäßigen Reihen säumten, waren leer.

Den Kindlers gehörte eine große Fachwerkhütte, und Amelie fand, dass ihr Vater damit eine höchst sinnvolle Investition getätigt hatte.

Sie sah an ihrem marineblauen Badekostüm hinab und wandte sich dann Helene zu, die rot-weiß gestreifte Badekleidung trug. »Wenn wir in diesem Aufzug erscheinen, machen wir bestimmt Eindruck bei Herrn Schweiger, aber wohl kaum den richtigen.«

»Auwei!«, lachte Helene. »Das wäre ein harter Schlag für Papa. Er möchte doch so gern in das Geschäft mit den Militäreffekten einsteigen.«

»Und das, obwohl er doch schon führend beim Import medizinischer Apparate ist.«

»Ich fürchte, in Tsingtau gibt es entschieden mehr Soldaten als Ärzte. Was sagen deine klugen Bücher dazu, Amelie?«

»In den hiesigen Kasernen liegen bestimmt um die zweitausend Mann Militär. Aber Ärzte? Das weiß ich im Moment gar nicht. Ein paar Dutzend allenfalls, zählt man die Missionsstationen im Umland mit, mehr werden es nicht sein.«

»Dann scheint Herr Schweiger tatsächlich das bessere Geschäft zu machen. Jeder Soldat braucht ein Paar Stiefel, ein Koppel, einen Tornister und wer weiß nicht was noch alles. Aber nicht jeder einzelne Arzt benötigt einen Sauerstoff-Chloroform-Apparat.«

»Oder einen Sauerstoffkoffer zu Wiederbelebung bei drohendem Ersticken«, ergänzte Amelie. »Da werden wir unserem Papa wohl heute Abend ein wenig unter die Arme greifen und wirklich einen guten Eindruck bei seinem Freund Wilhelm Schweiger hinterlassen müssen.«

»Wohl nicht nur bei ihm, sondern auch bei seinem Sohn. Wie hieß der doch? Ernst?«

»Nein, Erich, glaube ich. Wenn es nach Papa und Mama geht, können die Hochzeitsglocken nicht früh genug läuten.«

»Tja, dann halt dich ran, Schwesterherz!«

»Wieso ich?«, fragte Amelie.

»Weil du die Ältere bist.«

»Na, wenn Erich Schweiger nach seinem Perlenglanz-Vater kommt, überlasse ich ihn gern dir. Wahrscheinlich hat er auch schon eine Glatze.«

Später, als sie ihre Badehauben aufgesetzt hatten und im flachen Wasser herumplanschten, sagte Helene: »Vielleicht ist dieser Erich ja gar nicht so schlimm, wie wir befürchten.«

Amelie wischte sich ein paar Wassertropfen aus den Augen und blickte zum Iltisberg hinüber, an dessen grünen Hang sich die Villen der wohlhabenden Kaufleute und der höheren Beamten schmiegten. »Das Leben ist kein Gartenlaube-Roman. Ich fürchte, Schweiger junior wird sich als richtiges Ekel entpuppen.«