Das Lied des Falken - Andrea Schacht - E-Book

Das Lied des Falken E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Alyss in Gefahr – das grandiose Finale der Erfolgsreihe von Andrea Schacht!

Köln im Frühjahr 1404. Das gesamte Hauswesen ist in Aufruhr: Der Knecht Peer wurde erschlagen aufgefunden, und von der Hausherrin Alyss fehlt jede Spur. Eine fieberhafte Suche nach ihr beginnt und bald keimt in Alyss’ Freunden ein schrecklicher Verdacht auf: Der wahre Mörder Arndt van Doornes ist noch immer auf freiem Fuß. Wer ist es, und könnten er und seine Handlanger Alyss in ihre Gewalt gebracht haben? Doch warum wurde Alyss entführt? Und wo hält man sie versteckt? John of Lynne setzt alle Hebel in Bewegung, um Alyss zu finden und zu befreien.

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Seitenzahl: 451

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Andrea Schacht

Das Lied des Falken

Historischer Roman

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Taschenbuchausgabe Dezember 2013 bei Blanvalet Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2012 by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von Bridgeman Art Library und akg-images

wr ∙ Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-10965-3V003

www.blanvalet.de

Dramatis Personae

Alyss – eine schöne junge Witwe, die eifrig ihren Handel führt und in ihrem Hauswesen nicht nur die menschlichen, sondern auch die tierischen Bewohner zu zähmen weiß.

Marian – Alyss’ Zwillingsbruder, der nach langem Zaudern endlich die Nachfolge seines allmächtigen Vaters angetreten hat und Mut in seinem Herzen sammelt.

Das Hauswesen

Catrin – Ziehschwester von Marian und Alyss, einst Begine und Wehmutter, die endlich in den Hafen der Ehe eingelaufen ist.

Robert – Catrins Gatte, Alyss’ Schwager, ein von den Toten auferstandener Tuchhändler.

Hilda – Köchin und Hausbestellerin,die einen großen Verlust erleidet.

Peer – Handelsknecht, der ebenfalls einen großen Verlust erleidet.

Frieder – ein junger Mann, in dem ein neues Verantwortungsgefühl erwächst.

Lauryn – Frieders Schwester, die dieses Verantwortungsgefühl von jeher hatte.

Denise – eine junge Dame aus Burgund, die die Sprache und die Verantwortung noch ein wenig lernen soll.

Cedric – junger Verwandter von Master John, der sich seiner Verantwortung bewusst wird.

Lucien – Denises Bruder, der weder Sprache noch Verantwortung zu lernen bereit ist.

Malefiz – ein Schmeichler und Jäger und Herr der Weingärten.

Benefiz – ein wachsamer Spitz, der ohne Schwanz zu wedeln weiß.

Jerkin – ein Jäger der Lüfte, ein Gerfalke, dessen Leib mit Gold aufgewogen wird.

Herold – Herr der Hühner, dem es die Stimme verschlägt.

Gog und Magog – nach den heidnischen Völkern der Bibel benannte Gänseschar. Zwickend.

Jennet – ene Messveech, aber leev.

Freunde, Bekannte, Verwandte, Feinde

Merten van Doorne – Stiefsohn von Alyss’ verstorbenem Gatten, über den man besser keine Worte verliert.

John of Lynne – ein Lord, der seinen Titel ablegt, um Handel zu treiben. Und seine Mistress vermisst.

Edward – Johns zuverlässiger Handelsgehilfe.

Lore – ein Gassenbalg mit erstaunlichen Anlagen.

Gislindis –– Tochter des Messerschleifers Mats, die mit dem geschliffenen Gerät trefflich umzugehen weiß.

Magister Jakob – zu allerlei Maßnahmen befugter Notarius.

Franziska und Simon – Gastwirtin und Schmied im »Adler«.

Trine und Jan van Lobecke – Apotheker mit großem Wissen um Heil- und Giftmittel.

Constantin vamme Thurme – ein junger Mann, der seine Hunde liebt und sich verführen lässt.

Edgar von Isenburg – Rittergutbesitzer von schlichtem Geist.

Duretta – säuselnde Schwester des Gutsbesitzers mit ekeligen Händen.

Ambrosio di Como – Pfandleiher mit beredten Händen.

Luitgard – eitle Winzersgattin, einst Amme bei Alyss.

Sybilla – eine Zaubersche.

Und natürlich dürfen nicht fehlen

Almut und Ivo vom Spiegel – Alyss’ und Marians liebende Eltern.

Vorwort

Wein gab es zu Alyss’ Zeiten und auch Bier, doch keine stärkeren Alkoholika. Der Branntwein – hochprozentiger, durch Destillation gewonnener Alkohol – wurde erst im 16. Jahrhundert gebräuchlich, auch wenn man durchaus schon den Weingeist herstellen konnte. Man verwendete ihn aber nicht als Genuss-, sondern als Heilmittel gegen allerlei Krankheiten.

Bier war noch etwas entfernt von der heutigen Qualität, mit Hopfen wurde gerade erst experimentiert. Die Grut – die Würze – bestand aus allerlei Kräutern, vor allem aber den Blättern des Gagelstrauchs.

Gelegentlich wurde das Bier auch mit Bilsen gebraut – und Bilsen gehören zu den psychoaktiven Pflanzen. Mit dem Erfolg, dass der Bierrausch recht heftig wurde.

Der Wein wurde bis weit in den Norden angebaut und gekeltert, doch die stärksten Weine kamen aus dem Süden Europas.

Um den leichten Weinen des Nordens mehr Gehalt zu geben, wurden ihnen Gewürze und Honig beigemischt, manchmal auch Pfeffer, um sie stärker schmecken zu lassen, als sie waren.

Rauschmittel waren also im Mittelalter durchaus bekannt, und zu denen, die Träume, Visionen und Offenbarungen verursachten, gehörte der Fliegenpilz. Entgegen landläufiger Meinung ist der weiß gepunktete Pilz nicht so giftig, wie man ihm nachsagt. Man muss schon eine recht große Portion frischer Ware davon zu sich nehmen, damit man das Zeitliche segnet.

Bei getrockneten Pilzen sieht das anders aus, die letale Dosis ist selbstredend geringer.

Ich rate allerdings dringend von Selbstversuchen ab, denn schon wenig Fliegenpilz kann zu recht wirren Rauschzuständen führen. Ein Pantherina-Syndrom mit seinen Angstgefühlen möchten Sie sicher nicht erleben.

Zaubersche (Hexen wurden sie zu der damaligen Zeit noch nicht genannt) und Apotheker wussten um die Wirkung des Amanita muscaria. Eine geringe Dosis verursacht freundliche Träume, oft vom Schweben, wirkt stimmungsaufhellend oder hat eine aphrodisierende Wirkung. Eine größere Menge aber führt zu Identitäts- und Wirklichkeitsverlust.

Der Fliegenpilz hat jedoch seinen Namen auch daher bekommen, weil man aus ihm ein Ungeziefervernichtungsmittel herstellte, indem man Pilzstücke in gesüßte Milch einlegte. Die Fliegen, die davon naschten, fielen nach dem Genuss um.

In diesem Roman wird getrockneter Fliegenpilz zur Ruhigstellung einer Gefangenen verwendet. Das mag sich modern anhören, dürfte aber dem mittelalterlichen Kenntnisstand der Pharmazie durchaus entsprochen haben.

Trinken Sie zu der Lektüre also, wenn Sie ein Genussmittel zu sich nehmen möchten, lieber Tee oder Most oder ein kleines Glas Wein oder Bier, statt an getrockneten Fliegenpilzhäppchen zu knabbern.

Prolog

»Ich will sie aber zur Ostermesse zurückhaben!«, schniefte Luitgard und stampfte mit dem Fuß auf.

»Hör auf, dich wie ein trotziges Gör zu benehmen«, blaffte ihr Gatte sie an.

»Aber was sollen denn die Leute denken?«, maulte die stämmige Winzersfrau weiter.

»Die wissen, dass uns der Weingarten halb abgebrannt ist und ich kein Geld hab. Du wirst ohne Glitzerkram deine Gebete verrichten. Den Herrn wird’s nicht stören.«

Luitgard sandte ihrem Mann einen bösen Blick unter tränennassen Wimpern und wandte sich abrupt ab, um wütend die verschütteten Körner aus der Küche zu fegen. Der Kerl war ene solche Klotzkopp! Der verstand gar nichts. Man schmückte sich doch nicht wegen der Gebete, verdamp!, sondern um den Nachbarn zu zeigen, was man besaß. Und mehr als ein halbes Jahr war das kostbare Familienerbstück jetzt schon beim Pfandleiher. Klar – der Franz musste es ja beleihen, nachdem die letzte Ernte draufgegangen war. Neue Weinstöcke bekam man nicht um Gotteslohn. Aber wenigstens für die Feiertage könnte er die Fibel wieder auslösen. Wo sie doch noch nicht mal ein neues Kleid zu Ostern bekommen hatte. Grummelnd schwang sie den Besen, und Staubwolken wallten durch die offene Tür. Die Ernte war so schlecht nicht gewesen, er sollte sehen, dass er die paar Fässer zu einem ordentlichen Preis verkauft bekam. Aber nein, er wurzelte jeden Tag im Weingarten herum und kümmerte sich nicht darum, das Gesöff unter die Leute zu bringen.

Ihre Älteste, eine energische Dreijährige, lief quengelnd hinter Hanna, der Tagelöhnerin her, die sich bei ihnen als Magd verdingt hatte. Luitgard wandte sich ab und grollte weiter.

Sie würde ja selbst mit dem Wein auf den Markt ziehen, aber die drei Blagen hingen ihr am Kittel. Franz hatte ihr verboten, die Geschäfte in die Hand zu nehmen. Dabei gab es eine ganze Reihe Frauen, die Weinhandel betrieben.

Luitgard stützte sich auf den Stiel des Reisigbesens.

Ein kleiner Faden begann sich zu spinnen.

Eine Weinhändlerin in Köln – Alyss vom Spiegel. Von ihr hatte sie in den letzten Tagen einiges gehört. Und zwar Unfassbares.

Vor drei Jahren hatte Frau Alyss sie aus ihrem Haus in der Witschgasse geworfen. Weil sie ihr die Schuld daran gab, dass ihr Sohn ertrunken war. Eine Weile hatte Luitgard deshalb sogar ein schlechtes Gewissen gehabt. Eine Amme durfte nicht nachlässig sein. Aber jetzt? Hanna, die Tagelöhnerin, hatte ihr etwas anvertraut, das ein völlig anderes Licht auf die Sache warf.

Und mit dieser Erkenntnis, dachte Luitgard zufrieden, würde sie ein hübsches Sümmchen erzielen. Und mit diesem Sümmchen konnte sie die Fibel auslösen. Am Ostertag würde das Sonnenlicht die geschliffenen Rheinkiesel an ihrer Schulter wieder zum Funkeln bringen.

Und die Nachbarn würden endlich wissen, dass sie nicht mehr knapsen mussten.

Vielleicht war auch noch ein neues Gewand mit drin.

Ein prächtiger Plan.

Luitgard summte beim Fegen zufrieden vor sich hin.

1. Kapitel

Alyss kennzeichnete die Weinfässchen, die an die Wirtsleute vom »Adler« ausgeliefert werden sollten, mit einem Kreidevogel, diejenigen, die der Turmwächter bestellt hatte, mit einem Turm. Peer, der Handelsknecht, konnte nicht lesen, aber sie hatten ein System von Zeichen vereinbart, sodass die Kunden immer die richtigen Fässer erhielten. Ein schrilles Keifen aus Mädchenkehlen lenkte sie von ihrem Tun ab, und sie drehte sich um.

Auf dem Hof stand Lore, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, die roten Haare wild gesträubt, ihre Augen schossen Blitze auf die zierliche Denise. Die allerdings hielt sich die Nase zu und plärrte: »Du stinkst. Comme un crottin. Wie Schiss von Jennet!«

»Das Messveech riecht besser als du, Schnuddelnas!«

Besagtes Messveech, die Eselin Jennet, stimmte mit einem gleichfalls schrillen Wiehern seiner Freundin zu, und Denise machte einen ängstlichen Schritt rückwärts. Dabei trat sie dem martialischen Hahn in die Seite. Der schlug seinen Schnabel in ihre Wade und krähte dann lauthals seine Empörung heraus. Denise heulte auf, Benefiz begann zu kläffen, und Lore grinste breit und siegesgewiss, als auch noch die Gänseschar, nach biblischem Vorbild Gog und Magog genannt, schnatternd auf das Mädchen zugeschossen kam.

»Lore, ruf die heidnischen Völker zurück«, befahl Alyss ruhig. »Benefiz, Schluss jetzt. Denise, in die Küche mit dir.«

Catrin, einen Beutel Weizen in der Hand, trat auf das Schlachtfeld und streute die Körner für die gackernden Hühner aus. Dann blieb sie schnüffelnd stehen.

»Es stinkt.«

Alyss sog die Luft ein. Ein penetranter Hauch von Verwestem drang an ihre Nase.

»Lore?«

»Ja, Frau Herrin?«

»Du riechst wirklich etwas streng.«

»Is nich meine Schuld. Das war der Lutziän.«

Eine schwarze Braue hob sich wie ein samtiges Räupchen über Alyss’ Auge.

»Lucien?«

»Der hat einen faulen Fisch in meine Schürze gesteckt.«

»Und wo befindet dieser Fisch sich jetzt?«

Ein schmuddeliger Daumen wies in die Richtung des schwanzlosen Hundes Benefiz, der auf seinem Hinterteil saß und sich die Lefzen leckte.

»Nun gut, dann ist der wenigstens fort. Zieh die Schürze aus, Lore, und wirf sie in den Wäschesack. Catrin wird dir eine frische geben.«

»Aber die hab ich doch erst vorgestern …«

»Sie stinkt.«

»Ja, Frau Herrin.«

Nachdem diese kleine Auseinandersetzung geregelt war, schüttelte Catrin besorgt den Kopf.

»Lucien und Denise machen dir viel Arbeit, Alyss. Ich verstehe das gar nicht. Den ganzen Weg von Burgund bis hier haben sie sich anständig benommen. Ich schäme mich für sie.«

»Das ist doch nicht deine Schuld. Es sind Kindsköpfe, sie genießen hier ihr neues Leben und wollen wissen, wie weit sie gehen können. Lore wird Denise schon beibringen, nicht so zimperlich zu sein, und Lucien …«

Lucien, eben sechzehn Lenze jung, kam aus dem Weingarten geschossen, Frieder, der achtzehn Winter auf dem Buckel hatte, war ihm auf den Fersen. Sie rasten um den Karren, Lucien stolperte, prallte dagegen, ein Fass löste sich und polterte nach unten. Der Spund brach auf, und roter Wein ergoss sich auf den lehmigen Boden. Frieder rutschte darauf aus, Lucien sprang auf ihn und knallte seinen Kopf auf den Boden.

Catrin und Alyss sahen einander wortlos an, packten beide je ein Schaff Wasser und gossen den Inhalt mit Schwung über die kämpfenden Helden. Die fuhren auseinander und starrten sie triefend an. Peer, der knorrige Handelsknecht, hob das Weinfass auf und seufzte.

»Den Wein bezahlt ihr«, knurrte Alyss die Kämpen an. »Und jetzt auf die Knie. Beide! Hände gefaltet.«

Lucien murrte, bekam einen Knuff von Frieders Ellenbogen in die Rippen und tat, wie befohlen. Auch Frieder begab sich auf die Knie. Seine Nase blutete, Luciens Auge schwoll zu.

»Je fünfzig Vaterunser und fünfzig Ave-Maria. In reinem, wohlklingendem Latein, meine Herren. Und so laut, dass ich es auch noch in der Küche hören kann. – Denise!«

»Ja, Frau Alyss?«

»Du zählst. Wenn sich einer vertut, muss er doppelt beten. Möge der Herr euch gnädig sein.«

Damit wandte Alyss sich ab und ging ins Haus.

»Ave Maria, gratia plena …«, schallte es laut und zweistimmig über den Hof.

»Lucien braucht eine starke Hand«, sagte Catrin. »Was haben wir dir nur aufgebürdet!«

»Frieder ist auch kein Unschuldslamm. Aber mein Bruder wird bald zurückkommen und John hoffentlich auch. Die werden Lucien schon zu bändigen wissen.«

Alyss ging in die Speisekammer und nahm den Krug mit dem roten Burgunder, schenkte Catrin und sich je einen Becher ein und tat einen tiefen Schluck. Der Tag hatte schon seine Höhepunkte gehabt.

»Der ist richtig gut«, sagte sie und setzte sich auf den Hocker am Herd. »Ihr habt die beste Qualität erworben.«

»Mhm«, meinte Catrin und nippte an ihrem Becher.

Vor einer Woche war sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann von ihrer Reise ins Frankenland zurückgekommen, wo sie einen reichen Vorrat an Wein eingekauft hatten. Außer den Fässern aber waren auch die beiden jungen Leute, entfernte Verwandte, eingetroffen, die in Alyss’ Hauswesen für zwei Jahre gesellschaftlichen Schliff, die deutsche Sprache und die Haushaltsführung lernen sollten. Zumindest an Lucien gab es noch einiges zu schleifen. Aber das schreckte Alyss nicht. Sie hatte gerne junges Volk um sich, und da zwei ihrer Schützlinge das Haus verlassen hatten, um in Kürze zu heiraten, und ein dritter inzwischen seinem Vater zur Hand ging, war es ihr nur recht, dass die beiden in ihre Obhut gegeben worden waren. Auch Lore, die früher ein erbärmlich karges Dasein als Päckelchesträgerin gefristet hatte, lebte inzwischen bei ihr und übte sich in gesittetem Benehmen. Nicht immer gelang es ihr.

Die Paternoster draußen schwollen zu einem Brüllen an, und Alyss warf einen kritischen Blick in den Hof. Oh ja, die Gänse! Gog und Magog betrachteten alle, die ihnen nicht aus dem Weg gingen, als Feinde, die man kneifen musste. Und ihre Schnäbel waren sehr hart. Frieder und Lucien knieten inzwischen Rücken an Rücken und versuchten, die heidnischen Völker durch Gebrüll zu vertreiben. Oben vom Verschlag aus, in dem Jerkin, der weiße Gerfalke hauste, beobachtete Malefiz mit einem kätzischen Grinsen in seinem schwarzen Gesicht das Geschehen.

Lore stand an die Türzarge gelehnt und grinste ebenfalls.

»Lore, scheuch sie weg.«

»Muss ich, Frau Herrin?«

»Musst du.«

Ganz, ganz langsam schlenderte Lore zu den Gänsen, donnerte dann Gog die Faust auf den Schnabel und trat nach ihm. Protestierend wandte die Schar sich ab, und Gott der Herr wurde in gedämpfteren Lauten angerufen.

»Ich muss noch die neue Lieferung und die Einkäufe von heute Morgen in das Haushaltsbuch eintragen«, sagte Alyss und leerte ihren Becher. »Wenn jemand nach mir fragt, ich bin im Kontor.«

Das Geschäft florierte, stellte Alyss fest, als sie mit gespitzter Feder ihre Zahlenkolonnen in dem Registerband addierte. Sie hatte einen festen Kundenstamm, den sie regelmäßig belieferte, und dank Mertens Hilfe auch einige Abnehmer außerhalb der Stadtmauern. Der Weiße aus Speyer war süffig, der Burgunder vollmundig, und aus ihrem eigenen Weingarten hatte sie einige Fässer gekeltert, die mit Kräutern und Gewürzen angesetzt einen ganz passablen Claret lieferten. Der Beutel mit dem Haushaltsgeld war gut gefüllt, in der Vorratskammer hingen zwei geräucherte Schinken, Säcke mit Mehl, Erbsen, Gries und sogar Reis stapelten sich auf den Borden. Goldgelbe Butter, Schmalz und Öl waren in ausreichenden Mengen vorrätig, mürbe Äpfel, eingelegtes Sauerkraut und Gurken, getrocknete Pilze, harter Käse, Töpfe mit Honig und Rosinen – alles wurde ständig aufgefüllt, um das gefräßige Hauswesen zu nähren. Vor allem aber fanden derzeit die eingelegten Heringe, die geräucherten Forellen, der salzige Fastenspeck und frischer Lachs in der Küche Verwendung. Die Fastenzeit würde jedoch am Ende dieser Woche vorüber sein, und Alyss plante bereits das üppige Osteressen. Bei dem Gedanken an den kroschen Lammbraten musste sie schlucken.

Es klopfte an der Tür, und ein Herr in einer feinen grünen Heuke, mit Marderfell abgesetzt, trat ein.

»Robert!«, sagte Alyss und lächelte ihrem Schwager zu. Er war kein schöner Mann, sein Kinn ein wenig fliehend, über der Stirn lichteten sich die Haare, aber er pflegte sich wohl zu gewanden und auf sein Äußeres zu achten.

»Was bedeutet diese lautstarke Glaubensbekundung dort draußen?«

»Buße für verschütteten Wein und eine Schlägerei.«

»Ist meine männlich starke Hand vonnöten?«

»Diesmal wohl nicht. Aber bei dem nächsten Unfug überlasse ich die Sünder gerne dir.«

»Es wird nicht lange auf sich warten lassen.«

»Vermutlich nicht. Was führt dich in mein Kontor, Schwager?«

»Ein Pfandleiher namens Ambrosio di Como. Er wünscht den Erben des Arndt van Doorne zu sprechen.«

»Ei wei.«

»Soll ich ihn fortschicken?«

»Nein, lass nur. Ich spreche mit ihm.«

»Ich bleibe dabei, wenn du nichts dagegen hast.«

Alyss nickte, und Robert verließ das Kontor, um gleich darauf mit einem äußerst rundlichen Mann zurückzukommen. Der verbeugte sich schwungvoll, dann trat er mit ausgestreckten Händen und tieftrauriger Miene auf Alyss’ Schreibpult zu.

»Signora, es schmerzt mich so, Euch behelligen zu müssen. So bald nach Eurem schmerzlichen Verlust.« Seine Hände pressten sich auf sein Herz.

Alyss musterte ihn kühl. Er war recht dunkel, seine schwarzen Locken glänzten fettig unter seinem Barett, seine großporige Haut glänzte ebenfalls, aber sein Wams, das sich über seinen Bauch spannte, wirkte reinlich.

»Was ist Euer Anliegen, Ambrosio di Como?«, fragte sie nüchtern.

»Ah, ein Weib, das wenig Worte macht über ihr Leid. Gefasst und besonnen, doch innerlich sicher noch immer verwundet. Meine Ehrerbietung, Signora. Das Leben geht weiter. Und die leidenschaftlichen Gebete der Euren werden Euch Trost sein.«

Ein Ave-Maria dröhnte durch die Türritzen, begleitet von der Eselin Gesang.

Alyss unterdrückte mannhaft ihre Erheiterung.

»Euer Begehr?«

»Ah, kein Beileid erwünscht?« Ambrosios Hände flatterten resigniert.

»Kommt zur Sache«, sagte Robert.

»Ja, die Sache. Es sind zwei Sachen, wohledle Herrschaften, und sie betreffen das Erbe des wohledlen Arndt van Doorne.«

»Dessen Erbin ich bin. Was hat er mir hinterlassen?«

Misstrauen klang in Alyss’ Frage mit. Sie hatte allen Grund, die Machenschaften ihres Gatten auch nach seinem Dahinscheiden noch zu fürchten. Zuletzt hatte sich herausgestellt, dass das Hurenhaus »Zur Eselin« ebenfalls zu dem Erbe gehörte, das er ihr hinterlassen hatte. Das allerdings hatte sie gegen eine echte Eselin, eben jene singende Jennet, eingetauscht.

»Im vergangenen Herbst hat der wohledle Herr Gemahl zwei Fässer Salz aus Lüneburg von mir beleihen lassen. Auf ein halbes Jahr. Das aber ist mit dem Osterfest verstrichen. Und darum biete ich sie Euch zur Auslöse an.«

»Ich bin Weinhändlerin. Verkauft sie in der Salzgasse.«

»Ähm … ja, aber …«

»Und nun gehabt Euch wohl, Ambrosio di Como.«

Der aber wedelte entsetzt mit seinen Händen und brauchte noch ein gutes Dutzend Sätze, um seine Verwunderung auszudrücken, seinen Abschied vorzubereiten und den Segen Gottes auf das Haus herabzuflehen.

»Sabbelschnüss«, murmelte Alyss, als er endlich gegangen war.

»Wortgewaltig und reich an Gesten, in der Tat. Aber du hast recht daran getan, das Salz nicht auszulösen. Mag der Teufel wissen, was sich wirklich in den Fässern befindet.«

»Mir egal. – Ah, wie ich höre, ist die Buße getan. Ich werde mich dann mal um die Verwundeten kümmern. Wenn ich es richtig gesehen habe, wird Lucien ein blaues Auge bekommen und Frieder eine mächtige Beule am Kopf entwickeln.«

Sie schlug den Registerband zu und wischte die Feder gründlich ab.

»Worum ging der Streit der beiden?«

»Keine Ahnung. Die Inquisition wird jetzt stattfinden.«

Die Befragung, gütlich, nicht peinlich, ergab, dass es um die Beleidigung der Ehre einer Dame gegangen war. Lucien hatte sich abfällig über Alyss’ Base Leocadie geäußert, die dem Ritter Arbo von Bachem anverlobt und deren Hochzeit für den Mai geplant war. Frieder, der die schöne Leocadie selbst für ein Tränenkrüglein hielt, verstand Luciens Bezeichnung »bécasse ennuyeuse mit ihrem chevalier de fer claquant« zwar nicht wortwörtlich, wohl aber den Tonfall, in dem sie geäußert worden war, und hatte eine Übersetzung verlangt. Die durch Luciens Mangel an Sprachkenntnis dann noch derber wurde, weshalb Frieder Lucien eins aufs Maul gab. Die Angelegenheit eskalierte darauf.

»Langweilige Schnepfe«, flüsterte Alyss die korrekte Übersetzung in Catrins Ohr. »Mit Ritter Klappereisen.«

Die seufzte.

»Leocadie ist so schön, Alyss, da fällt es nicht sonderlich auf, dass sie nicht zu geistreichen Bemerkungen fähig ist. Aber Lucien muss lernen, seine Zunge zu zügeln. Und sie der unserigen Sprache gefügig zu machen.«

»Ich werde ihnen Unterricht erteilen. Wenngleich meine Kenntnisse des Welschen langsam eingerostet sind.«

»Du hast genug zu tun, Alyss. Aber vielleicht finden wir einen Studiosus, der ihnen Lektionen erteilen kann.«

Während sie überlegten, versammelten sich die anderen Mitglieder des Hauswesens in der Küche, und Hilda, die Haushälterin, verteilte die Aufgaben, um das Abendessen zu richten: Lauryn, Frieders Schwester, schnitt das knusprige Brot in Scheiben, Lore, jetzt in frischer, unriechbarer Schürze, verteilte Heringe und junge Zwiebeln auf den Tellern, Frieder schenkte Most aus, Denise schöpfte Quark aus einem Topf, und Lucien hockte schmollend auf der Bank und sandte Malefiz böse Blicke. Den Kater schienen die jedoch nicht zu stören, er rieb seinen Kopf schmeichelnd an Alyss’ Bein und bekam ein Stückchen Fisch gereicht. Als alle am Tisch saßen, nickte Alyss Robert zu. Er sollte den Tischsegen sprechen, doch bevor er dazu ansetzte, kam Merten in die Küche gepoltert.

»Habt Mitleid mit dem Elend«, rief er und lächelte in die Runde. »Den ganzen Tag habe ich geschuftet und keinen Krumen Brot bekommen. Ich flehe Euch an, werte Dame, gebt einem Verhungernden Nahrung.«

»Lauryn, eine weitere Portion Fisch, Quark und Brot! Frieder, Becher und Most! Lucien, rück ein Stück zur Seite!«

Merten, der Stiefsohn ihres verstorbenen Gatten, genoss Gastrecht in Alyss’ Haus, auch wenn nicht jeder den geckenhaft gekleideten jungen Mann mochte. Sie hatte lange Jahre ein gewisses Mitleid mit ihm gehabt. Früh hatte er den leiblichen Vater, dann die Mutter verloren, war bei einer zänkischen Großmutter aufgewachsen und hatte kein Handwerk und keinen Handel gelernt. Sie war nachsichtig gewesen, doch dann hatte Arndt ihr Vermögen vergeudet, und sie hatte Merten nicht mehr unterstützen können. Seither hatte er einen Teil seines lustigen Lebenswandels aufgegeben und sich um einige ihrer Kunden gekümmert. So weit, so gut, doch seit dem letzten Herbst hatte er begonnen, ihr den Hof zu machen, und das war ihr mehr als unangenehm.

Auch jetzt warf er ihr heimliche Blicke zu, die selbstredend nicht unbemerkt blieben. Lucien stupste seine Schwester Denise an und verkündete in deutlich hörbarem Geflüster: »Vois comme il bave. Il veut à sa chemise.«

»Lucien, tais-toi!«, raunzte Robert ihn an.

Der zog nur laut die Nase hoch und erhielt von Hilda, die hinter ihm am Herd werkelte, eine kräftige Kopfnuss.

»Au!«

»Benimm dich, Junge. Und kein welsches Zeug mehr.«

»Isch nix kann Kölsch.«

»Dann lernst du es. Robert, kannst du uns einen Lehrer für Denise und Lucien finden? Unter den Händlern wird doch sicher der eine oder andere sein, der beide Sprachen beherrscht und einen harten Stock zu führen weiß.«

»Ich höre mich um. Den harten Stock allerdings weiß ich auch zu führen.«

Denise flüsterte jetzt auf ihren Bruder ein, der ein immer düstereres Gesicht zog. Alyss hatte den Verdacht, dass das Mädchen weit mehr verstand als er. Der Rest des Abendmahls verlief friedlich, und als schließlich der Tisch abgeräumt war, fragte Catrin Alyss leise: »Was hat er gesagt?«

»Dass Merten geifert und an meinen Kittel will.«

»Da hat er wohl leider recht, der kleine Unhold.«

2. Kapitel

Marian trottete die Stiege zum Schlafraum des Gasthauses hoch. Ihm war kalt, er war müde, und seine Schulter schmerzte, weil ein ungebärdiges Maultier der Meinung gewesen war, dass er die Schuld an dem trüben Regenwetter trug. Der Biss ging zwar nicht tief, aber er war sicher, dass er einen prächtigen blauen Fleck hinterlassen hatte. In seinem Beutel würde er einen Topf mit Arnikasalbe finden und sich verarzten, bevor er sich zum Schlafen niederlegte.

Bett – je nun. Fünf breite Betten standen Seite an Seite in dem muffigen Raum unter dem Dach, drei davon waren bereits belegt, und sonores Schnarchen dröhnte aus ihnen. Im flackernden Schein der Tranlampe wühlte er in seinem Gepäck und stellte missmutig fest, dass sein kostbarer Vorrat an Heilsalbe beinahe erschöpft war. Mit einem leisen Stöhnen zog er die feuchten Lederstiefel aus, schälte sich aus den Kleidern und betrachtete seine malträtierte Schulter. Schwärzlich schimmerte die Haut, und mit zusammengebissenen Zähnen behandelte er die wunde Stelle. Dann legte er sein Untergewand wieder an und kroch unter die schäbige Decke.

Zwei Wochen noch – mehr oder weniger, dann würde er wieder zu Hause sein.

Reisen war anstrengend, vor allem so früh im Jahr. Aber trotz aller Widrigkeiten war Marian nicht unzufrieden. Die Zeit in Venedig war erfolgreich gewesen, die Handelsgeschäfte blühten, und in den Ballen und Gebinden, die seine Gesellschaft mit sich führte, befanden sich vielfältige Waren, die er mit großem Gewinn zu veräußern gedachte. So hatte er prunkvolle Seiden aus dem Morgenland erstanden, Spezereien aus den Ländern jenseits des mittelländischen Meeres, feinstes Papier aus der Lombardei und vor allem Glaswaren aus Venedig. Die bunten Perlen würden die Herzen der Frauen höher schlagen lassen.

Vermutlich auch das seiner Zwillingsschwester Alyss.

Aber als er die Kostbarkeiten aussuchte, war es Gislindis gewesen, die seine Hand geführt hatte.

Marian lächelte im Dunklen. Die Tochter des Messerschleifers schlich sich oft in seine Gedanken. Sie war eine weise Frau und klug obendrein. Sie war auch ein schönes Weib, mutig und treu. Er hatte einst mit ihr getändelt, müßig und ohne Absicht. Dann aber hatte er gemerkt, dass er sich in ihrer Gegenwart glücklicher fühlte und die Wunden in seinem Gemüt allmählich aufhörten, ihn zu bedrücken. Bei seiner letzten Reise in den Süden hatte eine junge Frau sein Herz erobert, doch sie war gestorben und hatte eine Leere hinterlassen, die kaum zu ertragen gewesen war. Heute jedoch fragte er sich, ob sie wirklich glücklich mit ihm geworden wäre, ein Kind südlicher Sonne – konnte man es wie ein Zitronenbäumchen in den Norden verpflanzen? Und schließlich gestand er sich ein, dass er sich nun nach Gislindis sehnte, nach ihrer Freundschaft, ihrem Witz und ihren süßen Küssen.

Sie war von niederem Stand, die Tochter einer Fahrenden und eines wolfsrachigen Messerschleifers, und in den Augen der Welt würde er nur ein ungesegnetes Verhältnis mit ihr eingehen können. Das aber wollte er ihr nicht antun.

Sechs Monate war er nun unterwegs, und während dieser Zeit hatte er Pläne geschmiedet. Pläne, die möglicherweise nicht einfach auszuführen waren, aber wenn die passenden Umstände zusammenkamen, würde er Gislindis eines Tages doch als sein Weib heimführen.

Vorsichtig drehte Marian sich auf die Seite seiner gesunden Schulter. Sein eigenes Bett hatte eine weiche Matratze aus Daunen, die Decke war flauschig gefüllt und aus feinstem Leinen. Hier stach ihm hartes Stroh durch das löchrige Laken in die Hüften, und das Kopfpolster strömte den knoblauchartigen Geruch von jenen aus, die vor ihm auf diesem Lager übernachtet hatten. Ein weiterer Gast betrat den Raum, rülpste, ließ seine Stiefel zu Boden poltern und sank schwer auf die andere Seite des Bettes. Bierdunst umgab ihn, und er zerrte an der Decke. Marian musste sich einen kurzen, heftigen Kampf mit ihm liefern, aber dann war der Kerl eingeschlafen, und er rettete seinen Anteil an der Decke.

Der Schlummer blieb ihm fern, aber damit fand Marian sich ab. Es gab Dinge, über die er nur des Nachts nachdenken konnte, den Tag über musste er beständig sein Augenmerk auf die Mitglieder seiner Reisegruppe lenken, musste das Umladen der Fracht beaufsichtigen, mit den Karrenführern und Schiffseignern handeln, Obdach für seine Männer suchen und die Wegstrecken festlegen. Bis Straßburg waren sie nun gekommen, ohne dass es nennenswerte Verluste gegeben hatte. Ab morgen würde es leichter werden, die Fracht würde auf einen Oberländer verladen und stromabwärts Richtung Köln verschifft werden. Die Ostertage wollten sie in Speyer verbringen. Dort hatte das Handelshaus derer vom Spiegel eine Niederlassung, und die drei Tage Ruhe würden ihnen allen guttun.

Es war richtig, dass er sich endlich entschieden hatte, die Nachfolge seines Vaters in den Handelsgeschäften anzutreten, befand Marian. Auch wenn die ärztliche Heilkunst noch immer einen gewissen Reiz auf ihn ausübte. Vor zwei Jahren, nach dieser entsetzlichen Spanienfahrt, als er und sein Tross überfallen worden waren, er seine Geliebte verloren hatte und dabei selbst schwer verwundet worden war, hatte er geschworen, Köln nie wieder zu verlassen. Stattdessen wollte er lernen, wie man Kranke und Verletzte heilt – und eigentlich hatte er den vermessenen Wunsch gehegt, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Er hatte die Hebammenkunst gelernt – verbotenerweise, denn Männern war diese Tätigkeit nicht erlaubt. Er hatte das Knocheneinrenken vom Meister Hans, dem Henker, beigebracht bekommen, und die Apotheker Trine und Jan hatten ihm die Geheimnisse der Heilkräuter und Gifte enthüllt. Und bis vor Kurzem war er sogar dem Bader Pitter zur Hand gegangen, wenn es um blutige Operationen ging. Die theoria der Medizin hatte er in den Folianten der Universität und in der Infirmerie des Klosters zu ergründen versucht, aber die praktische Seite hatte ihn immer weit mehr fasziniert. Sofern sie nicht mit Schmerzen verbunden war.

Und das war schließlich auch ein Grund für ihn, dem Studium der Heilkunst zu entsagen. Seine dumme, lästige Gabe, die Schmerzen seiner Patienten erspüren zu können, half ihm zwar, die Krankheit zu erkennen, aber die Behandlung, vor allem wenn es um Knochenrichten und Schneiden ging, fiel ihm schwer. Also hatte er für sich entschieden, dass er helfen würde, wenn man ihn darum bat, aber als Beruf würde er die Heilkunst nicht ausüben.

Immerhin, diese Reise hatte ihm in Venedig einige interessante Gespräche beschert. Ein jüdischer Arzt und ein arabischer Kollege hatten sich an seinen Kenntnissen und Ideen erfreut und ihm ihrerseits etliche Geheimnisse ihrer medizinischen Traditionen weitergegeben. Und so war er auch in der Lage gewesen, einem freundlichen Kontoristen erfolgreich den Star zu stechen, allerlei Reisebeschwerden seiner Leute zu mildern und verrenkte Glieder zu richten.

Sein Bettgenosse wälzte sich auf ihn und hauchte ihm seinen Atem ins Gesicht.

Marian rutschte zum Bettrand, befreite sich aus der Umarmung und den Decken und zog tastend Hose, Stiefel und Wams an. Leise verließ er den dumpfen Schlafraum. Die Gaststube war leer, der Riegel vor der Tür. Er öffnete ihn und schlüpfte hinaus in den Hof. Dankbar atmete er die kühle Nachtluft ein. Dann wandte er sich den Ställen zu. Sein Pferd wieherte verhalten, als er sich zu ihm ins Stroh setzte.

»Gestatte, dass ich die Nacht wieder bei dir verbringe, mein Freund.«

Das Tier gestattete, und Marian streckte sich auf dem Boden aus. Es war hart, das Stroh nicht mehr ganz frisch, aber wenigstens hatte sein Pferd kein Bier getrunken und keine scharf gewürzten Speisen zu sich genommen.

Noch einmal wanderten seine Gedanken der Heimat entgegen, und in seiner Vorstellung zog er die lavendelduftende Decke seines eigenen Bettes über sich, und darüber schlief er ein.

3. Kapitel

Der Tag hatte sonnig begonnen, und nachdem Alyss die Pflichten und Aufgaben verteilt hatte, war sie mit Jerkin auf dem Handschuh zum Weingarten gegangen. Die Wurzeln der Reben hatten sie in den letzten Tagen abgedeckt, die Stecken aufgerichtet, bald würde sie die jungen Triebe daran hochbinden. Wieder nahte ein Frühling, wieder vollendeten sie und ihr Bruder ein Lebensjahr. Ihr sechsundzwanzigstes war es, und als der Falke sich in den blauen, wolkenlosen Himmel erhob, wischte sie sich eine ungebärdige Locke aus der Stirn. Sie war eine alte Frau geworden. Eine kinderlose alte Witwe …

Fort!, befahl sie diesem trüben Gedanken. Was für ein Unsinn. Ihre Ziehschwester Catrin war neun Jahre älter als sie und hatte nun doch einen Gatten gefunden. Nicht nur das, es wollte ihr sogar scheinen, dass sie gesegneten Leibes war. Welch ein Glück sie hatte. Als Kind war Catrin ein unscheinbares Geschöpf gewesen, das nur stammeln und stottern, nicht aber sprechen konnte. Alyss’ Mutter Almut hatte sie zu sich genommen, und in deren Obhut hatte sie gelernt, ihre Zunge zu disziplinieren. Sie hatte jedoch die Ehelosigkeit in dem Beginenkonvent am Eigelstein den Freiern vorgezogen, die ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Zu Alyss’ Schwager Robert aber hatte sie eine keusche Zuneigung entwickelt, die er ebenso keusch zu erwidern schien. Dann war er vor zwei Jahren Opfer eines bösartigen Anschlags geworden. Sein eigener Bruder, Alyss’ Gatte, hatte den gewalttätigen Friesen Yskalt aufgehetzt, ihn zu ermorden. Doch der Zufall wollte es, dass der Mörder den Falschen erschlug und Robert untertauchen konnte. Dabei war ihm der englische Tuchhändler John of Lynne eine entscheidende Hilfe gewesen. Bis zum vergangenen Jahr hatte er John als dessen struppiger Diener Bob begleitet und zusammen mit ihm über Alyss’ Hauswesen und auch über Catrin gewacht. Alyss hatte ihren Schwager schon früher sehr gerne gehabt, er war ein vernünftiger Mann mit einem feinen Sinn für Humor. Die vergangene Zeit, die er unter harten Bedingungen verbracht hatte, hatte ihn jedoch entschlossener werden lassen – und auch breitschultriger. Als dann endlich die Tage des Versteckens gezählt waren, hatte er sich Catrin erklärt, und sie hatte freudig das Beginendasein aufgegeben. Als Hebamme aber würde sie weiterhin tätig sein, wenn man ihre Dienste wünschte.

Benefiz hechelte hinter Malefiz her, der wiederum sein Jagdrevier in dem Rebgarten hatte. Oben stieß der Falke seinen schrillen Schrei aus.

John würde bald zurückkommen. Alyss hatte eine Botschaft von ihm erhalten, in der er ihr den Tod seines Vaters kundtat. Einige Regelungen zur Erbschaft mussten noch getroffen, Waren mussten eingekauft werden, danach aber wollte er nach Köln zurückkehren.

Und dann?

Johns scheinheilig-frommes Weib hatte den Schleier genommen, seine unselige Ehe war aufgelöst. Als sie im Herbst den Mörder von Arndt van Doorne gefunden hatten, den Bettelscholaren Caspar, den Merten dann im Streit erschlug, da war auch sie, Alyss, frei geworden.

Und hätte nicht der Eilbote die Nachricht vom Sterben des alten Lord Thomas überbracht, hätte John in den kalten Winternächten ihr Bett gewärmt.

Ob er auch in den warmen Sommernächten an ihrer Seite liegen würde?

Alyss zog die silberne Kette aus ihrem Gewand und betrachtete den Siegelring, der daran hing. Johns Siegel, das Siegel des Falkners. Nicht das seines adligen Hauses.

Was würde die Zukunft bringen?

»Frau Alyss! Frau Alyss!«

Ärger.

Frieder kam zwischen den Reben auf sie zugelaufen. Benefiz sprang an ihm hoch, der Kater verdrückte sich.

»Was ist passiert?«

»Sie haben Lucien in den Turm geschleift.«

»Ah.«

Frieder keuchte: »In Ketten gelegt.«

»Ah.«

»Der Rentmeister Oldendorp hat ihn angezeigt.«

»Aus welchem Grund?«

Frieder beruhigte sich etwas, zauselte den Spitz und grinste dann.

»Na ja, Lucien hat sich sein Pferd geliehen.«

»Bitte?«

»Also, wir waren auf dem Weg zum Stiefelmacher, wie Ihr uns aufgetragen habt. Und da stand dieser Gaul angebunden hinter der ›Eselin‹. Ich hab dem Lucien erzählt, was das für ein Haus ist. Und er hat gemeint, so früh am Tag wird der Besitzer des Pferdes wohl kräftig genug sein, einige Zeit drin zu verbringen. Und er wollte sich das Tier ausleihen. Ich hab ihn gewarnt, Frau Alyss. Wirklich. Mehrmals. Aber da war er schon im Sattel, hat was gebrüllt und ist losgeprescht. Der kann verdamp gut reiten.«

»Halte deine Bewunderung im Zaum, Frieder. Wie fing man Lucien ein?«

»Der Rentmeister hat’s vom Fenster aus gesehen und ist raus. Er hat die Wachen gerufen, und die haben Lucien am Rheinufer abgefangen und zum Frankenturm gebracht.«

»Und woher weißt du das alles, Frieder?«

»Ähm – ich hab mich ein bisschen versteckt und bin dann hinter Lucien her. Der wollte nämlich unbedingt die Schiffe sehen, und da dachte ich mir, dass er zum Rhein runter ist. War ja auch so.«

»Hat er den Wachen oder dem Rentmeister gesagt, wer er ist?«

Frieder hob die Schultern.

»Wird wenig genug verstanden haben, was die gesagt haben. Frau Alyss, kann Herr Robert ihn da rausholen?«

»Auf Pferdediebstahl steht die Todesstrafe«, sagte Alyss dumpf, und Frieder erbleichte.

»Aber … es war doch nur ein Streich. Er wollte das Pferd doch nicht stehlen.«

»Er hat es aber gestohlen. Und Herr Robert ist zu den Gewandschneidern unterwegs.« Sie sah zu dem Falken hinauf, der seine Kreise zog. Dann legte sie den Handschuh ab und reichte ihn Frieder.

»Ruf Jerkin zurück, ich suche den Turmmeister im Frankenturm auf.«

»Danke, Frau Alyss. Er ist ein Rotzlöffel, der Lucien, aber er versteht unsere Sprache nicht gut. Und er hat Heimweh.«

»Hat er?«

Frieder scharrte mit den Füßen. Dann murmelte er: »Er weint nachts.«

»Ich kümmere mich um ihn.«

Sie legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Er hatte sich zu einem netten Burschen gemausert.

Der grauhaarige Turmmeister maß sie mit strengem Blick, als einer der Wächter sie zu ihm in seine Kammer geführt hatte.

»Alyss vom Spiegel?«, knurrte er.

»Tochter des Herrn Ivo vom Spiegel, Handelsherr und Ratsherr.«

Sie nutzte selten ihre Abstammung, um etwas durchzusetzen – ihr Vater war noch immer ein einflussreicher, gelegentlich sogar gefürchteter Mann. Aber hier ging es um ihren Schützling, der so schnell wie möglich aus den Händen der Stadtwache befreit werden musste.

Der Turmmeister mäßigte demzufolge auch seine Strenge und gab sich sachlich.

»Was bringt Euch zu mir?«

»Mein Schützling, Lucien du Chailley, hat einen bösen Streich begangen. Er hat sich das Pferd des Rentmeisters Oldendorp ausgeliehen. Ich bin hier, weil ich um Gnade bitten möchte.«

»Um Gnade, Frau Alyss? Für einen Pferdedieb?«

»Er ist ein Junge noch, übermütig und fremd in unserem Land. Erst letzte Woche wurde er von seinen Eltern in meine Obhut gegeben.«

»Und die haben ihn nicht gelehrt, dass man Pferde nicht stehlen darf?«

»Er hat es nicht gestohlen, er hat es geliehen.«

»Und halb zu Schanden geritten!«, grollte der Turmmeister. Dennoch, als Alyss ihn unverwandt anblickte, vermeinte sie ein leichtes Aufzucken um seine Lider zu bemerken. Ihr Vater, der Meister des gehobenen Donnerwetters, zeitigte ebensolche feinen Spuren der Belustigung, wenn er von tollkühnen Abenteuern hörte. Ihr wurde etwas leichter ums Herz.

»Ihr habt einen Sohn, Turmmeister?«

»Derer dreie. Lausejungen, einer wie der andere. Aber gerade gewachsen und aufrecht.«

»Ohne je eine Narretei begangen zu haben?«

Der Turmmeister gab einen undefinierbaren Laut von sich, den Alyss richtig zu deuten wusste. Also machte sie einen Vorschlag.

»Mag es sein, dass man den Rentmeister mit einer Entschädigung von der Anklage abbringen könnte?«

Der Turmmeister schnaubte: »Wohl kaum. Er tobte.«

»Nun – dann vielleicht ein Schweigeversprechen?«

Buschige Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, und der Turmmeister betrachtete sie mit einem scharfen Blick von oben herab.

»Worüber müsste geschwiegen werden, Frau Alyss?«

»Nun, über den Ort, von wo das kostbare Pferd ausgeliehen wurde.«

»Der da war?«

»Hinter dem Hurenhaus ›Zur Eselin‹.«

Die Augenbrauen rutschten an ihren üblichen Platz, der Turmmeister zwinkerte, hüstelte und begann röhrend zu lachen.

»Vor der Sext – je nun, ein eifriger Mann, der Rentmeister Oldendorp. Folgt mir, Frau Alyss, ich will Euch den Missetäter übergeben. Und dem Rentmeister Euer Schweigen versichern.«

Man hatte Lucien in den Keller gebracht und dort mit schweren Ketten an die Wand gefesselt. Er sah erbarmungswürdig aus, offensichtlich hatte er sich den Wachen nicht wehrlos ergeben. Alyss empfand einen Hauch Mitleid mit dem Jungen, bemühte sich aber, es ihm nicht zu zeigen.

»Du junger Idiot«, herrschte sie ihn an. »Was ist nur in dich gefahren? Ist es in deiner Heimat üblich, Fremden das Pferd fortzunehmen?«

Er sah auf, das eine Auge vom Vortag blau und zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt, die Haare voll verkrustetem Blut.

»Isch ’abe sagen: ›Je me prends votre cheval!‹ Sieur ’at ge’ört.«

»Offenbar gehört das zum guten Ton in Burgund«, fauchte Alyss ihn an. Der Junge nickte, zuckte aber zusammen. Er litt Schmerzen. Dem Turmmeister erklärte sie: »Er hat dem Rentmeister zugerufen, dass er sein Pferd nimmt. Offenbar ist das in besonderen Fällen in seiner Heimat gestattet.«

»Lucien!«, der Turmmeister baute sich vor ihm auf. »Du hast falsch gehandelt. Verstehst du mich?«

Ein klägliches Nicken erfolgte.

»Frau Alyss hat um Gnade gebeten.«

Seine Augen wandten sich ihr zu, es lag Hoffnung darin.

»Ich übergebe dich ihrer Obhut. Sie legt das Strafmaß fest.«

Er winkte dem Wächter, und der löste die Ketten. Lucien kroch von der Wand weg und mühte sich, auf die Beine zu kommen.

»Du wirst zu Fuß nach Hause gehen, Lucien, mit dem Reiten ist jetzt Schluss.«

Alyss drehte sich um und strebte dem Ausgang zu. Hier aber wurde sie am Weitergehen gehindert, denn zwei Männer kamen mit einer Trage den Gang entlang. Und auf der Trage lag eine Frau in nassen, tropfenden Gewändern. Grün war der Surcot, braun die Jacke, die Haube verrutscht, und die Haare quollen darunter hervor.

»Die Schiffer haben ein Weib aufgefischt«, meldete der Wachtmann.

Der Turmmeister trat hinzu und betrachtete die Tote. Alyss kam nicht umhin, ebenfalls einen Blick auf sie zu werfen, und stöhnte unwillkürlich auf.

»Kennt Ihr die Frau?«

»Ja. Das ist Luitgard, vor drei Jahren war sie die Amme meines Sohnes. Der Herr sei ihrer Seele gnädig.«

»Und heute?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie entlassen, als Terricus gestorben ist. Sie war ihrer Pflicht nicht nachgekommen.«

Sie merkte selbst, wie tonlos ihre Stimme klang, wandte sich abrupt ab und eilte auf die Straße. Erst als sie in die Witschgasse einbog, fiel ihr Lucien wieder ein, und sie drehte sich um. Er kam hinter ihr hergehumpelt. Sie wartete, bis er an ihrer Seite angekommen war.

»Muss isch beten?«

Es klang kläglich.

»Ja, aber leise und in deiner Kammer. Und vorher müssen wir deine Wunden versorgen«, sagte sie sanft.

Sie überließ es Hilda und wanderte in ihren Weingarten zurück. Der Anblick der toten Amme hatte sie zutiefst erschüttert. Drei Jahre war es her, dass Terricus im Rhein ertrunken war. Terricus, ihr Sohn, ein lebhaftes, aufgewecktes Kerlchen voller Spitzbüberei und Lachen. Wie sehr hatte sie ihn geliebt. Aber sie hatte zu wenig Milch, und darum hatte sie nach einer Amme für ihn gesucht. Luitgard wurde ihr von einem Handelspartner ihres Vaters anempfohlen, sie war die Witwe eines Zollschreibers, deren Kind bei der Geburt gestorben war. Sie schien wenig um Mann und Kind zu trauern und war eher eitel als klug, aber sie hatte sich liebevoll um Terricus gekümmert. Bis zu jenem tragischen Nachmittag, als sie mit dem Kleinen zum Rheinufer gewandert und dort in der warmen Sonne eingeschlafen war. Alyss erinnerte sich noch genau, wie sie händeringend und schluchzend ins Haus gelaufen kam und davon berichtete, dass der Dreijährige ihr entwischt war.

Einen Tag später hatten sie seinen kleinen, kalten Körper an der Rheinvorinsel aus dem Wasser gezogen. Und in Alyss’ Welt war ein Licht erloschen. Sie hatte Luitgard umgehend aus dem Haus geschickt und nie wieder nach ihr gefragt.

War es nicht Gottes Fügung, dass ihr nun dasselbe Schicksal widerfahren war wie dem kleinen Terricus?

Malefiz streifte ihr um die Beine und schnurrte, als sie sich auf die Bank ganz am Ende des Weingartens setzte. Noch war die Laube kahl, der Lavendel grau, die Mauer in ihrem Rücken kühl. Am Spalier aber blühten die Zweige der Apfel- und Birnbäume, und eine Amsel schmetterte ihr volltönendes Frühlingslied in das Himmelsblau.

Die Trauer war noch immer da, sie würde wohl nie vergehen. Aber das Leben hatte ihr Hoffnung geschenkt. Sie sollte nach vorne schauen.

Catrin kam zwischen den Reben auf sie zugeeilt. Ihre Gewänder wogten um sie, ihr Gebende flatterte halb aufgelöst um ihren Kopf.

»Da bist du ja!«

»Ja, hier bin ich.«

Ihre Ziehschwester plumpste neben ihr auf die Bank.

»Dieser Bengel«, schnaufte sie. »Behauptet, dass man sich jedes Pferd ausleihen darf, wenn man dem Besitzer zuruft, dass man es mal eben mitnimmt.«

»Eine burgundische Sitte?«

»Nur in ganz bestimmten Notfällen. Na, er hat seine Strafe bekommen, man ist ziemlich rau mit ihm umgesprungen. Du, und während du im Turm warst, hat hier ein Winzer aus Rodenkirchen vorgesprochen und nach seinem Weib gefragt.«

»Was sollte ein Winzerweib bei mir wollen? Wein verkaufen?«

»So sagt er. Sie ist von zu Hause fortgegangen, und ihre neue Magd hat ihm gesagt, dass sie möglicherweise bei dir vorsprechen wollte.«

»Woher kennt mich diese Winzersfrau?«

»Du kennst sie auch – sie heißt Luitgard und war einmal die Amme deines Sohnes.«

Der Schatten senkte sich wieder über Alyss’ Gemüt.

»Luitgard. Im Turm, Catrin. Sie haben sie gerade eben dorthin gebracht. Tot. Ertrunken. Wie mein Kind.«

»Heilige Mutter Maria.« Catrin fasste ihre Hände und hielt sie fest. »Man muss es ihm sagen.«

»Ja, aber nicht ich werde es tun. Lass mich eine Weile alleine, Catrin. Meine Seelenruhe ist gestört.«

Catrin küsste sie leicht auf die Wange und erhob sich wortlos.

Ihre Ziehschwester hatte sie schon immer gut verstanden.

Alyss schloss die Augen und lauschte dem Lied der Amsel.

Nach einer Weile erfüllte wieder Frieden ihr Gemüt.

Das Leben ging weiter.

4. Kapitel

Zur selben Zeit stand Master John of Lynne am Kai von London und beobachtete, wie die Tuchballen verladen wurden. Der mächtige Tretkran knarrte, als sich die Last hob. John spürte förmlich die Sparren unter den Füßen, als die Männer in dem Laufrad langsam Schritt um Schritt taten. Auch er hatte einst in der Tretmühle gesteckt, damals, als sein Vater ihm erklärt hatte, dass er ihn nicht mehr als seinen Sohn betrachtete.

Nun war Lord Thomas tot, aber auf dem Sterbebett hatte er seinen Frieden mit John gemacht. Sie waren beide harte Männer, die ihren Willen durchzusetzen gewohnt waren. Vielleicht hätten sie ihren Machtkampf irgendwann aufgegeben und sich wieder einander angenähert – denn es herrschte trotz allem Achtung und Liebe zwischen Vater und Sohn. Wäre da nicht Johns intrigantes Weib Margaret gewesen. Er hatte sie auf Wunsch seiner Mutter geehelicht, diese blasse, blutleere Jungfrau, die sich vor ihrem eigenen Körper ekelte. Mehr noch aber vor dem seinen. Die Ehe war nie vollzogen worden, sein Bett war kalt geblieben, sein Heim eine klösterliche Eishöhle. Auch damit hätte er sich arrangieren können, Frauen mochten ihn und waren gerne bereit, die Leere mit Wärme und Tändelei zu füllen. Aber dann hatte sein hinterhältiges Weib seinen Vater wegen dessen freigeistigen Ansichten an den Bischof Despenser, den fanatischen Ketzerjäger, verraten. Man kerkerte Lord Thomas ein, und in seinem Groll darob gab dieser seinem Sohn John die Schuld an dem Verrat und verstieß ihn. Sein Stolz war alles, was John noch besaß, er bat keinen seiner Verwandten um Hilfe, sondern verdingte sich als Arbeiter im Hafen von London. Hier allerdings war er eines Tages einem deutschen Tuchhändler aufgefallen – Robert van Doorne erkannte seine Fähigkeiten und bot ihm die Teilhaberschaft an seinem Handelsgeschäft an. Freundschaft und Vertrauen war das Fundament ihrer Beziehung – John kannte die Tuchweber seiner Heimat und vermittelte Robert die Stoffe von allerbester Qualität. Ihr Geschäft florierte, und als John eines Abends nach reichlichem Weingenuss von seinem Vater sprach, stellte Robert ihm das Geld zur Verfügung, um den alten Mann aus der Kerkerhaft loszukaufen.

Lord Thomas dankte es ihm nicht, zu tief war er verletzt von dem angeblichen Verrat.

Und dann, vor zwei Jahren, führte Johns Weg ihn erstmals nach Köln, wo er das Kontor der Weinhändlerin Alyss betrat.

Und sein Herz verlor.

Nicht, dass er gleich bemerkt hatte, was da geschehen war, als sie ihn mit ihren kühlen grünen Augen musterte. Und doch – sie hatte ihn gepiekst und gekratzt und geschmäht, seine dornige Rose, und er war ihren Stacheln erlegen wie nie zuvor einem Weib. Es war das Haus, das sie führte. Dieses warme, lebendige, duftende, lachende Hauswesen mit seinen Tieren und dem Jungvolk, der knurrigen Haushälterin und den deftigen Mahlzeiten, dem Geplänkel der Maiden und den Streichen der younglings, der aufrichtigen Freundschaft, die ihm Marian entgegenbrachte, und der freche Schnabel einer ungebärdigen Päckelchesträgerin.

John lächelte und betrachtete den jungen Mann. Er hatte ebenso rote Haare wie Lore, doch sein Schnabel war weit vornehmerer Laute fähig. Es würde aufregend werden, wenn die Feuerköpfe aufeinandertrafen. Cedric, mit fünfzehn der jüngste Sohn von Johns Bruder, hatte den Wunsch geäußert, das Handelsgeschäft zu lernen. Es hatte gewaltige Auseinandersetzungen gegeben, denn eigentlich war er für den geistlichen Stand vorgesehen. Zu ihrer aller Erstaunen hatte Lord Thomas auf dem Sterbebett verfügt, dass der Junge seinen Willen haben sollte.

Ja, sie hatten sich versöhnt, und die Trauer um seinen Vater hatte John noch nicht überwunden.

Die Freude aber, in jenes Hauswesen zurückzukehren, verdrängte den Schmerz über den Verlust.

»Komm, Cedric, Zeit, mal eine kleine Anstrengung zu unternehmen«, sagte John und schob Cedric in Richtung des Tretkrans.

»Master John, nicht. Das sind ungewaschene Arbeiter.«

»Und? Was gefällt dir daran nicht? Dass sie arbeiten oder dass sie schwitzen?«

Cedric rümpfte die Nase.

»Sie müssen wohl schwitzen, weil sie arbeiten. Aber deshalb müssen wir doch nicht …«

»Du willst das Handelsgeschäft lernen. Also tust du, was ich sage.«

Cedric schob die Unterlippe vor, und John amüsierte sich heimlich. Der Junge war verzärtelt worden. Etwas mehr raue Wirklichkeit würde ihm guttun. Er winkte dem Kranmeister zu, der eben Anweisung zu einer Pause gegeben hatte.

Der knorrige Mann stutzte, schob seine staubige Kappe nach hinten und starrte John an.

»Joseph, dein Kran quietscht.«

»Herr? Verzeiht, Herr, Ihr seht einem meiner Männer ähnlich.«

»So ähnlich, dass ich mich an deine Schinderei noch gut erinnern kann.«

»John?«

»MasterJohn, Kerl!«, herrschte Cedric den Kranmeister an, der in brüllendes Gelächter ausbrach.

»Na, da hat aber einer die Leiter erklommen.«

John grinste den Mann an und warf seine Heuke über einen Ballen Tuch.

»Mein Neffe und ich werden mal sehen, ob wir die nächste Ladung sauber auf Deck bekommen. Gönnt den beiden Windenläufern eine Pause. Ich zahle sie.«

»Ihr müsst aber meinen Befehlen folgen, Master.«

»Selbstredend. Ich kann mich an dein Gebrüll gut erinnern. Auf, Cedric, Tretmühlenarbeit!«

»Nein, Master John. Nein!«

Johns helle, blaue Augen wurden kalt, und unter seinen schweren Lidern streifte den Jungen ein Blick, der von stiller Grausamkeit sprach.

»Du gehorchst.«

»Ich will …«

»Wir wollen alle viel, aber manches müssen wir eben. Und du kommst mit mir in das Laufrad.«

Joseph nickte zustimmend.

»Hat noch keinem geschadet, die Sache von unten auf zu lernen. Master John, ich vermute, das hier ist Eure Fracht?«

»So ist es.«

»Dann zeigt, ob Ihr noch Saft in den Knochen habt.«

Das Laufrad des Tretkrans war fast zwei Mann hoch und innen mit Leisten belegt, auf die man zu treten hatte. Damit setzte sich das Rad in Bewegung und wickelte die Taue auf, an denen die Lasten hingen. Zwei Mann waren notwendig, um den Kran zu bedienen, und sie mussten gleichmäßig Fuß um Fuß setzen. Zwei weitere lenkten den Ausleger, einer bediente von außen die Bremse. Der Kranmeister gab den Aufladern Anweisungen, die Last festzumachen, und John schubste Cedric in das Rad.

»Hinter mich, Junge, und wehe, du trittst mir in die Fersen.«

Der Kranhaken wurde in die Seile um einen Ballen gehängt, Joseph gab das Zeichen zum Antritt. John marschierte los. Knarrend bewegte sich das Rad, und langsam straffte sich das Haltetau. Es war, als wäre er nie fort gewesen, mühelos fiel er in den Rhythmus der Arbeit und beförderte die Last nach oben. Ein Befehl ließ ihn langsamer werden, der Kran schwenkte nach links, der Ballen schwebte über das Deck der Kogge. Ein neuer Befehl, und er sprang aus dem Rad, zerrte Cedric mit sich. Die Auflader ließen die Last langsam absinken, lösten den Haken und drehten den Kran zurück zum Kai, um den nächsten Ballen festzumachen.

»Rein mit dir!«

Wieder zerrte er Cedric hinter sich und begann mit dem Treten.

Zwei Stunden lang arbeitete er in dem Kran, dann merkte er, dass der Junge am Ende seiner Kräfte angekommen war.

»Ablösung, Joseph«, sagte er leise. Der nickte und winkte zwei der anderen Arbeiter zu sich, die sich feixend eine Pause gegönnt hatten. John nestelte einige Silberstücke aus seinem Beutel und drückte sie dem Kranmeister in die Hand.

»Trinkt ein Bier auf mich, Joseph.«

»Mit Vergnügen, Master John. Ihr seht aus, als könntet Ihr noch bis zum Abend weitermachen, aber dieser Hänfling da, der ist zu nichts nutze.«

»Das wird schon noch. Als mein Lehrling wird er lernen müssen, was harte Arbeit ist. In zwei Jahren bringe ich ihn wieder zu dir, dann hält der volle vier Stunden durch.«

Cedric, der auf einen Tuchballen gesunken war, gab nur ein entsetztes Stöhnen von sich.

John hingegen war zufrieden mit seinem Tagewerk, warf sich die Heuke wieder über und gab Cedric ein Zeichen, ihm zu folgen. Auf wackeligen Beinen trottete der Junge zu ihm.

John vermeinte ein leises »Leuteschinder« zu vernehmen, ignorierte das aber.

So schlecht hatte das verweichlichte Bürschchen sich gar nicht gehalten.

Übermorgen würde das Schiff ablegen, und wenn alles ohne Probleme verlief, sollten sie in zwei Wochen Köln erreicht haben.

Beschwingt schritt John aus.

5. Kapitel

Denise flickte mit zierlichen Stichen ein Tischtuch, und wie es schien, war sie sogar in der Lage, die feine Stickerei auszubessern. Alyss stellte einen Korb mit süßen Wecken auf den Tisch und lobte sie für ihre Arbeit. Denise lächelte zaghaft.

»Besser als Gänse. Tuch zwickt nicht.«

»Lass dir von Lore zeigen, wie man Gog und Magog zähmt, Denise. Du darfst nicht immer schreiend weglaufen, wenn sie auf dich zukommen.«

»Isch ’abe Angst vor sie. Und vor Jennet. Und«, sie schauderte, »vor Malefiz.«

»Jennet hat Angst vor dir. Sie ist früher oft geschlagen worden. Du musst sanft mit ihr sprechen. Aber warum hast du vor dem Kater Angst?«

»Er ist le diable. ’ilda sagt, bringt Unglück, le chat noir.«

»Aber nein, Denise. Malefiz fängt die Mäuse aus der Speisekammer, und manchmal jagt er die Hühner über den Hof. Aber nachts kommt er in mein Bett und schnurrt mich in den Schlaf. Mich macht das sehr glücklich.«

Hilda mochte eine treffliche Haushälterin sein, aber sie war entsetzlich abergläubisch. Schon oft hatte Alyss ihr die Anwendung wunderlicher Rezepturen verbieten müssen, einzig Hildas festen Glauben daran, dass das Osterwasser glücksbringende Eigenschaften in sich trug, duldete sie, ja, sie war sogar zusammen mit den jungen Mädchen am Ostermorgen vor Sonnenaufgang zum Bach gewandert und hatte Krüge mit dem kostbaren Nass gefüllt.

Alle, einschließlich Lore, hatten sie darin gebadet. Zur allgemeinen Belustigung wurden die Planschereien von der scharfschnäbeligen Jungfer mit einem volltönenden Protest begleitet, der den Wortschatz aller Hausbewohner um viele neue, bildhafte Ausdrücke bereichert hatte. Vor allem den von Lucien. Immerhin, so freundete sich der Junge mit der neuen Sprache an. Und Denise, die eben die süßen Wecken beäugte, hatte von Lore auch schon einiges gelernt. Sie lächelte und wies auf das Gebäck: »Käferwecken?«

»Ebendiese. Aber die Käfer sind Rosinen. Das weißt du ja.«

Denise nickte und biss mit Genuss in den weichen Teig.

Alyss verließ die Stube wieder und wollte sich dem Zusammenstellen einer Lieferung Wein widmen, als sie im Hof den rundlichen Pfandleiher vorfand. Er rang die Hände.

»Frau Alyss!«

»Ambrosio di Como!«