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Oxnard Matheson ist zwölf als sein Vater die Familie verlässt. Ox fühlt sich ungeliebt und wertlos – und irgendwie anders als andere Jungs in seinem Alter. Ox ist sechzehn, als die Familie Bennett nach Green Creek kommt. Die Bennetts sind lebensfroh und charismatisch – und Werwölfe. Ox fühlt sich unwiderstehlich angezogen von dieser aufregenden neuen Welt voll Magie, Freundschaft und Abenteuer. Doch als Ox dreiundzwanzig ist, geschieht ein Mord und nichts ist mehr wie zuvor ...
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Seitenzahl: 898
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Oxnard Matheson ist zwölf Jahre alt, als sein Vater die Familie verlässt. Ox fühlt sich ungeliebt und wertlos – und irgendwie anders als andere Jungs in seinem Alter. Ox ist sechzehn, als die Familie Bennett nach Green Creek zieht. Die Bennetts sind lebensfroh und charismatisch – und sie sind Werwölfe. Von nun an besucht Ox die Familie jeden Tag, fühlt er sich doch unwiderstehlich angezogen von dieser aufregenden neuen Welt voll Magie, Freundschaft und Abenteuer. Vor allem Joe, der jüngste Sohn, scheint Ox zu verstehen wie niemand sonst. Doch als Ox dreiundzwanzig ist, kommt das Grauen nach Green Creek und Joe verlässt die Stadt. Ox bleibt mit gebrochenem Herzen zurück. Als Joe Jahre später zurückkehrt ist aus dem verständnisvollen Jungen von damals ein attraktiver Mann geworden, dessen Charisma Ox nicht mehr wiederstehen kann …
Der Autor
Im Alter von sechs Jahren griff T. J. Klune zu Stift und Papier und schrieb eine mitreißende Fanfiction zum Videospiel »Super Metroid«. Zu seinem Verdruss meldete sich die Videospiel-Company nie zu seiner Variante der Handlung zurück. Doch die Begeisterung für Geschichten hat T. J. Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit als Schadensregulierer bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung queerer Figuren in seinen Romanen wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Mit seinem Roman Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte gelang T. J. Klune der Durchbruch als international gefeierter Bestsellerautor.
Ein ausführliches Werkverzeichnis von T. J. Klune finden Sie am Ende des Bandes.
T. J. KLUNE
EIN GREEN-CREEK-ROMAN
Band 1
Aus dem Amerikanischen übersetztvon Michael Pfingstl
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe ist unter dem Titel Wolfsong bei Tor Books, einem Imprint der Macmillan Publishing Group, LLC, New York, erschienen.
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Das Zitat wurde übersetzt von Michael Pfingstl
Deutsche Erstausgabe: 05/2025
Copyright © 2016 by Travis Klune
Copyright der Bonusgeschichte © 2023 by Travis Klune
Published by Tor Books, einem Imprintder Macmillan Publishing Group, LLC, New York,Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, GbR, München,nach einer Vorlage von Chris Sickels / Red Nose Studios
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-32798-9V002
www.heyne.de
Für Ely wegen all der Tumblr-Links.
Du weißt, welche.
Das Verlangen ist echt.
»Bitte geh nicht, wir fressen dich auf,
wir lieben dich so sehr!«
Maurice Sendak,Wo die wilden Kerle wohnen
Ich war zwölf, als mein Dad einen Koffer neben die Tür stellte.
»Wofür ist der?«, fragte ich von der Küche aus.
Er seufzte, tief und grollend. Es dauerte ein bisschen, bis er sich zu mir umdrehte. »Wann bist du heimgekommen?«
»Vor ’ner Weile.« Meine Haut juckte.
Er warf einen Blick auf die alte Wanduhr. Die Plastikabdeckung hatte einen Sprung. »Schon später, als ich dachte. Hör zu, Ox …« Er schüttelte den Kopf. Wirkte durcheinander. Verwirrt. Mein Dad war vieles: ein Säufer, schnell mit Flüchen und Schlägen bei der Hand. Ein charmanter Teufel mit einem Lachen, so tief wie das Bollern der alten Harley-Davidson WLA, die wir letzten Sommer wieder flottgemacht hatten. Aber er war nie durcheinander, nie verwirrt. Nicht so wie jetzt.
Das Jucken war kaum auszuhalten.
»Du bist nicht der Schlauste«, sagte er und schaute auf seinen Koffer.
Das stimmte. Ich war nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte. Meine Mom sagte, ich sei in Ordnung. Mein Dad sagte, ich sei langsam. Meine Mom meinte, das Leben wäre schließlich kein Rennen. Damals hatte er schon tief ins Whiskeyglas geschaut und angefangen zu schreien und Sachen zu zertrümmern. Er hat sie nicht geschlagen, zumindest nicht an diesem Abend. Dafür habe ich gesorgt. Aber als er dann in seinem alten Sessel zu schnarchen angefangen hat, bin ich in mein Zimmer geschlichen und habe mich unter der Bettdecke versteckt.
»Ja, Sir«, erwiderte ich.
Er schaute mich an, und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich so was wie Liebe in seinen Augen gesehen habe. »Dumm wie’n Ochse«, sagte er. Es hörte sich nicht gemein an, wenn er es sagte. Es war einfach so.
Ich zuckte die Achseln. Ich hörte das nicht zum ersten Mal von ihm. Mom sagte zwar immer, dass er aufhören soll, aber es war okay. Er war schließlich mein Dad und wusste es am besten.
»Die Leute werden dich wie Scheiße behandeln«, sagte er. »Die meiste Zeit deines Lebens.«
»Ich bin stärker als die meisten«, sagte ich ernst. Die Leute hatten Angst vor mir, auch wenn ich es gar nicht wollte. Aber ich war stark. Wie mein Dad. Er war ein Schrank von einem Mann mit einer Plauze vom Trinken.
»Die Leute werden dich nicht verstehen«, sprach er weiter.
»Aha.«
»Werden sie nicht.«
»Das müssen sie auch gar nicht.« Ich wünschte es mir sehr, aber gleichzeitig wusste ich, dass es nie passieren würde.
»Ich muss los.«
»Wohin?«
»Weg. Hör zu …«
»Weiß Mom Bescheid?«
Dad lachte, doch es klang nicht so, als würde er irgendwas lustig finden. »Klar. Vielleicht. Sie hat gewusst, was passieren wird. Wahrscheinlich schon eine ganze Weile.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu. »Wann kommst du wieder?«
»Ox. Die Leute werden gemein zu dir sein. Ignorier sie einfach. Bleib cool.«
»Die Leute sind nicht gemein. Nicht immer.« Ich kannte nicht allzu viele Leute. Ich hatte keine Freunde, keine echten. Aber die, die ich kannte, waren nicht fies zu mir. Nur manchmal. Sie wussten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Die meisten jedenfalls, aber das war okay. Ich wusste auch nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte.
Und dann sagte Dad: »Du wirst mich ’ne Weile nicht mehr sehen. Vielleicht lange nicht.«
»Was ist mit der Werkstatt?«, fragte ich. Er arbeitete bei Gordo’s, roch nach Schmierfett, Öl und Metall, wenn er nach Hause kam. Seine Finger waren schwarz, und er hatte Hemden, auf denen sein Name stand. Curtis war in Rot und Weiß und Blau daraufgestickt. Ich fand das immer toll. Nur große Männer bekamen ein Hemd mit dem eigenen Namen drauf. Manchmal hat er mich mitgenommen. Als ich drei war, hat er mir gezeigt, wie man einen Ölwechsel macht. Mit vier, wie man einen Reifen wechselt. Wie man den Motor eines 1957er Chevy Bel Air Coupé restauriert, mit neun. An solchen Tagen habe ich beim Heimkommen nach Schmierfett und Öl und Metall gerochen und davon geträumt, ein Hemd mit meinem Namen darauf zu haben. Oxnard würde draufstehen. Oder vielleicht auch nur Ox.
»Gordo isses egal«, war alles, was mein Dad antwortete.
Das stimmte nicht. Gordo war gar nichts egal. Er war ein bärbeißiger Kerl, aber er hat einmal zu mir gesagt, wenn ich alt genug bin, könnte ich einen Job bei ihm haben. »Jungs wie wir müssen zusammenhalten«, hat er gesagt. Ich wusste zwar nicht, was er damit meinte, aber die Tatsache, dass er überhaupt an mich dachte, reichte mir.
»Oh«, war alles, was ich darauf sagen konnte.
»Ich bereue dich nicht«, sagte Dad. »Aber alles andere.«
Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte. »Geht es um …?« Wovon redete er?
»Hier zu sein«, sagte er. »Ich halt’s nicht mehr aus.«
»Halb so schlimm«, erwiderte ich. »Das lässt sich ändern.« Wir könnten einfach irgendwo anders hinziehen.
»Lässt es sich nicht, Ox.«
»Hast du dein Handy aufgeladen?«, fragte ich, weil er es immer vergaß. »Du musst es aufladen, damit ich dich anrufen kann. Wir haben in Mathe was Neues durchgenommen, und ich verstehe es nicht. Mr. Howse hat gesagt, du könntest mir helfen.« Dabei wusste ich genau, dass mein Dad Mathe genauso wenig kapierte wie ich. Der neue Stoff nannte sich Algebra. Einführung. Und das machte mir Angst, denn allein die Einführungen waren meistens schon schwer genug. Was würde erst passieren, wenn richtige Algebra drankam?
Ich kannte die Miene, die Dad daraufhin aufsetzte. Es war sein zorniges. Er war wütend. »Kapierst du es denn nicht?«, bellte er.
Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Nein«, sagte ich, denn ich kapierte es wirklich nicht.
»Ox«, sagte Dad. »Es wird kein Mathe geben und auch keine Anrufe. Bring mich nicht dazu, dich auch noch zu bereuen.«
»Oh«, sagte ich.
»Du musst jetzt ein Mann sein. Deshalb versuche ich, dir was beizubringen. Die Leute werden dich mit Scheiße bewerfen, aber du schüttelst sie einfach ab und machst weiter.« Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Warum, wusste ich nicht.
»Ich kann ein Mann sein«, versicherte ich, weil ich dachte, dann würde es ihm vielleicht wieder besser gehen.
»Ich weiß«, erwiderte er.
Ich lächelte ihn an, aber Dad schaute weg.
»Ich muss jetzt los«, sagte er schließlich.
»Wann kommst du wieder?«, fragte ich.
Er machte einen schwankenden Schritt Richtung Tür. Nahm einen rasselnden Atemzug. Bückte sich nach seinem Koffer und ging nach draußen. Ich hörte, wie er seinen alten Truck anließ. Der Motor stotterte kurz. Hörte sich an, als bräuchte er einen neuen Zahnriemen. Ich würde es ihm später sagen.
Mom kam an dem Abend spät nach Hause, nachdem sie eine Doppelschicht im Diner übernommen hatte. Sie fand mich in der Küche. Ich hatte mich nicht von der Stelle bewegt, seit mein Dad zur Tür rausgegangen war. Die Dinge würden sich jetzt ändern.
»Ox?«, fragte sie. »Was ist los?« Sie sah sehr müde aus.
»Hey, Mom«, sagte ich.
»Warum weinst du?«
»Ich weine nicht.« Tat ich auch nicht, denn ich war jetzt ein Mann.
Sie berührte mein Gesicht. Ihre Finger rochen nach Salz und Pommes frites und Kaffee. Ihre Daumen fuhren über meine feuchten Wangen. »Was ist passiert?«
Ich sah sie an – nach unten, weil sie schon immer klein gewesen war und ich sie irgendwann letztes Jahr überholt hatte. Ich wünschte, ich könnte mich an den Tag erinnern, an dem es passiert war. Es fühlte sich so wichtig an. »Ich werde mich um dich kümmern«, versprach ich. »Du musst dir nie Sorgen machen.«
Ihr Blick wurde weich. Ich konnte die Fältchen um ihre Augen erkennen, den müden Mund. »Das tust du auch jetzt schon. Aber …« Sie verstummte, atmete einmal tief durch. »Ist er gegangen?«, fragte sie und hörte sich so unglaublich klein an.
»Ich glaube, ja.« Ich wickelte eine ihrer Haarsträhnen um meine Finger. Sie waren dunkel wie meine. Wie die von meinem Dad. Wir waren alle dunkel.
»Was hat er gesagt?«, fragte sie.
»Dass ich jetzt ein Mann bin«, antwortete ich. Denn das war das einzig Wichtige.
Mom lachte und lachte, bis sie zusammenbrach.
Er hat das Geld nicht mitgenommen. Oder wenigstens nicht alles. Es war sowieso nicht viel.
Er hat auch keine Fotos mitgenommen. Nur ein paar Kleider. Seinen Rasierer. Seinen Truck. Ein paar von seinen Werkzeugen.
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich fast geglaubt, dass es ihn nie gegeben hat.
Vier Tage später rief ich ihn auf seinem Handy an. Es war mitten in der Nacht.
Es klingelte zweimal, dann sagte eine Stimme, dass die Nummer nicht mehr existierte.
Am nächsten Morgen musste ich mich bei Mom entschuldigen. Ich hatte den Hörer so fest umklammert gehalten, dass er einen Sprung bekommen hatte. Sie sagte, es wäre halb so schlimm, und wir redeten nie wieder darüber.
Ich war sechs, als mein Dad mir einen eigenen Werkzeugkasten kaufte. Kein Kinderkram, kein buntes Plastik, sondern kalt und aus Metall und echt.
»Halte es gut sauber«, sagte er zu mir. »Und Gott steh dir bei, wenn du es draußen rumliegen lässt. Das Zeug rostet, und dann zieh ich dir die Haut vom Leib. Dafür ist es nicht gedacht. Hast du verstanden?«
Ich berührte das Geschenk ehrfürchtig. »Okay«, sagte ich nur, weil ich keine Worte fand, um auszudrücken, wie überglücklich ich war.
An einem Morgen, zwei Wochen nachdem er gegangen war, stand ich in ihrem Zimmer. Mom war wieder im Diner, wieder eine Doppelschicht. Ihre Füße würden brennen wie die Hölle, wenn sie nach Hause kam.
Sonnenlicht fiel durchs Fenster herein, kleine Staubflocken tanzten im Licht.
Das Zimmer roch nach ihm. Nach ihr. Nach ihnen beiden. Nach einer Einheit. Es sollte noch lange dauern, bis das aufhörte. Aber es hörte auf. Irgendwann.
Ich schob die Tür des Kleiderschranks auf. Die eine Seite war größtenteils leer, aber ein bisschen was war noch darin. Bruchstücke eines Lebens, das niemand mehr lebte.
Zum Beispiel seine Arbeitshemden. Vier Stück, sie hingen ganz hinten. Gordo’s stand in Kursivschrift darauf.
Curtis, auf jedem einzelnen davon. Curtis, Curtis, Curtis.
Ich berührte sie alle vorsichtig mit meinen Fingerspitzen.
Ich nahm das letzte von seinem Bügel. Streifte es mir über die Schultern. Es fühlte sich schwer an und roch nach Mann und Schweiß und Arbeit. »Okay, Ox«, sagte ich. »Du schaffst das.«
Ich begann, es zuzuknöpfen, aber meine Finger verhedderten sich. Sie waren zu grobschlächtig, plump. Ich war tollpatschig, dumm und hässlich. Zu lange Arme und Beine. Ich war einfach zu groß.
Als ich den letzten Knopf endlich zubekommen hatte, schloss ich die Augen und atmete einmal tief ein. Rief mir ins Gedächtnis, wie Mom an jenem Tag ausgesehen hatte. Die violetten Schatten unter ihren Augen, die hängenden Schultern. »Sei ein braver Junge, Ox«, hatte sie gesagt. »Versuch, keinen Ärger zu machen.« Als wäre das das Einzige in meinem Leben. Als würde ich ständig Ärger machen.
Ich öffnete die Augen wieder und sah in den Spiegel an der Schranktür.
Das Hemd war zu groß. Oder ich zu klein. Ich weiß nicht, was von beidem. Ich sah aus wie ein Kind in Verkleidung. Wie ein Hochstapler.
Ich runzelte die Stirn, senkte meine Stimme und sagte: »Ich bin ein Mann.«
Ich glaubte mir nicht.
»Ich bin ein Mann.«
Ich zuckte zusammen.
»Ich bin ein Mann.«
Schließlich zog ich das Hemd wieder aus und hängte es zurück in den Schrank. Schob die Tür wieder zu, während die Staubflocken noch immer im allmählich schwächer werdenden Licht tanzten.
Gordo’s.«
»Hi, Gordo.«
Ein Brummen. »Wer ist dran?«
Als ob er das nicht genau wüsste. »Ox.«
»Oxnard Matheson! Hab grad an dich gedacht.«
»Echt?«
»Nö. Was willst du?«
Ich grinste. Es war ein ungewohntes Gefühl auf meinem Gesicht. »Ich freue mich auch, mal wieder mit dir zu plaudern.«
»Ja, schon gut. Hab dich schon eine Weile nich mehr hier gesehen, Kleiner.« Er war angepisst wegen meiner Abwesenheit.
»Ich weiß. Ich musste …« Ich hatte keine Ahnung, was genau.
»Wie lange isses jetzt her, dass der Samenspender sich verpisst hat?«
»Zwei Monate ungefähr, glaub ich.« Siebenundfünfzig Tage, zehn Stunden und zweiundvierzig Minuten.
»Scheiß auf ihn. Das weißt du hoffentlich, oder?«
Wusste ich, aber er war immer noch mein Dad. Also vielleicht auch nicht. »Klar«, antwortete ich.
»Geht’s deiner Mom gut?«
»Yep.« Nein. Wahrscheinlich eher nicht.
»Ox.«
»Nein. Ich weiß es nicht.«
Er seufzte.
»Wie wär’s mit ’ner Raucherpause?«, fragte ich, und das tat weh, weil es so vertraut war. Ich konnte den Rauch fast riechen, ihn in meiner Lunge brennen spüren. Ich konnte förmlich sehen, wie Gordo hinter der Werkstatt saß, die Stirn gerunzelt und eine Zigarette im Mundwinkel, die ausgestreckten Beine übereinandergeschlagen. Das Öl unter den Fingernägeln und die leuchtend bunten Tattoos auf seinen Armen. Raben und Blumen und Muster, die bestimmt eine Bedeutung hatten, die ich aber nicht verstand.
»’nen Sargnagel? Immer gerne, Mann.«
»Du könntest aufhören«, schlug ich vor.
»Ich bin niemand, der mit irgendwas aufhört, Ox.«
»Ja, zu alt, um was Neues zu lernen.«
Gordo schnaubte. »Ich bin vierundzwanzig.«
»Alt, sag ich doch.«
»Ox.«
Er wusste es. Also sagte ich es ihm. »Uns geht’s nicht gut.«
»Die Bank?«
»Sie denkt, ich sehe sie nicht. Die Briefe.«
»Wie lange seid ihr schon im Verzug?«
»Keine Ahnung.« Ich schämte mich. Ich hätte nicht anrufen sollen. »Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Ox«, bellte er. Kurz und klar. »Wie viel?«
»Sieben Monate.«
»Das verdammte Arschloch.« Gordo klang wütend.
»Aber er …«
»Lass es, Ox. Lass es einfach.«
»Ich hab nachgedacht.«
»Oje.«
»Könnte ich …?« Meine Zunge fühlte sich bleischwer an.
»Spuck’s aus.«
»Könnte ich einen Job haben?«, platzte ich heraus. »Wir brauchen Geld, und sie darf das Haus nicht verlieren. Es ist alles, was wir noch haben. Ich würde mich wirklich anstrengen, Gordo. Gute Arbeit abliefern und für immer bleiben. Es wäre sowieso irgendwann passiert, dann können wir es doch auch gleich machen, oder? Bitte. Es muss jetzt sein, weil ich jetzt der Mann bin.« Meine Kehle brannte. Ich sehnte mich nach einem Schluck Wasser, konnte meine Beine aber nicht dazu bringen, sich zu bewegen.
Gordo sagte ein paar Momente lang gar nichts. Dann: »Ich glaube, ich habe dich noch nie so viel am Stück reden hören.«
»Ich rede nicht viel.« Offensichtlich.
»Wirklich?« Er klang amüsiert. »Okay, wir machen das folgendermaßen …«
Er gab meiner Mom das Geld, das sie der Bank schuldete. Sagte, er würde es mit meinem Lohn verrechnen, den er mir unter der Hand auszahlen würde, bis ich legal für ihn arbeiten könnte.
Mom hat geweint. Sie sagte Nein, aber dann merkte sie, dass sie nicht Nein sagen konnte. Also weinte sie und sagte Ja und musste Gordo versprechen, dass sie Bescheid gab, wenn es wieder Probleme geben sollte. Ich glaube, Mom war hin und weg und hat ihn vielleicht ein bisschen strahlender angelächelt. Vielleicht hat sie ein bisschen gelacht. Vielleicht ein bisschen mit den Hüften gewackelt.
Sie wusste nicht, dass ich Gordo mal mit einem Mann gesehen hatte, als ich sechs war oder so. Er fasste ihn leicht am Arm, als sie ins Kino gingen. Gordo lachte laut, und seine Augen strahlten. Ich glaubte nicht, dass er sich für meine Mom interessierte. Ich sah ihn nie wieder mit diesem Mann und auch nicht mit jemand anderem. Ich wollte ihn danach fragen, aber da war so ein angespannter Ausdruck um seine Augen, der vorher nicht da gewesen war, also ließ ich es bleiben. Menschen mögen es nicht, wenn man sie an traurige Dinge erinnert.
Die Briefe und die Anrufe von der Bank hörten auf.
Es dauerte nur sechs Monate, unsere Schulden bei Gordo zurückzuzahlen. Sagte er zumindest. Mit Geld kannte ich mich nicht so gut aus, aber es kam mir vor, als hätte es eigentlich länger dauern müssen. Gordo sagte, wir wären quitt, und das war’s.
Auch danach sah ich nicht viel von dem Geld. Gordo meinte, er hätte ein Konto für mich eröffnet, damit Zinsen auflaufen. Ich hatte keine Ahnung, was »Zinsen auflaufen« bedeutet, aber ich vertraute ihm. »Für magere Zeiten«, sagte er.
Mager gefiel mir nicht.
Ich hatte einmal einen Freund. Er hieß Jeremy und trug eine Brille und lächelte oft unsicher. Wir waren beide neun. Er mochte Comics und zeichnete gern, und eines Tages schenkte er mir ein Bild von mir als Superhelden. Mit Cape und allem Drum und Dran. Es war die tollste Zeichnung, die ich je gesehen hatte. Dann ist Jeremy nach Florida gezogen, und als ich mit meiner Mom auf der Karte nachschaute, stellten wir fest, dass es von Oregon aus gesehen genau am anderen Ende des Landes liegt.
»Die Leute bleiben nicht in Green Creek«, sagte sie, während ich mit meinem Finger die Straßen auf der Karte nachfuhr. »Hier gibt es nichts.«
»Wir sind geblieben«, erwiderte ich.
Sie schaute weg.
Sie täuschte sich. Einige Leute blieben. Nicht viele, aber manche schon. Sie zum Beispiel. Ich. Und Gordo. Die, mit denen ich zur Schule ging, auch wenn sie eines Tages vielleicht wegziehen würden. Green Creek lag im Sterben, aber es war nicht tot. Wir hatten einen Gemüseladen. Das Diner, in dem Mom arbeitete. Einen McDonald’s. Ein Kino mit einem einzigen Saal, das Filme aus den Siebzigern zeigte. Einen Schnapsladen mit Eisengittern vor dem Fenster. Ein Perückengeschäft mit Mannequinköpfen in der Auslage mit roten und schwarzen und gelben Haaren. Gordos Werkstatt. Eine Tankstelle. Zwei Ampeln und eine Schule. Alles im Herzen der Wälder im Herzen der Cascade Mountains.
Ich verstand nicht, warum die Leute hier wegwollten. Für mich war es mein Zuhause.
Wir wohnten zwischen den Bäumen am Ende einer unbefestigten Straße. Das Haus war blau, die Fensterrahmen weiß. Die Farbe blätterte ab, aber das war nicht so wichtig. Im Sommer roch es nach Gras, Flieder, Thymian und Kiefernzapfen. Im Herbst knirschte das Laub unter meinen Füßen. Im Winter stieg Rauch aus dem Schornstein und vermischte sich mit den Schneeflocken. Im Frühling zwitscherten die Vögel in den Bäumen, und nachts rief eine Eule bis in den frühen Morgen hu-huu, hu-huu!
Ein Stückchen weiter wurde die Straße zu einem Feldweg mit einem Haus ganz am Ende. Ich konnte es durch die Bäume sehen. Meine Mom sagte, es sei unbewohnt, aber manchmal stand ein Auto oder ein Truck davor, und nachts brannte Licht. Es war ein großes Haus mit vielen Fenstern. Ich hätte gerne mal das Innere gesehen, aber die Fenster waren immer abgedeckt. Manchmal vergingen Monate, bis ich wieder ein Auto davorstehen sah.
»Wer hat da gewohnt?«, fragte ich meinen Dad, als ich zehn war.
Er grunzte und machte sich noch ein Bier auf.
»Wer hat da gewohnt?«, fragte ich meine Mom, als sie von der Arbeit nach Hause kam.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und berührte mein Ohr. »Es war leer, als wir hergezogen sind.«
Ich habe nie jemand anderen gefragt. Weil ich das Geheimnis um das Haus spannender fand als die Realität, redete ich mir ein.
Ich habe nie gefragt, warum wir nach Green Creek gezogen sind, als ich drei war. Ich habe nie gefragt, ob ich Großeltern oder Cousins hatte. Wir waren immer nur zu dritt, bis wir nur noch zu zweit waren.
»Glaubst du, er kommt wieder?«, fragte ich Gordo, als ich vierzehn war.
»Diese Scheißcomputer«, murmelte Gordo und drückte einen weiteren Knopf auf dem Nexiq, den er an das Auto angeschlossen hatte. »Alles funktioniert nur noch mit Computern.« Er drückte den nächsten Knopf und bekam ein zorniges Piepen zu hören. »Bloß nicht selber nachschauen, wo das Problem liegt – nein, alles geht nur noch mit Diagnosecodes und vollautomatisch. Mein Opa brauchte sich nur den Leerlauf anzuhören, dann wusste er, was Sache ist.«
Ich nahm ihm den Nexiq aus der Hand und rief das richtige Menü auf. Schlug den Code nach und gab ihm das Gerät zurück. »Der Katalysator.«
»Dachte ich’s mir doch«, sagte Gordo mürrisch.
»Das wird teuer.«
»Ich weiß.«
»So viel Geld hat Mr. Fordham nicht.«
»Ich weiß.«
»Du wirst ihm nicht den vollen Preis berechnen, oder?« Denn so war Gordo nun mal. Kümmerte sich um andere, wollte aber nicht, dass jemand es mitbekam.
»Nein. Fahr den Wagen auf die Hebebühne, okay?«
Mom saß am Küchentisch, einen Haufen Papiere vor sich ausgebreitet. Sie sah traurig aus.
Ich wurde nervös. »Wieder die Bank?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sondern?«
»Ox. Ich …« Sie nahm ihren Stift, fing an zu unterschreiben und hörte schon nach dem ersten Buchstaben wieder auf. Legte den Stift hin und sah mich an. »Du wirst es gut bei mir haben.«
»Ich weiß«, sagte ich, und das stimmte.
Sie nahm den Stift wieder in die Hand und unterschrieb. Dann noch mal und noch mal und noch mal. An ein paar Stellen auch nur mit ihren Initialen.
Als sie fertig war, sagte sie: »Das wäre dann also erledigt.« Dann stand sie lachend auf und nahm mich an der Hand, und dann tanzten wir zusammen zu einem unhörbaren Lied. Nach einer Weile ging sie.
Es war bereits dunkel, als ich mir die Unterlagen auf dem Tisch ansah.
Es waren Scheidungspapiere.
Sie nahm wieder ihren Mädchennamen an: Callaway.
Fragte mich, ob ich meinen auch ändern möchte.
Ich sagte Nein. Dass ich Matheson zu einem guten Namen machen würde.
Mom glaubte, ich hätte ihre Tränen nicht gesehen, als ich das sagte. Habe ich aber.
Ich saß in der Cafeteria. Es war laut. Ich konnte mich nicht konzentrieren, und mein Kopf tat weh.
Ein Typ namens Clint ging mit seinen Freunden an meinem Tisch vorbei.
Ich war allein.
»Verdammter Idiot«, sagte er.
Seine Freunde lachten.
Ich stand auf und sah die Angst in seinen Augen. Ich war größer als er.
Dann drehte ich mich weg und ging nach draußen, weil meine Mom meinte, dass ich mich nicht mehr prügeln sollte.
Clint machte noch einen Kommentar hinter meinem Rücken und seine Freunde lachten wieder.
Ich sagte mir, wenn ich mal Freunde habe, würden wir nicht so gemein zu anderen sein.
Als ich mich draußen hinsetzte, belästigte mich niemand mehr. Es war fast schön. Mein Sandwich schmeckte gut.
Manchmal ging ich im Wald spazieren. Im Wald waren die Dinge klarer.
Die Bäume wiegten sich in der Brise, und die Vögel erzählten mir Geschichten.
Sie urteilten nicht über mich.
Einmal hob ich einen Stock vom Boden auf und tat, als wäre er ein Schwert.
Sprang über einen Bach, aber der Bach war zu breit, und meine Füße wurden nass.
Ich streckte mich auf dem Rücken aus und schaute in den Himmel, während meine Socken trockneten.
Ich grub meine Zehen in die weiche Erde.
Eine Libelle landete auf einem Stein gleich neben mir. Sie war blau und grün. Die Flügel hatten blaue Adern, ihre Augen waren schwarz und glänzten. Dann flog sie wieder weg, und ich fragte mich, wie lange sie wohl leben würde.
Zu meiner Rechten bewegte sich etwas. Ich sah hin und hörte ein Knurren. Ich sollte weglaufen, dachte ich, aber meine Füße wollten irgendwie nicht. Meine Hände auch nicht. Und ich wollte meine Socken nicht einfach liegen lassen.
Also sagte ich: »Hallo.«
Es kam keine Antwort, aber ich wusste, dass dort etwas war.
»Ich heiße Ox. Alles gut.«
Ein Lufthauch, fast wie ein Seufzer.
Ich sagte, dass ich den Wald mag.
Etwas Schwarzes blitzte kurz auf und verschwand.
Als ich nach Hause kam, hatte ich Laub in den Haaren und vor dem leeren Haus am Ende des Feldwegs parkte ein Auto.
Am nächsten Tag war es wieder weg.
Es war Winter und ich ging von der Schule direkt zum Diner. Ich hatte Weihnachtsferien, drei Wochen voller Arbeit in der Werkstatt vor mir, und ich war glücklich.
Das Glöckchen läutete, als ich die Tür zum Oasis aufmachte, und es fing wieder an zu schneien. Gleich neben der Tür stand eine aufblasbare Palme. Von der Decke hing eine Sonne aus Pappmaché. Vier Leute saßen am Tresen und tranken Kaffee. Es roch nach Fett. Ich liebte es.
Eine Kellnerin namens Jenny machte eine Kaugummiblase und lächelte mir zu. Sie war zwei Klassen über mir. Manchmal lächelte sie mir auch in der Schule zu. »Hey, Ox«, sagte sie.
»Hi.«
»Kalt draußen?«
Ich zuckte die Achseln.
»Deine Nase ist ganz rot.«
»Oh.«
Sie lachte. »Hast du Hunger?«
»Und wie!«
»Setz dich. Ich hol dir Kaffee und sag deiner Mom, dass du hier bist.«
Ich ging zu meinem üblichen Tisch ganz hinten. Es war nicht wirklich meiner, aber jeder wusste, dass das mein Platz war.
»Maggie!«, hörte ich Jenny in die Küche rufen. »Ox ist da.« Sie zwinkerte mir zu und brachte Mr. Marsh einen Teller mit Eiern und Toast. Der setzte ein durchtriebenes Flirt-Lächeln auf, obwohl er schon vierundachtzig war. Jenny kicherte, und Mr. Marsh aß seine Eier. Er gab Ketchup darauf, was ich komisch fand.
»Hey«, sagte Mom und stellte mir eine Tasse Kaffee hin.
»Hi.«
Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und strich die Schneeflocken weg. Sie schmolzen auf meinen Schultern. »Sind die Prüfungen gut gelaufen?«
»Glaub schon.«
»Hast du genug gelernt?«
»Vielleicht. Aber ich habe vergessen, wer Stonewall Jackson war.«
Sie seufzte. »Ox.«
»Es ist okay«, versicherte ich. »Den Rest habe ich.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Und sie glaubte mir, weil ich nie log. »Hunger?«
»Ja. Kann ich …«
Das Türglöckchen läutete wieder. Ein Mann kam herein. Er kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich nicht erinnern, woher. Er war in Gordos Alter, groß und breitschultrig mit vollem, hellem Bart. Er strich sich mit der Hand über den rasierten Kopf, schloss die Augen und atmete tief ein. Dann blies er die Luft langsam wieder aus. Ich schwöre, als er die Augen öffnete, blitzten sie kurz auf, und danach waren sie wieder nur blau.
»Gib mir eine Sekunde, Ox«, sagte Mom und ging zu dem Mann. Ich tat mein Bestes, nicht hinzusehen. Er war fremd hier, aber da war noch etwas anderes. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und überlegte, was.
Er hatte den Tisch gleich neben meinem, wir saßen einander zugewandt. Er lächelte kurz. Es war ein nettes Lächeln, breit und strahlend. Mom gab ihm die Karte und sagte, sie wäre gleich wieder da. Ich sah, wie Jenny den Mann von der Küche aus beobachtete. Sie schob ihre Brüste zurecht, strich ihre Haare glatt und nahm die Kaffeekanne. »Ich übernehme das«, sagte sie. Mom verdrehte die Augen.
Jenny war sehr charmant zu ihm, und der Mann lächelte höflich. Sie berührte seine Hand, nur ganz leicht mit den Fingernägeln. Er bestellte eine Suppe. Sie lachte. Er bat um Sahne und Zucker für seinen Kaffee. Sie sagte, dass sie Jenny heißt. Er fragte, ob er noch eine Serviette haben kann. Sie verließ den Tisch und sah ein bisschen enttäuscht aus.
»Rundumservice …«, murmelte ich, und der Mann lachte leise, als hätte er es gehört.
»Weißt du inzwischen, was du haben willst, Kleiner?«, fragte Mom, als sie wieder an meinen Tisch kam.
»Burger.«
»Eine gute Wahl, mein Hübscher.«
Ich lächelte, denn ich liebte sie.
Der Mann schaute meiner Mom hinterher, als sie wieder ging. Seine Nasenflügel blähten sich, dann sah er mich an und neigte den Kopf. Seine Nasenflügel blähten sich wieder, als würde er … schnuppern?
Ich machte es ihm nach und sog die Luft ein. Sie roch wie immer.
Der Mann lachte und schüttelte den Kopf. »Es war nichts Unangenehmes«, sagte er mit tiefer, freundlicher Stimme. Er lächelte wieder.
»Das ist schön«, erwiderte ich.
»Ich bin Mark.«
»Ox.«
Er hob eine Augenbraue. »Wirklich?«
»Oxnard.« Ich zuckte die Achseln. »Alle nennen mich Ox.«
»Ox«, wiederholte er. »Ein starker Name.«
»Stark wie ein Ochse?«, fragte ich.
Er lachte. »Bekommst du das oft zu hören?«
»Kann sein.«
Er sah aus dem Fenster und sagte: »Mir gefällt’s hier.« Es schien noch so viel mehr in diesen Worten zu liegen, aber ich kam beim besten Willen nicht dahinter, was.
»Mir auch. Aber Mom sagt, die Leute bleiben hier nicht.«
»Du bist hier«, entgegnete er.
»Bin ich.«
»Ist das deine Mom?« Er nickte Richtung Küche.
»Ja.«
»Dann ist sie auch hier. Es bleiben vielleicht nicht alle, aber manche schon.« Er betrachtete seine Hände. »Und vielleicht kommen manche auch wieder.«
»Du meinst, nach Hause?«, fragte ich.
Wieder dieses Lächeln. »Ja, Ox. Nach Hause. Genau so riecht es hier. Nach Zuhause.«
»Ich rieche nur Speck«, sagte ich verlegen.
Mark lachte. »Ich weiß. Im Wald steht ein Haus, ganz am Ende der McCarthy. Es ist leer.«
»Ich kenne das Haus! Ich wohne gleich daneben.«
Er nickte. »Das dachte ich mir fast. Das würde erklären, warum du riechst w…«
Jenny kam und brachte seine Suppe. Er war wieder höflich zu ihr, aber nicht mehr. Nicht so wie zu mir.
Ich öffnete gerade den Mund, um ihn etwas zu fragen (egal was), als meine Mom zurückkam. »Lass ihn in Ruhe«, schimpfte sie und stellte mir meinen Teller hin. »Es ist unhöflich, Leute beim Essen zu stören.«
»Aber …«
»Schon okay«, sagte Mark. »Ich bin derjenige, der sich aufgedrängt hat.«
Mom wirkte skeptisch. »Wenn Sie es sagen.«
Mark nickte und löffelte weiter seine Suppe.
»Du bleibst im Diner, bis ich mit meiner Schicht fertig bin«, sagte Mom zu mir. »Ich will nicht, dass du bei diesem Wetter zu Fuß nach Hause gehst. Es dauert nur bis um sechs. Vielleicht können wir uns heute Abend zusammen einen Film ansehen.«
»Okay. Aber ich habe Gordo versprochen, dass ich morgen schon früh in der Werkstatt bin.«
»Keine Ferien für dich, hm?« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und ließ mich wieder allein.
Ich wollte Mark mit weiteren Fragen löchern, aber ich habe schließlich Manieren, also aß ich stattdessen meinen Burger. Er war leicht angebrannt, genau wie ich es mag.
»Gordo?«, wiederholte Mark. Es klang wie eine Frage, aber auch ein bisschen so, als würde er den Namen auf der Zunge schmecken. Sein Lächeln wirkte plötzlich traurig.
»Das ist mein Boss. Ihm gehört die Autowerkstatt.«
»Tatsächlich?«, fragte Mark. »Wer hätt’s gedacht?«
»Was gedacht?«
»Sieh zu, dass sie bei dir bleibt«, sprach Mark einfach weiter. »Deine Mom.«
Ich schaute ihn an. »Wir sind nur noch zu zweit«, sagte ich leise, als wäre es ein Geheimnis.
»Dann erst recht. Aber die Dinge werden sich bald ändern, glaube ich. Für euch beide. Für uns alle.« Er wischte sich den Mund ab, zog seinen Geldbeutel heraus und legte einen gefalteten Schein auf den Tisch. Dann stand er auf und zog seinen Mantel wieder an. Bevor er ging, warf er mir noch einen letzten Blick zu. »Wir werden uns alle bald wiedersehen, Ox.«
»Wer?«
»Ich, du und meine Familie.«
»Im Haus?«
Er nickte. »Ich glaube, die Zeit ist reif heimzukehren.«
»Können wir …« Aber ich verstummte, ich war schließlich nur ein Kind.
»Was, Ox?« Mark sah mich neugierig an.
»Können wir Freunde sein, wenn du wiederkommst? Ich habe nicht besonders viele.« Genau genommen hatte ich keinen einzigen außer Gordo und meiner Mom, aber ich wollte Mark nicht damit erschrecken.
»Nicht besonders viele?«, hakte er nach.
»Ich spreche zu langsam«, sagte ich und schaute meine Hände an. »Manchmal auch gar nicht. Die meisten mögen das nicht.« Oder sie mochten mich nicht, aber ich hatte ohnehin schon zu viel geredet.
»Es ist völlig in Ordnung, wie du sprichst.«
»Vielleicht.« Wenn mehrere Leute das sagten, war vielleicht sogar was dran.
»Ox, ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, okay?«
»Klar.« Ich war sehr aufgeregt, denn Geheimnisse verriet man nur Freunden, und vielleicht bedeutete das, dass wir Freunde waren.
»Oft haben die, die am leisesten sprechen, am meisten zu sagen. Und, ja, ich glaube, dass wir Freunde sein werden.«
Dann ging er.
Danach sah ich meinen Freund siebzehn Monate lang nicht mehr.
Als ich in der Nacht im Bett lag und auf den Schlaf wartete, hörte ich ein Heulen tief im Wald. Es schwoll an wie ein Lied, bis ich wusste, dass auch ich es singen wollte, dieses und kein anderes. Es ging immer weiter, bis ich nur noch Zuhause denken konnte, Zuhause, Zuhause, Zuhause. Schließlich verstummte es, und ich dämmerte weg.
Später sagte ich mir, dass es ein Traum gewesen sein musste.
»Hier«, sagte Gordo an meinem fünfzehnten Geburtstag und hielt mir ein schlampig eingewickeltes Päckchen hin. Auf dem Papier waren Schneemänner abgebildet. Die anderen von der Werkstatt waren auch da: Rico, Tanner, Chris. Alle jung, mit lebendigen, strahlenden Augen. Freunde von Gordo, die mit ihm gemeinsam in Green Creek aufgewachsen waren. Alle grinsten mich an und warteten. Als würden sie ein Geheimnis kennen, von dem ich noch nichts ahnte.
»Es ist Mai«, sagte ich.
Gordo verdrehte die Augen. »Mach das verfluchte Ding auf.« Er lehnte sich in seinem halb kaputten Stuhl hinter der Werkstatt zurück und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Die Farben seiner Tattoos wirkten kräftiger als sonst. Ich fragte mich, ob er sie hatte nachstechen lassen.
Ich riss das Papier auf, laut und hektisch. Eigentlich wollte ich den Moment möglichst in die Länge ziehen, denn ich bekam nicht oft Geschenke, aber ich konnte es einfach nicht erwarten. Obwohl es nur Sekunden dauerte, fühlte es sich an wie eine Ewigkeit.
»Das«, sagte ich schließlich. »Das ist …«
Es war Anerkennung. Es war Leichtigkeit. Es war Schönheit. Ich fragte mich, ob das bedeutete, dass ich endlich atmen konnte. Ob ich jetzt meinen Platz in einer Welt gefunden hatte, die ich nicht verstand.
Es war bestickt. Rot und weiß und blau. Zwei Buchstaben.
Ox, stand auf dem Hemd.
Als wäre der Name wichtig, als würde er etwas bedeuten.
Als wäre ich wichtig.
Männer weinen nicht. Mein Dad hat mir das beigebracht. Männer weinen nicht, denn sie haben keine Zeit dazu.
Ich war offensichtlich noch kein Mann, denn ich weinte. Mein Kopf sank nach vorn, und ich begann zu schluchzen.
Rico drückte meine Schulter.
Tanner tätschelte meinen Kopf.
Chris stupste mich am Fuß an.
Sie standen um mich herum wie ein Sichtschirm, damit niemand meine Tränen sah, falls jemand reinkam.
Gordo legte seine Stirn an meine und sagte: »Du gehörst jetzt zu uns.«
Etwas Warmes erblühte in mir, als wäre in meiner Brust die Sonne aufgegangen. Ich fühlte mich so lebendig wie schon lange nicht mehr.
Später halfen sie mir beim Anziehen. Das Hemd saß perfekt.
Es war Winter, Gordo machte gerade eine Raucherpause.
»Kann ich eine haben?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn du’s deiner Ma nicht verrätst.« Er klappte die Schachtel auf, zog eine für mich heraus und schirmte sein Feuerzeug mit der Hand gegen den Wind ab. Ich klemmte die Kippe zwischen meine Lippen und hielt sie in die Flamme. Ich atmete ein. Die Zigarette brannte. Ich hustete. Meine Augen tränten, grauer Rauch kam aus meiner Nase und meinem Mund.
Der zweite Zug fiel mir schon ein bisschen leichter.
Die anderen lachten. Ich überlegte, ob wir jetzt Freunde waren.
Manchmal dachte ich, ich träume, merkte dann aber, dass ich wach war.
Es wurde immer schwieriger aufzuwachen.
Vier Monate später zwang Gordo mich, mit dem Rauchen wieder aufzuhören. Er sagte, es wäre besser so für mich.
Ich erwiderte, er würde nur nicht wollen, dass ich weiter seine Zigaretten klaue.
Er gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf und sagte, ich soll mich wieder an die Arbeit machen.
Danach rauchte ich nicht mehr.
Wir waren immer noch Freunde.
Einmal fragte ich ihn nach seinen Tattoos.
All diese Formen und Muster, als ob eine Bedeutung dahinterstecken würde. Die leuchtenden Farben und seltsamen Symbole, die mir bekannt vorkamen wie ein Wort, das mir auf der Zunge lag. Ich wusste, dass sie seine gesamten Arme bedeckten. Was sonst noch alles, wusste ich nicht.
Er sagte: »Jeder hat eine Vergangenheit, Ox.«
»Ist das deine?«
Er schaute weg. »So was in der Art.«
Ich fragte mich, ob ich meine Vergangenheit jemals in Form von Strudeln, Farben und Formen auf meiner Haut verewigen würde.
An meinem sechzehnten Geburtstag geschahen zwei Dinge:
Ich wurde fest bei Gordo’s angestellt, bekam eine eigene Visitenkarte und alles. Gordo half mir beim Ausfüllen der Steuerunterlagen, weil ich sie nicht verstand. Dieses Mal weinte ich nicht. Die Jungs klopften mir auf die Schulter und scherzten, dass sie jetzt endlich nicht mehr in einem Sweatshop mit illegaler Kinderarbeit angestellt waren. Gordo gab mir einen Schlüssel für die Werkstatt und schmierte mir Motorfett auf die Wangen. Ich grinste ihn wortlos an. Ich glaube nicht, dass ich jemals so glücklich gewesen war.
An diesem Nachmittag ging ich nach Hause und sagte mir, dass ich jetzt ein Mann war.
Dann passierte die zweite Sache:
Das leere Haus am Ende des Feldwegs war nicht mehr leer, und ein Junge stand davor.
Ich ging den Feldweg entlang auf das Haus zu.
Es war warm, und ich zog mein Arbeitshemd aus, das Tanktop ließ ich an. Eine Brise kühlte meine Haut.
Der Schlüsselring für die Werkstatt wog schwer in meiner Tasche. Ich zog ihn heraus und betrachtete ihn. Ich hatte noch nie so viele Schlüssel besessen. Ich fühlte mich verantwortlich für etwas.
Ich steckte ihn wieder ein, damit ich ihn nicht verlor.
»Hey! Hey, du da! Hallo!«, rief jemand.
Ich blickte auf.
Ein Junge stand da und beobachtete mich. Seine Augen waren leuchtend blau und groß, und seine Nase zuckte. Kurze blonde Haare und braune Haut, fast so dunkel wie meine. Er sah so jung und klein aus, und ich fragte mich, ob ich vielleicht wieder träumte.
»Hallo«, sagte ich.
»Wer bist du?«, fragte der Junge.
»Ich bin Ox.«
»Ox? Ox! Riechst du das?«
Ich schnupperte, aber ich roch nichts außer dem Wald. »Ich rieche Bäume«, antwortete ich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Was Größeres.«
Er kam auf mich zu und seine Augen strahlten immer heller. Schließlich rannte er.
Er war vielleicht neun oder zehn Jahre alt und nicht sehr groß. Als er gegen meine Oberschenkel prallte, schwankte ich kaum. Dann kletterte er an mir hinauf, schlang seine Beine um meine Hüfte und zog sich nach oben, bis er die Arme um meinen Hals legen und mir in die Augen sehen konnte. »Du bist es!«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. »Wer bin ich?«, fragte ich und hielt ihn fest, damit er nicht herunterfiel.
Er nahm mein Gesicht zwischen die Hände und drückte meine Wangen. »Warum riechst du so?«, fragte er. »Woher kommst du? Lebst du im Wald? Was bist du? Wir sind gerade erst angekommen. Endlich. Wo steht euer Haus?« Er legte seine Stirn an meine und atmete tief ein. »Ich kapier’s nicht!«, rief er. »Was ist das?«
Er kletterte über meine Brust weiter bis zu den Schultern und von dort auf meinen Rücken, wo er die Arme um meinen Hals schlang und sein Kinn auf meine Schulter legte. »Wir sollten zu meiner Mom und meinem Dad gehen«, erklärte er. »Die wissen bestimmt, was es ist. Sie wissen alles.«
Er war ein Wirbelwind aus Fingern und Beinen und Worten, und ich stand mittendrin.
Er griff in meine Haare, bog meinen Kopf nach hinten und sagte, dass er in dem Haus am Ende des Feldwegs wohnte. Dass sie erst heute von weit weg hergezogen waren. Dass er traurig war, weil er seine Freunde dort zurücklassen musste. Er war zehn und hoffte, eines Tages genauso groß zu werden wie ich. Ob ich Comics mochte? Kartoffelbrei? Was war Gordo’s? Ob ich manchmal an Ferraris schraubte und schon mal ein Auto in die Luft gejagt hatte. Er wollte Astronaut werden. Oder Archäologe. Aber das ging leider nicht, weil er eines Tages ein Anführer sein musste. Nach dem letzten Satz verstummte er für eine Weile.
Seine Knie gruben sich in meine Seiten und seine Arme drückten gegen meinen Hals. Sein schieres Gewicht war beinahe zu viel für mich.
Als wir an unserem Haus vorbeikamen, musste ich stehen bleiben, damit er es sich ansehen konnte. Er kletterte nicht von meinem Rücken. Stattdessen schob ich ihn ein Stückchen höher, damit er besser sehen konnte.
»Hast du ein eigenes Zimmer?«, fragte er.
»Ja. Es wohnen nur noch ich und meine Mom hier.«
Er schwieg. Dann: »Das tut mir leid.«
Wir waren uns gerade erst begegnet. Es gab nichts, wofür er sich bei mir entschuldigen musste. »Was denn?«
»Was auch immer dich gerade traurig gemacht hat«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen und wüsste, was ich fühlte. Als wäre er hier und echt.
»Ich träume«, sagte ich. »Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich wach, dabei bin ich es gar nicht.«
»Aber jetzt bist du wach. Ox, Ox, Ox. Verstehst du nicht?«
»Verstehe ich was nicht?«
Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, als könnte es unwahr werden, wenn er es zu laut sagte. »Wir wohnen ganz nah zusammen.«
Wir wendeten uns dem Haus am Ende des Feldwegs zu.
Es war später Nachmittag, die Schatten wurden bereits länger, während wir zwischen den Bäumen hindurchgingen. Vor uns waren Lichter. Helle Lichter wie Leuchtfeuer, die jemanden nach Hause riefen.
Drei Autos. Ein SUV, zwei Trucks, alle noch nicht einmal ein Jahr alt und alle mit Nummernschildern aus Maine. Zwei große Umzugslaster.
Und Leute. Alle standen da und warteten, als wüssten sie, dass wir kommen. Als hätten sie uns schon von Weitem gehört.
Zwei waren noch Kinder, eines ungefähr in meinem Alter, das andere wahrscheinlich ein bisschen jünger. Sie waren blond und kleiner als ich, aber nicht viel. Blaue Augen und neugierige Gesichter. Sie sahen fast genauso aus wie der Wirbelwind auf meinem Rücken.
Es war eine Frau dabei. Sie war schon etwas älter. Gleiche Haut- und Haarfarbe wie die anderen. Sie hielt sich wie eine Adlige und ich glaubte, noch nie einen so schönen Menschen gesehen zu haben. Ihr Blick war gütig, aber wachsam. Sie wirkte angespannt, bereit, jeden Moment zu handeln.
Neben ihr stand ein Mann. Er war dunkler als die anderen, sah eher aus wie ich. Er wirkte grimmig, fast bedrohlich, und alles, was ich denken konnte, war Respekt, Respekt, Respekt, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte eine Hand auf den Rücken der Frau gelegt. Und neben den beiden stand …
Oh.
»Mark?«, fragte ich. Er sah noch exakt so aus wie vor siebzehn Monaten.
Mark grinste. »Ox, wie schön, dich wiederzusehen. Ich glaube, du hast einen neuen Freund«, erwiderte er erfreut.
Ich ließ die Beine des kleinen Jungen los, und er rutschte von meinem Rücken herunter. Dann nahm er meine Hand und zog mich auf die Gruppe zu, als würde ich dazugehören.
Der Wirbelwind begann wieder zu brausen, seine Stimme hob und senkte sich ohne jeden Takt und Rhythmus. »Mom. Mom! Du musst an ihm riechen! Es ist wie … wie … ach, keine Ahnung! Ich war gerade im Wald unterwegs und habe unser Revier erkundet, damit ich später machen kann, was Dad macht, und es war toll, und dann stand er plötzlich da und hat mich nicht gesehen, weil ich beim Jagen immer besser werde. Ich hab Raurrr gemacht und Grrr, aber dann hab ich noch mal geschnuppert und gemerkt, dass er es ist, und es hat Kabumm gemacht! Ihr müsst mir erklären, warum er so nach Zuckerstangen und Kiefernzapfen riecht und toll und fantastisch!«
Alle starrten ihn an, als hätte er etwas Überraschendes gesagt. Mark verbarg ein Lächeln hinter seiner Hand.
»Ist das so?«, fragte die Frau. Ihre Stimme klang brüchig. »Raurrr und Grrr und Kabumm?«
»Und erst der Geruch!«, rief der Junge.
»Ja, der scheint wichtig zu sein«, kommentierte der Mann neben ihr leise. »Zuckerstangen und Kiefernzapfen und toll und fantastisch.«
»Hab ich’s euch nicht gesagt?«, fragte Mark. »Ox ist … anders.«
Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber das war nichts Neues. Ich fragte mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte, und fühlte mich unwohl.
Ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber der Kleine ließ mich nicht. »Hey«, sagte ich.
Er sah mich mit seinen großen blauen Augen an. »Ox«, rief er, »Ox, ich muss dir was zeigen!«
»Was denn?«
»Na ja … also …«, stotterte er. »Einfach alles!«
»Du bist gerade erst hergezogen«, erwiderte ich. Ich fühlte mich fehl am Platz. »Musst du nicht …« Ich wusste nicht mehr, was ich sagen wollte. Die Worte ließen mich mal wieder im Stich, was auch der Grund war, warum ich nicht viel redete. Mein Leben war einfacher so.
»Joe«, sagte der Mann. »Gib Ox ein bisschen Zeit, okay?«
»Aber Dad …«
»Joseph.« Es klang fast wie ein Knurren.
Der Junge (Joe, dachte ich, Joseph) seufzte und ließ meine Hand los.
Ich machte einen Schritt zurück. »Sorry«, sagte ich. »Er war plötzlich da, und dann …«
»Schon okay, Ox«, erwiderte Mark und kam von der Veranda herunter. »Diese Dinge können ein bisschen viel sein.«
»Welche Dinge?«, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. »Das Leben.«
»Du hast gemeint, wir könnten Freunde sein«, sagte ich.
»Das habe ich. Es hat nur ein bisschen länger gedauert, als ich dachte.« Die Frau senkte den Kopf, als er das sagte. Der Mann schaute weg. Joe nahm wieder meine Hand und drückte sie, und da wurde mir klar, dass sie etwas verloren hatten. Ich wusste weder, was, noch, warum ich mir so sicher war.
»Das hier ist Joe«, erklärte Mark und kam heran. »Aber das weißt du ja schon.«
»Wahrscheinlich. Er hat so viel geredet, dass er keine Zeit hatte, mir seinen Namen zu sagen.«
Wieder sahen mich alle an.
»Ich habe gar nicht viel geredet«, grummelte Joe. »Du redest zu viel. Mit deinem Gesicht.« Er trat nach einem Stein, aber ohne meine Hand loszulassen. Einer seiner Schnürsenkel war locker. Ich sah einen Marienkäfer auf einer Löwenzahnblüte sitzen, rot und schwarz und gelb. Ein Windhauch kam, und der Marienkäfer flog davon.
»Joe«, sagte ich.
Er grinste mich an. »Hi, Ox! Ich muss dir was …« Er verstummte und sah kurz seinen Vater an. Er seufzte. »Na schön.«
»Das hier sind seine Brüder«, sprach Mark weiter. »Carter.« Der in meinem Alter winkte mir grinsend zu. »Kelly.« Der jüngere der beiden, irgendwo zwischen Carter und Joe. Er nickte und sah ein bisschen gelangweilt aus.
Blieben noch die zwei Erwachsenen. Ich fürchtete mich nicht vor den beiden, hatte aber das Gefühl, dass ich es eigentlich sollte. Ich wartete darauf, dass Mark sie mir vorstellte, aber er blieb still. Schließlich sagte die Frau: »Du bist ein Außenseiter, Ox.«
»Ja, Ma’am«, erwiderte ich, weil meine Mom mir beigebracht hatte, immer respektvoll zu sein.
Sie lachte. Es klang wunderschön. »Ich heiße Elizabeth Bennett. Das hier ist mein Mann, Thomas. Seinen Bruder, Mark, kennst du ja schon. Wie es scheint, sind wir jetzt Nachbarn.«
»Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte ich, weil meine Mom mich Manieren gelehrt hatte.
»Und was ist mit mir?«, fragte Joe und zog an meiner Hand.
Ich sah ihn an. »Deine Bekanntschaft freut mich auch.«
Joe lächelte wieder.
»Möchtest du zum Abendessen bleiben?«, fragte Thomas und schien meine Reaktion genau zu beobachten.
Ich dachte Ja und Nein gleichzeitig. Mein Kopf tat weh davon. »Mom kommt bald nach Hause. Wir essen heute zusammen, weil ich Geburtstag habe.« Ich zuckte zusammen. Ich hatte das gar nicht sagen wollen.
Joe schnappte nach Luft. »Was? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt! Mom, er hat Geburtstag!«
»Ich hab’s gehört, Joe«, erwiderte sie amüsiert. »Herzlichen Glückwunsch, Ox. Wie alt wirst du?«
»Sechzehn.« Alle schauten mich nach wie vor an. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Nacken hinunterlief.
»Cool«, sagte Carter. »Bin ich auch.«
Joe warf ihm einen bösen Blick zu und stellte sich vor mich. »Ich habe ihn zuerst gefunden.«
»Das reicht«, mischte sich Thomas ein, seine Stimme jetzt wieder etwas tiefer.
»Aber, aber …«
»Hey«, sagte ich zu Joe.
Er sah mich entnervt an.
»Das ist schon okay. Hör auf deinen Dad.«
Er seufzte und drückte wieder meine Hand. Als er nach dem Löwenzahn trat, löste sich sein Schnürsenkel endgültig. »Ich bin zehn«, murmelte er. »Ich weiß, dass du alt bist, aber ich habe dich als Erster gefunden, also musst du auch zuerst mein Freund sein. Sorry, Dad.« Dann fügte er hinzu: »Ich möchte dir etwas schenken.«
»Das hast du schon«, erwiderte ich.
Joes Gesicht erstrahlte, wie ich es noch nie bei jemandem erlebt hatte, und dann verabschiedete ich mich.
Ich spürte, wie ihre Blicke mir folgten, als ich ging.
»Jemand ist dort eingezogen?«, fragte Mom, als ich nach Hause kam.
»Ja, die Bennetts.«
»Du hast sie kennengelernt?« Sie klang überrascht. Mom wusste, dass ich nicht mit Leuten redete, wenn es sich vermeiden ließ.
»Ja.«
Sie wartete. »Und?«
Ich blickte von meinem Geschichtsbuch auf. Nächste Woche hatten wir Abschlussprüfungen, und ich war noch nicht bereit. »Was, und?«
Sie verdrehte die Augen. »Sind sie nett?«
»Glaub schon. Sie haben …« Ich überlegte.
»Was?«
»Kinder. Ein Sohn ist genauso alt wie ich. Die anderen sind jünger.«
»Warum grinst du so?«
»Wegen dem Wirbelwind«, antwortete ich, ohne es zu wollen.
Sie küsste mich auf den Scheitel. »Und ich hab geglaubt, wenn du älter wirst, würdest du vielleicht ein bisschen mehr reden. Alles Gute zum Geburtstag, Ox.«
Wir aßen zu Abend. Es gab Hackbraten. Mein Lieblingsgericht, nur für mich. Wir lachten zusammen. Das hatten wir schon lange nicht mehr getan.
Mom überreichte mir ein Geschenk, es war in den Comic aus der Zeitung vom Samstag eingewickelt. Es war ein Reparaturhandbuch von einem 1940er Buick mit orangem Einband, alt und abgegriffen. Es roch modrig und wunderbar. Sie sagte, sie hätte es bei Goodwill gesehen und dabei gleich an mich denken müssen.
Und eine neue Hose für die Arbeit. Meine alte fiel schon auseinander.
Und eine Karte. Vorne war ein Wolf drauf, der den Mond anheult. Auf der Rückseite stand: Wie nennt man einen Wolf, der seinen Namen vergessen hat? Einen Wer-Wolf! Darunter hatte sie sieben Wörter geschrieben: Dieses Jahr wird besser. In Liebe, Mom. Um Liebe hatte sie Herzchen gemalt, so klein und zart, dass ich glaubte, sie würden davonschweben, wenn ich sie anpuste.
Wir wuschen das Geschirr ab, und sie schaltete das alte Radio ein, das am offenen Fenster über der Spüle stand. Mom sang leise mit und bespritzte mich mit Wasser, während ich mich fragte, warum ich nach Zuckerstangen und Kiefernzapfen roch. Toll und fantastisch.
Mom hatte eine Seifenblase auf der Nase.
Sie sagte, ich hätte eine auf dem Ohr.
Die Musik wurde schwungvoller, ich nahm Moms Hand und drehte sie im Kreis. Ihre Augen leuchteten, und sie sagte: »Du wirst eines Tages jemanden sehr glücklich machen. Ich kann es kaum erwarten, bis es so weit ist.«
Als ich ins Bett ging, sah ich durchs Fenster, dass im Haus am Ende des Feldwegs noch Licht brannte, und dachte über die Bennetts nach.
Jemanden, hatte Mom gesagt. Jemanden sehr glücklich machen.
Keine sie, sondern jemanden.
Ich schloss die Augen, und als ich schlief, träumte ich von Tornados.
Du siehst gut aus, papi«, sagte Rico, als ich am nächsten Tag in die Werkstatt kam. »Wo kommt dieser Schwung in deiner Hüfte her?«
Es war Sonntag, der Tag des Herrn, wie mir beigebracht worden war, aber ich dachte mir, dass der Herr bestimmt nichts dagegen hat, wenn ich statt seinem Tempel diesen hier besuche. Ich hatte meinen Glauben in Gordos Werkstatt gefunden.
»Muss ein hübsches Mädchen sein«, rief Tanner. Er stand über den Motor eines lächerlichen SUV gebeugt, den man mit der Stimme starten konnte. »Er ist jetzt ein richtiger Mann. Hast du letzte Nacht ’ne Sechzehnjährige flachgelegt?«
Ich war ihre Scherze gewohnt. Sie meinten es nicht böse. Was mich aber nicht davon abhielt, knallrot zu werden. »Nein«, sagte ich. »So war es nicht.«
»Oh«, meinte Rico und kam mit einem obszönen Hinternwackeln herangeschlendert. »Seht euch mal seine Gesichtsfarbe an.« Er fuhr mir durch die Haare, strich mir mit dem Daumen übers Ohr. »Ist sie hübsch, papi?«
»Es gibt kein Mädchen.«
»Ach? Dann also ein Junge? Auch in Ordnung, in der Casa de Gordo wird niemand diskriminiert.«
Ich schubste ihn weg, und er bog sich vor Lachen.
»Chris?«, fragte ich.
»Ist bei seiner Mom«, antwortet Tanner. »Wieder die Sache mit dem Magen.«
»Wie geht es ihr?«
Rico zuckte die Achseln. »Wissen wir noch nicht.«
»Ox!«, rief Gordo aus dem Büro. »Schieb deinen Arsch hier rüber!«
»Oje«, sagte Rico mit einem kleinen Grinsen. »Sei vorsichtig, papi. Er hat wieder einen seiner Tage.«
So hatte er sich auch angehört. Die Stimme rau und angespannt. Ich machte mir Sorgen. Nicht um mich, sondern um ihn.
»Er ist nur angepisst, weil Ox nächste Woche für die Schule frei braucht«, murmelte Tanner. »Du weißt ja, wie er ist, wenn Ox nicht da ist.«
Ich bekam ein schlechtes Gewissen. »Vielleicht könnte ich …«
»Du hältst schön die Klappe«, unterbrach Rico und presste mir einen Finger auf die Lippen. Er schmeckte nach Öl. »Du musst dich auf die Schule konzentrieren. Gordo und ich kommen auch so zurecht. Bildung ist wichtiger als sein Gemeckere, verstanden?«
Ich nickte, und er zog seinen Finger wieder weg.
»Wir kommen zurecht«, wiederholte Tanner. »Besteh du deine Prüfungen, uns bleibt noch der ganze Sommer, okay?«
»Ox!«
Rico flüsterte irgendetwas auf Spanisch, das sich für mich nach mieser kleiner Diktator anhörte. Anscheinend hatte ich ein Talent dafür, spanische Flüche zu verstehen.
Ich ging zum Büro am Ende der Werkstatt. Gordo saß mit gerunzelter Stirn vor dem Computer und tippte mit einem Finger. Tanner nannte es sein Adlersuchsystem, was Gordo gar nicht lustig fand.
»Mach die Tür zu«, sagte er, ohne mich anzusehen.
Ich tat es und setzte mich auf den leeren Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches.
Gordo blieb stumm, also dachte ich mir, dass ich wohl den Anfang machen sollte. Er war manchmal so. »Alles okay?«, fragte ich.
Er starrte auf den Bildschirm. »Bestens.«
»Du bist ein bisschen angespannt für bestens.«
»Wenn du gerade versucht hast, lustig zu sein, ist es gründlich schiefgegangen, Ox.«
Ich zuckte die Achseln. Es war normal, wenn die Leute mich nicht lustig fanden.
Gordo seufzte und rieb sich das Gesicht. »Sorry«, murmelte er.
»Okay.«
Schließlich sah er mich doch an. »Ich möchte dich nächste Woche hier nicht sehen.«
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, was mir nicht sehr gut zu gelingen schien. »Okay.«
»Großer Gott, Ox, mach nicht so ein Gesicht. Du hast nächste Woche Abschlussprüfungen.«
»Ich weiß.«
»Und du weißt auch, dass ich mit deiner Ma abgemacht habe, dass deine Noten nicht unter der Arbeit leiden.«
»Ich weiß«, brummte ich.
»Ich möchte einfach nicht …« Gordo ließ sich stöhnend in seinen Stuhl sinken. »Ich kann das nicht.«
»Was denn?«
Er deutete auf uns beide. »Diese Sache.«
»Du machst das ganz gut«, erwiderte ich leise. Dieses Bruder-Vater-Ding oder was auch immer. Wir sprachen nie darüber, aber das mussten wir auch nicht. Wir wussten es beide. Außerdem war es einfacher so. Wir waren schließlich Männer.
Gordo kniff die Augen zusammen. »Wirklich?«
»Wirklich.«
»Wie sind deine Noten?«
»Alles Zweier. Eine Drei.«
»In Geschichte?«
»Ja. Der verfluchte Stonewall Jackson.«
Gordo lachte laut und lange. Denn wenn er einmal lachte, dann richtig. »Lass das bloß deine Ma nicht hören.«
»Nie im Leben.«
»Im Sommer Vollzeit?«
Ich strahlte ihn an. Ich konnte die langen Schichten kaum erwarten. »Ja, unbedingt.«
»Ich werd dir den Arsch aufreißen, Ox.« Die Falten auf Gordos Stirn waren jetzt fast verschwunden.
»Kann ich … kann ich nächste Woche mal vorbeischauen?«, fragte ich. »Ich werde nicht … ich möchte nur …« Verdammte Wörter. Sie waren schon immer meine Feinde gewesen. Ich wusste nicht, wie ich ihm sagen sollte, dass ich mich in der Werkstatt am sichersten fühlte, am meisten zu Hause. Hier war ich kein verdammter Idiot, niemand urteilte über mich. Ich stahl niemandem die Zeit oder die Luft zum Atmen. Es gab so vieles, was ich sagen wollte, viel zu viel, weshalb ich kein einziges Wort herausbrachte. Aber da ich mit Gordo redete, musste ich das auch gar nicht.
Er wirkte erleichtert, blieb aber streng, um den Schein zu wahren. »Du rührst in der Werkstatt nichts an. Du kommst her und lernst. Kein Rumalbern. Ich meine es ernst, Ox. Chris und Tanner können dir mit dem verfluchten Stonewall Jackson helfen. Die kennen sich mit dem Zeug besser aus als ich. Und frag bloß nicht Rico, dann kommst du zu gar nichts mehr.«
Ein Gewicht hob sich von meiner Brust. »Danke, Gordo.«
Er verdrehte die Augen. »Und jetzt raus mit dir. Die Arbeit wartet nicht.«
Ich salutierte, weil ich genau wusste, wie sehr Gordo das hasste. Und da ich so guter Laune war, stellte ich mich taub, als er murmelte: »Ich bin stolz auf dich, Kleiner.«
Später fiel mir ein, dass ich ganz vergessen hatte, ihm von den Bennetts zu erzählen.
Ich ging nach Hause. Die Sonnenstrahlen fielen durchs Blätterdach und malten kleine Schatten auf meine Haut. Ich fragte mich, wie alt dieser Wald wohl war. Sehr alt, glaubte ich.
Joe wartete an der gleichen Stelle wie gestern. Er zappelte nervös herum und seine Augen leuchteten. Seine Hände hatte er hinter dem Rücken versteckt.
»Ich wusste, dass du es bist!«, sagte er triumphierend. »Ich werde immer besser im …« Er brach ab und hüstelte. »Äh, in allem. Zum Beispiel … zu merken, dass du da bist.«
»Gut so«, erwiderte ich. »Besser werden ist immer gut.«
Das Strahlen auf seinem Gesicht verschlug mir den Atem. »Und eines Tages werde ich Anführer sein.«
»Wovon?«
Joe blickte erschrocken zu Boden. »Oh, verflucht!«
»Was denn?«
»Ähm … Geschenke!«
Ich runzelte die Stirn. »Geschenke?«
»Nun ja, eins.«
»Wofür?«
»Für dich«, murmelte Joe und bekam rote Flecken auf dem Gesicht, die bis zu seinem Haaransatz reichten. »Zum Geburtstag.«
Die Jungs aus der Werkstatt hatten mir was geschenkt. Und meine Mom. Sonst niemand. So was machten nur Freunde und Familie. »Oh«, sagte ich. »Wow!«
»Ja, wow!«
»Ist es das, was du hinter deinem Rücken versteckst?«
Joe sah mich immer noch nicht an und wurde sogar noch röter. Er nickte knapp.